Eins

London - in der Gegenwart

Wer war Kate?

Jill holte tief Luft. Unter ihren geschlossenen Lidern quollen Tränen hervor. Hal war tot, und sie stand am Band der Gepäckausgabe in der Ankunftshalle von Heathrow. Es war kaum zu fassen, wo sie sich befand, und noch schwerer zu begreifen, warum sie hier war. Jill war wie betäubt. Ihre Erschöpfung, die hauptsächlich durch den Schock, aber auch durch den Jetlag bedingt war, machte es nicht eben besser. Hal war tot, und sie brachte seinen Leichnam nach Hause zu seiner Familie. Die Leere in ihr, der Schmerz, die Trauer, all das war entsetzlich stark und einfach überwältigend.

Hal war tot. Fort, für immer. Sie würde ihn nie wiedersehen.

Und sie hatte ihn umgebracht.

Das war das Schlimmste, was sie sich jemals hätte vorstellen können, ein wahr gewordener Albtraum.

Sie wusste nicht, ob sie den Schmerz, die hilflose Verwirrung noch länger ertragen konnte und sich selbst.

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Sie wusste nicht, ob sie die Dunkelheit noch länger ertragen konnte.

Ich liebe dich ... Kate.

Hals Stimme, seine letzten Worte erfüllten ihr ganzes Denken. Sie waren eine gespenstische Litanei, die sie nicht abstellen konnte. Wer war Kate?

Jill fuhr zusammen. Das Gepäck ihrer British-Airways-Maschine kam die Rampe herabgerutscht und plumpste auf das Förderband, um sich wie ihre Gedanken immer auf derselben Bahn im Kreis zu drehen. Das Bild von Hal, wie er unter den Bemühungen eines Rettungsteams am Rande des Highways starb, hatte sich tief in ihr Gedächtnis gegraben. Genauso tief wie seine letzten Worte, die sie wie ein grausames Echo verfolgten. Worte, die sie niemals vergessen wollte - Worte, an die sie sich nie mehr erinnern wollte.

Ich liebe dich ... Kate.

Jill schlang die Arme um sich, sie war zittrig und fror. Das vorbeiziehende Gepäck verschwamm vor ihren Augen. Jill wusste, sie wusste es ganz sicher, dass er sie, Jill, gemeint hatte, als er sterbend sagte, dass er sie liebte. Er hatte sie geliebt - so, wie sie ihn geliebt hatte. Jill hatte nicht den geringsten Zweifel daran. Und sie wusste, dass sie sich an dieser Überzeugung festhalten musste. Aber, gütiger Gott, sein Tod und die Rolle, die sie dabei gespielt hatte, und dass er von dieser anderen Frau, Kate, sprach - all 17

das war schrecklich genug ohne ihr letztes, endgültiges, unvergessliches Gespräch. Wenn er ihr nur nicht gesagt hätte, dass ihm wegen ihrer gemeinsamen Zukunft Zweifel gekommen waren. Er hatte an ihnen, an ihr gezweifelt. Jill schluchzte erstickt. Sie wurde von Schuld und Schmerz, Trauer und Bestürzung überwältigt.

Jill schloss die Augen. Sie durfte nicht an dieses Gespräch denken, es war unerträglich. Alles war unerträglich. Hal war ihr genommen worden. Genau wie ihre Eltern. Ihre Liebe, ihr Leben war zerstört -

zum zweiten Mal.

Plötzlich war Jills Welt so von Schmerz erfüllt, dass sie es nicht mehr ertragen konnte. Ihr wurde schwarz vor Augen. Jill kämpfte gegen das Verlangen, sich einfach fallen zu lassen, ohnmächtig zu werden. Sie musste aufhören zu denken, sagte sie sich verzweifelt, und wurde sich der Tränen bewusst, die über ihr Gesicht liefen, des belebten Terminals, der abwechselnd verschwamm und wieder deutlich wurde. Sie kämpfte schwankend um ihr Gleichgewicht, ihre Knie drohten nachzugeben. Sie musste ihr Gepäck holen. Sie musste hier raus, sie brauchte frische Luft. Sie musste sich auf einfache, alltägliche Dinge konzentrieren - und darauf Hals Familie zu begegnen, du lieber Himmel. Hals Schwester Lauren sollte sie vom Flughafen abholen.

Und in diesem Augenblick setzte ihr Verstand auf einmal zu ihrem Entsetzen völlig aus.

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Für einen Moment war sie vollkommen

desorientiert. Panik erfasste sie. Sie wusste nicht, wo sie war, und warum. Sie wusste nicht, wer sie war.

Die Menschenmenge um sie herum, die große Halle, alles war nur noch ein Meer aus Schatten und Schemen. Sie konnte nichts und niemanden erkennen.

Selbst die Worte auf den Hinweisschildern wurden zu einem fremdartigen Kauderwelsch, das sie nicht lesen konnte.

Aber überall waren Augen. Auf sie gerichtet, weit aufgerissen und vorwurfsvoll, hunderte feindseliger Blicke.

Warum glotzten alle sie an, als wünschten sie, sie wäre tot? Jill wollte sich umdrehen und fliehen, aber wohin?

Tot.

Im nächsten Augenblick schaltete ihr Verstand wieder in den richtigen Gang, die Schatten wurden zu Wänden und Türen, Gängen und Geländern, die Schemen zu Menschen, die Augen zu Gesichtern, und sie wusste, dass alles noch viel schlimmer war. Die Leute starrten sie tatsächlich an, aber schließlich weinte sie unaufhörlich, und sie war in Heathrow, um Hals Leichnam nach Hause zu seiner Familie zu bringen - morgen sollte die Beerdigung stattfinden.

Wussten alle diese Leute hier, dass sie den Mann ihrer Träume umgebracht hatte? Jill wünschte, sie hätte sich nicht wieder an alles erinnert. Das kurze 19

Aussetzen ihres Gedächtnisses empfand sie nun als herrliche Erleichterung.

So ging es ihr andauernd seit Hals Tod - sie wusste nicht, was sie tun sollte, erlebte Augenblicke schrecklicher Verwirrung, gefolgt von totalen Aussetzern und dann von vollkommener, grausamer Erinnerung. Schock, hatte der Arzt gesagt. Sie würde die nächsten paar Tage unter Schock stehen, vielleicht sogar die nächsten Wochen. Er hatte ihr geraten, sich zu Hause auszuruhen und die Medikamente zu nehmen, die er ihr verschrieben hatte.

Jill hatte die Antidepressiva nach der ersten Nacht in der Toilette hinuntergespült. Sie hatte Hal so sehr geliebt, und sie wollte sich ihre Gefühle nicht rauben lassen, indem sie sie mit Tabletten dämpfte oder ausschaltete. Sie würde ihn betrauern, wie sie ihn geliebt hatte, mit ganzem Herzen, auf ewig.

Jill nahm ihre Sonnenbrille ab und trocknete ihre Tränen mit einem Taschentuch, bevor sie sie wieder aufsetzte. Ihr Gepäck. Sie musste ihre Reisetasche finden und hier herauskommen, so lange sie noch bei sich war und sich auf den Beinen halten konnte. Das Einzige, was sie jetzt tun musste, entschied Jill, war möglichst nicht zu denken.

Ihre eigenen Gedanken waren ihr schlimmster Feind.

Jill schaute nach unten und entdeckte neben ihren Füßen ihr Beauty-Case, ihre Shoppertasche aus Vinyl mit Leopardenmuster und ihren viel zu weiten 20

schwarzen Blazer. Sie richtete den Blick auf das Gepäckband. Überrascht stellte sie fest, dass die meisten Koffer und Taschen schon abgeholt worden waren. Es schien ihr, als sei sie noch vor wenigen Sekunden von hundert Passagieren ihres Fluges umgeben gewesen - jetzt warteten nur noch ein Dutzend Leute auf ihr Gepäck. Jill schnappte erschrocken nach Luft. Hatte sie ein Blackout gehabt?

Irgendwie schien sie mit ihrer Erinnerung auch ihr Zeitgefühl verloren zu haben.

Sie fragte sich, wie sie das alles überstehen sollte, nicht nur die nächsten Tage, sondern auch die nächsten Wochen, Monate, Jahre.

Denk nicht daran!, befahl sie sich hektisch. Sie durfte ihren Gedanken keinen freien Lauf lassen.

Plötzlich entdeckte sie ihre Reisetasche aus schwarzem Nylon. Sie glitt bereits an ihr vorbei. Jill hastete verzweifelt hinterher, packte den Griff und hievte die Tasche vom Band. Die Anstrengung kam sie teuer zu stehen;

keuchend verharrte sie einen Moment. Sie war noch nie so unglaublich erschöpft gewesen.

Als sie wieder zu Atem gekommen war, blickte sie sich in der wimmelnden Menge um. Wohin sollte sie jetzt gehen? Was sollte sie jetzt tun? Wie sollte sie Lauren finden, die sie nur von einem Foto kannte?

