Dreizehn
S ie erreichten York gegen Abend. Alex parkte den Lamborghini vor dem Ole Whistler Pub, einem alten Gebäude mit hölzernen Balken, das zwischen den großen Backsteingebäuden fehl am Platze wirkte.
Die Passanten auf dem Bürgersteig bewunderten mit großen Augen den silbernen Wagen, als sie ausstiegen. Eine Gruppe schmuddeliger jugendlicher in Jeans und Lederjacken, mit Zigaretten im Mundwinkel, hatte sich nach ihnen umgedreht. Jill musste immerzu an Janet Witcombes schockierende Enthüllung denken, dass Edward Kates Liebhaber gewesen war.
Sie setzten sich an einem zerkratzten Holztisch einander gegenüber. Das Gasthaus war halb leer, und an einer Bar im Hinterzimmer tranken einige Frauen und Männer ihr Bier. Jills Gedanken rasten.
»Ist es zu spät, um noch das Krankenhaus zu besuchen?«, fragte Jill. Sie glaubte der alten Dame jedes Wort. Ihr drehte sich das Herz um, wenn sie an die beiden Liebenden dachte. Wie war das geschehen? Wie?
Und sie musste sich fragen, ob Edward etwas mit Kates Verschwinden zu tun gehabt hatte.
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»Nein. Okay, Jill, spuck’s aus. Woran denkst du?«
Er sah ihr in die Augen.
»Deine Laune scheint mit jeder Minute besser zu werden«, bemerkte Jill etwas säuerlich.
»Das macht die gute Luft.« Dann besann er sich eines Besseren. »Und natürlich die nette Gesellschaft.«
Sie hatte sich bequem hingelümmelt, aber jetzt setzte sie sich kerzengerade hin. Ihre Blicke trafen sich. Alex schaute nicht weg. Okay, dachte Jill, mit ihrem rasenden Herzen und seinen allzu forschenden blauen Augen beschäftigt. Es ist so weit. Das ist der große Test. Heute Nacht würden sie allein unter einem Dach schlafen. Würde sie im Gefängnis landen oder über »Los« gehen und viertausend Mark einsammeln? Ihre Gedanken eilten voraus. Zu ihrem Körper in Alex’ starken Armen. Zu einem Bild von ihnen beiden, wie sie im Bett ineinander verschlungen waren, Alex über ihr, ganz geschmeidige, feucht glänzende Muskeln ... Nervös und verwirrt zwang Jill die Bilder zu verschwinden.
Er würde es wieder bei ihr versuchen. Da war sie ganz sicher. Weil Alex durch und durch ein Mann war, und er hatte seine Absichten ja auch bereits deutlich gemacht.
Geh über »Los«, dachte sie und bemerkte, dass sie sich an der Tischkante festkrallte. Konzentrier dich auf die Suche nach Kate. Denk nicht an ihn oder an 390
seinen Körper oder wie schön eine wilde Nacht sein könnte.
»Was hast du mit dieser Bemerkung im Pflegeheim gemeint? Dass es eine Menge erklären würde, wenn Edward Kates Geliebter war?«, fragte sie verbissen.
Alex sah sie an. »Hast du das zu Ende gedacht, Jill?«
»Was meinst du?«
»Wenn Kate ein Kind hatte - das überlebt hat - und dieses Kind dein Großvater war, gezeugt von Edward
- dann bist du Edward Sheldons Urenkelin.«
Sprachlos sah Jill ihn an.
»Natürlich wissen wir nicht sicher, ob Kates Kind von Edward war, und wir wissen auch nicht, ob das Kind dein Großvater war.« Er starrte sie an. »Ich glaube, wir müssen das, was sie uns erzählt hat, mit großer Vorsicht genießen.«
Jill saß da wie vom Donner gerührt.
In diesem Moment erschien die Bedienung, stellte ihnen Teetassen, Untertassen und Teller hin und lächelte Alex an. Alex und Jill schwiegen, während sie einen Korb mit Rosinenbrötchen und verschiedene Marmeladen vor sie hinstellte, und dazu noch eine Platte mit Sandwiches. Als Letztes kam die weiße Teekanne.
Während Alex Tee einschenkte und den Blick nicht von ihr abwandte, nahm sich Jill ein Gurkensandwich, biss hinein, obwohl sie nicht wirklich hungrig war, 391
und versuchte seinem Blick auszuweichen. War Edward ihr Urgroßvater? Der Gedanke schien nicht in ihren Kopf passen zu wollen. Vielleicht hatte Mrs.
Witcombe sich geirrt. Vielleicht hatte sie sich einfach nicht richtig daran erinnert. Vielleicht war es besser, wenn sie die ganze Sache einfach vergaß.
Plötzlich hatte Jill Angst.
Schlimmer noch, sie konnte nicht genau sagen, warum - aber sie wusste, dass sie die Suche nach Kate Gallagher nicht abbrechen durfte. Noch nicht. Weil ihr etwas Schreckliches passiert war.
Jill erinnerte sich an KCs Traum über die verängstigte Kate. Sie wünschte, KC hätte ihn nie gehabt. Und nun wünschte sie, dass nicht Edward Kates Liebhaber gewesen war. Denn wie konnte er nicht mit ihrem Verschwinden zu tun haben?
Alex nahm einen Schluck von seinem Tee.
»Wärst du dann mein Cousin?«, fragte sie abrupt.
