Elf
S ie saßen in der nächtlichen Dunkelheit. Jill hielt den Atem an. Noch immer rührte sich keiner von beiden.
Und jetzt? Dachte Jill, während ihr Herz gegen ihre Rippen hämmerte. Sollte sie ...oder sollte sie nicht?
Und warum musste sie überhaupt darüber nachdenken?
»Jill.«
Sie musste ihn ansehen. Das hatte halb wie eine Frage, halb wie ein Befehl geklungen. Sie sahen sich in die Augen. »Ich muss gehen«, platzte sie heraus, und dann beugte sie sich, ohne nachzudenken, das kleine bisschen vor, das sie trennte, und küsste ihn auf die Wange.
Es war ein flüchtiger Kuss. Eher eine Liebkosung ihrer Lippen auf seiner stoppeligen Haut.
Er roch fantastisch.
Jill fuhr zurück, kämpfte mit der Tür, bekam sie auf und sprang aus dem Wagen. Sie warf die Tür zu, winkte und lief den kleinen Weg zu ihrem Haus hinauf, als sei der Leibhaftige hinter ihr her.
Als sie zitternd den richtigen Schlüssel suchte, hörte sie den Motor des Lamborghini aufheulen. Aber 330
das elegante Ungetüm fuhr nicht ab. Jill hörte es hinter sich auf der Straße brummen.
Endlich schob sie ihre Tür auf, trat ein, machte Licht und schlug rasch die Tür zu. Als sie sie abschloss, erhaschte sie durch das kleine Fenster in der Tür einen Blick auf seine nachtschwarze Silhouette in dem Sportwagen. Erst dann hörte sie ihn wegfahren.
Sie lehnte die Stirn an das glatte Holz. Warum, zum Teufel, hatte sie das getan? Sie Idiotin hatte völlig falsche Signale ausgestrahlt, sie ermutigte ihn ja noch und bettelte förmlich um Schwierigkeiten.
Schlimmer noch, ihre Wohnung erschien ihr auf einmal mehr als leer, und sie fühlte sich schrecklich einsam.
Der nächste Morgen war sonnig und klar. Während Jill sich eine Riesenportion Rühreier machte, weigerte sie sich, an den vergangenen Abend zu denken, und versuchte stattdessen zu entscheiden, wie es mit ihrer Suche nach Kate Gallagher weitergehen sollte.
Vielleicht würde sie noch einmal nach Uxbridge Hall fahren. Lucinda konnte ihr bestimmt einen Rat geben, wo sie anfangen sollte.
Aber eine Frage ließ sie nicht los. Wer hatte die Briefe gestohlen? Bei Tageslicht betrachtet, meinte sie, dass beide Männer guten Grund dazu hatten, 331
Leichen im Keller der Collinsworths auch dort belassen zu wollen.
»Aber da haben sie wirklich Pech«, sagte sie zu Lady Eleanor, die in der Küche erschienen war und nun, die Augen auf Jill gerichtet, schnurrend auf ihr Frühstück wartete. »Denn Kate hat eine tolle Geschichte zu erzählen, und ich werde ihr Gehör verschaffen.«
Lady E. begann sich zierlich die Pfoten zu lecken.
Jill hoffte von ganzem Herzen, dass Kates Geschichte glücklich ausging.
Das Telefon klingelte. Jill konnte sich nicht vorstellen, wer das sein sollte, außer vielleicht Lucinda. Sie erschrak, als sie William Sheldons Stimme erkannte.
Nach einer höflichen, aber kühlen Begrüßung kam er sofort zum Punkt. »Ich wollte Sie bitten herüberzukommen, Miss Gallagher. Ich möchte gern etwas mit Ihnen besprechen, und ich bin bis heute Mittag zu Hause.«
Jills Alarmglocken schrillten. Sie konnte sich nicht vorstellen, was er wollte. »Das würde ich sehr gern.«
Sie fürchtete sich zu fragen, was das alles sollte. Hatte er davon gehört, dass sie vergangenen Abend seine Frau in solche Aufregung versetzt hatte?
»Können Sie noch heute Morgen vorbeikommen?«, fragte Lord
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Collinsworth. »Sie wohnen in Kensington, nicht wahr? Wäre Ihnen elf Uhr angenehm?«
Jill sagte zu. Als sie nach oben sauste, um sich umzuziehen - ihr Frühstück hatte sie bereits vergessen
, klingelte das Telefon. Sie sah Alex vor sich, als sie abhob. »Hallo?«
»Jillian, geht’s dir gut?«, rief KC.
Jill presste den Hörer fester an ihr Ohr. »Alles in Ordnung. Stimmt was nicht, KC? Ist was mit Ezekial?« In New York war es jetzt mitten in der Nacht, aber KC schlief nicht viel. Jill konnte im Hintergrund den Fernseher hören.
»Ezekial amüsiert sich königlich damit, Chiron anzufauchen und dann aus seiner Reichweite zu flüchten.«
Jill lächelte erleichtert. Sie konnte sich vorstellen, wie Ezekial mit dem kleinen Hund spielte. Aber dann verpuffte ihre Erleichterung. »Deshalb hast du also nicht angerufen.«
»Du brauchst dringend einen Anrufbeantworter. Ich hab gestern und letzte Nacht schon x-mal versucht, dich zu erreichen.« KC klang sehr besorgt.
Jill spürte, wie die Angst in ihr hochkroch. Sie sagte sich, dass KC absolute Spitze darin war, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen - sie war die geborene Dramatikerin mit einem zusätzlichen Hang zur Hysterie. »Was ist passiert?«
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»Jillian, ich rufe an, weil gestern früh jemand in deinem Apartment rumgeschnüffelt hat.«
Jill fuhr zusammen. »Was?«
»Ich bin gerade mit Chiron spazieren gegangen, und als ich zurückkam, habe ich gesehen, wie dieser Typ aus deiner Wohnung kam. Das war nicht dein Untermieter, Jill. Ich hab natürlich so getan, als hätt ich nichts gemerkt, und bin schnell in meiner Wohnung verschwunden. Sobald er weg war, bin ich runtergerannt - und hab gesehen, wie er in einem BMW weggefahren ist. Ich hab das halbe Nummernschild erkannt, Jill. Dann bin ich rüber in deine Wohnung. Es sah nicht so aus, als hätte er irgendwas angerührt«, erzählte KC atemlos.
Jill konnte es nicht fassen. »KC, wahrscheinlich war das bloß ein Freund von Joe.« Joe war ihr Untermieter.
»Ich hab mit Joe gesprochen. Er macht sich solche Sorgen. Er sagt, er hat niemandem seinen Schlüssel gegeben. Dieser Typ, Jill, der hat sich so merkwürdig benommen - wie der da rumgeschlichen ist!« Jill stand im Flur und starrte Löcher in die Luft. »Aber das ergibt keinen Sinn«, sagte sie schließlich.
»Jemand ist in meine Wohnung eingebrochen? Aber warum? Es ist ein schäbiges Haus. Ich hab nichts Wertvolles und Joe ist nicht gerade reich.« Joe war ein hoffnungsvoller Jungschauspieler - also Kellner.
»Wahrscheinlich hat er das Schloss geknackt. Ich hab’s mir angeschaut. Jill, das war ein Profi. Das 334
Schloss hat nicht mal einen Kratzer.« Jill hörte an KCs Stimme, dass sie noch etwas sagen wollte. Dann erstarrte sie. Alex hatte gesagt, er könne Schlösser knacken. Dann fühlte sie eine Woge der Erleichterung
- Alex war in London, nicht in New York. Oder?
»Wann ist das passiert?«
»Gestern früh um halb acht.«
Das wäre in Londoner Zeit halb ein Uhr mittags.
Alex war nicht der Einbrecher. Außer, er hatte sich morgens in die Concorde gesetzt und wäre danach sofort zurückgeflogen - um ihr bei der Suche im Haus der Sheldons zu helfen. Aber warum verdächtigte sie Alex? Er hatte keinen Grund, in ihrer Wohnung herumzuschnüffeln. »Das muss ein Irrtum gewesen sein«, sagte sie schließlich. »Ich meine, ich hab nichts Wertvolles, wir wohnen praktisch in einer Müllhalde.
Hat der Typ nach Drogen ausgesehen? Hast du die Polizei gerufen?«
»Hab ich, und sie haben gesagt, dass du selber aufs Revier kommen musst, um Anzeige zu erstatten. Ich hab ihn kaum gesehen, Jill, er hatte den Kopf gesenkt und einen Hut auf. Er war mittelgroß und schlank, und seine Haare waren dunkelbraun, glaube ich. Aber er war ordentlich und nüchtern. Da bin ich mir sicher.«
Jill wusste nicht, was sie davon halten sollte. »Das ist ja abartig«, sagte sie schließlich.
»Jill, das war kein Dieb. Das hat etwas mit deiner Mission zu tun.« Jill erstarrte. » Meine Mission?«
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»Deine Suche nach der Wahrheit über Kate Gallagher«, sagte KC bestimmt.
»Woher willst du wissen, dass dieser Typ etwas damit zu tun hat?« »Ich fühle es, Jill. Es war so merkwürdig. In dem Moment, als ich ihn gesehen habe, musste ich an sie denken. Nicht an dich - an sie.« Jill schwieg verängstigt und versuchte sich zu sagen, dass sie alles, was KC erzählte, als Unsinn abtun sollte. Aber das konnte sie nicht.
»Du hast in letzter Zeit nichts geträumt, oder?« Sie hörte selbst, wie argwöhnisch sie klang.
»Nein. Ich musste eine große Legung für dich machen.«
Jill erschrak. Eine große Legung bedeutete, dass KC gründlich in die Tarotkarten geschaut hatte. »Du hast mir doch gesagt, dass sich die Karten manchmal irren.«
»Nein. Die Karten irren sich nie. Es ist nur der Leser, der etwas falsch versteht«, gab KC ungeduldig zurück.
»Also, was willst du mir sagen?«, fragte Jill furchtsam.
»Da ist ein Mann, Jill. Er taucht immer wieder auf.
Der König der Schwerter, verkehrt herum. Und er ist sehr wichtig für dich.« »Sehr wichtig«, wiederholte Jill.
»Er ist zusammen mit dem Rad des Schicksals gekommen - und mit den Liebenden«, sagte KC.
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»KC, ich habe nicht vor, mit jemandem etwas anzufangen«, sagte Jill. Und sie dachte nur, wie nahe dran sie gewesen war, mit Alex ins Bett zu hüpfen.
»Auch die Liebenden bedeuten Schicksal. Das heißt nicht, dass du jetzt mit diesem Mann etwas hast, aber das hattest du, in einem früheren Leben. Natürlich könntest du dich in diesem Leben wieder in ihn verlieben ... «
»KC«, sagte Jill barsch, um sie zum Schweigen zu bringen. Sie wollte nichts mehr hören.
Aber KC war noch nicht fertig. »Er ist brillant, Jill.