Jill stand da wie angewurzelt und musste trotz ihrer Vorsätze daran denken, wie Hal ihr damals stolz die Fotos von seiner Familie gezeigt hatte. Hal hatte oft 21

von ihnen gesprochen, nicht nur von seiner Schwester, sondern auch von seinem älteren Bruder Thomas, seinen Eltern und seinem Cousin aus Amerika. Seinen Schilderungen zufolge standen sich in seiner Familie alle sehr nahe. Es war so offensichtlich gewesen, wie sehr er sie liebte. Er hatte richtig gestrahlt, wenn er ihr Geschichten aus seiner Kindheit erzählte. Am häufigsten hatte er von den Sommerferien in Stainesmore gesprochen, dem alten Familiensitz im Norden, wo sie als Kinder geangelt, gejagt und ein nahe gelegenes altes Spukhaus erforscht hatten. Doch es hatte auch Winterferien in St. Moritz gegeben, Ostern in St. Tropez und die Jahre in Eton, in denen er Hockey gespielt, das Londoner West End unsicher gemacht, den »Babes«, wie er sagte, nachgestellt und sich an Türstehern vorbeigemogelt hatte. Dann seine Jahre in Cambridge, der Fußball. Und immer, seit er ein kleiner Junge gewesen war, war da seine erste, seine wahre Liebe, seine Fotografie gewesen.

Jill wusste, dass sie wieder weinte. Er hatte sie in so vielen Nächten in den Armen gehalten und ihr versichert, wie sehr seine Familie sie lieben würde -

und dass sie sie mit offenen Armen willkommen heißen würde, als gehörte sie zu ihnen. Er hatte es kaum erwarten können, sie mit nach Hause zu bringen, und sich darauf gefreut, dass Jill sie kennen lernte. Bis zu ihrem unfassbaren letzten Gespräch im Auto als er ihr gesagt hatte, dass er sie vielleicht doch 22

nicht heiraten wollte, dass er für eine Weile nach Hause fahren würde, allein.

Jill wusste, dass sie nicht wieder weinen durfte, doch die Tränen ließen sich nicht abstellen. Zitternd und schwach und voll Angst vor einem erneuten Blackout sammelte sie ihr Gepäck ein und ging langsam durch die Menschenmenge. Sie musste jenes letzte Gespräch vergessen. Es war der Tropfen, der das Fass der Katastrophe zum Überlaufen brachte, und sie war darüber vor Entsetzen und Verständnislosigkeit wie gelähmt. Mit der Zeit hätten sie solche Schwierigkeiten überwunden. Hal hätte sie niemals verlassen. Jill musste das einfach glauben.

Beobachtet von einigen Zollbeamten folgte sie den anderen Passagieren durch die Absperrung und war erleichtert, dass ihre Tränen wenigstens für den Augenblick versiegt waren. Sie würde gleich Lauren und den Rest von Hals Familie treffen, und sie hätte es niemals für möglich gehalten, dass das unter diesen Umständen geschehen könnte - sie brachte Hals Leichnam zur Beerdigung nach Hause. Sie wollte unbedingt die Kontrolle über sich zurückgewinnen.

Sie wollte in Gegenwart der Familie nicht einen solchen Aussetzer erleiden.

Sie blieb stehen, als sie zu einem kreisförmigen Bereich gelangte, wo eine Menge Leute auf die ankommenden Passagiere warteten. Es waren Chauffeure darunter, die Schilder mit Namen in dicken Lettern hochhielten. Und Jills Blick fiel sofort 23

auf eine blonde Frau etwa in ihrem Alter. Jill erkannte die Frau augenblicklich. Selbst wenn sie Lauren nicht auf Fotos gesehen hätte, hätte sie sie erkannt, denn sie sah Hal sehr ähnlich. Ihr schulterlanges Haar hatte denselben dunkelblonden Ton, in den sich hellere, goldfarbene Strähnchen mischten, und ihr Gesicht war ebenso klassisch geschnitten. Wie Hal war sie groß und schlank. Lauren strahlte auch dieselbe beiläufige Eleganz und die Sorglosigkeit der Wohlhabenden aus, die nichts mit dem teuren Hosenanzug zu tun hatte, den sie trug - diese Aura umgab nur jene, die schon reich geboren waren.

Jill zögerte und konnte einfach nicht mehr weiter.

Plötzlich hatte sie eine Todesangst davor, dieser Frau gegenüberzutreten.

Lauren hatte sie auch gesehen. Auch sie verharrte reglos und starrte vor sich hin. Wie Jill trug sie eine Sonnenbrille. Aber ihre war aus Perlmutt und von modisch großer Form, passte perfekt zu ihrem beigen Armani-Anzug und dem Hermès-Schal. Sie lächelte Jill nicht an. Ihr Gesicht war unbeweglich, zu einer Maske erstarrt...

was bedeutete sie?

Selbstbeherrschung? Leid? Abscheu? Jill konnte es nicht einschätzen.

Aber sie war verblüfft und bestürzt. Sie packte ihre Reisetasche, ihr Beauty-Case und ihre leopardengemusterte Umhängetasche und war sich nun der verwaschenen Levis und des einfachen 24

weißen T-Shirts bewusst, die sie trug: Jill ging langsam auf Hals Schwester zu.

»Lauren Sheldon?« Sie konnte ihr trotz der dunklen Brillen, die sie beide trugen, nicht ins Gesicht sehen.

Lauren nickte einmal knapp und wandte sich ab. Jill schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter, der sie zu ersticken drohte. »Ich bin Jill Gallagher.«

Lauren hatte die Arme vor der Brust verschränkt.

Ihre Handtasche schien aus dunkelbraunem Kroko zu sein. Eine goldene, diamantbesetzte Piaget-Uhr blitzte unter ihrem Ärmel hervor. »Ich habe einen Wagen draußen. Den Sarg haben wir bereits abgeholt. Wegen der Osterferien konnten wir kein anständiges Hotelzimmer für Sie finden, also werden Sie im Haus übernachten.« Sie drehte sich um und strebte eilig auf den Ausgang zu.

Einen Moment lang starrte Jill ihr zitternd und ungläubig nach. Die Frau hatte nicht einmal Hallo gesagt oder sich nach ihrem Flug erkundigt.

Hal hatte Lauren als liebenswürdig, einfühlsam und mehr als Freundlich beschrieben. Diese Frau war kalt und abweisend, nicht einmal höflich.

Aber was hatte sie denn erwartet? Sie hatte am Steuer gesessen, und nun war Hal tot. Lauren musste sie hassen - die ganze Familie Sheldon musste sie hassen. Sie hasste sich ja selbst.

Noch viel elender als vorher, nun von einer zusätzlichen grässlichen Angst erfüllt, folgte Jill 25

Lauren aus dem Terminal, und ihr Gehirn war wie leergefegt.

Jill setzte sich so zurecht, dass sie auf die Straße hinter sich schauen konnte. Sie saß mit Lauren im Fond, während ein Chauffeur den RollsRoyce lenkte.

Die Frauen hatten sich so weit wie möglich entfernt voneinander in gegenüberliegenden Ecken der geräumigen Limousine niedergelassen. Der Leichenwagen fuhr direkt hinter ihnen. Jill sah, wie er links abbog. Sie schaute dem langen schwarzen Wagen weiter nach, während er sich immer weiter entfernte. Er brachte Hals Leichnam zum Friedhof, während Lauren und sie zum Haus der Sheldons in London fuhren.

Jill wollte nicht von dem Leichenwagen getrennt werden. Am liebsten hätte sie an die Tür gehämmert und darum gebeten, aussteigen zu können. Ihr Herz schlug heftig, und das Gefühl des Verlustes wurde erstaunlicherweise noch stärker. Es war verrückt. Jill starrte weiter hinter dem verschwindenden Wagen her. Sie biss sich auf die Lippe, entschlossen, keinen Laut von sich zu geben. Sie konnte nicht aufhören zu zittern und befürchtete, dass sie wieder versucht sein könnte, ihrer Trauer durch ein Blackout zu entkommen.

Jill zwang sich, sich im Sitz zurückzulehnen und tief durchzuatmen; mit geschlossenen Augen kämpfte sie um ihre Selbstbeherrschung. Sie würde nicht 26

einmal die nächsten vierundzwanzig Stunden überstehen, wenn sie sich nicht irgendwie in den Griff bekam. Als sie wieder ein wenig Fassung gewonnen hatte, sah sie zu Lauren hinüber. In der halben Stunde, seit sie den Flughafen verlassen hatten, hatte Hals Schwester kein einziges Wort gesagt. Sie wandte Jill mit hochgezogenen Schultern den Rücken zu und starrte aus dem Fenster. Sie hatte ihre Sonnenbrille nicht abgenommen, aber Jill trug ihre auch noch. Sie saßen da wie zwei feindselige Zombies, dachte Jill grimmig.

So viel zu Laurens Liebenswürdigkeit. Sie hätten einander trösten können. Schließlich hatten sie beide Hal geliebt. Doch Jill fand nicht den Mut, den ersten Schritt zu tun, noch nicht, und sie war sich der Rolle, die sie bei seinem Tod gespielt hatte, nur allzu bewusst. Tränen brannten ihr in den Augen. Morgen war die Beerdigung. Ihr Rückflug war für den übernächsten Abend gebucht. Sie hasste den Gedanken, Hal hier zurückzulassen, mit einem ganzen Ozean zwischen ihnen; aber andererseits -

wenn alle Sheldons so mitfühlend waren wie Lauren, war es sicher besser so.