»Nein.« Seine lebhaften blauen Augen bohrten sich in ihre. »Ich bin mit Edward überhaupt nicht verwandt. Anne war meine Großtante. Aber es würde dich zu einer entfernten Cousine, einer sehr entfernten, von Thomas und Lauren machen.« Er schaute weg und nahm sich ein Rosinenbrötchen.
»Und von Hal.«
Jill erstarrte. Zuerst war sie schockiert, bis sie sich überlegte, wie entfernt die Verwandtschaft gewesen wäre. »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«
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Alex packte fest ihre Hand. »Jill. Wir haben keinen Beweis dafür, dass Edward deinen Großvater gezeugt hat. Wenn Kate wirklich so eine ungestüme junge Frau war, kann es sein, dass Edward einer von vielen Liebhabern war - oder vielleicht gab es überhaupt keine Männergeschichten, und die ganze Sache ist nur uralter Klatsch und Spekulation.«
»Aber verschwunden ist sie ganz sicher.« Jill entzog ihm ihre Hand. »Ja> das ist sie«, stimmte Alex ernst zu.
Jill starrte auf die Platte mit den Sandwiches.
Zwischen Kates Ankunft in England und ihrem Verschwinden war nicht allzu viel Zeit vergangen.
Wenn Edward ihr Liebhaber gewesen war, dann war er der Vater ihres Kindes. Was, um Himmels willen, war nur mit Mutter und Kind geschehen?
Sie wollte keine voreiligen Schlüsse ziehen, aber wenn Edward im Begriff gewesen war, Anne zu heiraten - Kates beste Freundin , dann konnte man nur annehmen, dass ihm sehr viel daran gelegen haben musste, seine Affäre zu vertuschen. Vielleicht war Kate aus Schmerz und Wut fortgelaufen.
Plötzlich merkte Jill, dass Alex sie genau beobachtete, mit einem merkwürdigen
Gesichtsausdruck. Sie verstand nicht, was er bedeutete, und in dem Moment, als er ihren Blick bemerkte, änderte sich seine Miene und wurde freundlich. Was hatte sie da in seinen Augen 393
gesehen? Jill wurde wirklich nervös. Sein Gesicht hatte so anders gewirkt als vorher.
»Alles in Ordnung?«
»Eigentlich nicht.« Das war die Wahrheit. Sie schauderte. Vielleicht war sie so aufgewühlt, dass sie langsam paranoid wurde. Der Gedanke war tröstlich.
Aber im selben Moment dachte sie an den Sekundenbruchteil, als sie Laurens furchtbar bösartigen Blick gesehen hatte - der sich auf sie gerichtet hatte: »Alex, ich würde gern herausfinden, wann Edward und Anne sich verlobt haben.«
Er überlegte. »Na ja, wir wissen, dass sie im Oktober 1908 noch nicht verlobt waren, denn das hätte der kleine Artikel über Annes Geburtstagsparty vermerkt.«
»Und das war das letzte Mal, dass Kate gesehen wurde«, sagte Jill, zugleich traurig, niedergeschlagen und verwirrt. »Das heißt wohl, dass Kate und Edward etwas miteinander hatten, bevor er sich verlobt hat, und das halte ich für eine gute Neuigkeit.« Sie bemerkte seinen Blick und fügte rasch hinzu. »Wenn sie etwas miteinander hatten.«
»Ich hab mein Notebook dabei. Ich kann dir gern zeigen, wie man damit übers Internet in die verschiedenen Archive hineinkommt. Aber es kann gut sein, dass du noch die ganze Nacht dasitzt und uralte Zeitungen durchsuchst.«
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»Das macht nichts«, sagte Jill und schob ihren Teller von sich. »Edward hat sie nicht geliebt. Er hat sie nur benutzt. Sonst hätte er Kate geheiratet, nicht Anne.«
Wieder griff er nach ihrer Hand. Jill blieb wie versteinert sitzen. Seine Hand war warm und stark.
Sie fühlte sich nicht nur gut an. Seine Berührung hatte etwas Elektrisierendes, das ihr Herz zugleich flattern und Saltos schlagen ließ. Und wie lange war es her, dass jemand sie festgehalten hatte? Auch nur auf diese Weise?
Es war niemand da gewesen, um sie im Arm zu halten. Niemand außer KC, aber das war etwas anderes.
»Du bist zu sehr in diese Sache verstrickt. Versuch, ein bisschen objektiver zu bleiben. Selbst wenn sich herausstellt, dass sie die Vorfahrin ist, die du suchst: Sie lebte und liebte vor sehr langer Zeit.«
Lebte und liebte. Jill schaute in seine durchdringenden Augen. Alex’ Wortwahl traf sie oft auf eine Weise, die sie irritierte. »Ich habe das Gefühl, sie zu kennen«, sagte sie schließlich. »Ich kann nicht anders, als mich darin zu verstricken.«
»Mein Gefühl sagt mir laut und deutlich, dass das ein großer Fehler sein könnte. Und mein Gefühl hat meistens Recht.« Sein Blick war kurz und warnend.
Dann wurde sein Ton fröhlicher. »Bist du schon fertig?«
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»Ja. Ich schätze, die Augen waren größer als der Magen.«
Er winkte nach der Rechnung. »Dann können wir ebenso gut zum Krankenhaus weiterfahren, denn die Straßen werden ab jetzt zur Küste hin ziemlich eng.