Brillant und stark, mächtig, der Beste bei allem, was er tut. Er ist wahrscheinlich ein Luftzeichen. Oder es tauchen viele Luftzeichen in seinem Horoskop auf.«
Jill sah auf die Uhr. Wenn sie jetzt nicht ging, würde sie zu spät kommen. »KC, ich muss los.«
»Ich glaube, du bist ihm schon begegnet«, sagte KC
hastig. »Oder du wirst es. Bald. Du kommst um diesen Kerl einfach nicht herum, und ich mache mir solche Sorgen um dich!«
Jill wollte weg, aber sie legte nicht auf. »Was hast du gesehen?«
»Mit ihm stimmt etwas nicht«, sagte KC mit erstickter Stimme. »Seine Kommunikation ist nicht okay.«
Jill starrte das Telefon an.
»Er ist nicht ehrlich zu dir«, sagte KC
leidenschaftlich. »Er kann es nicht. Und du kannst 337
ihm nicht vertrauen. Jill, du darfst ihm nicht trauen.
Wenn du es tust, wird etwas Schreckliches geschehen, das habe ich in den Karten gelesen, und ich kann es auch fühlen, es ist so stark - Jill, du solltest nach Hause kommen!«
Jill rührte sich nicht. KCs Worte hallten durch ihren Kopf. Sie hatte offensichtlich panische Angst.
Schließlich sagte sie: »Ich kann nicht nach Hause.
Noch nicht.«
»Guten Morgen, Miss Gallagher.« William Sheldon erhob sich hinter seinem massiven, lederbezogenen Schreibtisch.
Man hatte Jill in eine große Bibliothek gebeten, mit einer hohen, gewölbten, zartgrün gestrichenen Decke.
Eine Wand war vom Boden bis zur Decke mit Büchern gefüllt. Die mittlere Wand wurde von einem riesigen Kamin mit grünem Marmorsims und einem umwerfenden vergoldeten Spiegel darüber eingenommen. Großformatige Gemälde, die meisten davon Landschaften aus dem achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert, hingen an den anderen Wänden. Mehrere Sitzgruppen waren über den Raum verteilt, und an einem Ende stand Williams Schreibtisch. Die ganze Ecke dahinter bestand aus riesigen Fenstern, durch die man auf die Rosengärten blickte. Diese Gärten waren sorgfältig gepflegt und bunt wie ein blühender Teppich.
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»Guten Morgen«, sagte Jill nervös und strich ihren knielangen schwarzen Rock glatt. Aber sie konnte sich kaum auf das bevorstehende Gespräch konzentrieren. Der König der Schwerter, verkehrt herum. Ein Mann, der mächtig und brillant war, ein Mann, dem sie nicht trauen konnte. War es Alex?
Oder Thomas?
Etwas Schreckliches wird geschehen ...
»Miss Gallagher?«
Jill fuhr zusammen. William bedeutete ihr, sich in einen der Sessel vor dem Schreibtisch zu setzen. Jill folgte hastig.
Sein Lächeln war herzlich. Jill schlug ein Bein über das andere. Sie trug nie Schuhe mit Absätzen, aber heute hatte sie ihr einziges Paar hochhackiger Pumps gewählt, die sie so selten getragen hatte, dass sie wie neu aussahen. Sie hatte damenhafte Eleganz ausstrahlen wollen, und wenn sie Perlen gehabt hätte, hätte sie die auch angelegt. Sie war furchtbar nervös.
Allein schon der Gedanke - wenn all ihre Träume in Erfüllung gegangen wären, wäre dieser Mann ihr Schwiegervater geworden. Es war unvorstellbar.
»Ich habe erfahren, dass Sie gestern Abend mit meinem Neffen hier waren«, sagte er. Goldene Manschettenknöpfe blitzten an seinem Hemd.
Jill wurde noch nervöser. »Wir dachten nicht, dass wir jemanden stören würden«, sagte sie. »Lord Collinsworth, ich bitte um Entschuldigung«, platzte 339
sie heraus. »Ich entschuldige mich für alles, vor allem für das, was Hal zugestoßen ist.« Das hatte sie nicht sagen wollen. Sie hatte ruhig und würdevoll wirken wollen.
Er sah auf seine gefalteten Hände herab. »Ja, das bedauern wir alle, Miss Gallagher. Danke.«
»Wenn ich rückgängig machen könnte, was geschehen ist, würde ich es tun«, fuhr Jill in ernstem Ton fort. Sie versuchte, die Schuldgefühle zu ignorieren, die sie quälten. Sie wusste nicht, ob sie sie je wieder loswerden würde.
Er schaute auf. »Aber niemand kann die Vergangenheit ungeschehen machen, nicht wahr? Ich habe ein langes und erfülltes Leben hinter mir. Aber auch ich bereue vieles, Entscheidungen, die ich nicht getroffen, Wege, die ich nicht eingeschlagen habe.«
Er lächelte sie freudlos an. »So ist das Leben, Miss Gallagher. Es ist niemals das, was man erwartet.«
»Ja.« Jill zögerte. »Warum haben Sie mich hergebeten?«
Er seufzte. »Meine Frau hat sich gestern Abend sehr aufgeregt.«
»Ich weiß. Es tut mir so Leid.« Er würde sie abkanzeln.
»Es wäre sicher besser, wenn Sie und meine Frau sich nicht noch einmal begegnen. Miss Gallagher, ich muss Sie dringend bitten, sich von meiner Frau fern zu halten. Es geht ihr nicht gut, sie ist in tiefer Trauer, 340
und es scheint ihr schlechter zu gehen, seitdem sie Sie gesehen hat. Sie hat die ganze Nacht nicht geschlafen und über Herzbeschwerden geklagt. Es war ihre schlimmste Nacht seit der Beerdigung.«
Natürlich war Margaret Sheldon ihr bloßer Anblick verhasst. Jill schluckte. »Ich will nicht, dass Ihrer Frau etwas zustößt«, flüsterte sie. Wollte er sie für immer aus dem Haus verbannen? Jill wusste, dass es abscheulich von ihr war, nur ihre Suche nach den Briefen im Kopf zu haben, aber sie konnte nicht anders. »Lord Collinsworth, wir waren auf der Suche nach einigen wertvollen Briefen.«
»Das hat man mir gesagt. Wertvoll für wen?«
»Nun, sie wären sicherlich bedeutende Hinterlassenschaften, für Sie und Ihre Familie«, begann Jill.
»Aber was hat das mit Ihnen zu tun?«, fragt er spitz.
»Kate war eine Verwandte von mir. Dafür habe ich einige Beweise.« Jill wusste, dass sie da übertrieb.
»Nun, das mag ja sehr interessant sein, aber ich muss Sie trotzdem bitten, alles zu unterlassen, was eine Aufregung für Lady Collinsworth bedeuten könnte.«
Jill wollte ihn geradeheraus fragen, ob sie wiederkommen und die Briefe suchen dürfte, wenn seine Frau nicht zu Hause war. Sie tat es nicht. Ihr gesunder Menschenverstand sagte ihr, dass dies der falsche Zeitpunkt war. Aber es würde nicht schaden, 341
sich für die Zukunft einen besseren Stand zu verschaffen. Jill schluckte. »Ich habe praktisch keine Familie, Mylord. Meine Eltern kamen bei einem Autounfall ums Leben, als ich fünf Jahre alt war. Ich bin bei einer Tante aufgewachsen, die schwerhörig war und viel zu alt, um mit einem kleinen Kind belastet zu werden. Ich bin von zu Hause fortgegangen, um eine Ballettausbildung zu machen, als ich siebzehn war - und nie zurückgekehrt. Ich muss wissen, ob Kate Gallagher zu meinen Vorfahren gehört. Sie können Ihre Abstammung Hunderte von Jahren zurückverfolgen. Ich nicht einmal eine Generation.«
»Ich habe großes Verständnis für Ihre Bitte, und wenn es meiner Frau besser ginge, würde ich Ihnen selbstverständlich gestatten, Ihre Suche nach Ihren Wurzeln fortzuführen, Miss Gallagher. Aber im Augenblick würden Sie ihren gesundheitlichen und geistigen Zustand nur verschlimmern.« Er sah auf seine Uhr, ein goldenes Gehäuse an einem schwarzen Armband von Van Cleef & Arpels, erhob sich und deutete damit an, dass ihre Unterhaltung beendet war.
»Ich muss jetzt in die Firma.«
Jill stand auf und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Kate Gallagher war bei Ihrer Mutter zu Gast, bevor sie Edward geheiratet hat - Ihren Vater.
Kate hatte ein Kind, das wahrscheinlich ausserehelich geboren wurde. In demselben Jahr, 1908, ist Kate verschwunden - und wurde nie mehr gesehen.«
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Er sah sie verständnislos an. »Wie bitte?«
Jill begann zu schwitzen und wiederholte, was sie gesagt hatte. »Was versuchen Sie zu sagen, Miss Gallagher? Weshalb sollte das für mich von Interesse sein?«
»Hat Ihre Mutter je von Kate gesprochen? Hat sie sie erwähnt? Wissen Sie, wer der Vater ihres Kindes war? Sie haben doch sicher etwas gehört, Sie sind doch hier aufgewachsen.«
»Ich weiß nichts über Kate Gallagher, Miss Gallagher. Heute habe ich zum ersten Mal von ihr gehört. Meine Mutter war eine viel beschäftigte Frau, als ich noch klein war. Ich habe die meiste Zeit in einem Internat verbracht, und mein Bruder ebenso.
Mutter war eine Matriarchin - mein Vater ist sehr jung gestorben, schon 1944. Mutter hat unseren Besitz verwaltet, im House of Lords die Fäden gezogen und war in jeder einzelnen Firma des Collinsworth-Konzerns die Vorstandsvorsitzende, von den unzähligen Wohltätigkeitsvereinen gar nicht zu sprechen, in denen sie sich sehr engagiert hat. Sie gehörte nicht zu den Frauen, die in der Vergangenheit schwelgen. Solange sie lebte, lebte sie im Hier und Jetzt. Das ist es, woran ich mich erinnere.« Er lächelte nicht, als er hinter seinem Schreibtisch hervorkam und ihr die Hand hinstreckte.
»Das klingt, als sei sie eine starke und bewundernswerte Frau gewesen«, sagte Jill. Den Rest ihrer Gedanken behielt sie für sich, nämlich dass sie 343
auf dem Porträt und auf dem Foto, das Jill gesehen hatte, alles andere als stark wirkte.
»Ja, sie war beides. Nun, wenn das alles ist?«
Jill zögerte. »Wussten Sie, dass Hal ein Foto von Anne und Kate als sechzehnjährige Mädchen aufbewahrt hat?«
Er starrte sie an, als hätte sie nicht mehr alle Tassen im Schrank. Oder als könne er nicht ganz glauben, dass sie ihm nicht die Hand gegeben hatte und gegangen war, wozu er sie recht deutlich aufgefordert hatte.
