Achtzehn
J ill schloss ihre Wohnungstür auf, bückte sich nach ihren Taschen und drehte sich noch einmal zu Alex um, der in seinem eleganten silbernen Sportwagen davonfuhr. Sie wollte ihm nachwinken, aber sie hatte keine Hand frei. Stattdessen lächelte sie, obwohl sie sicher war, dass er es nicht sehen konnte.
Sie ging hinein. Sie fühlte sich schon heimisch in dieser Wohnung. Sie war gemütlich und einladend, und Jill freute sich sehr, wieder da zu sein, Der Ausflug nach Yorkshire war ganz anders verlaufen, als sie erwartet hatte. Jill schauderte, wenn sie an all das dachte, was sie erfahren hatte.
Lady Eleanor saß vor ihr auf der Treppe und leckte eine ihrer Samtpfoten.
Jill stellte ihre Taschen in den Flur und ließ die Haustür zufallen. »Hi, Lady E.«, sagte sie leise.
Die Katze unterbrach ihre Wäsche und miaute.
Jill ging hinüber und setzte sich neben sie. Sie fühlte sich so allein - so hatte sie sich an diesem Wochenende nie gefühlt. Aber da war sie ja auch nicht allein gewesen. Sie hatte Alex als Freund dabei gehabt - und als Liebhaber, für eine einzige Nacht.
Jill schüttelte sich, um diese Gedanken zu vertreiben. Lady E. war nicht vor ihr geflohen. Jill 533
berührte zaghaft ihr weiches Fell. Die Katze begann zu schnurren, und Jill streichelte weiter ihren Rücken.
Sie war erschöpft und dachte sehnsüchtig daran, ins Bett zu kriechen, obwohl es erst ein Uhr nachmittags war. Aber sie fürchtete sich vor dem Schlaf, weil sie Angst hatte zu träumen - und was,
wenn sie wieder schlafwandelte, wie letzte Nacht?
Diese Idee war mehr als beängstigend: Eine Horrorvorstellung.
Jill rief ihre Nachbarin an, fest entschlossen, sich auf die Lösung für Kates Rätsel zu konzentrieren und sich nicht von Gefühlen ablenken zu lassen, die ihr nicht einmal willkommen waren. »Wie war’s in Yorkshire?«, fragte Lucinda, nachdem sie sich begrüßt hatten.
»Ich habe so viel herausgefunden«, sagte Jill. Sofort bekam sie Kopfschmerzen. »Lucinda, kennen Sie einen Graphologen, der ein paar Unterschriften für mich vergleichen könnte? Und zwar schnell?«
»Ja, ich kenne jemanden. Ich hab schon in so vielen Museen gearbeitet, und wir brauchen oft Experten für Handschriften, um Kunstwerke, alte Briefe und solche Sache verifizieren zu lassen.« Lucinda gab ihr Namen und Telefonnummer eines Arthur Kingston, der sein Büro in Cheapside hatte. »Wozu brauchen Sie einen Graphologen, Jill?«
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Jill erzählte ihr von den Krankenhausakten, der Geburtsurkunde und der Quittung mit der Unterschrift von Jonathan Barclay.
»Soso«, sagte Lucinda gedehnt. »Sie sind wirklich auf einige interessante Hinweise gestoßen. Wie gefällt Ihnen Stainesmore?«
»Es ist wunderschön«, erwiderte Jill. »Lucinda. Wir haben Kates Grab gefunden.«
Es entstand eine kurze Pause, in der Jill Lucindas Überraschung förmlich spüren konnte. »Sie haben was?«
Jill erzählte ihr von dem kleinen, unauffälligen Grabstein und der Inschrift. »Ist das nicht unglaublich?«
»Ich bin völlig perplex«, antwortete Lucinda. »Ich weiß gar nicht, was ich davon halten soll.« Sie schwieg, und Jill wusste, dass sie an den Aufwand und das Risiko dachte, die jemand auf sich genommen hatte, um Kate zu begraben - und an die Tatsache, dass dieser jemand wusste, dass sie tot war, wo sich ihre Leiche befand und wann sie gestorben war. »Und die Behörden haben nie etwas gefunden.«
»War Hal in Kate verliebt, Lucinda?«
Lucinda gab ein überraschtes Japsen von sich. »Ich weiß es nicht, meine Liebe. Wäre das nicht reichlich, äh, bizarr gewesen?«
»Es wäre mehr als bizarr gewesen, nämlich eine krankhafte Besessenheit.« Jill erzählte Lucinda von 535
dem Porträt auf dem Dachboden und dass Hal es entdeckt hatte, als er dreizehn war. Hals merkwürdiges Interesse an Kate - seine Besessenheit -
hatte in jenem Sommer seinen Anfang genommen.
