22.
Ich wache von meinem tränennassen Gesicht auf und sehe mich um. Auf der Bettkante sitzt niemand mehr. Die letzten Stunden der Nacht liege ich wach und hoffe, wünsche mir, dass es nur ein Traum war. Ein Albtraum.
Meine letzte Hoffnung lege ich in Yven und seine Einladung zum Essen. Ich nehme mir vor, ihn einem Verhör zu unterziehen wie beim CIA. Ich will alles wissen. Alles über seine beiden Brüder, über den Tod seiner Mutter und seinen Vater, über den niemand etwas weiß. Dieses Mal wird er mir nicht mit seinen knappen Antworten davonkommen. Doch Yven meldet sich nicht. Den ganzen Sonntag sitze ich daheim und warte vergeblich auf seinen Anruf. Gegen Spätnachmittag ergreife ich schließlich die Initiative und rufe ihn selbst an. Die Stimme der Mailboxtante sagt mir, dass der Teilnehmer zurzeit nicht erreichbar ist. Mist.
An die Stelle von Schmetterlingen ist ein Knoten getreten. Ein Knoten in meinem Inneren, der mich einschnürt und mir die Luft zum Atmen nimmt.
Lilith war heute Morgen bereits weg als ich aufgestanden bin, was mir auch sehr recht war. Jetzt steht sie mit drei Koffern, einer Lampe unter dem Arm und drei Mänteln über der Schulter in der Tür und sieht mich stirnrunzelnd an. »Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt. Was ist passiert?« Sie lässt alles an Ort und Stelle stehen und kommt zu mir.
»Habe nur an meine Mom gedacht«, sage ich, ohne rot zu werden.
»Oh sweety, das tut mir leid.«
Lilith hat die ganze Krankheit und Leidensgeschichte meiner Mom mitbekommen und weiß, was ich in der Zeit durchgemacht habe. Solche traumatischen Erlebnisse schleppt man ein Leben lang mit sich herum und manchmal brechen sie durch, wie eine Abrissbombe in ein Haus. Dass ich jetzt gerade nicht um meine Mom trauere, sondern um eine verlorene Liebe, sei dahin gestellt.
»Ich bin gleich wieder da.« Lilith läuft die Treppen runter zu ihrem Wagen und zwei Minuten später höre ich sie schnaufend wieder hochkommen. Sie hat einen Strauß Blumen in der Hand und Essen vom Chinesen. »Ich hatte heute Nacht einen Albtraum, dass mir die Haare zu Berge standen. Und rate mal, wer die Hauptperson darin gespielt hat?«
Ich bin plötzlich hellhörig, tue aber so als überlege ich, wer es sein könnte, dabei ahne ich schon, was gleich kommt.
»Payton.«
»Und was hast du geträumt?«
»Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern. Er hat sich in ein grauenhaftes Monster verwandelt.«
Ich lache über Lilith, wie sie das sagt und dabei, ohne es zu merken, das Essen auf die Teller haut. »Nach dem, was du erlebt hast und wie du es empfunden hast, hat sich in deinem Kopf Payton von einem schönen jungen Mann in ein Ungeheuer transformiert. Klar, dass du so einen Traum hattest.« Ich setze mich an die Bar und fange an zu essen. »In was genau hat er sich denn verwandelt?«, frage ich mit vollem Mund.
»In ein dunkles Wesen mit schwarzen, riesengroßen Flügeln.«
Wie eine klebrige zähe Masse liegt das Essen in meinem Mund und bleibt mir buchstäblich im Hals stecken. Ich laufe ins Bad und spucke alles in die Toilette. Payton. Ich erinnere mich an seinen Blick. Er hatte etwas Linkisches, etwas Böses in seinen Augen. Da war dieses eigenartige Funkeln in seinen blaugrünen Augen, das Mo nicht hat. Ein Wesen mit schwarzen, riesengroßen Flügeln? Das kommt mir irgendwie bekannt vor.
»Leia?! Alles in Ordnung?« ruft Lilith aus der Küche.
»Ja. Geht gleich wieder.« Hat Payton vielleicht etwas damit zu tun, dass Mo nicht mehr zu mir kommen kann, wie er selbst sagte?
Ich gehe zurück in die Küche und setze mich an den Küchentresen. »Da war irgendwie was im Essen. Eklig.« Ich schiebe den Teller von mir weg. Ich war eh nicht hungrig. »Schwarze Flügel, he?«
»Und aus seinen Händen wuchsen grauenvolle Klauen, die nach mir griffen. Es war schrecklich. In letzter Sekunde bin ich aufgewacht.«
»Wer weiß, was er mit dir angestellt hätte, wenn du nicht aufgewacht wärst«, sage ich lachend. Aber wirklich zum Lachen ist mir nicht zumute.
Yven meldet sich auch bis zum späten Abend nicht. Gegen neun mache ich mein Handy aus. Auch wenn er es noch versuchen sollte, kann er mich jetzt mal. Soll er doch bei seiner blöden Melanie, oder wie sie heißt, bleiben.
Wir sehen uns eine Komödie im Fernsehen an und für neunzig Minuten vergesse ich sogar meinen großen Kummer ein klein wenig.
Bevor ich einschlafe denke ich ganz fest an Mo, aber in dieser Nacht sehe ich ihn nicht und auch in den darauffolgenden Nächten lässt er sich nicht blicken, genau, wie er es angekündigt hat. Egal was ich mir vorstelle, das Bild von ihm will sich nicht einstellen.