»Nicht nur, dass Hal dieses ungewöhnliche, sehr alte Foto aufbewahrt hat, er hatte auch das Datum auf die Rückseite geschrieben - und es in einem Rahmen auf seinen Nachttisch gestellt: Es hat ihm offensichtlich viel bedeutet«, sprudelte Jill hervor.
»Was hat das mit mir zu tun?«
»Es war ihm sehr wichtig«, sagte Jill, »und ich versuche herauszufinden, warum.«
William schüttelte den Kopf. »Wir alle haben eine schlimme Zeit hinter uns«, sagte er. »Ich weiß, dass Sie meinem Sohn sehr nahe standen, und ich weiß, dass Sie ebenso gelitten haben wie wir. Vielleicht hat Ihre Besessenheit einen positiven Effekt, sie lenkt Sie ab. Aber ich würde Ihnen dringend raten, sich zu erholen und diese Frau zu vergessen. Ich bezweifle stark, dass sie eine Verwandte von Ihnen ist.«
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»Was, wenn ich Ihnen sagen würde, dass Hal von Kate gesprochen hat, als er sterbend in meinen Armen lag?«
William wurde blass.
Jill sprang auf. »Verzeihen Sie.« Sie hatte den armen, gemarterten Mann nicht mit einem weiteren schrecklichen Bild quälen wollen. »Es tut mir Leid«, sagte sie. »Dass ich Sie so belästigt habe.«
Sichtlich erschüttert sah William sie an. Schließlich sagte er heiser: »Ich muss Sie bitten, zu gehen.« Er schritt durch die geräumige Bibliothek zur Tür. Jill hatte keine Wahl, als ihm zu folgen.
Aber an der Tür schien er sich zusammenzureißen.
Etwas von seiner kräftigen Gesichtsfarbe war zurückgekehrt. »Danke, dass Sie mir Ihre Zeit geopfert haben«, sagte er höflich. »Einen schönen Tag noch.«
Jill war verblüfft. »Danke.«
Sie folgte dem Diener hinaus und dachte über ihre Unterhaltung nach. William Sheldon wusste nichts.
Wenn doch, war es mit ihrer Menschenkenntnis nicht weit her. Sie wünschte, sie hätte ihn nicht aus der Fassung gebracht, aber sie hatte nach Kate fragen müssen. Doch wie sollte sie nun die Briefe finden?
Dieses Haus stand ganz
oben auf ihrer Liste wahrscheinlicher Verstecke.
Sie fragte sich, ob sich Alex offen gegen seinen 345
Onkel stellen würde, um ihr zu helfen.
Wahrscheinlich nicht.
Der Flur war endlos lang. Als sie sich der Eingangshalle näherte, hörte sie Frauenstimmen; eine davon erkannte sie als Laurens. Obwohl Hals Schwester gestern Abend sehr freundlich zu ihr gewesen war, wurde Jill nervös und zwang sich, nicht an William und die Briefe zu denken.
Als Jill das Foyer betrat, drehte Lauren sich um und entdeckte sie. Sie riss die Augen auf. Bei ihr war Marisa Sutcliffe.
Die beiden Frauen starrten Jill an, und in diesem Augenblick wusste Jill, dass sie hier nur ein Eindringling war - und einer aus der Unterschicht noch dazu.
Plötzlich kam Marisa mit ausgestreckter Hand und einem festen Lächeln auf sie zu. »Sie sind Jill Gallagher«, sagte sie.
Jill war überrascht. »Ja, das bin ich.«
»Marisa Sutcliffe«, sagte sie, die Hand immer noch ausgestreckt. Jill ergriff sie langsam und widerstrebend. Sie tauschten einen knappen Händedruck. Marisa musste sie verabscheuen. Jedes andere Gefühl wäre undenkbar. Also was sollte das?
Eine Demonstration guter Manieren?
»Welch eine Überraschung«, unterbrach Lauren Jills Gedankengang, während Marisa nur Zentimeter 346
von Jill entfernt stand und sie genauso unter die Lupe nahm wie Jill Marisa. »Hallo, Jill.«
Jill entschied rasch, ihr so wenig wie möglich zu erzählen und sich so bald wie möglich zu verabschieden. »Guten Morgen, Lauren. Ich wollte gerade gehen. « Sie rang sich ein Lächeln ab und ging weiter.
»Warten Sie.«
Jill erstarrte bei Marisas Flehen. Denn es war ein Flehen.
»Bitte«, sagte Marisa.
Jill drehte sich ernst und angsterfüllt zu ihr um.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, sagte Marisa mit einem kurzen, matten Lächeln. »Das hier ist verdammt unangenehm. Aber ...bevor Hal gestorben ist. Hat er noch etwas gesagt ...irgendetwas?«
Jills Herz krampfte sich zusammen. Was fragte Marisa da? Sie konnte doch von Hals letzten Worten nichts wissen! »Ich bin nicht sicher, was Sie meinen.«
»Marisa, tu das nicht«, sagte Lauren mit weicher, besorgter Stimme - ein Ton, den Jill noch nie von ihr gehört hatte. »Tu das nicht.« Lauren nahm ihre Hand.
Marisa entzog sie ihr. »Hat er irgendetwas gesagt -
über mich?« Ihre Stimme überschlug sich am Ende vor Aufregung, Hoffnung und Angst.
Und Jill verstand. Obwohl Marisa für sie eine Konkurrentin war, wurde sie von Mitgefühl für sie 347
überwältigt. Marisa wollte wissen, ob Hal Jill von ihr erzählt hatte, oder ob er Jill gesagt hatte, dass er Marisa liebte oder sie heiraten wollte, so etwas in der Art. »Er hat mir nie von Ihnen erzählt«, sagte sie schließlich wahrheitsgemäß.
Marisas Lächeln erstarb. Lauren legte einen Arm um sie, und während Marisa in ihrer Krokotasche nach einem Taschentuch suchte, warf Lauren Jill einen bitterbösen Blick zu.
Jill erstarrte. Dieser Blick war zutiefst bösartig.
Aber im nächsten Moment war er verflogen.
»Ich sollte jetzt gehen«, sagte Jill. Ihr war sehr unbehaglich zu Mute, und sie verspürte den Drang, Marisa die Wahrheit zu sagen - dass Hal gerade dabei gewesen war, mit ihr Schluss zu machen. Diese Reaktion hatte sie nicht erwartet. Sie hatte nichts als Hass erwartet. Sie hatte sogar erwartet, dass diese Frau ihr eine hässliche Szene machen würde. Doch Marisa hatte etwas sehr Nettes an sich. Sogar etwas Anziehendes. Wie konnte Jill jemanden verabscheuen, der so trauerte? Ihr Schmerz war unvorstellbar.
»Er fehlt mir so«, flüsterte Marisa plötzlich erstickt in ihr Taschentuch. »Wenn er nur noch leben könnte!«
Lauren führte Marisa zu zwei thronartigen Stühlen an einem Marmortisch. Jill sah ihnen nach; sie wollte davonlaufen, konnte sich aber nicht bewegen.
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Marisa blickte auf. »Er wollte nach Hause kommen«, schrie sie Jill mit schmerzverzerrtem Gesicht an. »Das hat er mir gesagt. Er hätte mich nie angelogen -
wir hatten keine Geheimnisse
voreinander , er hat mir sogar von Ihnen erzählt. Er war mein bester, mein allerbester Freund! Wie soll ich ohne ihn leben?!«
Jill verstand sie. »Marisa.«
Sie blickte auf, die Nase gerötet, die Haut fleckig, Gesicht und Körper makellos.
»Er war sich nicht sicher, ob das mit uns was würde«, sagte Jill, obwohl es ihr vor ihren Worten graute. »Er hatte Heimweh. Das hat er mir gesagt.«
Marisas Augen leuchteten auf.
Mehr konnte Jill nicht tun.
»Danke«, sagte Marisa. Dann begann sie wieder zu weinen.
Jill nickte Lauren knapp zu und ging zur Tür.
Leider kam Lauren neben ihr her. »Ist Alex hier?«, fragte sie. »Hat er dich wieder hergebracht?«
»Nein.« Jill zögerte. »Dein Vater hat mich hergebeten.«
»Was könnte es denn geben, woran ihr beiden ein gemeinsames Interesse habt?«, gab Lauren offensichtlich verwirrt zurück.
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Jill sagte: »Da wirst du wohl ihn fragen müssen.«
Sie schaute zu Marisa zurück, die um ihre Fassung rang. »Sag ihr, dass es mir Leid tut«, fügte sie hinzu.
Damit ging sie und ließ Lauren stehen.
Jill eilte die Auffahrt hinunter und durch das schmiedeeiserne Tor. Als sie die schattige Allee erreichte, blieb sie stehen, um wieder zu Atem zu kommen und sich zu beruhigen. Ihre Schläfen hämmerten. Sie fing an, Marisa und Hal als Paar zu sehen.
Und als sie da so stand und fast wünschte, sie wäre Marisa nie begegnet, hallten ihr ihre Worte durch den Kopf.
Wir hatten keine Geheimnisse voreinander.
Jill starrte über die Straße, ohne die riesige Villa gegenüber und Kensington Gardens dahinter zu sehen. Hatte Hal Marisa alles erzählt?
Hatte er ihr von Kate erzählt?
Mit der Hüfte drückte Jill ihre Haustür auf. Sie hielt zwei Tüten in der Hand, eine mit Lebensmitteln, die andere mit einem brandneuen Sony-Anrufbeantworter, den sie nach ihrem Gespräch mit KC unbedingt hatte kaufen wollen. Sie lächelte Lady Eleanor an, die erwartungsvoll auf dem Sofa im Wohnzimmer saß und sie unbeweglich anblickte. Ein weiteres silbrig braunes Knäuel verschwand in die 350
Küche, vermutlich, um durch die Klappe in der Tür in den Garten zu flüchten.
»Wie steht’s, Lady E.?« Jill lächelte die Siamkatze an und trug ihre Einkäufe in die Küche. Während sie den Anrufbeantworter anschloss - wozu sie die Gebrauchsanweisung lesen musste , wanderten ihre Gedanken immer wieder zu ihrem deprimierenden Vormittag zurück. Nachdem sie eine Ansage aufgenommen hatte, wählte sie Lucinda Beckes Nummer, ließ sich auf einen der Küchenstühle fallen und machte sich eine Dose Cola auf.
»Wie kommen Sie zurecht, Jill?«, fragte die Direktorin.