Wir werden noch viel länger brauchen, wenn wir im Dunkeln unterwegs sind.«
Jill nickte und betrachtete ihn, während er sein Rosinenbrötchen aufaß. Es war doch sehr gut gewesen, dass sie ihn hatte mitkommen lassen, denn er hatte seinen Laptop dabei, und sie würde die ganze Nacht aufbleiben können, wenn es sein musste, um zu finden, was sie suchte.
Jill erstarrte. Der Laptop.
»Was ist?«, fragte Alex schneidend.
Sie starrte in sein schönes Gesicht, ohne etwas zu sehen. Wer auch immer die Gallagher-Dateien gelöscht hatte, wäre ein Vollidiot, wenn er sie sich nicht vorher kopiert hätte. Und weder Alex noch Thomas waren so dumm, das stand fest.
Jill fragte sich, ob sich Kopien dieser Briefe irgendwo auf seinem Notebook befanden.
Und sie hatte vor, das herauszufinden.
Offenbar war der Name Preston alles andere als unbekannt. Obwohl sie zwanzig Minuten brauchten, um vom Eingang des Krankenhauses in eines der Verwaltungsbüros zu gelangen, hatten sie das Büro 396
kaum betreten, als auch schon ein Herr im Anzug mit ausgestreckter Hand auf sie zukam und Alex herzlich begrüßte.
»Mr. Preston, es ist mir ein Vergnügen. Ich glaube, wir sind uns schon einmal begegnet, bei einer Benefizgala, die Ihr Onkel zu Gunsten unseres Forschungsprogramms in London veranstaltet hat.«
Der Angestellte hieß George Wharton. Jedenfalls stand das auf dem Schild an seiner Tür.
Alex gab ihm die Hand und stellte Jill vor.
»Glücklicherweise habe ich ein sehr gutes Gedächtnis«, sagte er. »Ich besuche zahlreiche Wohltätigkeitsveranstaltungen, aber an diese kann ich mich erinnern. Es war ein sehr förmlicher Empfang im Connaught Hotel.«
»Ihre Familie hat dieses Krankenhaus schon immer großzügig unterstützt. Was auch immer ich für Sie tun kann, es wird mir ein Vergnügen sein«, sagte Wharton lächelnd.
Jill fand es recht interessant, dass das einzige Krankenhaus in York, das um die Jahrhundertwende schon existiert hatte, von den Collinsworths unterstützt wurde. Andererseits war es das größte Krankenhaus der Stadt, also konnte man sich nicht allzu viel dabei denken. Alex erklärte ihr Problem dass sie auf der Suche nach Unterlagen von 1908
waren.
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»Sie haben wirklich Glück. Wir haben umfangreiche Archive im Keller. Ich lasse Sie hinunterbringen, und Sie können nach Herzenslust herumstöbern.« Wharton lachte nervös. »Da der Patient, dessen Akten Sie suchen, offensichtlich schon lange tot ist, brauche ich mir ja keine Sorgen darum zu machen, ob ich die Schweigepflicht verletze. Ich werde Sie sogar selbst hinunterführen.«
Während sie das Büro verließen und mit dem Aufzug in den Keller fuhren, unterhielten sich Wharton und Alex über das Forschungsprogramm des Krankenhauses, das sich mit Leukämie bei Kindern befasste. Als sie ausstiegen und einen blitzsauberen Korridor betraten, fragte Jill: »Dr. Wharton, hat die Familie Sheldon das Krankenhaus schon immer in diesem Umfang unterstützt?«
»Es ist eine Familientradition, wie Ihnen der Graf sicher gern bestätigen würde«, erwiderte Wharton und führte sie zu einer Stahltür, die nicht abgeschlossen war. Er drückte sie auf, und sie standen in einem höhlenartigen Kellerraum, der vom Boden bis zur Decke mit Akten gefüllt war. »Sein Vater war der Erste, der sich ernsthaft für uns interessiert hat. Er hat sehr großzügig für uns gespendet, er hat das Krankenhaus sogar vor dem drohenden Bankrott gerettet. Damals war es noch nicht mehr als eine große Geburtsstation.« Er lächelte Jill an.
Jill schaffte es, zurückzulächeln, Alex dankte ihm noch einmal, und Wharton verließ sie.
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»Das ist komisch«, entfuhr es Jill. »Edward war derjenige, der damit begonnen hat, dieses Krankenhaus zu unterstützen? Ausgerechnet Edward?«
»Jill, meine Familie engagiert sich in Dutzenden wohltätiger Projekte. Wir haben viel vor. Also los.«
Jill ging schnell zu der ersten Reihe von Akten.
»Die sind alphabetisch geordnet - aber auch nach Jahrgängen«, sagte sie und schaute auf die Ordner Williams-Woolverton 1980-1995.
Eine Stunde später fanden sie etwas. Alex hatte sehr alte Unterlagen aus einem der Schränke gezogen und rief: »Bingo! Jill, hier ist eine Patientin namens Katherine Gallagher. Sie wurde am neunten Mai 1908
hier aufgenommen.« Er blätterte weiter und hielt ihr eine Geburtsurkunde hin. »Peter Gallagher, geboren am zehnten Mai, Vater unbekannt, Mutter Katherine Adeline Gallagher.«
Zitternd nahm Jill das Blatt entgegen. »Natürlich wissen wir nicht ganz sicher, ob das unsere Kate Gallagher war - aber wenn, dann hatte sie einen Sohn namens Peter!« Ihre Gedanken rasten. »Dies könnte die Geburtsurkunde meines Großvaters sein. Oh Gott
- wenn ich nur ganz sicher wüsste, dass er in York geboren wurde!«
»Immer mit der Ruhe«, sagte Alex
beschwichtigend. »Sie war drei Tage hier.