Sie öffnete ihr großes Beauty-Case, eine Louis-Vuitton-Imitation, die sie für fünfzehn Dollar an einer Straßenecke gekauft hatte, und kramte ein Taschentuch hervor. Sie tupfte sich die Augen trocken. Lauren hasste sie. Dessen war Jill sich ganz sicher. Sie konnte die brodelnde Abneigung der anderen Frau fast spüren.

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Jill konnte es ihr nicht verübeln.

Als sie das Taschentuch wieder in die Tasche steckte, blickte sie auf und sah, dass Lauren sie beobachtete, sie zum ersten Mal direkt anschaute.

Jill dachte nicht lange nach. Impulsiv sagte sie mit leiser Stimme: »Es tut mir Leid.«

»Uns allen tut es Leid«, erwiderte Lauren trocken.

Jill biss sich auf die Lippe. »Es war ein Unfall.«

Lauren sah sie unverwandt an. Jill konnte ihre Augen hinter der dunklen Brille nicht sehen. »Warum sind Sie gekommen?«

Jill war überrascht. »Ich musste ihn doch nach Hause bringen. Er hat so oft von Ihnen gesprochen -

von Ihnen allen.« Sie konnte nicht weitersprechen.

Lauten sah wieder weg. Es herrschte Schweigen.

»Ich habe ihn auch geliebt«, hörte Jill sich sagen.

Lauren drehte sich zu ihr um. »Er sollte noch am Leben sein. Vor wenigen Tagen hat er noch gelebt.

Ich kann nicht glauben, dass er fort ist.« Ihre Stimme klang wütend, und sie hatte mit dem Finger auf Jill gezeigt - es war unübersehbar, wem sie die Schuld gab.

»Ich auch nicht«, flüsterte Jill elend. Es stimmte.

Mitten in der Nacht wachte sie auf und erwartete, neben sich die beruhigende Wärme von Hals Körper zu spüren. Die Kälte ihres Bettes war ein Schock, ebenso wie die plötzliche Erinnerung an seinen Tod.

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Jill hatte erfahren müssen, dass es nichts Schlimmeres gab als das Vergessen des Schlafes, auf das die absolute Bewusstheit des Wachens folgte. »Wenn«, flüsterte Jill, mehr an sich als an Lauren gerichtet,

»wenn wir nur an jenem Wochenende nicht weggefahren wären.« Aber das waren sie. Und sie konnte die vergangenen Tage nicht ändern, sie konnte sie nur bereuen. Sie würde ihr ganzes restliches Leben lang Reue fühlen - Reue und Schuld.

Hatte er wirklich daran gedacht, sich von ihr zu trennen?

»Hal hätte schon vor Monaten nach Hause kommen sollen«, unterbrach Lauren barsch Jills Gedanken.

»Es war geplant, dass er im Februar kommt - zu meinem Geburtstag.«

»Es gefiel ihm in New York«, brachte Jill mit abgewandtem Blick hervor.

Lauren nahm ihre Sonnenbrille ab und enthüllte rotgeweinte Augen in exakt demselben Bernsteinton wie Hals. »Er hatte Heimweh. Das hat er mir bei unseren letzten Telefonaten gesagt.«

Jill war wie versteinert. Was hatte er seiner jüngeren Schwester, mit der er sich so gut verstand, sonst noch gesagt?

Sie meinte, sterben zu müssen, wenn Lauren von Hals plötzlichem Rückzieher wüsste.

Dann korrigierte sie sich ärgerlich - er hatte keinen Rückzieher gemacht. Nichts war endgültig 29

beschlossen worden. Alles hätte sich wieder eingerenkt, und zwar eher früher als später.

Auch Lauren blieb reglos. Schließlich sagte sie: »Er hat auch Sie erwähnt.«

Jill zuckte zusammen und starrte Lauren aus weit aufgerissenen Augen an, als säße sie einem Alien gegenüber. Er hatte sie erwähnt?

»Was meinen Sie damit, dass er mich erwähnt hat?«

»Genau, was ich sage«, antwortete Lauren und setzte ihre Brille wieder auf. Sie sah aus dem Fenster, während der silbergraue RollsRoyce dahinglitt. »Er hat erwähnt, dass er öfter mit Ihnen ausginge.«

Jill starrte sie immer noch entgeistert an. Sie waren nicht öfter miteinander ausgegangen. Sie hatten vom Heiraten gesprochen - sie hatten kurz vor einer Verlobung gestanden. Sie war sprachlos.

»Wie lange waren Sie mit ihm befreundet?«, fragte Lauren fast grob.

Jills Augen füllten sich erneut mit Tränen, und sie sah die andere Frau nur noch verschwommen. »Acht Monate. Wir haben uns vor acht Monaten kennen gelernt.« Sie krallte sich Hilfe suchend in das geschmeidige Leder des Sitzes.

»Das ist nicht besonders lange«, stellte Lauren nach einer kurzen Pause fest.

»Es war lange genug, um sich mit Haut und Haaren zu verlieben und darüber nachzudenken ... « Jill unterbrach sich.

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Lauren nahm die Brille wieder ab. »Worüber nachzudenken?«, fragte sie fordernd.

Jill fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Sie zögerte. So vieles schoss ihr durch den Kopf - seine Zwiespältigkeit, ihre Schuld, eine Frau namens Kate. »Über die Zukunft«, flüsterte sie.

Lauren starrte sie an, als sei sie ein Kalb mit zwei Köpfen. »Er hätte schon vor langer Zeit nach Hause kommen sollen«, sagte sie schließlich. »Er gehörte einfach nicht nach New York.«

Jill wusste nicht, wie sie darauf antworten sollte.

Hal hatte seiner Schwester nicht erzählt, wie ernsthaft seine Beziehung zu ihr war. Warum? Das tat ihr weh.

Gott, es tat ihr so weh wie der Gedanke an ihr letztes Gespräch - daran, wie sehr er sie mit seinen Zweifeln an ihrer Zukunft als Ehepaar verletzt hatte. Sie lehnte sich im Sitz zurück; sie war völlig am Ende. Es schmerzte sie fast so sehr wie sein Tod.

Sie musste irgendeinen ruhigen Ort finden, den Kopf unter einem Kissen vergraben, und schlafen.

Aber dann würde sie aufwachen und sich an alles erinnern, und es würde so schrecklich sein ...

Der RollsRoyce hielt an.

Augenblicklich wurde Jills Anspannung noch stärker. Das Haus der Sheldons war der letzte Ort auf Erden, an dem sie jetzt sein wollte, denn wenn sie aus Laurens Empfang darauf schließen konnte, wie der Rest der Familie sie begrüßen würde, dann war sie 31

nicht in der Verfassung, sie kennen zu lernen - jetzt nicht und auch nicht irgendwann.

Jill bemerkte, dass sie sich auf einer viel befahrenen zweispurigen Straße mitten in London befanden. Der Chauffeur wartete auf eine Lücke im Gegenverkehr, um nach rechts abbiegen zu können. Die Flügel eines hohen Gittertores standen offen, doch die Straße, in die sie einbiegen wollten, wurde von einem Schlagbaum und einem uniformierten Wachmann versperrt. Jill fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Hinter dem Schlagbaum konnte sie eine schattige Allee und eindrucksvolle Villen erkennen.

Der Rolls-Royce bog ab, der Schlagbaum hob sich, ohne dass sie abbremsen mussten, und der Wachmann in seiner kleinen Kabine winkte sie durch. Jill verrenkte sich fast den Hals, während der RollsRoyce die Straße entlang fuhr, um ein palastartiges Anwesen nach dem anderen zu bewundern. Hinter den Villen auf der rechten Seite schien ein Park zu liegen.

Jill hätte gern gefragt, wo sie sich befand, doch sie tat es nicht.

Der Wagen bog in die kreisförmige Auffahrt einer der größten Villen der Straße ein und blieb auf dem Kies vor dem Haus stehen. Jill meinte zu fühlen, wie ihr Puls in die Höhe schnellte.

»Da sind wir.« Lauren stieg aus, ohne darauf zu warten, dass der Chauffeur ihr die Tür aufhielt. Jill war nicht so schnell. Der Mann öffnete ihr die Tür, 32

und Jill stolperte hinaus. Es hatte zu nieseln begonnen.

Jill stand da wie versteinert. Die feinen Tröpfchen fielen ihr auf Haar und Schultern, doch sie starrte auf das Haus, in dem Hal aufgewachsen war, während Lauren die breite, imposante Freitreppe hinaufeilte.

Zwei steinerne Löwen saßen zu beiden Seiten der Treppe. Einen Moment lang war Jill wie vor den Kopf gestoßen.

Hal hatte mit großem Stolz vom Anwesen seiner Familie in London gesprochen. Er hatte betont beiläufig bemerkt, dass das Haus, das um die Jahrhundertwende erbaut worden war, etwa fünfundzwanzig Zimmer und einen der herrlichsten Rosengärten Londons hatte. Es war nicht der ursprüngliche Sitz der Familie, welcher aus der Georgianischen Ära stammte und heute als Baudenkmal dem National Trust unterstand. Jill hatte nur so viel verstanden, dass Uxbridge Hall, das etwas abseits vom Zentrum Londons lag, der Öffentlichkeit zur Besichtigung offen stand, obwohl die Familie auch dort private Räumlichkeiten zur Verfügung hatte.