»Ich habe das Gefühl, in einer Sackgasse zu stecken«, sagte Jill. Sie erzählte Lucinda, wie William ihr das Haus verboten hatte. »Von diesem Haus habe ich mir am meisten versprochen.«
»Da würde ich Ihnen zustimmen«, pflichtete Lucinda ihr bei. »Aber Sie werden doch jetzt nicht aufgeben?«
Alex’ Bild schob sich in ihre Gedanken und machte sie traurig. »Nein. Diese Briefe finde ich vielleicht nie. Entweder Alex oder Thomas, einer von beiden hat sie gelöscht, aber ich würde darauf wetten, dass er sie sich vorher kopiert hat. Ich fahre nach Yorkshire, Lucinda. Und nach York. Mein Großvater ist da irgendwo
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auf die Welt gekommen, und jedenfalls hat sich Kate in der Nähe der Robin Hood Bay aufgehalten, während sie schwanger war. Das ist
erstaunlicherweise nur ein paar Kilometer von Stainesmore entfernt. Noch so ein Zufall? Wie könnte das sein! Ich muss dahin. Ich werde alle Krankenhäuser aufsuchen und feststellen, welches es schon 1908 gab. Vielleicht wurde Kate zur Geburt dort eingeliefert. Vielleicht kann ich Peters Geburtsurkunde auftreiben, wenn ich schon mal da bin. Ich werde irgendeine Spur von ihr finden, das schwöre ich, und das gilt auch für Peter.«
»Ich würde ja so gern mitkommen«, sagte Lucinda.
»Vielleicht finden Sie sogar das Haus, in dem sie während ihrer Schwangerschaft gewohnt hat. Das ist ja so aufregend> Jill.«
»Das ist es«, stimmte Jill zu. »Und weil Kate durch Anne mit den Sheldons verbunden ist, werde ich mich auch auf deren Landsitz umsehen. Gott, wenn ich nur die Erlaubnis hätte, alle Collinsworth-Anwesen zu durchsuchen.« Jill fragte sich, wie sie in das Haus in Stainesmore kommen sollte. Sie würde sich eine unglaublich gute Geschichte ausdenken müssen.
»Ich habe so das Gefühl, dass Lord Collinsworth Sie dort nicht so gern sähe, meine Liebe. Im Gegensatz zu Uxbridge Hall ist das schließlich ein Privathaus.«
»Das weiß ich«, sagte Jill. »Und deshalb werde ich ihn auch nicht um Erlaubnis bitten. Ich werde einfach 352
da auftauchen.« Sie überlegte kurz. »Lucinda, da ist etwas, das ich Ihnen nicht erzählt habe. Ich habe es bis jetzt nur einem einzigen Menschen erzählt.« Und sie bedauerte schon fast, Alex von Hals letzten Worten berichtet zu haben.
»Und was wäre das?«
Jill zögerte. »Hal hat Kates Namen genannt, als er starb. Ich habe mich ganz sicher nicht verhört. Er hat ganz deutlich >Kate< gesagt. Und nachdem ich das Foto gefunden habe, kann ich nur annehmen, dass er mir etwas über Kate Gallagher sagen wollte.«
Lucinda gab keinen Laut von sich.
»Lucinda?«
»Sie haben mir vielleicht einen Schauer über den Rücken gejagt. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Sie wissen ja, dass er viel Zeit in Yorkshire verbracht hat. Er ist immer wieder für ein paar Tage hinaufgefahren.«
»Ich dachte, es sei eine reine Sommerresidenz.«
»Nein. Jedenfalls habe ich nicht den Eindruck gewonnen. Harold hat selbst im Winter seine Wochenenden dort verbracht. Ich erinnere mich genau daran.«
Jill fragte sich, ob Hal allein dorthin gefahren war oder ob er Marisa mitgenommen hatte. Sie schob diese Überlegung beiseite, da sie die Antwort schon kannte. Plötzlich war sie zuversichtlich: Je eher sie nach Yorkshire fuhr, desto schneller würde sie die 353
Antworten bekommen, die sie suchte. »Lucinda, würden Sie sich um die Katzen kümmern, solange ich weg bin? Nur für ein paar Tage.«
»Natürlich, meine Liebe«, sagte Lucinda.
Nachdem Jill aufgelegt hatte, grübelte sie nach.
Selbst wenn sie Alex noch nicht trauen konnte, selbst wenn er KCs Schwert-König war, er war clever und einfallsreich, und sie hätte ihn am liebsten angerufen, um sich einen guten Rat geben zu lassen. Sie fragte sich, was er in ihrer Situation als Nächstes tun würde.
»Der verdammte König ist wahrscheinlich Thomas«, murmelte Jill und liebäugelte mit dem Telefon. Sie war nicht sicher, ob sie sich das nur einreden wollte oder ob sie es wirklich glaubte.
Außerdem konnte KC sich irren. Sie war eine echte Dramatikerin. Vielleicht hatte sie ihre geliebten Karten falsch interpretiert.
Aber KC hatte sie in Unruhe versetzt. Jedes Mal, wenn sie an diesen Mann dachte, dem sie nicht trauen konnte, drehte sich ihr der Magen um, und sie wurde nervös und hatte ein sehr ungutes Gefühl. Sie beschloss, KCs Warnung für den Augenblick in den Wind zu schreiben. Das ungute Gefühl hatte wahrscheinlich mehr damit
zu tun, dass sie sich ständig ermahnte, nicht einmal an Alex zu denken - was nur darauf hindeutete, dass ihre Hormone immer noch verrückt spielten und sie eher früher als später ihrer Sehnsucht nachgeben würde.
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Sie konnte nicht anders als daran denken, wie es mit Hal gewesen war. Mit ihm zu schlafen war, als schwebe man im Himmel. Natürlich war sie mit Haut und Haaren in ihn verliebt gewesen. In Alex war sie nicht verliebt. Nicht ein kleines bisschen. Er sah sehr gut aus und hatte einfach Klasse - das machte sie an.
Jill hatte so ein Gefühl, dass er ein fantastischer Liebhaber war.
»Denk nicht mal dran«, befahl sie sich streng.
Das Telefon klingelte und schreckte sie aus ihren Gedanken. Es war Alex. Ungläubig klammerte Jill sich an den Hörer.
»Hallo«, sagte er. »Wie geht’s den Katzen?«
»Wie geht’s den Katzen?«, echote sie. Vielleicht waren sie wirklich telepathisch verbunden. Es war unglaublich.
»Lady Eleanor und Sir John.«
Sie verkniff sich ein Lächeln. »Lady E. fängt an, mich zu mögen - sie schmilzt geradezu dahin. Sir John versteckt sich im Garten.«
Sie sah ihn am anderen Ende der Leitung lächeln.
Er sagte: »Ich möchte mich für gestern Abend entschuldigen. Ich hab dich wie eine Dampfwalze überrollt. Das wollte ich nicht. Was kann ich tun, um es wieder gutzumachen?«
Jill blinzelte erstaunt. Sie spürte ihren jagenden Herzschlag und brauchte einen Moment, bis sie sprechen konnte. »Das war deutlich ausgedrückt.«
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»Das Leben ist so verdammt kurz, Jill. Ich glaube, das haben wir beide vor kurzem gelernt.«
Jill wurde ernst. »Ja.« Sie zögerte. »Du warst nicht wirklich eine Dampfwalze. Vielleicht eher ein kleiner Bagger.«
Er lachte. »Danke.«
»Ich glaube, du kannst Gedanken lesen«, sagte sie grinsend.
Er lachte wieder. »Überhaupt nicht. Weil ich nämlich keine Ahnung habe, was dir so im Kopf herumspukt, außer deiner Ahnfrau.«
Jill erstarrte. Sie keuchte: »Hast du an sie gedacht?
Ist Kate der Grund, warum du anrufst?«
»Ich wollte mich bei dir entschuldigen, aber ich habe wirklich an sie gedacht. Irgendetwas stimmt da nicht, ich kann noch nicht genau sagen, was, aber ich habe auch das starke Gefühl, dass es eine Verbindung zwischen euch beiden gibt.«
Ein Schauer überlief Jill.
»Jill?«
Sie lächelte ins Telefon. »Es ist schön, dass noch jemand, der viel objektiver ist als ich, dasselbe denkt wie ich.«
»Also, was willst du jetzt machen?«
Sie zögerte wieder. Sollte sie Alex von ihrem Plan erzählen? Wenn sie es tat, würde sie ihm Vertrauen entgegenbringen. Jill schloss die Augen. Es war 356
offensichtlich, dass Thomas hier der Böse war.
Thomas war derjenige, dem sie nicht trauen durfte.
Sie holte tief Luft. »Dein Onkel hat mich heute Morgen zu sich beordert«, sagte sie schnell. Sie erzählte ihm, was passiert war.
»Autsch«, sagte er. »Das ist meine Schuld. Wir sind aufgetreten wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen. Ich hab darüber nachgedacht, weißt du. Diese Briefe finden wir vielleicht nie. Aber wir können andere Spuren verfolgen.«
»Wir« hatte er gesagt. Jill umklammerte den Hörer mit feuchten Händen. Er klang aufrichtig. Wenn er log, wenn er diese Briefe gelöscht hatte, musste er ein Irrer sein. Jill glaubte nicht, dass er log. Er kam ihr nicht vor wie ein Irrer. Er war offen und aufrichtig. Er schien Integrität zu besitzen. Sie würde sich entscheiden müssen, und zwar schnell, ob sie ihm vertrauen wollte oder nicht.
Alex unterbrach ihre Gedanken. »Ich könnte dich nach Yorkshire fahren. Wir wissen ungefähr, wo Kate sich während ihrer Schwangerschaft aufgehalten hat.
Wie viele passende Häuser kann es da schon geben?
Und die Leute dort haben ein gutes Gedächtnis. Jedes Dorf hat seine Geschichten und Gespenster. Gott weiß, was wir alles ausbuddeln könnten.«
Jill hörte sich krächzen: »Da bin ich dir voraus. Ich habe gerade Lucinda gebeten, die Katzen zu hüten.«
357
»Kluges Mädchen«, murmelte er, und seine Stimme klang so tief und voll, dass sie Jill den Atem raubte und die Schlafzimmerfrage sie völlig vereinnahmte.
Dann sagte er: »Wann willst du fahren? Wie wär’s mit Donnerstagmittag? Es sind gute sechs Stunden von hier nach York. Und noch mal vier nach Stainesmore. Der einzige Haken ist der, dass wir am Sonntagabend oder ganz früh am Montag wieder zurückfahren müssten.«
Sie war überwältigt. »Du musst das nicht tun. Ich kann mir ein Auto mieten ... «
»Noch ein toter Yankee? Vergiss es. Ich fahr dich.
Auf diese Wiese können wir auch völlig problemlos auf dem Gut übernachten - ich rufe die Haushälterin an und sage ihr, dass wir kommen.«
Jill fuhr sich über die Lippen. »Danke, Alex«, sagte sie.
»Kein Problem. Eigentlich ist es mir eher ein Vergnügen.« Er zögerte. »Jill. Ein guter Rat.«
»Nämlich?«
»Sag niemandem, wo wir hinfahren - oder warum.«
Jill war sprachlos.
»Dann bis Donnerstagmittag«, sagte er.
Nachdem er aufgelegt hatte, starrte Jill auf den Hörer in ihrer Hand. Warum hatte er so betont, dass sie heimlich fahren mussten? Warum glaubte er, dass sie etwas zu verbergen hätten?
358
Und Jill fragte sich, ob er mehr wusste als sie.
