Sechs
D ie Türklingel weckte Jill aus tiefstem Schlaf. Es war fünf Uhr nachmittags - sie war den ganzen Tag über immer wieder eingenickt. Jill hatte KCs Rat befolgt und sich von ihrem Arzt noch einmal etwas verschreiben lassen, das sie durch die nächsten Wochen bringen sollte. Das war wohl der Grund, warum sie endlich einmal eine Nacht und sogar noch den folgenden Tag über geschlafen hatte.
Sie hatte sich auch Blut für einen
Schwangerschaftstest abnehmen lassen. Der Arzt hatte sie vor ein paar Stunden angerufen: Der Test war, Gott sei Dank, negativ.
Jill stolperte zur Sprechanlage und wurde hellwach, als die Stimme unten sich als Kurier von UPS
vorstellte. Die Kiste von ihrer Tante war da.
Jill öffnete ihre Wohnungstür und wartete ungeduldig auf den Kurier. Er trat aus dem einzigen, unglaublich lahmen Aufzug, und Jill kritzelte hastig ihre Unterschrift hin, um den mittelgroßen Karton überreicht zu bekommen. Dann drehte sie sich um und betrachtete aufgeregt die Kiste, die die Sachen ihrer Eltern enthielt.
Jill ging den Inhalt langsam durch und war glücklich über jedes einzelne Stück, das sie 204
herausnahm. Ihre Tante hatte vor allem Papiere aufgehoben, die Jill sich für zuletzt aufhob.
Ansonsten enthielt die Kiste ein komisches Sammelsurium: Krawatten und Manschettenknöpfe ihres Vaters, mehrere Tücher und Schals ihrer Mutter, alles knallbunte Kreationen der frühen Siebziger, eine mit Kristallkügelchen bestickte Abendtasche, eine echte Perlenkette. Madeline hatte die juristischen Lehrbücher ihres Vaters aufgehoben
und die Kochbücher ihrer Mutter, darunter echte Raritäten. Da war auch ein Gartenbuch und, seltsamerweise, eine Fernsehzeitschrift für die Woche vom ersten Mai 1976.
Jill wurde es schwer ums Herz. In dieser Woche war der Unfall passiert.
Sie legte die Zeitschrift wieder weg. Madeline hatte auch einige Kleider ihrer Mutter aufgehoben. Jill lächelte, als sie ein Minikleid mit einer Art Pucci-Druck und dann ein blondes Haarteil fand. Warum hatte ihre Mutter das zu ihrem schulterlangen Haar gebraucht?
Und da war eine Karte von Großbritannien und ein Reiseführer.
Jill setzte sich auf den Boden, die Perlen ihrer Mutter in der einen Hand, die vergilbte Karte und den Reiseführer in der anderen. Sie starrte die drei Gegenstände an.
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Waren ihre Eltern in England gewesen? Oder hatten sie eine Reise dahin geplant? Und wenn ja, warum?
Jill sagte sich, dass sie dort einfach Urlaub gemacht hätten, weiter nichts. Aber tief drinnen empfand sie es als einen weiteren »Zufall«, der sie und Kate Gallagher verband.
Sie sagte sich, dass sie den Grund für die Reise oder die geplante Reise niemals erfahren würde.
Also machte sie sich wieder an die Arbeit.
Schließlich kamen die großen Umschläge voll Papiere dran, die sie als Erstes aus der Kiste genommen hatte.
Sie öffnete den dicksten zuerst und schüttete den Inhalt neben sich auf den Boden.
Das Erste, was sie sah, waren ihre Pässe. Jills Herz begann heftig zu pochen.
Sie schlug sie auf, zuerst Shirleys, dann Jacks.
Endlich besaß sie ein Foto von ihnen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Oh Gott«, stammelte Jill.
Schmerzlich wurde ihr klar, dass sie ihrem Vater sehr ähnlich sah. Und ihre Mutter war genauso blond und schön wie in ihrer einzigen Erinnerung an sie.
Jill blätterte den Pass ihres Vaters durch. Und tatsächlich fand sie einen Stempel, aus dem hervorging, dass er 1970 nach Großbritannien eingereist war. Derselbe Stempel fand sich im Pass ihrer Mutter. Sie waren in dem Jahr, bevor sie geboren wurde, nach England gereist.
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Jill schüttelte ihren verwirrten Kopf. Das war wahrscheinlich nur Zufall - aber sie wünschte, es wäre noch viel mehr. Sie fragte sich, ob sie mehr über ihre Reise herausfinden könnte - wo genau sie dort gewesen waren.
Als Nächstes bekam sie Jacks Zeugnisse in die Hand, darunter sein Jura-Abschlusszeugnis. Sie fand seine Geburtsurkunde -
er war am
vierundzwanzigsten November 1936 geboren - und als sie weitersuchte, entdeckte sie auch Shirleys Geburtsurkunde. Sie war zehn Jahre jünger gewesen als Jack.
Sie hielt ihre Heiratsurkunde hoch. Überrascht stellte sie fest, dass sie nicht kirchlich geheiratet hatten. Als Trauzeugen waren Timmy O’Leary und Hannah Ames aufgeführt.