Zuständiger Arzt, Aufnahmedatum, Entlassung, steht 399
alles hier drin«, fuhr er fort, während er die Aktenmappe durchblätterte.
»Das sagt uns eigentlich nicht viel«, klagte Jill.
Dann erstarrte sie. »Alex, das ist unsere Kate! Sie hat ihren Sohn nach ihrem verstorbenen Vater genannt!«, rief sie.
»Ganz ruhig. Vielleicht. Hier ist die Rechnung. Es muss auch einen Durchschlag der Quittung geben.«
Jill war äußerst gespannt. »Wer hat ihre Rechnung bezahlt?«, rief sie und umklammerte seinen starken, muskulösen Arm.
Er lächelte sie an. »Das mag ich so an dir - du bist ein kluges Mädchen.« Er wandte den Blick wieder den Papieren zu. »Ja. Hier ist es. Kannst du dieses Gekrakel entziffern?«
Jill nahm das furchtbar dünne, vergilbte Stückchen Papier, nach dem die Kosten für Kates Aufenthalt etwas über fünfundfünfzig Pfund betragen hatten.
Darunter prangte ein »Bezahlt«Stempel und, in der rechten unteren Ecke, eine Unterschrift. Aber die war nicht nur hingekritzelt, sondern auch verblasst und fast unleserlich. Sie konnte die Worte kaum erkennen.
»Jedenfalls steht hier nicht Edward Sheldon oder Viscount Braxton«, sagte sie, zugleich enttäuscht und erleichtert.
Er schaute ihr über die Schulter und stand so dicht hinter ihr, dass sie seine Schultern und seine Brust an 400
ihrem Rücken spürte. »Ich glaube, der Vorname lautet Jonathan. Wir werden wohl eine Lupe brauchen.«
»Du hast Recht, das heißt Jonathan. Ich glaube, der Nachname ist Barclay«, sagte Jill, aus der die Spannung wich wie aus einem kaputten Ballon.
»Verdammt.«
»Nur ruhig. Glaubst du wirklich, Edward würde hier hereinspazieren, bezahlen und dann auch noch mit seinem richtigen Namen unterschreiben?«
Jill starrte in die Untiefen seiner blauen Augen.
»Wir brauchen einen Graphologen«, hauchte sie.
»Genau mein Gedanke. Jedenfalls haben wir etwas herausgefunden. Wenn das hier Edwards Handschrift ist, wenn er hier den Namen Jonathan Barclay benutzt hat, dann können wir davon ausgehen, dass dies unsere Kate ist.«
Jill nickte und fasste neue Zuversicht. »Danke, Alex«, sagte sie. Aber irgendetwas in ihr gab keine Ruhe, und sie kam nicht dahinter, was es war. War ihr der Name Jonathan Barclay schon einmal begegnet?
Er kam ihr bekannt vor.
»Kein Problem.« Er legte einen Arm um sie und führte sie zu Tür.
»Jetzt machen wir noch Kopien davon, und dann fahren wir nach Hause.«
Jill nickte und rückte von ihm ab. Wie seine Hand, so war auch sein Körper stark und warm. Und dies war kein guter Zeitpunkt, daran zu denken.
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Aber er sah sie beständig und forschend an. Jill erkannte eine Frage in seinen Augen. Und sie wusste verdammt gut, wie diese Frage lautete.
Sie wusste, dass sie wegschauen sollte, einen Schutzwall errichten, und zwar schnell. Aber sie tat es nicht. Im Augenblick konnte sie das einfach nicht.
Das Bad war heiß und dampfte, und Jill wollte auf ewig darin liegen bleiben.
Sie waren vor einer Stunde in Stainesmore angekommen, über kurvige Straßen, die so schmal waren, dass ihr ein Frontalzusammenstoß sicher schien, falls sie einem anderen Auto begegneten. Die Straßen wurden von hohen Steinwällen begrenzt, an denen Kletterpflanzen und manchmal Blumen wucherten; hinter diesen uralten, verfallenden Mauern erstreckte sich eine scheinbar endlose, karge, nackte Moorlandschaft, bis sie irgendwo auf Meer und Himmel stieß. Ab und zu sah Jill eine grasende Schafherde. Einmal entdeckte sie sogar einen Reiter auf einem fernen Hügel. Die Straße wurde immer steiler und steiler. Alex hatte erzählt, dass die Robin Hood Bay »da drüben« sei, und in südlicher Richtung auf die Küste gezeigt. Derweil kletterte der Lamborghini stetig bergan, und der Motor schien lautstark gegen die Qualen des langsamen Tempos und des steilen Anstiegs zu protestieren.
Stainesmore wirkte wie die gotische Kulisse eines Schauerromans. Das Anwesen lag auf einer 402
baumlosen Erhebung, mit dem Rücken zu den Klippen und der See. Es war ein hoch aufragendes, burgähnliches, rötlich braunes Gemäuer mit einem Torbogen, der auf einen grasbewachsenen Hof führte.