359
Zwölf
D ie nächsten zwei Tage verbrachte Jill in Uxbridge Hall. Lucinda hatte ihr erlaubt, sich in den meisten Räumen der Georgianischen Residenz frei zu bewegen - auch auf den Dachböden und im Archiv.
Die Privaträume der Sheldons blieben ihr jedoch verschlossen. Jill erwartete nicht, die Briefe in Uxbridge zu finden, außer vielleicht im Trakt der Familie, aber sie hoffte, irgendetwas zu finden, das mit Anne und Kate zu tun hatte.
Sie begann auf den Dachböden. Das schien ihr der naheliegendste Platz zu sein, denn schließlich verstaute dort jeder die Überbleibsel der Vergangenheit. Bedauerlicherweise waren die Dachböden in tadelloser Ordnung. Man hatte sie schon vor langer Zeit ausgemistet. Es standen keine alten Truhen herum, ob verschlossen oder nicht, keine Kisten, keine Papierstapel - es gab nichts als staubige Fußböden und Mäusedreck.
Auch in Annes Schlafzimmer fand sich kein Hinweis auf die Vergangenheit. Jede Schublade war längst geleert worden. Jill hatte gehofft, Briefe zu finden, Notizen, Erinnerungsstücke oder ein Tagebuch. Sie war sehr enttäuscht.
360
Dasselbe galt für den Rest der öffentlich zugänglichen Räume. Jede Schublade und jeder Schrank war leer.
Die Archive im Keller waren auch nicht das, was Jill erwartet hatte. Sie hatte gehofft, dort eine umfangreiche Sammlung von Dokumenten zu finden, aber sie konnte das gesamte vorhandene Material an einem Nachmittag durchlesen. Das meiste davon bezog sich auf das Leben, die Geburten, Hochzeiten und Todesfälle vergangener Generationen von Sheldons, die Jill einfach ausließ.
Die interessanteste Entdeckung war die, dass Edward Sheldon, der neunte Viscount und Williams Vater, eine Vorliebe dafür gehabt hatte, seiner Familie und seinen Angestellten Instruktionen zu schicken. So gab es Anweisungen an den Vorarbeiter in seiner Eisenerz-Mine, neue Lampen in allen Schächten anzubringen. Es gab Anweisungen an den Obersten Gärtner von Stainesmore. Die Rosen entwickelten sich nicht richtig, man musste etwas unternehmen, der Viscount empfahl, einen Gartenbauexperten hinzuzuziehen. Es gab Anweisungen an seinen Kammerdiener, seine Haushälterin, seinen Butler sowie an seine Söhne Harold und William und eine Tochter namens Sarah.
Jill hatte gar nicht gewusst, dass Edward und Anne noch einen Sohn gehabt hatten, oder gar eine Tochter.
Aber 1932 hatte Edward Sarah einen kurz angebundenen Brief geschrieben, um sie von ihrer 361
Verlobung in Kenntnis zu setzen und sie nach London zurückzubeordern, damit ihre Hochzeit vorbereitet werden konnte. Er hängte eine Liste von Instruktionen an - wen sie besuchen musste, wohin sie zu gehen hatte, was sie bis zur Hochzeit tun und in Auftrag geben musste.
Am 15. Oktober 1930 hatte Edward an William geschrieben, einer der wenigen Briefe während dessen fünfjährigem Schulaufenthalt in Eton.
Ich habe Verständnis dafür, dass die Pflicht manchmal zu kurz kommt, dass der Respekt versagt und Jungen sich eben wie Jungen verhalten. Das ist jedoch keine Entschuldigung für Dein Benehmen. Ich stimme mit Dr. Dalton darin überein, dass eine Suspendierung angebracht ist. Bereite alles für Deine Abreise nach London vor.
Ich bin sicher, William, dass Du bis zu Deiner Rückkehr nach Eton Deine Prioritäten überdacht und die richtigen Schlussfolgerungen gezogen haben wirst.
Dein Vater, Collinsworth
Jill betrachtete überrascht diesen unterkühlten Brief.
Alle seine Briefe an William waren so - alle enthielten irgendeinen Tadel. William, so dachte Jill, war als Junge wohl ein kleiner Tunichtgut gewesen.
362
Es gab eine Reihe von Briefen an Harold während dessen Jahren in Eton und Cambridge, auch diese ständige Ermahnungen, wie er sich zu benehmen und wann er was zu tun habe. Gleich darauf las sie einen Brief aus dem Jahre 1941. Offenbar war Harold Kampfpilot in der Royal Air Force gewesen.
Jill fragte sich, wann Harold gestorben sein mochte.
Es gab auch solche kurzen Notizen an Anne. Alle waren sehr unpersönliche Anweisungen. Edward ersuchte sie, die Arbeiten an Stainesmore zu beaufsichtigen, die Anlage eines neuen Gartens in der Stadt, die Ankunft eines neuen Vollblut-Hengstes, die Entlassung des Oberaufsehers der Hundezwinger. Es gab einige Dutzend solcher Aufträge, aber der früheste war von 1916. Jill musste davon ausgehen, dass er und Anne damals schon sechs oder sieben Jahre verheiratet waren.
Die kurzen Briefe verwirrten sie. Keiner davon enthielt irgendetwas Persönliches. Jill fragte sich, ob Edward wirklich so kalt, distanziert und herrisch gewesen war.
Am Donnerstag war sie schon lange vor Mittag reisefertig. Sie hatte bei ihrer Suche nach der Wahrheit über Kate Gallagher keinerlei Fortschritte gemacht, aber einige interessante Dinge über die Familie Sheldon erfahren. Harold war im Krieg gefallen, woraufhin William Erbe des Titels wurde.
Laut Lucinda war Sarah 1985 verstorben. Sie hatte 363
zwei Töchter, beide waren verheiratet und hatten Kinder, und eine lebte noch in London.
Jill hörte den starken Motor des Lamborghini grollen, als ihr Telefon klingelte. Sie hatte bereits ihre kleine Reisetasche in der Hand, schaute erwartungsvoll aus dem Fenster und beschloss, das Telefon zu ignorieren. Das silberne Ungetüm hatte am Bordstein gehalten.
Jill wollte los und öffnete die Haustür, in verwaschener Levis, einem schwarzen, gerippten TShirt und ihrer schwarzen Lederjacke. Alex kam in einer braunen Hose und einem gelben Polohemd durch ihren Vorgarten. Er lächelte sie an, offensichtlich gut gelaunt.
Als Jill gerade die Tür schließen wollte, hörte sie von ihrem Anrufbeantworter: »Miss Gallagher, hier ist Beth Haroway aus dem Felding Park-Pflegeheim.
Ich wollte Ihnen Bescheid sagen, dass ... «
Jill ließ ihre Taschen fallen und sauste zum Telefon.
»Beth! Ich bin’s, Jill«, rief sie atemlos.
»Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Janet Witcombe heute einen ihrer besonders guten Tage hat, Jill. Sie scheint völlig klar zu sein«, sagte die junge Schwester. »Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich sofort rausfahren und mit ihr sprechen.«
Jill umklammerte aufgeregt den Hörer und bemerkte dann Alex, der an der Tür nach ihren Taschen griff. »Wir sind gleich da«, sagte sie.
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»Vielen Dank.« Sie legte auf und eilte zu Alex, der sie mit einem gemütlichen Ausdruck ansah. »Wir müssen unterwegs noch am Pflegeheim vorbeifahren.
Janet Witcombe hat heute einen guten Tag, Alex. Ich muss mit ihr sprechen, solange sie noch bei klarem Verstand ist.«
Er lächelte; seine Augen weiteten sich leicht und senkten sich in ihre. »Das kann ja interessant werden.« Er nahm ihre Taschen, sie verließen das Haus, und Jill schloss ab. Als sie in dem silbergrauen Wagen saßen und sein Motor schnurrte, sagte Alex:
»Mach dir keine allzu großen Hoffnungen, Jill.
Dreißig Jahre sind eine verdammt lange Zeit, um sich noch an ein Gespräch zu erinnern.«
»Ich weiß. Aber ich komme überhaupt nicht voran.
Ich habe gar nichts Neues entdecken können, seit wir uns zuletzt gesprochen haben. Ich brauche irgendeine Spur.«
Er steuerte den Wagen um die Ecke, und auf seiner linken Wange
erschien ein Grübchen. »Was hast du denn gemacht, seit wir uns das letzte Mal gesprochen haben?«
»Ich habe in Uxbridge Hall herumgestöbert«, sagte sie und studierte sein Profil. Nicht, um seine schönen Züge zu bewundern, sondern weil sie seine Reaktion abschätzen wollte.
365
Er lächelte, ohne sie anzusehen. »Klingt doch lustig. Ich habe bis zum Hals in Zahlen gesteckt.« Er seufzte und warf ihr einen kurzen Blick zu. »Ich hab in den letzten Tagen nicht viel Schlaf gekriegt.« Ihre Blicke trafen sich. Jill stellte sich vor, wie er bis spät in die Nacht ganz allein in seinem Büro saß, und sie errötete und schaute weg. Jetzt war ein ganz schlechter Zeitpunkt, ihn attraktiv zu finden, denn sie fuhren zusammen übers Wochenende weg. Sie war dankbar für die Unterbrechung, als Alex’ Handy klingelte.
Er hatte außerdem ein fest installiertes Autotelefon.
Das Handy lag in der kleinen hölzernen Ablage zwischen seinem Oberschenkel und Jills. Er nahm es mit einer Hand und öffnete die Klappe, wobei er auf dem Display nach der Nummer des Anrufers schaute.
»Ja.«
Einen Moment später sagte er: »Ich habe beschlossen, mal ein bisschen auszuspannen. Ich bin fertig. Sonntagnacht oder Montag früh bin ich wieder da.«
Und dann: »Ich weiß nicht. Ich fahre ein bisschen ins Grüne, nach Norden rauf. Der Lamborghini braucht seinen Auslauf. Wenn es ein Problem gibt, du hast ja meine Mobilnummern.«
Jill tat so, als hörte sie nichts. Mit wem sprach er da? Plötzlich fragte sie sich, ob er eine Freundin hatte und ihr nicht sagen wollte, wo er hinfuhr. Sie hatte 366
ihn nie nach einer Freundin gefragt; das würde sie auch jetzt nicht tun. Es ging sie nichts an.
»Ich habe mich noch nicht entschieden, wo ich übernachten will. Okay. Bye.« Er beendete das Gespräch und legte das Telefon weg. Schließlich konnte sie doch nicht anders. »Wer war das?«
Er lächelte sie an, als habe er ihre Vermutung erraten. »Das war
Thomas. Ich hab eine Konferenz heute Nachmittag abgesagt, und er wollte wissen, warum.«
Sie starrte ihn an. »Du hast ihm nicht viel erzählt.«
»Nein.«
»Du hast ihm überhaupt nichts gesagt.«
»Stimmt.«
Jill schaute wieder nach vorn. Sie fuhren in Richtung Westen auf der Oxford Street. Warum diese Geheimniskrämerei? Er hatte neulich auch ihr geraten, niemandem zu sagen, wohin sie wollten. Er sagte es nicht einmal Thomas. Weil er wusste, dass Thomas derjenige war, der die Briefe gelöscht hatte?