Auch der Führerschein ihres Vaters war dabei. Wie damals üblich, war kein Foto darin. Aber da standen sein Geburtsdatum und seine Adresse, 305
Dreiundfünfzigste Ost, New York. Jill wusste, dass sie einmal an diesem Haus vorbeigehen musste. Sie hoffte, dass es noch stand.
Jill schloss die Augen und drückte den Führerschein an ihre Brust. Plötzlich hatte sie ein vages Bild vor Augen, ein Bürgersteig an einem trüben Tag, ein blitzendes rotes Dreirad und die auf Hochglanz polierten Lederschuhe eines Mannes. Oxford-Schuhe.
Ihr Vater hatte braune Oxfords getragen.
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Sie sah nach, ob der Umschlag auch wirklich leer war, und öffnete dann den nächsten, der im Gegensatz zum ersten sehr dünn war. Eine Hand voll Fotos fielen heraus und ein paar Papiere.
Jill erstarrte, als sie erkannte, dass es sich um Briefe handelte. Sie ignorierte die Fotos und griff nach den mit eleganter Schrift gefüllten Seiten. Die Briefe waren an Shirley gerichtet, und sie stammten von ihrer Mutter, Bonnie Lewis, und ihrer Schwester Madeline. Dann wandte sie sich den Fotos zu.
Jills Puls spielte verrückt. Die Fotos zeigten sie selbst und ihre Eltern. Auf einigen war sie noch ein Baby. Ihre Eltern sahen auf allen Bildern so glücklich aus, dass ihre Liebe nicht zu übersehen war. Wieder stiegen Jill Tränen in die Augen.
Ein Foto fesselte sie besonders. Shirley in Shorts und weißem T-Shirt stand neben einem älteren Paar in altmodischer Kleidung, und Jill zweifelte nicht daran, dass das Shirleys Eltern waren, denn die Ähnlichkeit war unverkennbar. Sie drehte es um, und tatsächlich, auf der Rückseite stand in eleganter Schrift das Datum, der einunddreißigste Juli 1965, und die Worte »Ich, Mum und Dad beim Ausflug ans Meer«. Mit Bleistift hatte ihre Mutter darunter geschrieben: »Zwei Tage später habe ich Jack kennen gelernt!« Jill lächelte, und Tränen nahmen ihr die Sicht.
Den Versuch, nicht zu weinen, gab sie endgültig auf, als sie das nächste Bild ansah. Es zeigte sie selbst 208
als Baby in einem albernen Spitzenkleidchen, und ihre Eltern hielten sich an den Händen und beugten sich mit einem strahlenden Lächeln über sie. Auch die Jill auf dem Foto strahlte. Das also war es, was sie niemals gekannt hatte.
Nein, das war es, was sie gekannt hatte, woran sie sich aber nicht erinnern konnte.
Erschüttert sah Jill vier oder fünf weitere Familienfotos durch, und ihr wurde klar, dass sie zwar nichts gefunden hatte, das sie mit Kate in Verbindung brachte; aber sie hatte endlich die fehlenden Stücke ihrer eigenen Vergangenheit gefunden, die sie für immer in Ehren halten konnte.
Und dann entdeckte sie das allerletzte Bild - es war auf der Hochzeit ihrer Eltern aufgenommen worden.
Einige Leute in festlicher Kleidung standen um das Brautpaar herum, das sich glücklich lächelnd an den Händen hielt. Sie standen
auf den Stufen eines großen Gebäudes, das nach Verwaltung aussah. Einen Moment lang bewunderte sie Shirley in ihrem weiten weißen Hochzeitskleid, und ihren Vater, der einen weißen Smoking trug. Das Ehepaar Lewis erkannte sie gleich, sie standen direkt hinter ihrer Tochter und lächelten breit, aber sie kannte weder den jungen Mann neben Jack noch die junge Frau neben ihrer Mutter. Das mussten wohl die beiden Trauzeugen sein.
Sie betrachtete den älteren, grauhaarigen Mann, der allein neben ihrem Vater stand, in einem weißen 209
Smoking mit roter Nelke im Knopfloch. Er kam ihr bekannt vor - obwohl sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Ihr Herz schlug schneller.
Wer war er? Warum kam er ihr so bekannt vor?
Jill drehte das Foto um und las: »Unser Hochzeitstag, am ersten Oktober 1969, Jack und ich, Timmy und Hannah, Mom und Dad und Peter.«
Peter. Jill drehte das Foto wieder um, sprang auf und starrte aufgeregt auf Jacks Vater, Peter Gallagher.
Ihr war immer noch nicht ganz klar, warum sie ihn wieder erkannt hatte. Jack sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Sie kam zu dem Schluss, dass sie ihn vielleicht als Baby einmal gesehen hatte und dass die Erinnerung an ihn irgendwo in ihrem Unterbewussten noch vorhanden war.
Jill setzte sich, überwältigt von all dem, was sie gefunden hatte, wieder auf den Boden. Ihr Blick schweifte über die Fotos, die Briefe, die sie ein andermal lesen würde, die Pässe und
Geburtsurkunden. Die Kiste hatte wahre Schätze enthalten, wenn sie auch nichts Genaueres über ihre Vorfahren auf der Gallagher-Seite darin gefunden hatte.
Plötzlich spürte Jill, dass da etwas nicht stimmte.