Zinnen ragten aus dem Dach des langen, viereckigen Hauptgebäudes, das von zwei runden Türmen flankiert wurde. Jill hatte eher eine sommerlich anmutende, weißgetünchte Villa erwartet. Ihr blieb der Mund offen stehen, als sie sich der Eingangstür näherten, an der sie die Haushälterin und ein Dutzend Diener erwarteten, um sie mit Knicksen, Verbeugungen und »Guten Tag, Sir. Guten Tag, Madam« zu begrüßen.
Jill seufzte. Die Badewanne auf krallenförmigen Füßen war eine Antiquität, bis hin zu ihren Messingarmaturen. Das Badezimmer war groß und sehr geräumig, aber spärlich eingerichtet - eine uralte Toilette mit Seilzug, ein kleines, sockelartiges Waschbecken, ein Handtuchhalter und ein elektrischer Heizlüfter. Aber der Fußboden war aus beigem Marmor, und durch die riesigen Fenster blickte man auf das schmale Stück Land hinter dem Haus. Dort gab es einen Pool und die Rosengärten, wegen denen Edward an seinen Gärtner geschrieben hatte. Sogar in der Wanne liegend konnte Jill die Aussicht auf die dunkler werdende graue See und den abendlichen Himmel genießen. Jill bedauerte nur, dass sie nicht auch noch ein Glas Wein in der Hand hatte.
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Langsam dämmerte ihr, dass sie, auch wenn Hal noch lebte und sie nie von seinen Lügen erfahren hätte, eines Tages vielleicht selbst die Beziehung beendet hätte wegen der riesigen Unterschiede in Klasse und Kultur zwischen ihnen beiden.
Schließlich stieg sie aus der Wanne und begann sofort zu bibbern, weil die Luft eiskalt war und sie nicht daran gedacht hatte, den kleinen Heizlüfter anzumachen. Sie wickelte sich in ein riesiges weißes Frottiertuch und stellte sich Alex als kleinen Jungen vor, der hier bei Onkel und Tante den Sommer verbrachte. Hatte er sich nicht als krasser Außenseiter gefühlt, so wie sie jetzt? Sie beschloss, ihn zu fragen, wie das gewesen war.
Ein Klopfen an ihrer Schlafzimmertür schreckte sie aus ihrer Träumerei.
Da sie barfuss und noch immer in das Badetuch gewickelt war, zögerte Jill. Das war ganz sicher Alex, und sie war sich nur allzu bewusst, dass sie vom Bad heiß und feucht war und unter dem kuscheligen weißen Handtuch völlig nackt. Nervös öffnete sie die Tür und sah, dass Alex seine verwaschene Levis und den eng anliegenden gelben Kaschmirpulli trug, dazu weiche, ausgetretene Slipper. Sein Haar war feucht.
Offenbar hatte auch er gebadet.
Die Jeans umschloss seine Hüften und die langen Beine wie ein Handschuh, und der Pulli lag wie angegossen an seinen breiten Schultern und muskulösen Armen. Jill schaute weg, merkte aber 404
noch, wie sein Blick über ihr dickes Badetuch glitt.
»Tut mir Leid. Ich dachte, du wärst schon fertig.«
Jill trat zurück und war sich nur allzu bewusst, dass sie ganz allein mit ihm auf ihrer Schwelle stand, in einem praktisch menschenleeren Haus. »Ist schon okay.«
»Ich warte unten in der Bibliothek auf dich. Die ist gemütlicher als das Wohnzimmer. Was hältst du von einem Glas Rotwein? Wir haben hier einen wirklich hervorragenden Weinkeller.«
»Klingt gut«, sagte sie mit einem knappen Lächeln und meinte es auch so, obwohl sie es für keine so gute Idee hielt, seine Einladung anzunehmen. Sie würde sich auf Kate konzentrieren. Sie würde sich auch nur ein einziges Glas Wein genehmigen. »Alex? Bringst du deinen Laptop mit?«
»Es ist nur ein Palmtop.« Er sah sie entschuldigend an. »Willst du heute Abend ins Netz?«
»Warum nicht?«
Seine Augen hingen an ihren Lippen.
Jill verging das Lächeln.
»Dann sehen wir uns unten«, sagte er, drehte sich um und ging den langen, kahlen Flur hinunter.
Jill sah ihm nach und hielt immer noch die Tür fest.
Irgendetwas ging hier vor, und es gefiel ihr ganz und gar nicht. Denn wenn sie
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schonungslos ehrlich zu sich selbst war, musste sie zugeben, dass sie ein wenig enttäuscht darüber war, dass er nicht versucht hatte, sie zu küssen oder zu berühren, und nun, da die Nacht hereinbrach, fiel es ihr schwer, ihre Gedanken in eine Richtung zu lenken, vor der sie sich nicht fürchtete.
Alex gab den Dienstboten frei und trug selbst auf einem Tablett zwei Gläser besten Portwein, zwei Tassen koffeinfreien Kaffee und zwei Stücke warmen Apfelkuchen herein. Jill folgte ihm in die Bibliothek.
Der Raum wirkte nicht gerade gemütlich, er hatte eine hohe Decke und war mindestens zweimal so groß wie Jills Wohnung. Aber er war immerhin kleiner als der
»große Salon« mit seinen zahlreichen Sitzgruppen und den vielen verblichenen, aber prachtvollen Teppichen. Außerdem bekam er auch dadurch etwas Anheimelndes, dass drei Wände vom Boden bis zur Decke voll Bücher standen.