War Thomas der Mann, dem sie nicht trauen sollte?
Wem könnte mehr daran liegen, die Familie vor der Leiche im Keller zu beschützen? Jill sah zu Alex hinüber, der in gewisser Weise ebenso ein Außenseiter war wie sie selbst. Aber er hatte hart gekämpft, um sich seinen Platz in der Familie zu 367
erarbeiten. Machte ihn das nicht zu einem noch glühenderen Verteidiger ihres Rufes?
Jill konnte sich nicht entscheiden. Thomas’
Gegnerschaft war offensichtlich, Alex’ nicht. Aber es war Alex gewesen, der Thomas beschuldigt hatte, verborgene Pläne zu hegen. Wenn Alex so aufrichtig war, wie er sich gab, dann war Thomas der Schuldige.
Aber was, wenn er nicht so aufrichtig war? Was, wenn er sie absichtlich getäuscht hatte? Was, wenn er derjenige mit verborgenen Plänen war? »Woran denkst du, Jill?«, fragte er leise, als sie auf die Autobahn auffuhren.
Sie schrak zusammen. »Alex«, sagte sie vorsichtig,
»was glaubst du, was passieren würde, wenn wir herausfinden, dass Kate etwas Schreckliches zugestoßen ist, während sie auf Bensonhurst war?
Und dass Anne etwas damit zu tun hatte?«
Er sah sie an - und schaute dann in den Rückspiegel. Jill betrachtete seine Hände, um zu sehen, ob sie das Lenkrad fester umklammerten. »Du könntest die Story für ein hübsches Sümmchen an ein Schmierblatt verkaufen«, erwiderte er.
Jill setzte sich auf. »Du machst wohl Witze.«
»Nein. Die Presse würde eine kleine Sensation daraus machen. Die Leute würden sich auf Partys und in den Clubs eine Woche oder so das Maul zerreißen.
Und dann würde die Sache wieder im Sand verlaufen.«
368
»Das alles wegen einer Geschichte, die sich vor mehr als neunzig Jahren abgespielt hat?«
»Wenn es etwas Schlimmes war, sicher.« Ersah sie an. »Stell dir vor, es käme heraus, dass Joe Kennedy eine Geliebte hatte, die fortgeschickt wurde, um sein außereheliches Kind zu bekommen - und die Frau und das Kind sind unter mysteriösen Umständen verschwunden. Stell dir vor, er hätte ihnen gefälschte Identitäten verschafft, und jetzt würden ihre Nachkommen gefunden und benannt. Würde das in den Staaten nicht für Schlagzeilen sorgen?«
»Vielleicht im Time Magazine«, bemerkte Jill trocken, »wenn die Story blutig genug ist.«
»Siehst du«, sagte Alex und warf ihr diesmal einen längeren Blick zu.
»Warum hilfst du mir?«, fragte Jill geradeheraus.
Er schwieg. Dann sagte er, die Augen auf die Straße gerichtet: »Weißt du das wirklich nicht?«
Sie zögerte. Eigentlich wusste sie es sehr gut, da brauchte sie sich nur an ihren gemeinsamen Abend zu erinnern. Rasch wechselte sie das Thema. »Es gibt ein Krankenhaus in York, das wir uns anschauen sollten.
1908 war es das York Infant Hospital; Frauen haben dort ihre Kinder geboren.«
Er lächelte still vor sich hin.
»Mrs. Witcombe, meine Liebe, Sie haben Besuch.«
Beth Haroway war eine füllige Blondine Mitte 369
dreißig, und sie hatte Alex und Jill zu einer kleinen alten Dame geführt, die auf einer Bank in dem Park saß, der das Altenheim umgab. Beth Haroway lächelte fröhlich. Der Himmel war blau, und dicke Wattewolken zogen vorbei. Andere Bewohner des Heims genossen den Sonnenschein auf anderen Bänken oder in ihren Rollstühlen, wieder andere gingen spazieren. Dies schien ein sehr friedvoller Ort zu sein, aber Jill hatte nur Augen für die zierliche, weißhaarige Dame, die in ein kamelfarbenes Wolltuch gehüllt auf der grünen Bank saß.
»Das ist Jill Gallagher aus Amerika, und ihr Bekannter Alex Preston«, fuhr Beth fröhlich fort und berührte Mrs. Witcombes Schulter. »Ich werde Sie einen Moment allein lassen, meine Liebe. Brauchen Sie noch etwas?«
Janet Witcombe schüttelte den Kopf und studierte Jill und Alex mit ihren blauen Augen, die viel wacher wirkten als bei Jills letztem Besuch. Sie strahlten Neugier und Interesse aus. »Na, so was«, sagte sie leise. »Ich bekomme nicht oft Besuch von Leuten, die ich nicht kenne, und schon gar nicht aus Amerika.«
Sie lächelte.
»Ich weiß, dass Ihnen das merkwürdig erscheinen muss«, sagte Jill, »und ich hoffe, Sie nehmen es uns nicht übel. Stören wir Sie?« Sie hielt einen Blumenstrauß in der Hand.
370
»Aber ganz und gar nicht«, rief die kleine alte Dame. »Was für ein herrlicher Tag - wie könnte einen an solch einem Tag jemand stören?«
»Die sind für Sie«, sagte Jill und reichte ihr die Lilien.
Mrs. Witcombe roch daran. Als sie aufblickte, hatte sie Tränen in den Augen. »Meine Lieblingsblumen.
Ach ja. Mein Mann hat mir früher immer als Überraschung Lilien mitgebracht, wissen Sie. Das ist viele Jahre her. Er ist ja so jung gestorben. Er war erst zweiundfünfzig.«
»Das tut mir Leid«, sagte Jill leise. »Darf ich mich setzen?«
»Ja, bitte.« Mrs. Witcombe klopfte neben sich auf die Bank. »Ist dieser gut aussehende Mann Ihr Freund?«
Jill wäre fast wieder aufgesprungen, und sie wusste, dass sie rot wurde. »Alex ist nur ein guter Bekannter«, sagte sie bestimmt.
Nun mischte er sich ein. »Aber nur deshalb, weil ich mich in dieser Sache bisher nicht durchsetzen konnte«, erzählte er Mrs. Witcombe und blinzelte sie an.
Jill ging darüber hinweg.
Alex reichte ihr ein Lunchpaket, das sie in einem Cafe in der Nähe besorgt hatten. »Ich hoffe, Sie haben Hunger, Mrs. Witcombe. Wir haben Ihnen nämlich etwas mitgebracht. Ein Sandwich mit geräuchertem 371
Truthahn und gebratener Paprika und ein paar Muffins zum Nachtisch, glaube ich.«
»Ach, wie lieb von Ihnen«, rief Mrs. Witcombe aus, als Alex die Schachtel neben sie auf die Bank legte.
Sie sah Jill an. »Er ist einfach bezaubernd, und Sie beide geben ein wunderbares Paar ab.«
Jill lächelte und richtete sich auf. Ihre Schultern waren auf einmal verspannt. Sie wich Alex’
lachendem Blick aus. »Mrs. Witcombe, ich interessiere mich sehr für Geschichte, und ich hatte gehofft, Ihnen ein paar Fragen über Anne Sheldon stellen zu können, die verstorbene Countess of Collinsworth.«
Auch Mrs. Witcombe richtete sich auf. »Sie war eine großartige Dienstherrin«, sagte sie. »Es hat mir sehr gefallen, in Uxbridge Hall für sie zu arbeiten.«
Jill war begeistert. »Sie haben sie gekannt.«
Mrs. Witcombe lächelte. »Wir sind uns ein paarmal begegnet, meine Liebe. Sie war eine echte Dame, eine von der Art, die es heute gar nicht mehr gibt. Wussten Sie, dass sie niemals ohne Hut und Handschuhe das Haus verließ?«
»Nein, das wusste ich nicht«, antwortete Jill lächelnd. »Hat sie jemals mit Ihnen über ihre Vergangenheit gesprochen?«, fragte sie. »Sie war die beste Freundin einer Frau, von der ich abstamme. Ich meine, als die beiden sechzehn, siebzehn Jahre alt waren, bevor sie Edward Sheldon geheiratet hat.«
372
Mrs. Witcombe drehte sich auf der Bank, so dass sie Jill direkt gegenüber saß. »Sprechen Sie von dieser unglückseligen jungen Frau, Kate Gallagher?«
Jill schnappte nach Luft, warf Alex einen Blick zu und starrte dann Mrs. Witcombe an. »Ja«, sagte sie heiser. »Die meine ich.« Unglückselig? Wusste Janet Witcombe, was aus Kate geworden war? Jill begann zu schwitzen. Sie hatte die Finger fest verschränkt.
Mrs. Witcombe starrte zurück.
»Entspann dich«, flüsterte Alex ihr ins Ohr.
»Mrs. Witcombe, bitte, ich versuche
herauszufinden, was mit Kate passiert ist. Sie wissen doch sicher, dass sie 1908 verschwunden ist. Spurlos.
Man hat sie nie wieder gesehen.«
»Ja, das ist allgemein bekannt«, sagte Mrs.
Witcombe.
»Allgemein bekannt?« Überrascht hob Jill die Brauen.
»Jedenfalls in Uxbridge Hall. Sie haben doch bestimmt das Medaillon gesehen?« Jill nickte. »Und das Porträt? Mit allen dreien?« »Welches Porträt?«
Jill krallte sich an der Bank fest.
»In Uxbridge. Da gab es ein Porträt von Anne, Kate und Edward. Die beiden Mädchen saßen auf der Bank vor dem Klavier, und Edward stand daneben. Es war ein entzückendes Bild, die Mädchen in bestickten Musselinkleidern, Edward mit Hose und Reitmantel.
Ich glaube, das Bild wurde auf dem Lande gemalt.«
373
Jill blickte zu Alex, der sie ebenfalls ansah. Sie wandte Mrs. Witcombe den Rücken zu. »Auf Stainesmore?«
»Ja, natürlich, meine Liebe. Wo sonst?«
»Ich kann mich nicht an ein solches Porträt in Uxbridge Hall erinnern«, warf Alex leise ein.
Jill nickte und prägte sich ein, so schnell wie möglich Lucinda anzurufen und nach dem Porträt zu fragen. Vielleicht wurde es gerade restauriert. »Was können Sie mir über Kate und Anne sagen?«
Mrs. Witcombe schien zu zögern. »Nicht viel, fürchte ich. Ich weiß dasselbe wie alle anderen. Die beiden waren Freundinnen, und als
Kate nach London kam, wohnten sie und ihre Mutter bei Anne. Und Kate ist verschwunden.«
Jill drückte sich selbst die Daumen. »Mrs.