Jill betrachtete entgeistert die Sheldonsche Stadtvilla. Sie hatte erwartet, dass das Gebäude von Reichtum zeugte, doch nun stand sie dem ganzen Ausmaß dieses Reichtums wahrhaftig gegenüber. Das Haus war aus zart getöntem Sandstein gebaut und drei Stockwerke hoch - allerdings hatten die beiden 33

unteren offensichtlich doppelte Raumhöhe. Ein tempelartiger Ziergiebel über dem riesigen Portal wurde von dicken Säulen gestützt, und auch die vielen bogenförmigen Fenster waren mit kleinen Pedimenten und komplizierten steinernen Reliefs geschmückt. Die Zimmer im ersten Stock hatten eiserne Balkone, und aus den hohen, schrägen Dächern ragte ein kleiner Wald von Schornsteinen.

Das Mauerwerk an sich war schon bewundernswert schön. Mühevolle Feinarbeit war in jedes Sims und jede Verzierung geflossen. Das Haus war umgeben von äußerst gepflegten Rasenflächen und blühenden Rosengärten, die einen betörenden Duft verbreiteten.

Ein hoher schmiedeeiserner

Zaun umgab das gesamte Anwesen und hielt Neugierige fern.

»Du lieber Himmel«, hörte Jill sich sagen. Trotz aller Erzählungen von Hal konnte sie kaum glauben, dass er hier aufgewachsen war. Und das war nur das Stadthaus, nicht einmal der Stammsitz der Familie, von dem Jill annahm, er müsse noch größer und grandioser sein. Plötzlich wurde ihr bewusst, wie klein und schäbig ihr Apartment im Village war. Und sie wünschte, sie trüge nicht ihre älteste, liebste und verwaschenste Jeans.

Falls Lauren sie gehört hatte, gab sie es nicht zu erkennen, sondern öffnete stattdessen das schwere Eingangsportal.

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»Ich bringe Ihr Gepäck hinein, Madam«, sagte der Chauffeur hinter ihr.

Jill versuchte ihn anzulächeln, merkte, dass es ihr misslang, und folgte langsam Lauren ins Haus. Sie fand sich in einer großen Eingangshalle wieder, mit einer hohen Decke und einem polierten Fußboden aus beigem und weißem Marmor. Kunstwerke zierten die Wände, und die kleine Bank, der Tisch mit der Marmorplatte sowie der Spiegel darüber waren sämtlich vergoldet. Jill biss sich grimmig auf die Lippe. Ihr war nur allzu deutlich klar, dass sie hier nicht hingehörte.

Sie schaute an ihrer abgetragenen Jeans und der schwarzen Jacke hinunter, die sie in dem klimatisierten Wagen angezogen hatte. Eigentlich war es ein Herren-Sportjackett, aber es hatte ihr auf Anhieb gefallen, und sie hatte es in dem Second-Hand-Shop für sich selbst gekauft. Ihre Slipper waren von Cole-Haan, aber schon sehr alt, butterweich und ausgeleiert. Sie konnte nun einmal nur bequeme, gut eingelaufene Schuhe tragen, wenn sie nicht tanzte, weil ihr Beruf ihr kaputte und schmerzende Füße eingetragen hatte.

Jill zögerte, denn sie hatte Angst davor, Lauren zu folgen. Sie fühlte sich entschieden fehl am Platze und wünschte, sie trüge einen Hosenanzug wie Lauren.

Sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, wie sie sich auf die weite Reise vorbereitet hatte. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was sich in ihrer 35

Reisetasche befand. Wenn sie Glück hatte, hatte KC, ihre beste Freundin und Nachbarin, ihr beim Packen geholfen, aber Jill wusste nicht einmal mehr, ob sie in den letzten Tagen überhaupt mit KC gesprochen hatte. Plötzlich machte sie sich Sorgen um ihren Kater Ezekial. Sie musste sofort KC anrufen und sich vergewissern, dass sie ihn gut versorgte.

Jills Blick verharrte auf einem Gemälde, das eine ganze Wand einnahm. Es musste ein großes Meisterwerk sein und stellte irgendeine Szene aus der Mythologie dar, die ihr nichts sagte. Sie schluckte und befahl sich, tief und gleichmäßig zu atmen. Sie würde nun seine Verwandten kennen lernen, und sie würde höflich zu ihnen sein. Sicher würden sie sie im Gegenzug freundlich behandeln - nicht wie Lauren. In ein paar Augenblicken würde man ihr ihr Zimmer zeigen. Es konnte ihr nicht schnell genug gehen.

Wenn sie nur in einem Hotel untergekommen wäre.

Sie hatte inzwischen so große Angst, dass sie drauf und dran war, das Haus fluchtartig wieder zu verlassen. Jill schaute über die Schulter zurück. Die Eingangstür war fest geschlossen.

Allmählich stieg Panik in ihr auf.

Jill sagte sich, dass alles gut werden würde. Dass sie nur weiterhin tief durchatmen musste.

Hal, der in ihren Armen starb, sein totenbleiches Gesicht, das Blut, das ihm aus dem Mund lief, all diese schrecklichen Bilder drängten sich mit einem Mal wieder in ihr Bewusstsein.

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Sie hörte Schritte. Jill versuchte, ihre zitternden Hände ruhig zu halten und zu lächeln, als Lauren erschien. Sie hatte ihren Blazer abgelegt und ein TShirt aus beigefarbener Seide enthüllt, das vermutlich mehr gekostet hatte als Jills gesamte momentane Garderobe.

»Kommen Sie«, sagte sie.

Jill folgte ihr voll ängstlicher Erwartung. Lauren führte sie in ein großes Wohnzimmer, das noch viel luxuriöser eingerichtet war als das Foyer. Doch Jill hatte keinen Blick übrig für die prächtigen, wenn auch verblassten Orientteppiche, die antiken Möbel oder den Matisse an der Wand. Drei Männer standen in der Mitte des Raumes, einer älter und weißhaarig, die beiden anderen jünger, etwa um die Dreißig, der eine goldblond und sonnengebräunt, der andere dunkelhaarig mit olivfarbenem Teint. Alle drei hielten ein Glas in der Hand.

Lauren blieb stehen und Jill ebenfalls. Die drei Männer drehten sich um. Sie starrten sie an.

Drei Paar durchdringender Augen. Dreimal derselbe vorwurfsvolle Blick. Das war Hals Familie.

Jill wusste, dass sie Hals alten Vater William vor sich hatte, seinen älteren Bruder Thomas und seinen Cousin Alex. Sie wusste nicht genau, welcher von den jüngeren Männern Thomas war. Aber in diesem Moment wurde ihr alles zu viel. Denn sie hörten nicht auf, sie so anzustarren. Ihre Feindseligkeit war 37

unverkennbar. Aber schließlich war sie diejenige, die am Steuer gesessen hatte ...

Mir alles in Ruhe durch den Kopfgehen lassen ...

Ich liebe dich ... Kate.

Jill versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Sie schaffte es nicht. Lauren sagte etwas, aber ihre Stimme war so kalt und unfreundlich wie die Blicke, die auf sie gerichtet waren. Dieses anklagende, kalte, feindselige Starren - Jill bemerkte, wie die drei Gestalten vor ihren Augen verschwammen, während sie von neuem in der Erinnerung versank. Hals gespenstisch bleiches Gesicht, das viele Blut ... Sie war gefahren ... Der Raum schien erst dunkler, dann heller zu werden, und wieder dunkler. Und dann wurde alles vollkommen schwarz.

Es war ein Segen.

Zuerst hörte sie Stimmen. Stimmen, die sie nicht erkannte, Männerstimmen, die Worte sagten, die sie nicht verstand.

Jill war, als schwebe sie, eigenartig leicht und friedlich. Und dann, als sie langsam wieder zu sich kam, wurde ihr klar, dass sie in Ohnmacht gefallen war. Mit dieser Erkenntnis stieg in ihr die schreckliche Ahnung auf, dass irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Und dann zerstob das friedvolle Gefühl, als würde es von einem Sturm zerrissen. Von der plötzlichen; herzzerreißenden Erinnerung daran, dass Hal tot war.

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»Was hat sich Hal nur dabei gedacht?«, fragte eine tiefe, raue Stimme. Sie klang gebildet, fast geziert, britisch und sehr ärgerlich.

Jill erstarrte. Sie wusste wieder, wo sie war, und hatte gerade die Augen öffnen wollen, ließ sie nun aber lieber fest geschlossen.

»Hal hat getan, was er wollte - ist immer seinen Impulsen gefolgt - das war eben Hal.« Eine weitere Stimme, weniger hasserfüllt, aber dennoch hart. Der Sprecher hatte einen amerikanischen Akzent. Das musste Hals Cousin Alex sein.

»Er hätte sich gar nicht erst mit ihr einlassen dürfen«, sagte die erste Stimme, immer noch rau vor Zorn. »Er hat die Schwierigkeiten ja geradezu herausgefordert. Ach, verdammt noch mal.«

Jill verstand nicht, worüber sie sprachen. Redeten sie etwa von ihr?

»Und nun schaut euch an, was daraus geworden ist«, mischte Lauren sich erregt ein. »Jetzt ist er tot.

Ihretwegen!«

Jill verkrampfte sich. Sie alle gaben ihr die Schuld an dem Unfall. Der Magen drehte sich ihr um.

»Genug davon, alle miteinander«, sagte eine weitere, ältere Stimme. Sie klang erschöpft und stammte sicher von William, Hals Vater.