In die vierte Wand war ein riesiger offener Kamin eingelassen, über dem ein ausgezeichnetes impressionistisches Gemälde hing. Jill hatte sich die stürmische Hafenszenerie schon aus der Nähe betrachtet und gesehen, dass es sich um einen echten Vlaminck handelte. Die Möbel waren alt und hervorragend gearbeitet, die Bezüge auf elegante Art verblasst. Jill setzte sich auf den Boden und lehnte den Rücken an den abgenutzten, goldenen Damastbezug des kleinsten der drei Sofas. Sie streifte 406
ihre Cole-Haan-Slipper ab, wackelte mit den nackten Zehen und seufzte zufrieden - eine halbe Flasche superber Wein und ein paar Schlucke Port hatten ihr geholfen, sich zu entspannen.
»Was für eine großartige Mahlzeit. Ich bin pappsatt.
Würdest du es unmöglich finden, wenn ich diesen Kuchen für einen Mitternachtsimbiss mit auf mein Zimmer nähme?«, fragte sie.
»Ich finde, das klingt gut«, erwiderte Alex und stellte das Tablett vorsichtig auf das zierliche Tischchen vor Jill. Er brachte sein Mini-Notebook, das nicht größer war als Jills Filofax, und stellte es daneben. Jill fühlte die Anspannung wachsen, und das wohlige Gefühl verschwand.
Er fummelte an dem Modem herum und ersetzte das kurze Kabel durch ein längeres, das er in die Telefonbuchse steckte. Wortlos sah Jill ihm zu. Sie wollte immer noch herausfinden, wann Anne sich verlobt hatte, aber wollte sie wirklich in Alex’
Dateien herumschnüffeln? Und was, wenn sie dort die Gallagher-Briefe fand?
Er fuhr den Minicomputer hoch. Dann setzte er sich neben sie und ließ die Finger über die Tasten flitzen.
»Es wird einen Moment dauern, bis wir da sind, wo wir hinwollen.«
Er sagte immer »wir«. Jill griff nach dem Kaffee.
Sie sollte heute wirklich keinen Alkohol mehr trinken. Sie war bereits angesäuselt, und sie waren 407
allein. Das Haus war riesig - aber sein Zimmer lag ihrem direkt gegenüber.
Da ist ein Mann ... du darfst ihm nicht trauen ...
wenn du es tust, wird etwas Schreckliches geschehen
...
»Wir sind jetzt bei der Tribune«, unterbrach er ihre Gedanken. »So kannst du dich durch die Seiten jeder Ausgabe bewegen«, sagte er und zeigte ihr, welche Tasten sie drücken musste.
Jill stellte ihre Kaffeetasse weg und rutschte zur Seite, so dass sie direkt vor dem Palmtop saß. Sie kniff die Augen zusammen. Schlagzeilen der Zeitung vom Oktober 1908 schwirrten über den Bildschirm.
Das war der Monat, in dem Kate zum letzten Mal gesehen worden war - in dem sie verschwunden sein musste. »Ich frage mich, wann Anne und Edward geheiratet haben«, sagte sie, und weil Kates Leben sie so faszinierte, war es einfach, die quälenden Fragen um Alex beiseite zu schieben. Für den Moment.
Außerdem konnte sie wohl kaum seine Dateien durchsuchen, während er hier neben ihr saß.
Sie ließ sich von ihrem Gefühl leiten und überflog rasch die Seiten. Sie wusste, dass Alex neben ihr saß, seinen Port trank und sie
beobachtete, obwohl sie nicht zu ihm hinsah. Dann fand sie, was sie suchte. »Alex, hör dir das an«, sagte sie aufgeregt. »Die Hochzeit von Anne Bensonhurst, einziges Kind von Lord Randolph Bensonhurst, und 408
Edward Sheldon, Viscount Braxton, wird am Samstag, den achtzehnten August 1909, stattfinden.«
Jill sah Alex in die Augen. Ihr Herz raste. »Ob sie die Hochzeit verschoben haben, weil Kate vermisst wurde?«
»Von wann ist der Artikel?«, fragte Alex und stach mit der Gabel in seinen warmen Apfelkuchen.
»Vom siebten Februar - vier Monate nach Annes Geburtstagsparty und Kates Verschwinden«, antwortete Jill. Ihre Augen hingen schon wieder an dem winzigen Bildschirm vor ihr. »Himmel, wie arbeitest du bloß an diesem Ding? Es ist so winzig«, schimpfte sie leise, während sie seitenweise Artikel überflog, so schnell sie konnte.
»Mit äußerster Konzentration«, konterte Alex.
Sie wusste, dass er sie weiterhin beobachtete, aber sie schaute nicht auf, denn sie war zu vertieft in die alten Zeitungen. Jill konnte nicht sagen, wie viele Minuten vergingen, bis sie über den Bericht von der Hochzeit stolperte. »Sie haben tatsächlich am achtzehnten August geheiratet«, keuchte sie. Der Artikel war kurz, und Jill las ihn vor.
»>Lady Anne Bensonhurst, die einzige Tochter von Lord Randolph Bensonhurst, und Edward Sheldon, Viscount Braxton, ältester Sohn des Earl of Collinsworth, heirateten gestern um ein Uhr in der St.