Witcombe.« Sie berührte die alte Dame an der Schulter. »Kurz bevor Uxbridge Hall als Museum eröffnet wurde, hat Anne es besichtigt, um ihre Zustimmung zu geben. Erinnern Sie sich daran?«
Mrs. Witcombe sah ihr in die Augen. »Wie könnte ich das jemals vergessen?« Sie wirkte grimmig.
»Was haben Sie?«, rief Jill.
»Was soll ich Ihnen denn sagen?«, gab Mrs.
Witcombe zurück.
374
»Lucinda hat mir erzählt, dass Anne sehr traurig wurde, als sie ihr altes Schlafzimmer betrat. Dass sie geweint hat.«
»Sie hat sich furchtbar aufgeregt«, flüsterte Mrs.
Witcombe. »Nicht sofort. Zuerst war sie sehr zufrieden mit den Renovierungsarbeiten. Dann, als wir in ihr altes Zimmer kamen, geschah etwas mit ihr.
Ich habe es sofort bemerkt. Ihr Gesicht wurde ...
düster ... sehr bedrückt. Und sie setzte sich aufs Bett.
Ich dachte, ihr sei nicht gut, aber sie winkte ab und deutete aufs Fenster, und sie erzählte mir, wie ihre Freundin Kate - ihre beste Freundin - Nacht für Nacht aus diesem Fenster kletterte, um sich mit ihrem Liebsten zu treffen.«
Jill bekam nur am Rande mit, dass Alex ganz nah an sie herantrat - als wolle er sie vor allem beschützen, was als Nächstes kommen mochte. »Hat sie Ihnen erzählt, wer Kates Geliebter war? Hat sie Ihnen erzählt, was mit Kate passiert ist?«
Mrs. Witcombe seufzte schwer und schlang ihr Tuch noch fester um sich. »Sie hat nie über Kates Schicksal gesprochen. Sie begann zu weinen.
Vollkommen lautlos. Ich bekam es mit der Angst zu tun. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Sie war ja so unglücklich, meine Liebe. Also bin ich hinausgelaufen und habe ihr eine Tasse Tee geholt.«
»Und das ist alles?«, rief Jill.
Plötzlich richtete sich Mrs. Witcombes Blick nicht auf Jill, sondern in eine unbekannte Ferne. Ihre 375
Augen hatten sich verändert, waren verschwommen und hatten ihr Strahlen verloren. Jill fürchtete, sie hätte ihre Klarheit wieder verloren. Sie dachte, das Gespräch sei beendet.
Aber Mrs. Witcombe sprach weiter, mit leiser, entrückter Stimme. »Als ich wieder ins Zimmer kam, stand Anne am Fenster. Sie hörte mich nicht, obwohl ich mich höflich räusperte. Einen Augenblick lang war ich starr vor Schreck, denn ich dachte, sie würde springen. Das Fenster stand weit offen. Sie hatte es ganz weit aufgemacht.« Mrs. Witcombe verstummte.
Neben der Bank war ein kleiner Tisch, und darauf stand ein Tablett mit einem Wasserkrug und mehreren Gläsern. Alex reichte Mrs. Witcombe ein Glas Wasser. Nachdem sie einen Schluck getrunken hatte, sagte sie heiser: »Anne klang sehr merkwürdig, sie sagte, und ich werde ihre Worte niemals vergessen,
>Damals wusste ich es noch nicht, aber ihr Geliebter war Edward, mein Edward<.«
Jill starrte sie entgeistert an.
»Dann nahm sie den Tee, trank, als wäre gar nichts geschehen, dankte mir für die gute Arbeit, die ich geleistet hatte, und ging: Ich habe sie danach noch ein paarmal gesehen, aber dieses Thema wurde nie wieder erwähnt. Und das ist alles, was ich weiß.«
Mrs. Witcombe sah sie beide an. Ihr Blick war wieder klar und konzentriert.
Jill schwieg schockiert.
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»Nun«, brach Alex das Schweigen, »wenn Edward Kates Geliebter war, erklärt das eine ganze Menge.«
Jill sah ihn nur verständnislos an.
1. Oktober 1906
Kate und Anne saßen zusammen in der Kutsche, die von sechs rabenschwarzen Pferden gezogen wurde, und hielten einander ganz fest an der Hand, während der Wagen über das Kopfsteinpflaster rollte. Es war ein herrlicher Abend; im blauschwarzen Himmel über ihnen blinkten die Sterne, und wie in Pfützen sammelte sich das Licht zu Füßen der elektrischen Lampen, die die Straße säumten. Es hatte am Nachmittag heftig geregnet, und nun schillerte das Kopfsteinpflaster wie schwarzes Glas. Der livrierte Kutscher lenkte das Gespann in eine kreisförmige Auffahrt vor einer riesigen, festlich beleuchteten Villa. Die Auffahrt war bereits von Dutzenden anderer Kutschen und Automobile verstopft. Ihre Kutsche reihte sich hinten in die Schlange der wartenden Wagen ein, und jedes der Vehikel wartete darauf, schließlich vor der Eingangstreppe anzuhalten und seine Passagiere aussteigen zu lassen.
Kate und Anne sahen sich an. »Wir stehen kurz vor unserem Debüt«, flüsterte Kate, und ihre Finger krallten sich in Annes Hand.
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»Ich bin ja so glücklich«, flüsterte Anne zurück.
»Dies ist der Anfang, meine liebste Kate, eines wunderbaren Lebens für uns.«
»Wie romantisch du bist«, flüsterte Kate lächelnd.
»Genauso empfinde ich es auch.« Und sie drehte sich zu dem verhängten Fenster, um mit klopfendem Herzen auf die vielen Grüppchen von prächtig gekleideten Damen und edlen Herren in Smokings hinauszustarren, die die Vordertreppe zum Haus der Fairchilds hinaufstiegen.
»Mädchen! Habe ich euch nicht schon oft genug erklärt, dass diese Flüsterei ein höchst unhöfliches Benehmen darstellt?«, predigte Lady Bensonhurst vom Sitz gegenüber. »Ich werde ein solches Benehmen auf dem Ball nicht tolerieren. Ich erwarte, dass ihr beide euch vollkommen damenhaft verhaltet, immer und überall!« Und sie funkelte Kate böse an.
Kate trug ein Kleid aus silbernem und blauem Satin mit schmalen Puffärmeln und einem Volantsaum. Sie erhob ihren Fächer, ließ ihn aufschnappen und wedelte affektiert damit herum. »Ich bitte um Vergebung, Mylady«, sagte sie übertrieben unterwürfig. »Wir werden uns sehr bemühen, den besten nur möglichen Eindruck bei den Gästen des heutigen Balles zu hinterlassen.«
Lady Bensonhurst wandte abrupt den Kopf, um mit zusammengebissenen Zähnen aus dem Fenster zu starren. Ihr Ehemann, Annes Vater, schien das Gespräch gar nicht zu beachten und nippte an einem 378
silbernen Flachmann. Kates Mutter Mary warf ihrer Tochter einen mahnenden, besorgten Blick zu.
»Bitte«, flehte sie stumm. »Bitte, Kate, ich bitte dich.«
Ärgerlich ließ Kate ihren Fächer wieder zuschnappen und merkte dann, dass sie mit dem Aussteigen an der Reihe waren. Ihr Blick traf Annes.
Schon den ganzen Tag hatte sie das starke Gefühl gehabt, dass dies eine magische Nacht würde - dass sich sehr bald etwas ganz Besonderes ereignen würde.
Sie hatte keine Ahnung, was das sein könnte, aber seit dem Aufwachen hatte sie Schmetterlinge im Bauch und war von dieser erregenden Erwartung erfüllt.
Ihre Gruppe stieg aus der Kutsche und schritt langsam die vielen Stufen zum Haus hinauf. Die vier Damen ließen sich von wartenden Dienstboten ihre Umhänge abnehmen, und Lord Bensonhurst händigte ihnen seinen Hut und Gehstock aus. Dann standen sie vor dem Eingang des Ballsaals, Anne vorn zwischen ihren Eltern. Direkt hinter ihnen wartete Kate mit ihrer Mutter, und als die Bensonhursts an der Reihe waren, in den Ballsaal hinunterzugehen, schaute Anne über die Schulter zu Kate zurück. In ihren Augen standen Angst und freudige Erregung. Sie hat noch nie hübscher ausgesehen, dachte Kate, und reckte ungehobelterweise beide Daumen in die Luft.
»Kate«, zischte Mary und packte sie beim Handgelenk. »Lass das.« Die Bensonhursts wurden angekündigt. Kate schaute auf ihre kleine, 379
blassblonde Mutter mit ihren ständigen Sorgen und wünschte so sehr, ihr Vater könnte heute mit ihnen hier sein.
Wie stolz er heute auf sie wäre, dachte Kate lächelnd. Zweifellos hätte er über ihre derbe Geste gelacht.
»Mrs. Peter Gallagher aus New York City, Witwe des verstorbenen Peter Gallagher, und ihre Tochter, Miss Katherine Adeline Gallagher. «
Kate und ihre Mutter schritten die Treppe zum Ballsaal hinab. In dem riesigen Raum unter ihnen standen die Gäste in großen, bunt gemischten Gruppen herum, tranken Champagner und unterhielten sich mit Freunden und Bekannten. Kate trug ihren Kopf hoch erhoben, aber als sie auf das Spektakel blickte, das sie erwartete, bemerkte sie, dass man sich nach ihr umdrehte, dass Damen und Herren zu ihr heraufstarrten, dass sich viele Augenpaare bei ihrem Anblick weiteten. Sie fühlte ein heiteres Lächeln auf ihrem Gesicht. Diese Nacht hatte etwas Magisches, und sie hätte in diesem Moment mit keinem Menschen auf der Welt tauschen mögen.
Ihre Mutter und sie hatten fast den Fuß der Treppe erreicht. Hinter ihnen wurden bereits die nächsten Gäste angekündigt. Kates Blick fiel auf einen großen, dunkelhaarigen Gentleman, und ihr Lächeln erlosch, sie riss die Augen auf. Sein Blick war so intensiv, dass seine Augen silbrig zu sprühen schienen.
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Kate erkannte ihn sofort. Es war der Gentleman aus Brighton, der, der sie vom Pier aus beobachtet hatte, während sie mit den Wellen Fangen gespielt hatte. Ihr Herz schlug so schnell und so laut, dass sie dachte, ihre Mutter müsste es hören. Kate konnte den Blick nicht von ihm wenden, nicht einmal um zu sehen, ob ihre Mutter diese Reaktion auf einen Wildfremden bemerkt hatte.
Wer war das?
Kate konnte kaum atmen. Es klingelte ihr in den Ohren. Ihr Herz raste. War dies Liebe auf den ersten Blick?
Da lächelte er, nur ganz leicht, und verbeugte sich tief vor ihr.