Sie schob die Sachen hin und her und versuchte auszumachen, was sie so störte - und zwischen all dem Zeug traf sie immer wieder auf die Fotos von Jack und Shirley, ihre Babyfotos, Shirley und die Lewis’, Jack, Shirley und die Lewis’. Plötzlich wurde 210
Jill klar, dass ihre Mutter alle möglichen Erinnerungsstücke an ihre Familie hatte, während da bei Jack überhaupt nichts war - bis auf die Anwesenheit seines Vaters auf dem einzigen Hochzeitsfoto. Es war mehr als merkwürdig. Es war eine himmelschreiende Lücke.
Aber was hatte das zu bedeuten?
Hatte Jack seinen Vater gehasst? Hatten sie sich zerstritten? Oder hatte er etwas in seiner Vergangenheit, in seiner Familie aus dem Weg gehen wollen? Hatte er vielleicht sogar etwas verborgen?
Jill hatte keine Ahnung. Sie griff nach den Briefen ihrer Mutter - und ein weiteres Puzzlestückchen schien wie von selbst an die richtige Stelle zu fallen.
Als Jill nach dem Einkaufen ihre Wohnungstür aufschloss, hörte sie drinnen den CDSpieler. Sie erstarrte hinter der halb geöffneten Tür. Hatte sie ihn laufen lassen, als sie ging? Das glaubte sie nicht. Sie war sogar ziemlich sicher.
Im nächsten Moment wurde Jill klar, dass KC sich wohl mit ihrem Schlüssel selbst hereingelassen hatte -
das tat sie manchmal. Einen schrecklichen Augenblick lang war sie panisch geworden, hatte das Schlimmste angenommen und dabei ganz die Neigung ihrer besten Freundin vergessen, einfach mal reinzuschauen.
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Ihr Gehirn funktionierte nicht wie üblich. Sie war unkonzentriert und vergesslich geworden. Letzte Nacht hatte sie trotz des Beruhigungsmittels überhaupt nicht geschlafen. Sie war zu aufgekratzt gewesen wegen einem der Briefe von Shirleys Mutter.
Jill hatte den Grund für die Englandreise ihrer Eltern herausgefunden. Peter war in jenem Jahr, 1970, an Herzversagen gestorben. Sein Tod war ein Schock gewesen. Er war erst zweiundsechzig, und alle hatten angenommen, er sei kerngesund. Aber Vater und Sohn standen sich nicht sehr nahe, und jetzt, so schrieb Shirley, gab Jack sich die Schuld an allem, an ihrer Entfremdung und sogar am viel zu frühen Tod seines Vaters.
Jack hatte auch darauf bestanden, dass sie nach England reisten - er hatte das Land sehen wollen, aus dem sein Vater stammte. Ihre Eltern waren drei Wochen lang als Touristen in Yorkshire herumgereist, Jack vor Trauer und Schuld ganz durcheinander. Peter war in Yorkshire geboren worden, und Jack glaubte, obwohl er sich nicht sicher war, dass York seine Geburtsstadt war. Shirley hatte ihrer Mutter am Ende des Briefes erzählt, dass sie sich darauf freute, wieder nach Hause zu kommen - und dass sie endlich schwanger war.
Jill hatte rasch nachgerechnet, während sie den Brief wieder und wieder las. Peter war 1908 auf die 212
Welt gekommen. Das Jahr, in dem Kate verschwunden war.
Das konnte kein Zufall sein, und Jill bekam jedes Mal eine Gänsehaut, wenn sie daran dachte.
Jetzt lief KC in ihrer Wohnung hin und her. Als sie Jill entdeckte, blieb sie abrupt stehen. »Ich bin ja so froh, dass du wieder da bist! Ich muss mit dir reden, Jill. Weißt du eigentlich, dass deine Tür nicht abgeschlossen war?«
Jill schloss die Tür und blieb stehen. »Im Ernst?«
»Jap.« KC kam auf sie zu. Sie trug ein knappes pinkfarbenes Top und einen langen, wehenden bunten Rock. Ihr langes blondes Haar war zu einem Zopf geflochten. »Jill, du siehst ja furchtbar aus!«
»Danke«, sagte Jill. Sie und KC hatten sich seit ihrer Rückkehr mehrmals verpasst. Sie hatten einander Nachrichten auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, anstatt eine ausgiebige Unterhaltung zwischen Freundinnen genießen zu können. »Ich kann es gar nicht fassen, dass ich nicht abgeschlossen habe«, sagte Jill.
»Vielleicht liegt es an deinen Medikamenten.«
Jill war erleichtert. »Wahrscheinlich.«
»Ach, du armer Schatz!« Urplötzlich schlang KC
die Arme um Jill und drückte sie fest an sich.
»England muss schrecklich gewesen sein!«
Jill stellte ihre Gefühle normalerweise nicht zur Schau - und sie hatte darin sowieso nicht viel Übung, 213
wenn man von der kurzen Zeit mit Hal absah. Sie wich unbehaglich zurück. »Es war die Hölle.« Und das fand Jill noch untertrieben.