Paul’s Cathedral. Dreihundertfünfzig Gäste erschienen sowohl zu der Zeremonie als auch zum 409
anschließenden Empfang im Hotel Ritz. Lord und Lady Braxton werden ihre Flitterwochen in Marseille verbringen.<« Jill lehnte sich vor, ihr Herz raste wieder. »Oh Gott. Hör dir das an:
>Der einzige Schatten über diesem rauschenden Fest, das Seine Lordschaft angeblich zweihunderttausend Pfund kostete, ist die betrübliche Tatsache, dass eine gute Freundin der Braut, die amerikanische Erbin Katherine Gallagher, noch immer vermisst wird. Ihr Verschwinden wurde in diesem Januar von ihrer Mutter, Mrs. Peter Gallagher aus New York City, angezeigt.<«
Jill verstummte. Dann spürte sie Alex’ leichte Berührung. »Also, sie haben die Hochzeit nicht verschoben.«
Sie drehte sich zu ihm um. »Nein, haben sie nicht.«
Sie war jetzt hellwach und spürte nichts mehr von dem Wein. »Das ist ekelhaft.«
»Du nimmst das zu persönlich«, sagte Alex.
»Vielleicht war sie ja auch schwanger.«
Jill starrte ihn und fragte: »Machst du Witze?«
»Eigentlich nicht.«
»Glaubst du, er hat mit allen beiden rumgespielt?«
»Er hat nicht mit Anne gespielt, Jill. Sie kam aus einer hervorragenden Familie. Und sie war eine reiche Erbin. Als Ehefrau war sie allererste Wahl.«
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Jill starrte ihn an und wurde rot vor Wut. »Während Kate aus der Unterschicht kam, auch wenn sie Geld hatte - willst du das damit sagen?«
»Ich will nicht mit dir streiten. Ich habe fast mein ganzes Leben hier verbracht. Grenzen zwischen den Schichten gibt es immer noch, und jeder, der dir was anderes erzählt, ist ein Idiot.«
Sie rückte von ihm und dem Notebook ab. »Kate war für Edward das, was ich für Hal war.« Dann fügte sie hinzu: »Nur habe ich kein Geld, und sie war reich.«
»Dies ist eine sehr alte, ehrwürdige Familie«, sagte Alex leise.
»Warum spuckst du’s nicht endlich aus?« Jill hörte selbst, wie verbittert sie klang. »Hal hätte mich nie geheiratet. Selbst wenn er gewollt hätte, hätten Thomas und William das niemals zugelassen.«
»Es hätte den nächsten Weltkrieg gegeben.«
Jill stand auf. »Warum musst du immer so direkt sein?«
Auch Alex erhob sich langsam. Jill registrierte kühl, dass er ebenfalls seine Schuhe ausgezogen hatte.
»Wäre es dir lieber, wenn ich dich anlüge? Was sollte das bringen? Ist es nicht besser, die Wahrheit zu kennen - damit man denselben Fehler nicht zweimal macht?«
Jill schüttelte den Kopf. »Nur keine Sorge. Ich mache nie zweimal denselben Fehler.« Und das 411
meinte sie auch so. Das hatte sie sich geschworen, und sie würde ihren Schwur halten.
»Jill«, sagte er voller Mitgefühl.
»Ist schon gut«, erwiderte sie. »Aber ich mach Schluss für heute.«
»Ich auch.« Er kniete sich hin und sicherte den Artikel. »Bis morgen, Jill.«
Sie beobachtete, wie seine Hände über die Tasten hüpften. »Was machst du da?«
»Ich speichere diesen Artikel. Ich hab einen Gallagher-Ordner angelegt. Dieses Dokument nenne ich >Annes Hochzeit<. Okay?« Er schaltete aus, schloss das Notebook und richtete sich auf.
Sie dachte an den Ordner; sie dachte an die verschwundenen Briefe. Sie würde nie eine bessere Gelegenheit bekommen, sein Notebook zu durchsuchen. Sie griff nach dem Tablett.
»Eines der Mädchen wird das morgen früh machen, lass es einfach stehen«, sagte er. »Aber vergiss deinen Kuchen nicht.« Er lächelte sie an.
Mit verschlossener Miene nahm Jill den Teller, und dann gingen sie schweigend hinauf. Sie würde eine Stunde abwarten, entschied sie, bis er eingeschlafen war, und dann hinuntergehen und sehen, was sie auf seinem Palmtop finden konnte. Sie fühlte sich scheußlich, als plane sie ein unvorstellbares Verbrechen.
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Vor ihrer Tür blieben sie stehen; seine war direkt gegenüber. Jills Schultern waren unglaublich steif geworden. Es kam ihr vor, als sei sie im Begriff, ihn zu betrügen, was absolut lächerlich war.
Er starrte sie an, und sein Blick war intensiv und forschend. Jill schaute weg und murmelte »Gute Nacht.«
Er rührte sich nicht.
Jills Herz schlug noch schneller. Viel zu schnell.
»Oh nein«, dachte sie und merkte, dass sie die Worte geflüstert hatte.
Denn er sah sie weiter so an, und irgendwie hatte sich der Abstand zwischen ihnen dramatisch verringert. »Jill.«
Sie wollte ihn. Sie hatte Angst.
Plötzlich hob Alex ihr Kinn und küsste sie. Ihre Lippen berührten sich leicht, einmal, zweimal, dreimal. Und Jill spürte, wie der Druck seiner Finger sich verstärkte, seine Lippen fester wurden, sie spürte die Spannung, die plötzlich von ihm ausging wie von einer Starkstromleitung.