Sie war sicher. Und auch Alex musste das gewusst haben. Hatte er ihr nicht mehr als einmal erzählt, dass er und Hal sich als Jungen sehr nahe gestanden hätten?
»Was für ein fantastischer Fund!«, rief Lucinda aufgeregt.
»Das finde ich auch.« Jill seufzte. »Ich brauche immer noch einen Beweis dafür, dass Kate meine Urgroßmutter ist. Aber wenn diese Unterschriften übereinstimmen, dann war Edward Collinsworth der Vater ihres Kindes.«
Lucinda gab keinen Laut von sich.
»Lucinda? Sind Sie noch da?«
»Sind Sie sicher, Jill?«
»Ja.« Dann fragte sie plötzlich: »Lucinda, sind Sie mit den Sheldons befreundet?«
»Wie bitte?«
»Ich habe vor ein paar Minuten eines ihrer Autos vor dem Haus gesehen - glaube ich jedenfalls.
Niemand war bei mir - aber ich habe mir gedacht, dass Sie vielleicht Besuch hatten.«
»Meine Liebe, ich verehre diese Familie - aber ich bin nur eine Angestellte. Der Earl würde mir kaum einen privaten Besuch abstatten.«
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Jill dankte ihr und verabschiedete sich. Und in dem Moment machte es »klick« in ihrem Kopf. Jill erstarrte. Sie hatte Lucinda nicht gefragt, ob William bei ihr gewesen sei. Sie hatte sie nur ganz allgemein nach ihrem Verhältnis zur Familie gefragt.
Jill hätte ihren letzten Dollar darauf verwettet, dass der Earl gerade
bei Lucinda gewesen war. Sie konnte sich nur nicht erklären, warum.
Jill wurde von einem Geräusch aus dem Schlaf geschreckt, das sie nicht identifizieren konnte. Einen Moment lang war sie völlig verwirrt, dann versuchte sie, sich in der Dunkelheit zu orientieren, und stellte fest, dass sie auf dem Sofa im Wohnzimmer eingeschlafen war. Mittlerweile war es draußen schon dunkel.
Eine Katze jaulte.
Jill setzte sich benommen auf und streckte die Hand nach der Lampe neben dem Sofa aus. Sie verfehlte den Schalter, und dann gab es einen scheußlichen Lärm, als die Lampe herunterfiel.
Jill fluchte, denn die Porzellanlampe war eine Antiquität. Sie fragte sich, wie spät es sein mochte und ob das eine von ihren Katzen gewesen war, die hinter dem Haus so gekreischt hatte. Einer der Nachbarn hatte einen Schäferhundwelpen. Lucinda hatte ihr erzählt, dass er sich an diesem Wochenende 537
schon zweimal von seiner Kette befreit hatte, aus seinem Garten geschlichen war und die Katzen fast zu Tode erschreckt hatte. Sir John hatte sich auf einen Baum geflüchtet und sich stundenlang geweigert, herunterzukommen.
Jill tastete sich am Couchtisch und am Sessel vorbei zum Lichtschalter an der Haustür. Sie schaltete das Licht im Flur ein. Sofort sah sie, dass die Lampe nicht zerbrochen war. Sie war erleichtert, denn sie hätte sie schwerlich ersetzen können.
Sie schaute auf die Uhr. Es war halb neun. Sie konnte sich nicht daran erinnern, sich hingelegt zu haben, geschweige denn eingeschlafen zu sein. Hatte sie den ganzen Nachmittag verschlafen? Plötzlich verspürte sie großen Hunger, also bestellte sie sich eine Pizza.
Als Nächstes fiel ihr Kate wieder ein. Zumindest hatte sie nicht von ihr geträumt, Gott sei Dank.
Hinter dem Haus gab es einen lauten Krach.
Jill eilte durchs Wohnzimmer, ohne die Lampe wieder hinzustellen. Sie machte Licht in der Küche und trat hinaus auf die kleine Terrasse. Das Licht reichte nicht sehr weit, und der Garten war nicht beleuchtet. Wenn ihre Nachbarn alle zu Hause gewesen wären, hätte das Licht aus ihren Häusern den ganzen Garten ausgeleuchtet. Aber heute war anscheinend niemand da, denn in den beiden Häusern hinter ihrem Garten war es stockdunkel.