»Es hat sich angehört, als wären das sehr böse Menschen«, sagte KC. »Jill, ich hoffe, ich habe deine letzte Nachricht falsch verstanden. Du willst doch nicht nach London zurück, oder?«
»Doch. Aber du musst mir helfen, KC, ich muss einen Untermieter finden, bevor ich fahre. Ich bin ziemlich pleite.«
KC staunte. Aber dann wurde sie dramatisch. »Du kannst da nicht wieder hin. Ich mache mir ehrlich Sorgen um dich.«
Jill sah sie beunruhigt an. »Warum?« Sie bekam die nächsten Worte kaum heraus. »Was hast du jetzt wieder gesehen?«
KC schüttelte den Kopf, aber sie hatte Tränen in den Augen. »Es war nur ein Traum, Jillian, aber er war schrecklich.«
Jill entspannte sich ein wenig, weil sie sich nicht um Träume scherte. Und KC hatte noch nie zuvor von Träumen gesprochen. Sie schienen nicht zu ihrem übersinnlichen Repertoire zu gehören. Aber KC sagte:
»Ich habe von dieser Kate Gallagher geträumt. Jillian, sie war eingesperrt.« KC begann zu weinen.
Jill sah entgeistert, dass ihrer Freundin Tränen über die Wangen liefen. »Warum weinst du?«, flüsterte sie.
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»Es war so dunkel, und sie hat solche Angst gehabt, so furchtbare Angst«, antwortete KC ebenfalls flüsternd. »Aber dann ... « Sie verstummte.
»Dann was?«, fragte Jill barsch.
KC schüttelte wieder den Kopf. »Ich weiß nicht. Es war nur ein Traum. Ich weiß, was du jetzt denkst, aber ich kann nicht hellsehen, und ich sehe nie etwas in Träumen voraus.«
Sie sahen sich an. »Zumindest bis jetzt«, flüsterte KC.
Jill schauderte. Zögerlich fragte sie: »Wie sah sie aus? In deinem Traum?«
KC fuhr sich über die Augen. »Sie war jung und schön.«
»Und?«
»Ich weiß nicht.«
Jill fühlte so etwas wie Erleichterung.
Dann sagte KC: »Sie hatte wundervolles Haar.
Lang und rot, und lockig.«
Jills Puls begann zu rasen. »Das hatte sie wirklich.
Wie konntest du das wissen? Hab ich dir das erzählt?«
»Ich weiß nicht.« KC stand auf, ging zur Küche und holte sich ein Glas Wasser.
Jill folgte ihr und stellte sich ihr gegenüber. Sie konnte sich nicht erinnern, KC jemals Kates Äußeres beschrieben zu haben. »Kate hat ihrer besten 215
Freundin, Anne, geschrieben. Anne war Hals Großmutter. Ich will diese Briefe finden. Ich bin sicher, dass Hal sie irgendwo in seiner Wohnung versteckt hat.”
»Du hast doch noch den Schlüssel, oder?«
»Nein, hab ich nicht. Als ich neulich bei ihm drüben war, bin ich Thomas begegnet.« Jill runzelte die Stirn. »Er hat mich um den Schlüssel gebeten, und ich musste ihn rausrücken.« Jill starrte auf die Arbeitsplatte mit ihren Kacheln in fröhlichem Ringelblumen-Gelb. »Ich frage mich, ob ich das Schloss knacken könnte.«
»Jillian! Das ist doch verboten!«
Jill blickte auf. »Ich weiß. Das ist Einbruch. Aber Thomas ist im Waldorf abgestiegen, er ist nicht in der Wohnung. Er wird mich schon nicht erwischen.«
Wagte sie das wirklich? War sie denn verrückt geworden?
»Ich halte das für keine so gute Idee.« KC war bleich. »Jill, bitte, du musst dir das mit London noch mal gut überlegen.«
Jill hatte eine Eingebung. »Ich hab eine tolle Idee!«
Sie starrte ihre Freundin an. »Ich kenne den Portier.
Ich werd ihm sagen, dass ich meinen Schlüssel vergessen und meine Handtasche verloren hab oder so was. Er wird mich reinlassen.« Auf einmal war sie richtig
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aufgekratzt. Sie kannte alle Portiers dort. Sie würden ihr die Tür aufsperren, daran hatte sie keine Zweifel.
»Das ist eine gute Idee«, stimmte KC zu, aber sie war noch nicht zufrieden. »Vielleicht sollte ich mitkommen. Ich könnte dir suchen helfen.«
»Würdest du das tun?« Jill wusste, dass sie Hilfe brauchen würde. Aber dann verzog KC ihr Gesicht und sah auf die Uhr. »Himmel! Ich hab’s vergessen!
Ich trete in einer Stunde auf.«
»Du trittst auf?«
KC nickte. »Ich soll in so einer Bar spielen. Nicht gerade der Wahnsinn. Aber sie lassen mich während der Happy Hour mit der Gitarre auftreten. Macht irgendwie Spaß. Ich treffe ziemlich coole Leute.«
Jill griff nach ihrer Tasche. »KC, ich muss los.«
Während Thomas noch bei der Arbeit war - hoffte sie jedenfalls. »Bitte hör dich um, ob jemand Interesse an meiner Wohnung hat.«
»Warte!« KC hielt sie am Ellbogen fest. »Jillian, ich war nicht ganz aufrichtig zu dir.«
Jill riss die Augen auf. KC konnte gar nicht lügen.
Schon der Gedanke war abwegig. »Was meinst du damit?«
»Ich hab etwas Entsetzliches gesehen«, rief KC und packte ihren Arm noch fester. »Bitte geh nicht!«
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Jills Begeisterung verpuffte. KC war so außer sich, dass sie sich lange Augenblicke nicht rührte und nicht sprach. »Was? Was hast du gesehen?«
KC ließ die Hand sinken. »In dem Traum, Jillian.