Plötzlich trat Alex zurück, er lächelte nicht. »Ja.
Schlaf gut«, sagte er. Und drehte sich um. Einen Moment später war er in seinem Zimmer verschwunden und hatte die Tür fest hinter sich geschlossen.
Jill starrte auf das blank polierte Holz. Das Atmen fiel ihr wieder ein. Sie bebte am ganzen Körper.
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Schnell schlüpfte sie in ihr Zimmer, schloss die Tür und lehnte sich dagegen.
Ihr Gehirn verweigerte den Dienst, und Jill wusste nicht, wie lange sie so mit dem Kuchenteller in der Hand stand und der Stille des Hauses und der Nacht lauschte.
Schließlich kam sie wieder zu sich. Er würde nicht zurückkommen, und das war auch besser so. Sie stellte den Teller auf den kleinen Schreibtisch, dachte über ihren Plan nach, heimlich seinen Computer zu durchsuchen, und fühlte sich schäbig. Er hatte sie gerade eben geküsst. Zärtlich. Wenn er ein verlogener Mistkerl wäre, hätte er sie heftiger dazu gedrängt, mit ihm ins Bett zu gehen, da gab es keinen Zweifel.
Jill ging aufgewühlt im Zimmer auf und ab und schaute alle paar Sekunden auf die Uhr.
Schließlich wurde es ihr zu viel, und sie setzte sich.
Wenn sie nicht heute Nacht seinen Computer durchsuchte, würde sie vielleicht nie wieder Gelegenheit dazu haben. Sie konnte ihr Vorhaben nicht einfach abblasen. Kate zählte auf sie.
Jill merkte, was sie da gerade gedacht hatte, und erstarrte. Kate war tot. Niemand zählte auf sie außer ihr selbst.
Sie sah wieder auf die Uhr auf ihrem Nachttisch. Es war Viertel vor zwölf. Wie lange war es her, dass er sie auf dem Gang geküsst hatte? Sie dachte, dass 414
fünfzehn Minuten oder mehr verstrichen sein mussten.
Jill zog ihre Slipper aus, ging zur Tür und hielt ein Ohr an das Holz. Es war nichts zu hören.
Sie machte sie einen Spalt auf und lauschte angestrengt. Wiederum herrschte im Flur, in seinem Schlafzimmer, im ganzen Haus Totenstille.
Jill schlich sich aus ihrem Zimmer und huschte den Flur entlang, der immer noch hell erleuchtet war.
Jedes Mal, wenn unter ihr eine Diele knarrte, machte ihr Herz einen Looping. Sie schaute immer wieder über die Schulter, aber Alex kam nicht zum Vorschein. Unten eilte sie atemlos durch das dunkle Haus, das ihr auf einmal sehr groß und sehr leer vorkam. Einige der Bediensteten wohnten auf dem Anwesen, wie sie wusste; die anderen kamen jeden Tag von der Stadt oder einem nahe gelegenen Dorf hierher.
Plötzlich fühlte Jill sich beobachtet.
Als sie die Bibliothek betrat und das Herz ihr vor Aufregung bis zum Hals schlug, sagte sie sich, dass das Unsinn war. Ausgenommen natürlich, es gäbe hier Gespenster.
Zitternd knipste sie die kleine Lampe neben dem Sofa an, vor dem sie mit Alex auf dem Boden gesessen hatte. Wahrscheinlich spukte es hier wirklich, aber sie interessierte sich nur für einen bestimmten Geist. Trotzdem hatte Jill den Verdacht, 415
dass sie glattweg in Ohnmacht fallen würde, wenn sie jemals Kate Gallagher durch diese Hallen schweben sähe.
Sie setzte sich vor das Notebook, öffnete es und startete. Als der
Bildschirm zum Leben erwachte, erschien eine DOS-Anfrage. Das war das Letzte, was sie erwartet hatte. Sie hatte angenommen, dass Windows oder irgendeine andere Oberfläche mit Icons erscheinen würde.
Jill starrte auf den blinkenden Cursor. Dann tippte sie »Windows« ein, obwohl sie sich nicht viel Hoffnung machte.
Sofort blinkte ihr auf dem Bildschirm die nächste schlechte Nachricht entgegen: »Kein Zugang.«
Kein Zugang?
Was zum Teufel sollte das bedeuten? Jill starrte auf die Meldung und den Cursor eine Zeile weiter unten.
Aus ihrer Highschool-Zeit hatte sie noch ein wenig Computerwissen. Sie schrieb: »Start.«
»Kein Zugang.« Dieselbe Meldung.
»Du brauchst das Passwort«, sagte Alex hinter ihr.
Jill keuchte auf, ihr Herz wollte vor Schreck fast stehen bleiben, und sie sprang auf die Füße. Sie starrte ihn an, als sei er der Geist, an den sie eben noch gedacht hatte. Er stand, nur in seiner Jeans, in der Tür der Bibliothek.
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»Ich konnte nicht schlafen«, sagte Jill hastig.
»Das sehe ich.« Langsam stieß er sich vom Türpfosten ab und kam auf sie zu. Er schaute nicht auf das Notebook, sondern sah sie an. Nur sie. »Was machst du da, Jill?«
Seine Stimme klang nicht unbedingt freundlich, und Jill wurde starr vor Angst. »Was ich mache?«, echote sie.
Er kam um das Sofa herum. »Bist du auf der Jagd nach Kate oder nach mir?«, fragte er kalt.
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