Kate schnappte nach Luft, brachte ebenfalls ein Lächeln zustande und hätte sich dann dafür ohrfeigen mögen; sicher sah er deutlich, wie er sie durcheinander brachte - als sei sie ein Schulmädchen, das
männliche Aufmerksamkeit nicht gewöhnt war. Das war nun wahrlich nicht der Fall!
Sie gesellten sich zu den Bensonhursts, die sich mit einigen Paaren unterhielten, die Kate schon bei früheren Gelegenheiten kennen gelernt hatte. Kate merkte sehr wohl, dass Lady Bensonhurst ihr ihre füllige Rückseite zukehrte, aber das kümmerte sie nicht. Sie wusste, dass Annes Mutter sie verachtete und für wenig besser als gemeinen Abschaum hielt.
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Sie verachtete ihrerseits Annes Mutter, die schlimmer war als eine alte Hexe. Sie war ein Miststück.
Sie riskierte einen Blick über die Schulter. Er sah sie immer noch so gebannt an wie vorhin. Kate schenkte ihm ein kurzes Lächeln. Verdammt! Sie flirtete, aber ohne die Raffinesse, die sie sonst dabei an den Tag legte. Sie musste ihre Fassung wiedergewinnen, bevor er sie am Ende für einfältig hielt.
Kate wandte sich an Anne. »Ich gehe kurz in die Garderobe, Liebes.«
»Jetzt? Aber wir sind doch eben erst angekommen.«
Anne sah besorgt aus. »Du bist doch nicht krank, Kate?«
»Wohl kaum«, erwiderte Kate. Sie hätte nichts lieber getan, als Anne von dem Unbekannten zu erzählen, aber irgendetwas hielt sie zurück. »Ich bin gleich wieder da.« Sie drückte ihre Hand und sauste davon in einem Tempo, das weder vornehm noch damenhaft war. Aber sie hatte nicht die Absicht, Lady Bensonhurst in irgendeiner Hinsicht zu gehorchen.
Im Foyer blieb sie stehen, atmete ein paarmal tief durch und rang um Fassung. Sie musste in Erfahrung bringen, wer dieser Mann war.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?«
Beim Klang der tiefen, kultivierten Stimme unmittelbar hinter ihr erstarrte Kate. Sie wusste, wer 382
es war, obwohl sie noch nie ein Wort gewechselt hatten. Langsam drehte sie sich um.
Und blickte in das unglaublichste Paar bernsteinfarbener Augen,
das sie je gesehen hatte. Sie wurden von langen Wimpern gesäumt. Keiner von ihnen beiden lächelte.
Ein langer, stiller, atemloser Augenblick verstrich.
Er fand als Erster die Sprache wieder. »Ich bitte um Verzeihung.« Er ließ kurz ein Lächeln aufblitzen und verbeugte sich. »Wir sind einander nicht einmal vorgestellt worden, und ich stelle fest, dass ich mich wirklich wie der sprichwörtliche Trottel benehme.«
Kate lachte. »Das kann ich nicht finden, Sir.«
»Nein?« Er lächelte auch, aber seine blitzenden Bernsteinaugen wichen nicht von ihrem Gesicht. »Ich versichere Ihnen, so ist es. Üblicherweise mangelt es mir weder an Worten noch an Einfällen. Aber Ihre Schönheit hat mir die Sprache geraubt.«
»Sie sind zu gütig«, begann Kate und merkte, dass sie selbst sich jetzt wie ein Trottel anhörte.
Er verbeugte sich wieder. »Ich bin Lord Braxton«, sagte er. Kate streckte die Hand aus. »Kate Gallagher, Mylord.«
»Kate.« Sein Blick streifte über ihr hochgestecktes Haar, während er ihre Hand ergriff und küsste. Der sanfte Druck seiner Lippen war auch durch die zarte Seide ihres Handschuhs deutlich zu spüren.
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»Wie gut dieser Name zu Ihnen passt.«
Kate lächelte. »Es ist ein recht gewöhnlicher Name.«
»Aber da ist nichts Gewöhnliches an der jungen Dame, die ihn trägt.« Er lächelte.
Sie wollte schon wieder sagen, er sei zu gütig. Was war bloß los mit ihr? »Danke«, sagte sie. »Aus diesem Munde nehme ich das als größtes Kompliment.«
Sein Lächeln erlosch. »Also erscheint Ihnen auch die Quelle des Kompliments ungewöhnlich?«
Sie wollte ihren Ohren nicht trauen. »Ja«, sagte sie heiser. »Sehr ungewöhnlich.«
»Wie schmeichelhaft. Ich glaube, Miss Gallagher, dass wir einander schon einmal gesehen haben.«
»Ja«, antwortete Kate, die nicht vorhatte, die üblichen Spielchen zu spielen. »In Brighton.«
Er starrte sie an. Einen Moment später sagte er:
»Wissen Sie eigentlich, wie viele Damen die Erinnerung an diesen Tag verleugnen würden?«
»Aber ich bin nicht wie andere Damen - wie Sie eben selbst festgestellt haben.«
»Nein, Sie sind ganz und gar nicht wie die anderen, das habe ich in dem Augenblick erkannt, in dem ich Sie zum ersten Mal gesehen habe, als Sie mit den Wellen um die Wette liefen wie eine griechische Göttin.«
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Kate errötete. Ihr fehlten die Worte wo sie doch sonst stets eine schlagfertige Antwort parat hatte.
»Vergleichen Sie mich jetzt mit den Unsterblichen, Mylord?«
»In der Tat, das tue ich, ohne jede Einschränkung.«
Kate verging das Lächeln. Wenn irgendjemand einem Vergleich mit einer Gottheit standhielt, dann war das er und nicht sie.
»Sie sehen bezaubernd aus, wenn Sie erröten«, sagte er mit tiefer, leiser Stimme. Plötzlich ergriff er ihre Hand und drückte seinen Mund wieder gegen ihren Handschuh. Kates Herz überschlug sich. Ihre Knie fühlten sich lächerlich weich an. Als er wieder zu ihr aufsah, glänzten seine Augen. »Ich weiß sehr wohl, dass das sehr verwegen ist. Wann darf ich Sie zu einer Spazierfahrt im Park abholen?«
»Morgen?«, sagte Kate, und ihr Herz schlug einen weiteren Purzelbaum.
»Morgen wäre wunderbar«, erwiderte er. »Und heute Abend? Werden Sie mir einen Tanz gewähren?«
»Ja«, sagte Kate. Sie sah ihm direkt in die Augen.
»Nichts wäre mir lieber.«
Sie lächelten sich jetzt beide an wie zwei Vernarrte.
Kate hätte nicht sagen können, wie lange sie dort standen und einander angrinsten, während er ihre Hand umklammert hielt. Plötzlich bemerkte sie, dass sie nicht allein waren. Damen und Herren gingen im 385
Foyer an ihnen vorbei, und zahlreiche Köpfe wurden verdreht, um einen guten Blick auf sie zu erhaschen.
Sie hatte sich so in seiner Anwesenheit verloren, dass sie die herumschlendernden anderen Gäste gar nicht wahrgenommen hatte. Auch er schien wie aus einem Bann zu erwachen und sah sich um. »Wir sind bereits aufgefallen«, bemerkte er trocken.
»Ich falle immer auf«, gab Kate ebenso trocken zurück.
»Selbstverständlich. Niemand könnte Sie übersehen, meine Verehrteste.«
Die zärtliche Anrede ließ ihr Herz vor Glück in die Höhe springen und sich dann schwindelerregend wie im freien Fall überschlagen. Kate sah in sein umwerfendes Gesicht, seine blitzenden Augen, und dachte erstaunt: Oh Gott, ich habe mich gerade verliebt!
»Fühlen Sie sich nicht wohl?«, fragte er.
Sie hatte sich gerade verliebt. Sie starrte ihn an, für einen Moment unfähig zu sprechen. »Doch«, flüsterte sie schließlich. »Es geht mir gut.« Aber es ging ihr nicht gut. Sie war verblüfft, betäubt, zutiefst lebendig.
Sie fühlte sich, als umfinge sie ein magischer Nebel.
Er lächelte und drückte ihre Hand in seinen Händen. »Wir sollten in den Ballsaal zurückkehren, bevor wir zum Gegenstand ausgiebigen Klatsches werden:«
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»Ja«, sagte Kate, die am liebsten die ganze Nacht dort mit ihm im Foyer stehen wollte. Er nahm sie leicht beim Ellbogen, doch Kate dachte, dass die Berührung auch etwas Besitzergreifendes hatte, während er sie zu dem belebten Ballsaal zurückführte.
»Dann bis zu unserem Tanz«, sagte er.
»Bis zum Tanz«, antwortete Kate und wusste, dass es ihr endlos erscheinen würde. Sie beobachtete ihn, als er sich ein letztes Mal verbeugte und fortging, um sich einer Gruppe schneidiger Gentlemen seines Alters anzuschließen. Kate hatte Anne bei einem Grüppchen junger Damen stehen sehen, aber sie machte keine
Anstalten, sich zu ihr zu gesellen, denn sie konnte nur Lord Braxton nachstarren. Großer Gott. Sie hatte nicht gedacht, dass sich die Liebe so anfühlen würde.
Sie fühlte sich, als schwebe sie in den Wolken. Sie war so glücklich und so aufgeregt, dass sie es kaum ertragen konnte. Ach, du lieber Gott.
»Nun, man sieht ja, nach wem sie die Angel ausgeworfen hat.«
Kate war es gewohnt, dass hinter ihrem Rücken so laut getratscht wurde, dass sie es hören konnte. Sie straffte die Schultern und wollte gehen.
»Sie hat nicht die leiseste Chance, sich den Collinsworth-Erben zu angeln. Edward Sheldon würde niemals so weit unter seinem Stande heiraten, und selbst wenn er das wollte, würde sein Vater es nicht zulassen.«
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Kate drehte sich um und stand vor zwei schwerfälligen älteren Damen, die dick mit Diamanten behängt waren. »Wer ist Collinsworth?«, fragte sie barsch, plötzlich von Panik erfasst.
»Collinsworth?« Die weißhaarige Dame lächelte sie an. »Nun, er ist einer der reichsten Grafen des Landes, meine Liebe. Und sein Sohn, Edward Sheldon, der Viscount Braxton, ist sein Erbe. Wurden Sie einander nicht vorgestellt?«
Kate starrte sie blicklos an. Ihr Herz schlug ohrenbetäubend. Viscount Braxton ... Collinsworths Erbe ... der wohlhabendste Graf des Landes. Nein.
Alles würde gut werden, das würde es, denn sie glaubte an die wahre Liebe, und sie hatte soeben gefunden, wonach sie ihr ganzes Leben lang gesucht hatte.
Kate wandte sich um.
Edward beobachtete sie, und er wusste offenbar, dass etwas nicht stimmte. Sein Blick war besorgt und fragend.
Und wenn ihr Leben davon abgehangen hätte, Kate hätte nicht lächeln können. Aber sie konnte auch nicht mehr von dem Abgrund zurücktreten, an dem sie jetzt stand. So verlangte es ihr Herz.
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