Aus Kate wurdest du.«
Jill war wie versteinert.
Aus Kate wurdest du.
Dieser Satz verfolgte Jill, als sie den Schlüssel, den sie vom Portier bekommen hatte, in das Schloss von Hals Wohnung steckte. KC
wusste nicht, was der Traum zu bedeuten hatte.
Aber sie sagte, dass die Dunkelheit und die drohenden Schatten darin Furcht erregend waren und dass sie jetzt noch Angst davor hatte. KC war davon überzeugt, dass Kates Angst sehr real war und dass sie über das Meer der Zeit hinweg sie und Jill um Hilfe anrief.
Jill war nervös, als sie die Wohnung betrat. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Es war nur ein Traum gewesen. Aber KC hatte sich so aufgeregt.
Jill konnte sich nicht erinnern, sie jemals so außer sich erlebt zu haben.
Es war später Nachmittag, und es waren drohende Regenwolken aufgezogen, also machte Jill Licht im Wohnzimmer. In diesem Moment trat ein Mann aus dem Schlafzimmer.
Jill schrie auf.
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Er fuhr ebenfalls zusammen. »Jill?«, staunte Alex Preston mit aufgerissenen Augen und hochgezogenen Brauen.
Jill presste eine Hand auf ihr wild pochendes Herz und überwand allmählich den Schreck. Und dann bemerkte sie, dass er nur eine Jeans trug. Seine breite, muskulöse Brust war nackt. Sein Haar war nass. Sein ganzer Oberkörper war feucht - er kam offensichtlich eben aus der Dusche.
»Hallo, Jill«, sagte er und kam auf sie zu.
Jill wurde klar, dass sie ihn angestarrt hatte, schlimmer noch, dass sie ungebetenerweise in die Wohnung der Sheldons spaziert - und zum zweiten Mal dabei erwischt worden war. Sie zwang sich, ihm ins Gesicht zu sehen. Er lächelte sie an. »Ich habe niemanden erwartet«, sagte er.
Tut mir Leid.« Alex’ Körper war schlank und muskulös - er wirkte ohne Kleidung nicht halb so schmal wie angezogen. »Ich wusste nicht, dass du hier bist. Ich ... «
»Offensichtlich. Ich bin gerade gekommen«, sagte er und lehnte sich mit einer Schulter lässig an die Wand. »Wie bist du reingekommen? Oh. Lass mich raten. Hal hat dir den Schlüssel gegeben.«
Jill fühlte sich scheußlich und wusste nicht, was sie tun sollte. »Ich schätze, ich stecke in Schwierigkeiten«, sagte sie schließlich. »Wirklich?«
Er klang nicht wütend. Eigentlich schien es ihn 219
überhaupt nicht zu stören, dass sie sich so trafen. Er war in London nicht eben freundlich zu ihr gewesen, aber jetzt wirkte alles an ihm, von seiner Pose bis zu seinem Gesicht, sehr viel entspannter.
Jill biss sich auf die Lippe. Wie viel sollte sie ihm sagen? Alles, was sie ihm anvertraute, würde er direkt zu Thomas tragen. Andererseits könnte sie so vielleicht ein bisschen Zeit in der Wohnung gewinnen. »Ich bin neulich Thomas begegnet«, sagte sie langsam.
»Oh?« Sein Lächeln blieb, aber sein Blick wurde forschend.
Jill wand sich. »Ich wollte ihn um die Erlaubnis bitten, hierher zu kommen und eine Fotoserie zu suchen, die Hal mir gewidmet hat. Aber ich wollte ihn nicht behelligen, also bin ich einfach raufgekommen.
Ich wusste nicht, dass du da bist. Es tut mir Leid, dass ich dich gestört habe.« Sie hasste es, solche Lügen zu erzählen.
Er sah sie mit seinen blauen Augen unverwandt an.
Jill hatte das Gefühl, er wusste, dass sie sich das ausgedacht hatte. »Wo bist du Thomas begegnet?«
»Hier.« Jill lächelte unsicher.
Dann zuckte er mit den Schultern. »Okay. Nur zu.
Such die Fotos. Das wird unser kleines Geheimnis.«
Er hielt ihrem Blick stand. Aber er lächelte nicht mehr. »Ich werd’s niemandem sagen.«
Jill starrte ihn misstrauisch an. »Warum?«
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»Weil ich nicht immer alles unter Kontrolle haben muss, so wie er.« Alex starrte sie ebenfalls an. »Weil ich versuche, nett zu sein«, sagte er. »Ich meine, wir haben alle schon genug durchgemacht, oder?«
Jill wunderte sich über diese Kehrtwendung in seinem Verhalten. Und merkwürdigerweise war sie alles andere als glücklich darüber, Alex angelogen zu haben. Sie war verstört, aber sie schob ihre Sorgen beiseite. Sie hatte nicht den ganzen Tag Zeit. Wo konnte Hal die Briefe aufbewahrt haben? Sie ging hinüber zum Bücherregal und nahm einige Bände heraus. Sie begann sie durchzublättern.