»Dies ist eine schlimme Zeit für uns alle, und ... «

Plötzlich erstarb seine Stimme, er konnte nicht weitersprechen.

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Jill zerriss es das Herz, um seinetwillen wie um ihrer selbst willen.

»Onkel William, bitte setz dich doch. Lass mich dir nachschenken.«

»Danke«, flüsterte William, der immer noch mit den Tränen kämpfte.

Jill wünschte sich an jeden anderen Ort auf der Welt, nur nicht ins Wohnzimmer der Sheldons. Sie sollte nicht hier sein. Diese Unterhaltung war zu persönlich, zu intim.

»Sie hat wirklich Nerven«, schaltete sich die erste, heisere Stimme wieder ein. Das klang nicht nach einem Kompliment. »Ich frage mich, wie viel genau sie weiß und warum sie hier ist.« Das musste Thomas sein.

»Dein Vater hat Recht. Wir sollten nicht alles noch schlimmer machen, als es schon ist, und irgendwelche Anschuldigungen sind momentan sowieso sinnlos, weil wir nicht genug wissen.« Der Amerikaner wieder. Alex.

»Anschuldigungen«, wiederholte Thomas barsch.

»Sag mir nicht, dass ich ihr nicht Einiges vorzuwerfen habe. Verdammt.«

»Ich will dir nicht vorschreiben, was du zu tun hast.

Aber Onkel William hat Recht. Dies ist eine schwierige Zeit, und wir sollten nichts überstürzen.«

Jemand beugte sich über sie. Jill erschrak und fürchtete, dass man sie dabei erwischen würde, wie 40

sie sich ohnmächtig stellte. »Miss Gallagher?« Das war Alex.

Jill war todtraurig. Sie öffnete die Augen, in denen Tränen brannten, und verachtete sie alle, während ihr Instinkt ihr irgendeine Warnung zuschrie. Ihr Blick traf sofort seinen.

Seine Augen waren ungewöhnlich blau, seine Haut kräftig getönt, sein kurzes Haar schwarz und lockig.

Sie starrten einander an. Dann richtete er sich auf - er war ziemlich groß, wohl über einen Meter achtzig.

»Sie ist bei Bewusstsein.« Alex starrte weiter auf sie herunter. Sein Blick war durchdringend, und plötzlich fürchtete Jill, er würde ihr ansehen, dass sie schon vor einer Weile zu sich gekommen war - und sie belauscht hatte. Jill wollte sich aufsetzen, ihr wurde aber sofort wieder furchtbar schwindlig.

Lauren blickte auf sie herab. »Sie sind in Ohnmacht gefallen. Vielleicht sollten Sie besser noch einen Moment ruhig liegen bleiben.«

»Das ist mir noch nie passiert«, krächzte Jill; es war ihr sehr peinlich, und sie wollte unbedingt schnell wieder aufstehen, um diesem Raum und diesen Leuten zu entkommen. Sie war tatsächlich in Ohnmacht gefallen - und das war nicht dasselbe wie ihre vorherigen Blackouts. »Ich habe nichts gegessen.« Wie lächerlich sich das anhörte. Ihr Blick fiel auf die drei Männer, als sie wieder versuchte, sich aufzusetzen, und diesmal schaffte sie es. Alle starrten sie an. Sie erkannte sie jetzt. William war groß und 41

beleibt und wirkte erschöpft; er hatte weißes Haar, und sie schätzte ihn auf Mitte siebzig, doch er sah gut aus für sein Alter. Mit seinem marineblauen zweireihigen Sakko, seiner hellbraunen Hose und dem Siegelring entsprach er genau ihrer Vorstellung von einem wohlhabenden Aristokraten.

Thomas war sein Erbe. Er war der älteste Nachkomme. Hal hatte mehr als einmal erwähnt, dass sein Bruder, den er vergötterte, ein unverbesserlicher Weiberheld war. Er besaß jene Kombination von gutem Aussehen und Charme, der offenbar nur wenige Frauen widerstehen können. Jill hatte bisher vermieden, ihn anzusehen, aber sie hätte blind sein müssen, um nicht zu bemerken, dass er mindestens so umwerfend aussah, wie Hal behauptet hatte. Sein dunkelblondes Haar war von der Sonne gebleicht, sein Gesicht gebräunt, und sein muskulöser, aber nicht massiger Körper zeugte von regelmäßigem, ausdauerndem Training im Fitness-Studio. Seine Züge waren mehr als klassisch, sie waren kräftig und maskulin - hohe Wangenknochen, ein ausgeprägtes Kinn und ein überraschend voller und sinnlicher Mund. Er trug ein schwarzes Polohemd und eine braune Hose, eine goldene Rolex, Gucci-Schuhe. Jill hatte gutes Aussehen und Chic erwartet. Er sah nach Jet-Set aus, nach Vollzeit-Playboy. Jill konnte sich seinen verschwenderischen Lebensstil vage vorstellen. Sie wusste außerdem, dass Thomas geschieden war und dass seine beiden kleinen Söhne die meiste Zeit bei ihrer Mutter lebten.

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Jill merkte, dass sie ihn anstarrte, und schlimmer noch, dass auch er es bemerkt hatte, denn er sah ihr direkt in die Augen. Sie wurde rot. Sein Blick war eisig und scharf. Mit Worten hätte er es nicht deutlicher sagen können - Jill hatte keinen Zweifel daran, dass er nicht viel von ihr hielt, zumindest, was ihr Äußeres betraf. Offensichtlich war er wenig angetan von ihrer verwaschenen Jeans und der Jacke, die aussah, als habe ihr Freund sie ihr geliehen.

Vielleicht war er von ihrer ganzen Person wenig angetan. Und fraglos machte er sie ebenso wie Lauren für Hals Tod verantwortlich.

Sie hätte sich über diesen Empfang im Klaren sein sollen. Vielleicht war es dumm von ihr gewesen, herzukommen. Aber wie hätte sie Hals Beerdigung fernbleiben können?

»Es wäre wohl angebracht, dass wir uns einander vorstellen«, unterbrach Alex ihre Gedanken.

Jill sah ihm direkt in die Augen, als er vortrat. Ihre Wangen glühten noch immer. »Tut mir Leid«, sagte sie an ihn gerichtet, meinte aber eigentlich alle.

Er nickte knapp und wandte den Blick ab. Offenbar war er nicht weniger kaltherzig als die anderen.

»Stress, Schock, so etwas kann passieren.« Sein Ton war sehr nüchtern.

Jill ertappte sich dabei, dass sie ihn genau betrachtete. Hal hatte ihr erzählt, dass sein Cousin in Brooklyn aufgewachsen war, aber was hatte er sonst noch über ihn gesagt? Er hatte weniger von Alex 43

gesprochen als von Lauren und Thomas. Jill meinte sich zu erinnern, dass Alex seit einigen Jahren in London lebte und im Familienunternehmen arbeitete.

Hal hatte ihn als brillant bezeichnet, das wusste sie noch - wenn sie sich recht erinnerte, hatte er mit einem Sportstipendium in Princeton studiert.

Sie gaffte ja schon wieder. Sein Blick hatte sich verdüstert, als wüsste er, dass sie ihn anstarrte; Jill senkte den Blick und schaffte

es, aufzustehen. Sie schlang die Arme eng um ihren Brustkorb. Sie fühlte sich, als wäre sie in eine Grube voll hungriger Wölfe gestoßen worden. Sie wollte darum bitten, sich in ihr Zimmer zurückziehen zu dürfen, sobald sie sich miteinander bekannt gemacht hatten.

»Mein Onkel, der Earl of Collinsworth; mein Cousin, Thomas Sheldon; und meine Cousine, Lauren Sheldon-Wellsely«, sagte er monoton. »Und ich bin Alex Preston.«

Jill erstarrte, denn sie merkte sehr wohl, was er da tat, und konnte gar nicht fassen, wie er sie mit voller Absicht spüren ließ, dass sie eine gewöhnliche Amerikanerin unter britischen Aristokraten war. Er hielt ihrem Blick stand und ließ sie deutlich spüren, dass es ihm tatsächlich darum ging, sie zu demütigen.

Jill war schockiert.

Hal hatte ihr versichert, dass seine Familie sie mit offenen Armen aufnehmen würde. Dass sie sie lieben würden wie ihre eigene Tochter. Doch als Hal das 44

gesagt hatte, hatte er noch gelebt. Hatte er das wirklich geglaubt?

Jill sah an Lauren vorbei und nickte vorsichtig den beiden Männern zu, die sie weiterhin genauso kühl anstarrten wie Alex.

Thomas brach das kurze Schweigen. »Sie sind die Tänzerin«, stellte er fest, den Blick seiner bernsteinfarbenen Augen in die ihren gebohrt. Jill wand sich innerlich. »Ja, das stimmt. Ich bin Profitänzerin.« Sie wollte sich verteidigen, denn sein abfälliger Ton deutete an, dass er sie für eine Stripperin oder Ähnliches hielt. »Ich tanze in einer Broadway-Show. In zehn Tagen haben wir Premiere.«

»Ist ja toll«, erwiderte Thomas. »Das darf ich nicht verpassen, wenn ich das nächste Mal in New York bin.«

Jill wusste, dass sie knallrot war. »Ich bin sicher, dass Ihnen die Show gefallen wird. Ich sorge dafür, dass Sie die besten Plätze bekommen.«

»Wie nett. Ich kann mir vorstellen, dass Ihr Auftritt ein echter Knaller wird.«

Jill blinzelte verwundert. Was sollte das heißen? Sie wusste, dass er damit etwas andeuten wollte, aber sie war zu erschöpft und eingeschüchtert, um das jetzt zu durchschauen.