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»Lady E.! Sir John! Hierher, ihr Süßen!«, lockte Jill, die immer noch gegen ihre Benommenheit ankämpfte.
Sie sah sich gründlich um, aber sie sah weder Hund noch Katze. Na ja, die Katzen konnten ganz gut auf sich selbst aufpassen, und sie hatte keine Ahnung, was hier gerade umgefallen war. Sie würde sich morgen darum kümmern, wenn es hell war.
Ein merkwürdiges Jammern schien durchs Haus zu tönen.
Jill hatte sich gerade eine Cola aufgemacht und erstarrte. Einen Moment lang glaubte sie, sie höre eine Frau weinen - und die erste Frau, an die sie dachte, war Kate.
Aber das Geräusch klang so schwach. Jill stellte die Dose weg und spitzte die Ohren. Da war es wieder.
Ein leises, jämmerliches Wienen.
Kate war tot. Und Jill glaubte vielleicht an Gespenster - irgendwie , aber sie hatte noch nie eines gesehen und war auch gar nicht scharf darauf. Sie bekam eine Gänsehaut. Ängstlich wanderte ihr Blick durch die Küche und über die nachtschwarzen Fenster.
Sie sagte sich, dass sie sich alles nur einbildete.
Aber das durchdringende Weinen ging weiter.
Ihr Herz begann heftig zu pochen, und sie brach in Schweiß aus. Sie ging ins Wohnzimmer und hörte nichts mehr, aber als sie dann stehen blieb und ihre 539
eigenen leisen Schritte verstummten, hörte sie es wieder.
Sie fuhr zur Treppe herum. Kam das Geräusch von oben?
Oh verdammt, dachte Jill. Der ganze erste Stock lag in pechschwarzer Dunkelheit, und sie wollte da nicht rauf.
Der Lichtschalter befand sich am oberen Ende der Treppe.
Das Weinen - das jetzt mehr wie klägliches Miauen klang - verstummte nicht.
Es schien ihr doch sehr wirklich zu sein.
Sei nicht so ein Feigling, schimpfte Jill mit sich. Sie sah sich nach etwas um, womit sie sich verteidigen könnte, und entschied dann, dass gegen einen Geist sowieso nichts helfen würde. Vorsichtig ging sie auf die Treppe zu und dann langsam hinauf. Als sie auf dem oberen Treppenabsatz in völliger Dunkelheit stehen blieb, hörte sie das Jammern ganz deutlich.
Es schien aus ihrem Schlafzimmer zu kommen, Herrgott.
Jill knipste das Licht an. Der Flur war hell. War es eine der Katzen? Jill hatte plötzlich keine Angst mehr vor Gespenstern, sondern rannte ins Schlafzimmer, machte Licht und sah sich um. Das jämmerliche Weinen drang unter ihrem Bett hervor.
Jills Herz klopfte heftig, als sie sich auf alle viere herabließ. »John? John?« Sie kroch vorwärts. Was 540
sollte das? Sir John kam niemals in ein Zimmer, wenn sie darin war, und er hatte auch niemals eine Pfote in ihr Schlafzimmer gesetzt, solange sie hier war. Aber jetzt kauerte er unter dem Bett und miaute kläglich, die weit aufgerissenen Augen starr auf sie gerichtet.
»Komm her, mein Schatz«, lockte Jill. »Was ist denn, mein Süßer?« Der Kater hörte auf zu jaulen. Er starrte sie an, und sein Blick war fast menschlich -
und unglaublich traurig.
Jill erschrak fast zu Tode, als es plötzlich unten an der Tür klopfte. Dann sagte sie sich, dass das der Pizza-Service sein musste. Sie schaute noch einmal unter das Bett. Was hatte der arme Sir John? Der Türklopfer wurde noch einmal geschwungen, diesmal drängender. Jill eilte aus dem Schlafzimmer und stolperte hinunter. Im Flur blieb sie vernünftigerweise stehen und fragte: »Wer ist da?«
»Pizza.«
Erleichtert, aber immer noch in Sorge um den Kater, öffnete Jill die Tür. Ein stämmiger, sommersprossiger junge hielt ihr mit einer Hand die Pizzaschachtel hin und deutete mit der anderen nach links. »Miss«, sagte er.
Jill schaute in die Richtung, in die sein Finger zeigte. »Sie haben eine tote Katze vor Ihrer Tür, Miss.«
Noch während er sprach, entdeckte Jill die enthauptete Katze in einer hellroten Blutlache.
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Und während sich ein gewaltiger Schrei in ihr Bahn brach, erkannte sie Lady E.
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