So nah hinter ihr, dass sie seinen Atem in ihrem Nacken spürte, fragte Alex: »Warum suchst du in Büchern nach Fotos, Jill?«
Jill fuhr herum. »Ich ...«
Er nahm ihr das Buch aus der Hand. »Was suchst du wirklich?«
Ihr wollte keine Antwort einfallen.
Er schlug das Buch zu. »Vielleicht kann ich dir helfen. Es ist dir offenbar sehr wichtig, sonst wärst du nicht hier - und würdest nicht den Zorn meines Cousins herausfordern.«
Jill verzog das Gesicht. »Ich habe Angst davor, es dir anzuvertrauen. Du stehst auf ihrer Seite.« Sobald diese Worte heraus waren, wünschte sie, sie hätte sich vorsichtiger ausgedrückt. Sie entschloss sich, das Beruhigungsmittel die Toilette herunterzuspülen, 221
wenn sie nach Hause kam. Es beeinträchtigte ihr Denkvermögen.
»Warum sollte es da gegnerische Seiten geben?«, fragte er.
»Weil ich Hal umgebracht habe. Weil ich hinter seinem Geld her bin.« Sie sah ihm in die Augen.
Er antwortete nicht, sondern stellte die Bücher zurück. Dann wandte er sich ihr zu. »Ich weiß, dass du ihn geliebt hast. Thomas wird alles klarer sehen, wenn er den Schock überwunden hat.«
Jill sank in einen Stuhl und legte den Kopf in die Hände. »Es war ein Unfall. Ein schrecklicher Unfall, den ich nie vergessen werde.« Einen kurzen Augenblick lang fühlte sie seine Hand, die sich ganz sanft um ihre Schulter schloss, und dann war sie fort.
Langsam blickte Jill auf. Was hatte das zu bedeuten?
»Niemand kann die Vergangenheit ändern. Es tut nur weh, darin zu verharren. Wir müssen alle weiterleben«, sagte Alex ruhig.
»Das ist nicht so einfach.«
»Das Leben ist nicht einfach, Jill, und jeder, der dir das erzählt, ist entweder ein Idiot oder ein Lügner.«
Jill lächelte zart. »Du kannst dich gut ausdrücken.«
Er verbeugte sich. »Stimmt, mit Worten kann ich ganz gut umgehen. Aber mit Zahlen bin ich noch viel, viel besser.«
Sie lächelte wieder, diesmal etwas breiter.
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»Wie schlägst du dich so?«, fragte er nüchtern.
Jill war überrascht. Was interessierte es ihn? »Mir geht’s gut.«
»Du siehst nicht gut aus. Du siehst gar nicht gut aus.«
»Ich nehme Medikamente. Ich glaub, das bekommt mir nicht.« »Vielleicht ist das erst mal das Beste.
Warum versuchst du nicht, dich ein bisschen zu erholen?«
»Kann ich nicht. Ich träume nachts ... « Sie zuckte hilflos mit den Schultern und fühlte sich jetzt sehr schwach. Sie hatte sich ihm nicht so öffnen wollen.
Sie wünschte, er würde sie nicht bemitleiden.
»Vergiss es.« Sie zwang sich zu lächeln.
Er betrachtete sie. »Vielleicht solltest du Urlaub machen, mal verreisen.«
Sie holte tief Luft. »Ich fahre zurück nach London.«
Überraschung spiegelte sich in seinen Augen.
»Ein Freund von mir hat zwei Katzen, auf die jemand aufpassen muss, und jetzt, wo ich meinen Job verloren habe, fand ich die Idee eigentlich ganz gut.«
Sie wich seinen durchdringenden blauen Augen aus.
Warum hatte sie das Gefühl, dass sie ihre Pläne besser für sich behalten hätte? »Ich kann hier nicht bleiben, noch nicht.« Sie stoppte sich, bevor sie noch etwas sagen konnte.
»Ich verstehe.«
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Ihre Blicke trafen sich. Er betrachtete sie voll Mitgefühl. Sie brach den Blickkontakt ab, als würde sie das von ihm entfernen, und schlang die Arme um sich. Das musste das Medikament sein - sie sah Mitgefühl, wo nur Feindseligkeit sein sollte.
»Also, was suchst du?«, fragte Alex.
Der Themenwechsel war willkommen, aber Jill zögerte. Sie wollte nicht mehr lügen. Außerdem war es ihr gutes Recht, ihre Abstammung zu recherchieren. »Briefe.« Sie sah ihm in die Augen.
»Von Kate an Anne. Ich muss sie finden.«
Alex starrte sie an. »Also bist du immer noch hinter Kate Gallagher her. Warum?«
Jill antwortete nicht sofort. Sie wollte ihm alles erzählen: Dieser Drang überraschte sie - vor allem, weil er so stark war. Aber Alex war kein Freund oder Vertrauter, selbst wenn er sich im Moment so verhielt. Er war ein Sheldon, ob sein Nachname nun Preston war oder nicht.