»Wie war Ihr Flug?«, schaltete sich Alex ein.

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Jill empfand die Frage nicht als erleichternd, denn sein Ton verriet, dass es ihn in Wahrheit kein bisschen interessierte. Aber sie konnte ihm nicht einfach mit einer ähnlichen Floskel antworten. »Er war schwer. Sehr schwer.« Und zu ihrem Entsetzen brach ihre Stimme. Sofort wandte Jill das Gesicht ab.

Alle wirkten überrascht, aber Jill konnte nicht sagen, ob es daran lag, dass sie ihre Betroffenheit nicht verbarg, oder daran, dass sie überhaupt Gefühle zeigte Nur Alex’ Blick blieb unergründlich auf sie gerichtet. Er beobachtete sie einen Moment lang dabei, wie sie in ihrer Tasche herumwühlte, und reichte ihr dann ein Taschentuch, als reiche er einem Penner etwas Kleingeld, ohne ein Lächeln, ohne ein wenig echtes Mitgefühl.

William trat vor. »Miss Gallagher. Wir wissen es zu schätzen, dass Sie unseren Sohn nach Hause gebracht haben.«

Jill verkrampfte sich. Sie fühlte sich sofort wieder elend und schwach, als sie William gegenüberstand, und betete, dass sie jetzt nicht wieder umkippen würde. Er begann vor ihren Augen zu verschwimmen.

»Es tut mir so Leid«, begann sie. »Ich hätte nie gedacht ... «

»Ja, selbstverständlich, wir alle trauern. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, ich möchte mich zurückziehen.« Er lächelte kurz und gezwungen; offensichtlich wollte er nicht, dass sie fortfuhr. »Also dann, bis morgen. Gute Nacht.«

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Jill sah ihm nach, als er den Raum verließ; er ging wie ein sehr alter Mann, mit hängenden Schultern, und setzte langsam und mühevoll einen Fuß vor den anderen. Sie hatte ihm das angetan, dachte sie.

»Mein Vater ist neunundsiebzig Jahre alt«, sagte Thomas plötzlich. Sein Blick durchbohrte Jill. »Dies hier hat ihn vernichtet.«

Jill wusste nicht, was sie erwidern sollte. »Es war ein Unfall«, flüsterte sie.

»Ein Unfall«, wiederholte Thomas scharf. »Ein Unfall.«

»Tom.« Alex trat zwischen sie und packte seine Schultern. »Wir alle sind geschockt und erschöpft.«

Seine Stimme hatte einen warnenden Unterton.

»Lassen wir’s gut sein.« Er wandte sich an Jill. »Sie müssen müde sein nach dem langen Flug. Lauren wird Ihnen Ihr Zimmer zeigen.«

Jill war so sehr auf Flucht bedacht, dass sie gleich einen wackeligen Schritt in Richtung Türe machte, aber Thomas’ schneidende Stimme ließ sie sofort innehalten.

»Wie ist das passiert?«

Jill erstarrte.

»Ich habe Sie gefragt, wie das passiert ist«, wiederholte Thomas. »Mein Bruder ist tot. Ich habe ein Recht darauf, es zu wissen.«

Jill blieb keine Wahl, als ihn wieder anzusehen.

»Wir sind übers Wochenende weggefahren. Da war 47

ein Baum.« Sie stockte. Thomas starrte sie an. Alle starrten sie an. »Ich verstehe es nicht«, sagte er schließlich. Seine Nase wurde langsam rot. »Ich habe ausführlich mit der New Yorker Polizei gesprochen.

Sie waren nicht betrunken. Sie hatten keine Drogen genommen. Der Verkehr war nicht allzu dicht, ganz normal. Die Straßen waren nur ein wenig feucht. Ich verstehe das nicht!« Er wurde laut.

»Es tut mir Leid«, flüsterte Jill, die jetzt heftig zitterte. »Ich weiß nicht, was passiert ist ... « Aber sie wusste es sehr wohl. Hal hatte ihr wehgetan, und sie hatte sich nicht auf die Straße konzentriert. Sie war schuld an seinem Tod, und es war Thomas’ gutes Recht, ihr Vorwürfe zu machen, sie zu hassen - das taten sie alle.

»Tom. Nicht jetzt. Nicht heute. Nicht so«, sagte Alex hart. Thomas fuhr zu seinem Cousin herum.

»Wann denn? Morgen? Vor oder nach der Beerdigung?«

»Ich hatte erwartet, Sie alle unter völlig anderen Umständen kennen zu lernen«, flüsterte Jill plötzlich.

Tränen brannten in ihren Augen. Alle drehten sich um und starrten sie an. Lauren eiskalt; Thomas sichtlich erregt; Alex mit undurchdringlichem Gesicht. »Hal hat so oft von Ihnen gesprochen, und so herzlich ... er hat Sie alle sehr geliebt und auch mich dazu gebracht, Sie zu lieben, und er hat mir erzählt, wie wir uns kennen lernen sollten ... so sollte es nicht sein!«

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Thomas schnaubte verächtlich. »Ich werde dieses Theater jetzt beenden, Miss Gallagher. Das Theater und jegliches Bemühen um Höflichkeit. Mein Bruder ist tot, und wenn er nicht in New York gewesen wäre, wäre er heute noch springlebendig. Ich kann mir vorstellen, was Sie hier wollen, und ich sage Ihnen hiermit: Sie werden es nicht bekommen.«

Jill verstand kein Wort. »Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

Aber Thomas war noch nicht fertig. Mit glühend rotem Gesicht sagte er: »Hal hatte nie die Absicht, Sie mit nach Hause zu bringen.«

Jill erstarrte und konnte nicht antworten, weil sie sich ihre allerletzte Unterhaltung mit Hal ins Gedächtnis rief. Entsetzen hatte sie gepackt. Was, wenn Hal seiner Familie gesagt hatte, dass er an ihrer gemeinsamen Zukunft zweifelte?

Alex wandte sich um und wollte offenbar das Gespräch beenden. »Lauren, warum lässt du nicht ein paar Sandwiches auf Miss Gallaghers Zimmer bringen? Sie sieht müde aus. Ich bin sicher, dass sie sich gern für heute zurückziehen würde. Wie wir alle.«

Lauren starrte Alex an, als habe sie kein Wort verstanden. Jill, die inzwischen am ganzen Körper zitterte, schaute hilflos von einem zum anderen und sah dann Lauren nach, die sich schließlich widerwillig aufmachte, um Alex’ Vorschlag in die 49

Tat umzusetzen. »Danke«, sagte Jill zu Alex und hoffte auf ein freundliches Lächeln.

Doch als er sie ansah, erkannte sie kaum verhohlenen Hass in seinen Augen.

»Wie lange haben Sie meinen Bruder gekannt?«, fragte Thomas fordernd.

Jills Blut gefror. »Acht Monate.«

»Wie haben Sie sich kennen gelernt?«, bohrte Thomas weiter.

Jill merkte, dass sie instinktiv Alex’ Blick suchte, obwohl sie wusste, dass sie von ihm keine Unterstützung zu erwarten hatte. Alex sah sie an und wandte sich schließlich an seinen Cousin. »Tom, das hat Zeit bis morgen.«

»Die Frage ist völlig berechtigt«, sagte Thomas.

»Alle Fragen. Sie taucht hier mit seiner Leiche auf. Er liegt in einem Sarg, verdammt noch mal. Ich will wissen, wie sie sich kennen gelernt haben.«

Jill wünschte, sie hätte sich wieder setzen oder wenigstens irgendwo anlehnen können. Bevor sie antworten konnte, erschien Lauren wieder und sagte:

»Ich glaube, er hat sie zum ersten Mal in einem Fitness-Studio gesehen.«

Jill schaute zu ihr hinüber. »Nein. Ich trainiere zwar in einem kleinen Studio in SoHo, aber wir sind uns in der U-Bahn begegnet.«

»Hal hat mir etwas anderes erzählt«, beharrte Lauren.

50

»Das ist die Wahrheit«, sagte Jill verwundert.

Lauren musste sich irren.

»In der U-Bahn!«, rief Thomas ungläubig. »Was, zum Teufel, hatte mein Bruder in der verdammten U-Bahn zu suchen?«

»So kommt man am besten in der Stadt herum«, rechtfertigte sich Jill.

»Mein Bruder hatte einen Chauffeur, der ihm jederzeit zur Verfügung stand«, gab Thomas zurück.

»Das stimmt, aber er wollte diesen Lebensstil nicht.

In den acht Monaten, die ich ihn kannte, hat er den Chauffeur und den Wagen kaum jemals in Anspruch genommen.«

Thomas bedachte sie mit einem Blick, der ihr zu verstehen gab, dass entweder ihr Einfluss für ein solch absurdes Verhalten seines Bruders verantwortlich war, oder dass sie log. »Es stimmt«, rief sie verzweifelt. »Hal war sehr bodenständig.«

»Erklären Sie mir nicht, wie mein Bruder war«, fuhr Thomas sie an.