»Du hoffst also, deiner Familiengeschichte auf die Spur zu kommen, oder?«
Jill fuhr zusammen. »Ist das so schlimm?«, fragte sie schließlich. »Im Gegensatz zu dir habe ich keine Familie. Als deine Mutter starb, haben die Sheldons dich aufgenommen. Mit ganzem Herzen. Als meine Eltern gestorben sind, hat mich eine Tante aufgenommen, aber sie hat die Verantwortung und die viele Arbeit gehasst, die ganze Zeit über. Also 224
was stört dich daran, wenn ich einer faszinierenden Frau nachspüre, die auf mysteriöse Weise verschwand und zufällig eine Verwandte von mir ist?«
»Das ist sogar sehr verständlich«, sagte er mit all der Ruhe, die sie nicht hatte. »Da hast du dir aber was vorgenommen, Jill. Das ist dir doch klar.«
Ihre Blicke trafen sich. »Ja, ich weiß.«
Er zuckte lächelnd mit den Schultern. »Na dann, an die Arbeit.« Jill stand auf. »Du willst mir helfen?«
Jetzt war sie völlig durcheinander.
»Ich hab bis zu meinem nächsten Termin eine Stunde rumzubringen. Warum also nicht?«
»Danke«, sagte Jill, unsicher, was das alles sollte.
Es war wirklich unheimlich, erst Lauren und dann Thomas mit ihren Entschuldigungen, und jetzt war Alex so nett zu ihr. Vielleicht war es eine Verschwörung.
Wieder versuchte sie ihren Kopf frei zu bekommen.
Vielleicht war es einfach nur so, dass sich jeder komisch benahm, weil der Schock beim Tod eines geliebten Menschen sehr lange anhielt. Jill dachte, dass sie Hals Familie nicht mochte, aber sie war sich nicht sicher. Wahrscheinlich ging es ihnen mit ihr genauso.
Sie gab die Grübelei auf, denn jetzt zählte nur Kate Gallagher. Sie ging zurück zu dem Bücherregal. Als sie anfing, jedes einzelne Buch zu durchsuchen, hörte 225
sie ihn ins Schlafzimmer gehen, vermutlich, um sich fertig anzuziehen.
Als er wiederkam, hatte er ein einfaches weißes Unterhemd an. »Jill«, sagte er, nahm ihre Hand und hielt sie davon ab, nach dem nächsten Buch zu greifen. »Lass uns erst nachdenken. Wenn Hal wertvolle alte Briefe hatte, hat er bestimmt Kopien davon gemacht. Die Originale sind sicher in einem Bankschließfach - oder einem Safe. Die Kopien, na ja« - er lächelte und zog sie mit sich zum Arbeitszimmer , »müssen irgendwo abgelegt sein.«
Jill starrte auf den Computer, der schon eingeschaltet war, während Alex die restlichen Lampen anmachte. »Arbeitest du denn immer?«, fragte sie, ging zum Tisch und schaute auf den Monitor hinunter. Das Dokument, das gerade geöffnet war, war so eine Art Finanzbericht, mit Brutto- und Netto-Prognosen, Präsentationsfolien und dergleichen. Was sie betraf, so hätten die Zahlen auf dem Bildschirm ebensogut chinesische Schriftzeichen sein können - sie sagten ihr gar nichts.
»Ich liebe meine Arbeit«, sagte er und setzte sich vor den Computer. »Ich bin eigentlich wegen einer kleinen Krise hier.« Dann lächelte er, als machten ihm Krisen Spaß. »Ich habe in Meetings gesteckt, seit ich angekommen bin - hab heute Abend noch zwei.
Ich hoffe, dass ich morgen mit dem ersten Flug wieder verschwinden kann.«
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»Das ist ein ganz schönes Hin und Her in nur vierundzwanzig Stunden.«
Er lachte. »Das bin ich gewöhnt.« Dann wurde er ernst. Mit forschendem Blick schloss er das Dokument und öffnete ein weiteres Programm. Der Bildschirm füllte sich augenblicklich mit Hunderten von Dokumenten.
»Die können doch nicht alle von Hal sein«, keuchte Jill erschrocken.
»Ich wohne auch hier, wenn ich in New York bin.
Also ziemlich oft.« Alex lächelte den Bildschirm an und suchte die Liste ab. Plötzlich erinnerte sich Jill an all die Abende, an denen Hal vorgeschlagen hatte, bei ihr zu bleiben und nicht zu ihm zu gehen. Er hatte ihr nie gesagt, dass Alex oder Thomas bei ihm waren -
oder sonst jemand. Stattdessen hatte er gesagt, dass sie in Tribeca oder SoHo essen gehen oder sich etwas mitnehmen und zu Hause essen könnten. Er hatte immer behauptet, ihr Apartment sei so »gemütlich«.
Alex verdrehte den Kopf, um sie anzusehen. »Was ist?«
Er merkte auch wirklich alles. Jill sah ihn an und fühlte sich elend. »Er hat so viele Nächte bei mir verbracht, aber er hat mir nie den wahren Grund dafür genannt - dass du oder Thomas hier wart.« Alex sah sie unverwandt an. »Wie gut hast du Hal gekannt?«
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Jill holte tief Luft. Sie wollte ihm nicht antworten.
Aber es war jetzt offensichtlich, dass Thomas Recht hatte - sie hatte ihn doch nicht wirklich gekannt.
»Sieh mal, Hal wollte dir nicht wehtun. Er hatte ein Herz aus Gold. Aber manchmal kam er mir vor wie ein übergroßes Hundebaby. Er wollte allen gefallen.
Hal war nicht sehr gut darin, den Leuten schmerzhafte Dinge zu sagen.« Alex schenkte ihr einen langen, innigen Blick und wandte sich dann wieder dem Computer zu. »Ich lass ihn ein bisschen suchen - nach Gallagher, Kate und so weiter.«
Jill nickte. Unvermittelt sagte sie zu seinem Rücken: »Er hat mir erzählt, dass diese Wohnung ihm gehört. Er hat mich angelogen.« Alex’ Finger hielten inne. Er drehte sich zu ihr um. »Das tut mir Leid.«
Sie hatte einen Kommentar erwartet, aber nicht diesen. »Ja.« Sie zwang sich, auf den Bildschirm zu schauen. »Ich versteh das einfach nicht.«
»Ich hab’s dir doch gesagt.« Alex sah sie immer noch an. »Er wollte es allen recht machen. Er hat dir erzählt, was du gern hören wolltest.«
Sie sahen sich in die Augen, und Jill wünschte fast, sie wäre nicht hierher gekommen und über Alex Preston gestolpert. Versuchte Alex ihr beizubringen, dass Hal nur gesagt hatte, dass er sie liebte, weil er es ihr recht machen wollte?
Plötzlich war ihr zum Weinen zu Mute. Hal hatte gesagt, dass er sie liebte - aber er hatte auch etwas mit 228
Marisa gehabt. Das war also eine weitere Lüge gewesen.
Eine unverzeihliche Lüge.
Und dann war da noch Kate.
»Alles in Ordnung?«
Alex starrte sie an. Jill nickte, obwohl nichts in Ordnung war, und fuhr sich mit den Fingerspitzen über die Augen. »Es war mir doch egal, wem diese Wohnung gehört«, sagte sie.
Er sah nicht zu ihr auf. »Deine Eltern sind gestorben, als du noch sehr klein warst. Irgendwo im Unterbewusstsein war die Vorstellung, dass diese Wohnung Hal gehörte, dass er diese Art von Stabilität bieten konnte, sehr anziehend für dich.«
Jill erstarrte, denn ihr wurde klar, dass er Recht hatte.
Sie hatte andauernd Schulden, oft keine Arbeit und musste zusehen, wie sie ihre Rechnungen bezahlen konnte. Und sie war ganz allein. Aber Hal hatte eine Familie, die er liebte und von der er oft sprach, und er hatte Geld, das er nach Belieben ausgeben konnte.
Und sie hatte geglaubt, dass die Wohnung ihm gehörte.
»Nichts«, sagte Alex schließlich, während er noch eine Suche laufen ließ. Dann sagte er: »Moment mal.
Vielleicht hat Hal noch irgendwo was versteckt.« Er begann wieder, schnell etwas einzugeben.
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»Du bist wirklich gut in so was«, bemerkte Jill, die immer noch hinter ihm stand und über seine Schulter blickte. Sie war erleichtert über den Themenwechsel.
»Ja, das bin ich. Heureka! Gallagher1.doc, Gallagher2.doc, Gallagher3.doc.«
»Oh Gott«, sagte Jill aufgeregt. »Das müssen die Briefe sein.« Alex verdrehte wieder den Kopf. »Oder er hat Sachen über dich gespeichert.«
Jill erschrak - und merkte, dass Alex nur Spaß machte. »Das ist nicht witzig.«
»Sorry.«
»Mach sie auf. Fang mit der ersten Datei an.«
»Es geht nicht«, sagte Alex einen Moment später.
»Warum nicht?«, rief sie.
»Wir brauchen ein Passwort.« Er tippte weiter. Jill beobachtete, wie er es mit Gallagher, Kate, Jill, Hal versuchte. Er probierte sogar noch Anne, Collinsworth, Bensonhurst. Der Bildschirm blieb leer.
Sie verbrachten die nächste halbe Stunde damit, jedes nur denkbare Wort auszuprobieren, das ihnen zur Familie oder zu Hal einfallen wollte. »Versuch’s mal mit Fotografie«; sagte Jill schließlich verzweifelt.
Alex tippte, nichts geschah.
»Ich hab’s«, rief Jill plötzlich mit weit aufgerissenen Augen. »Als Lauren und ich in Uxbridge Hall waren, hat sie mir erzählt, dass Hal und Thomas so eine Geheimsprache hatten, als sie 230
noch klein waren. Sie haben alles rückwärts buchstabiert! Versuch’s mit Etak«, drängte sie und umklammerte aufgeregt die Lehne seines Stuhles.
»Kate rückwärts buchstabiert. Okay.« Nichts passierte. »Noch andere Ideen?«, fragte er. Und als Jill gerade vorschlagen wollte, er solle es mit Gallagher rückwärts versuchen, flogen seine Finger schon über die Tastatur. R-E-H-G-A-L-L-A-G.
Sofort füllte ein Dokument den Bildschirm aus. Jill packte Alex’
Schulter und beugte sich über ihn, ihr war schwindlig vor Aufregung.
»Es ist ein Brief«, sagte er knapp. »Vom zehnten Januar 1908. Ich drucke ihn aus.«
Aber Jill rührte sich nicht. »Stop«, flüsterte sie und legte ihre Hand auf seine. Ein Schauder lief ihr über den Rücken, während sie laut vorlas: »Liebe Anne.«
Die nächste Zeile lautete: »Ich habe solche Angst.
Ich fürchte um mein Leben.«
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Zweiter Teil