Ihre Blicke trafen sich. Und Jill fragte sich auf einmal, wie Hal bloß auf die Idee gekommen war, dass sie in seine Familie passen könnte. Sie kamen aus völlig verschiedenen Welten. Seine Familie besaß angestammten Reichtum, und sie besaß nicht einmal eine Familie - ihre Tante zählte nicht, und Jill hatte seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihr. Finanziell kam Jill gerade so über die Runden. Sie sah sich in 51

dem riesigen Wohnzimmer um. Es war viermal so groß wie ihr Apartment. Diese Leute waren reiche Upper-Class-Snobs. Was hatte sie hier überhaupt verloren?

»Hör mal, ich nehme auch die U-Bahn, wenn ich in New York bin«, sagte Alex ruhig.

»Ist ihr Zimmer fertig?«, fragte er Lauren, die neben ihm stand.

Lauren nickte.

Jill schaute ihn überrascht an, dankbar für seine Unterstützung, aber sie ließ sich nicht täuschen - er war auch nicht gerade ihr Fürsprecher.

»Seit wann? Seit deinen Studentenzeiten?«, fragte Thomas Alex sarkastisch.

Alex lächelte dünn. »Wenn ich es eilig habe, lasse ich den Chauffeur schon mal mitten im Stau stehen und steige in den nächsten Zug.« Er zuckte mit den Schultern. »Wenn man sich damit auskennt, kommt man so in der Stadt wirklich besser voran.«

»Hal hatte in der U-Bahn nichts zu suchen und ebenso wenig in New York.« Thomas sah Jill an. Es war klar, was er damit meinte. Es war ihre Schuld.

Alles war ihre Schuld.

Sie war völlig fertig, elend, und sie hatte sich noch nie kraftloser gefühlt, aber jetzt reichte es ihr.

»Entschuldigen Sie. Er hatte in New York sehr wohl etwas zu suchen. Ich habe Ihren Bruder geliebt. Er hat mich geliebt! Wir waren glücklich!« Aber selbst 52

während sie das sagte, lauerte ihr verdammtes letztes Gespräch in ihrem Hinterkopf und flüsterte ihr Zweifel ein, die sie nicht haben sollte - wie konnte er ihr das antun? »Ich habe noch nie jemanden so sehr geliebt. Ich werde nie wieder jemanden so lieben«, hörte sie sich sagen. Sie verstummte. Gleich würde sie in Tränen ausbrechen.

Diesmal reichte ihr niemand ein Taschentuch. Der riesige Salon lag in tiefem Schweigen, und Jill fand ein Kleenex in ihrer Tasche. Sie wischte sich die Augen und weigerte sich, Thomas, Alex oder Lauren anzusehen. Aber sie hatte in ihren Gesichtern gelesen.

Niemand glaubte ein Wort von dem, was sie gesagt hatte; sie alle hielten sie für eine Lügnerin.

Jill holte tief Luft, versuchte ihre Nerven zu beruhigen und ihre Tränen zurückzuhalten. »Das ist die Wahrheit«, sagte sie in Richtung der drei.

»Nun«, sagte Thomas schließlich. »Wir könnten tagelang über Ihre Version der Wahrheit diskutieren, nicht wahr?«

»Nein«, sagte Jill. »Das können Sie nicht.«

Thomas’ Unterkiefer spannte sich. Sie starrten einander an. Diesmal weigerte Jill sich, unter Thomas’ feindseligem Blick zuerst die Augen zu senken.

Thomas lächelte grimmig - es war eher ein verzerrtes Kräuseln der Lippen , drehte sich dann plötzlich um und verließ den Raum. Jill merkte, dass 53

sie immer noch heftig zitterte. Eine solche Begegnung hatte sie noch nie zuvor erlebt.

»Wie lange werden Sie bei uns bleiben, Miss Gallagher?«

Jill blickte in Alex’ durchdringende blaue Augen.

Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Mein Flug geht übermorgen.«

Alex nickte. »Wenn Sie mir die Einzelheiten sagen, sorge ich dafür, dass einer der Fahrer Sie nach Heathrow bringt.«

Jill wusste, dass er sie gar nicht schnell genug wieder loswerden konnte und dass allen ihre Abreise viel zu spät erschien. Aber sie konnte ihnen nicht anbieten, früher zu fliegen - eine Umbuchung konnte sie sich nicht leisten. Das Ticket, das sie erst einen Tag vor Abflug gebucht hatte, hatte sie ohnehin schon über tausend Dollar gekostet. Geld, das sie nicht einfach so übrig hatte. Jill schwieg ärgerlich. Warum wäre es der ganzen Familie offensichtlich lieber gewesen, wenn sie Hal allein nach Hause geschickt hätte? Es war ihr gutes Recht, an der Beerdigung teilzunehmen.

»Bitte folgen Sie mir«, sagte Lauren, doch es klang wie ein Befehl.

Jill blickte in ihr versteinertes Gesicht. Sie konnte es kaum erwarten, aus dem Wohnzimmer zu fliehen.

»Nach Ihnen.«

»Einen Moment noch, Miss Gallagher.«

54

Jill erstarrte und drehte sich zu Alex um. »Ja?«

»Ich möchte Sie warnen«, sagte er bestimmt und baute sich fast drohend vor ihr auf. »Diese Familie hat einen schweren Schock erlitten. Sie sind eine Fremde in unserer Mitte. Ich will nicht, dass Sie alles noch mehr auf den Kopf stellen. Deshalb möchte ich darum bitten, dass Sie sich in den zwei Tagen bis zu Ihrer Abreise möglichst wenig bemerkbar machen.«

Jill starrte ihn an, das Blut rauschte ihr in den Ohren. »Ich glaube nicht, dass Sie mich um irgendetwas bitten«, presste sie schließlich hervor.

»Sie erteilen mir einen Befehl.«

»Ich gebe Ihnen einen guten Rat«, erwiderte er ungerührt.

Jill schlang die Arme beschützend um sich. Schon wieder schossen ihr Tränen in die Augen. »Ich weiß, dass ich hier nicht willkommen bin. Ich schätze, ich hätte Hal allein nach Hause schicken sollen. Aber das konnte ich einfach nicht.«

Sie bemerkte ein kurzes Flackern in seinen blauen Augen. »Das hat niemand gesagt, Miss Gallagher.«

Jill schüttelte den Kopf. »Es tut mir Leid, wenn mein Besuch hier alles auf den Kopf gestellt hat.«

Ihre Stimme war voll Bitterkeit. »Aber er ist in meinen Armen gestorben. Wie hätte ich ihn nicht selbst nach Hause bringen können? Es ist mein gutes Recht, auf seine Beerdigung zu gehen!« Sie spürte Tränen über ihre Wangen laufen. Wütend starrte sie 55

Lauren an. »Wir sind nicht nur miteinander ausgegangen. Wir waren so gut wie verlobt - eine Woche

bevor er starb, hat er mir einen Antrag gemacht. Er hat mich gebeten, seine Frau zu werden!«, schrie sie Lauren an.

Die Worte waren wie von selbst aus ihr hervorgebrochen, und noch während sie sie aussprach, kam ihre Überzeugung ins Wanken; sie wurde von ihren Gefühlen überwältigt und konnte nicht weiterreden. Es gab sowieso nicht mehr viel zu sagen.

Sie hatte nur noch einen Gedanken: Hal, komm zurück, ich bin so allein ... ich brauche dich!

Dann bemerkte sie Laurens und Alex’ ungläubige Blicke.

»Ich glaube Ihnen kein Wort«, sagte Lauren entsetzt. »Er hätte Sie niemals gebeten, ihn zu heiraten. Thomas hatte Recht, was Sie betrifft!«

Jill schrak zusammen. Sie wusste nicht, was Lauren damit sagen wollte.

»Hal und ich standen uns sehr nahe«, rief Lauren aufgeregt. »Er ist – war - nur zwei Jahre älter als ich.

Wenn er sich mit Ihnen hätte verloben wollen, hätte er mir davon erzählt. Er hat nur gesagt, dass Sie mit ihm befreundet seien. Das ist alles. Er hat es ein oder zweimal erwähnt. Ich kenne meinen Bruder! Wenn mein Bruder verliebt gewesen wäre und eine Heirat 56

geplant hätte, hätte er mir davon erzählt - und zwar ausgiebig!«

Jills Puls raste. Ihre Knie wurden weich, und sie fürchtete, dass sie wieder zusammenbrechen würde.

»Nein«, sagte sie und schüttelte den Kopf. Sie blickte von Lauren zu Alex. Er betrachtete sie mit diesen forschenden blauen Augen, und das Staunen war aus seinem Gesicht gewichen. Er glaubte ihr auch nicht, dachte sie. Übelkeit stieg in ihr auf, da sie meinte, Mitleid in seinem Blick zu erkennen.

»Er hat mich gebeten, ihn zu heiraten - das hat er«, sagte sie heiser.

Alex stemmte die Hände in die Hüften. »Es spielt keine Rolle. Dieser Punkt ist nun einmal umstritten.

Lauren?«

Jill wurde urplötzlich klar, dass sie seiner Familie niemals gestehen durfte, dass sie selbst daran zweifelte. Sie durfte sich nicht anmerken lassen, was sie am meisten quälte - dass Hal sich am Ende nicht sicher gewesen war - dass sie vielleicht Recht hatten -

und sie sich täuschte.

Oh Gott.

Lauren trat vor. Ihre Augen waren rot und verweint.

»Kommen Sie mit. Ich bringe Sie auf Ihr Zimmer.«

Sie drehte sich um und ging forsch aus dem Wohnzimmer, ohne sich darum zu kümmern, ob Jill ihr folgte.

57

Jill zögerte und warf Alex einen letzten Blick zu. Er sah sie unverwandt an, und sie hatte das unangenehme Gefühl, dass er ihre Verwirrung und ihre Zweifel spüren konnte - dass er die ganze Wahrheit erahnte. Aber das konnte nicht sein. Ihre eigene Paranoia redete ihr das ein.

»Wir reden morgen darüber«, sagte er plötzlich.

In seiner Stimme lag eine unnachgiebige Entschlossenheit, vor der Jill aus dem Raum floh. Sie verspürte nicht den Wunsch, mit ihm zu reden, weder morgen noch sonst irgendwann. Sie stolperte hinter Lauren her und wünschte sich, sie wäre nie ins Haus der Sheldons gekommen und hätte nie einen von ihnen getroffen.

Jill folgte Lauren in den zweiten Stock hinauf.

Lauren sagte kein Wort. Sie gingen einen langen Korridor entlang, der mit blau und goldfarben gemustertem Teppich ausgelegt war, und Jill verspürte auf einmal den Wunsch, Hals Zimmer zu suchen. Das Zimmer, in dem er aufgewachsen war.

Das Zimmer, in dem er gewohnt hatte, wenn er in London war. Es würde sie ein wenig trösten, sich dort aufzuhalten.

Sie blieben vor einer wunderschön verzierten Tür stehen. »Gute Nacht«, sagte Lauren knapp und kalt.

Dann wandte sie sich um und ging.

58

Jill sah ihr nach. Diese Grobheit war nicht falsch zu verstehen. Dann betrat sie ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

Ihr Gepäck war heraufgebracht worden. Die Taschen standen ordentlich aufgereiht am Fußende eines riesigen Bettes mit dicken Pfosten, auf dem eine dunkelgrüne samtene Tagesdecke mit passenden Rüschen, Kissen und Überwürfen in schillernden Grün, Blau und Goldtönen lagen. Jill sah sich mit weit aufgerissenen Augen um.

Die Zimmerdecke war rosa gestrichen und mit komplizierten Stuckarbeiten verziert, in ihrer Mitte prangte ein Stern, von dem beigefarbene Strahlen ausgingen. An den Wänden, die in einem wunderschönen gedämpften Jadegrün gehalten waren, hingen zahlreiche kleinformatige Gemälde, die alt und kostbar aussahen. Das Zimmer, das man ihr gegeben hatte, war so groß wie ihr ganzes Apartment im Village - mindestens. Sogar einen offenen Kamin gab es hier, mit einem Sims aus dunkelgrünem Marmor. Die Einrichtung bestand aus Antiquitäten; die Bezüge und anderen Stoffe - Brokat, Seide und Damast - waren edel, aber alt und verblasst.

Jill schlenderte durch den Raum, berührte die hübschen Porzellanlampen und einen kleinen, bunt bemalten chinesischen Paravent, der in einer Ecke stand. War Hal von Sinnen gewesen? Nicht in einer Million Jahre hätte sie in seine Familie gepasst.

59

Jill blieb reglos stehen. Auf einmal begriff sie die schreckliche Wahrheit.

Hal hatte sich in sie verliebt. Aber als ihre Beziehung sich gefestigt hatte, war ihm klar geworden, dass er sie niemals mit nach Hause bringen konnte. Er hatte sie heiraten wollen - aber dann erkannt, dass seine Familie sich mit Klauen und Zähnen gegen diese Ehe wehren würde. Die Sheldons hätten nie eine gewöhnliche kleine Tänzerin in ihrer Mitte geduldet. Und deshalb hatte er es sich anders überlegt.

Jill sank auf das Bett.

Hal hatte seine Familie geliebt. Schon vom Beginn ihrer Freundschaft an hatte er ständig von ihr gesprochen, voll Liebe und Stolz.

Jill hatte erkannt, dass seine Familie der Nabel seiner Welt war, und da sie selbst keine Familie hatte, war das einer der wichtigsten Gründe gewesen, warum sie sich in ihn verliebt hatte.

Sie schloss die Augen. Hal hatte wenig Ähnlichkeit mit seinem Bruder, seinem Cousin oder seiner Schwester gehabt. Er war nicht arrogant gewesen, und er hatte nicht mit Geld um sich geworfen. Jill hatte nicht gelogen, als sie behauptet hatte, dass er, so lange sie ihn kannte, kaum jemals seinen Chauffeur bemüht hatte. Er hatte lieber Jeans und T-Shirts getragen als Anzüge oder Sportsakkos. Jill hatte sich nie daran gestört, dass er seinen Lebensunterhalt nicht durch die Fotografie bestritten hatte. Er war Künstler 60

gewesen, genau wie sie, und sie hatte wirklich an ihn geglaubt. Sie war immer überzeugt davon gewesen, dass er eines Tages den Durchbruch zu einer großen Karriere schaffen würde.

Plötzlich begannen sich Einzelheiten wie bei einem Puzzle zu einem Bild zusammenzufügen. Hal war so anders als seine Familie. Egal, wie sehr er sie geliebt hatte. Was, wenn er nach New York gegangen war, um ihnen zu entkommen, und dem Druck, der auf ihm als Sheldon lastete - auf dem anderen Sheldon, fast schon dem schwarzen Schaf?

Wenn dem so war, hätte er in einem schlimmen Zwiespalt gesteckt. Aber er hatte seinen inneren Kampf so gut verborgen - bis zu ihrem endgültig letzten Gespräch.

Jill bekam es mit der Angst zu tun. Sie drückte ihr Kopfkissen an sich, sie wollte diese Gedanken nicht weiter verfolgen. Hal hatte am Ende gewusst, dass er sie nicht mit nach Hause bringen konnte, ohne sich zwischen ihr und seiner Familie entscheiden zu müssen. Jill weinte.

Und als ihr Schluchzen schließlich verebbte, lag sie da, starrte an die Decke und dachte sich, dass sie niemals erfahren würde, wie er sich aus diesem Dilemma befreit hätte. Jill wünschte, sie wäre nicht nach London gekommen.

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Sie wünschte verzweifelt, dass Hal noch lebte und sie beide noch in New York wären, mitten in ihrem Märchen. Denn so erschien es ihr allmählich - als ein dummes Märchen.

Aber es war ein Märchen, dass sie nie in ihrem Leben vergessen würde.

Jill konnte nicht schlafen.

Ihre Gedanken quälten sie. Und sie vermisste Hal so schrecklich, dass es bis in jeden Winkel ihres Wesens schmerzte.

Aber vielleicht war das Schlimmste daran, an die nachtschwarze Decke zu starren und sich so entsetzlich allein zu fühlen - so entsetzlich allein zu sein - wieder einmal.

Jill knipste die Nachttischlampe an. Sie konnte Gott bis in alle Ewigkeit anflehen, aber Hal blieb tot, und nichts konnte daran etwas ändern. Doch irgendwie würde sie es überstehen - so, wie sie den Verlust ihrer Eltern vor dreiundzwanzig Jahren überstanden hatte.

Aber diesmal war der Verlust anderer Art. Diesmal würde sie sich an ihre Erinnerungen klammern. Sie wollte diese Zeit niemals vergessen, selbst wenn das bedeutete, alle ihr verbleibenden Jahre mit diesem Schmerz zu leben. Was sie jetzt tun musste, um nicht durchzudrehen, war, ihre Verwirrung und ihre Zweifel beiseite zu schieben. Denn das war eine Last, die sie einfach nicht bewältigen konnte.

62

Abrupt stand Jill auf. Sie konnte nicht einschlafen, und es würde sie nur verrückt machen, rastlos im Bett zu liegen, während ihre Gedanken unablässig zwischen ihren schlimmsten Befürchtungen und ihren nun unerreichbaren Träumen hin und herpendelten.

Sie musste etwas tun, sie brauchte Ablenkung, denn sie fürchtete sich schrecklich davor, die ganze Nacht allein zu verbringen.

Jill ging zu dem Fernseher auf einem Tischchen hinüber und schaltete ihn ein. Müde rieb sie sich die Stirn. Das britische Fernsehen mit seinem seltsamen Humor interessierte sie nicht. Was sie wirklich brauchte, war eine Schlaftablette oder zwei, die sie aber nicht hatte. Ersatzweise könnte sie es mit einem starken Drink versuchen. Ein oder zwei Martini sollten reichen, dachte sie grimmig.

Hatte sie nicht einen Barwagen in dem Salon gesehen, in dem sie in Ohnmacht gefallen war?

Jill sah auf den Wecker auf dem Nachttisch. Es war Viertel vor zwölf. Sie war um halb acht hier angekommen. Die Familie schlief sicher schon tief und fest. Sie durchquerte den Raum und schlüpfte in ihre Jeans - sie hatte in T-Shirt und Höschen im Bett gelegen. Sie verdrängte den Gedanken daran, was passieren würde, wenn man sie dabei erwischte, wie sie allein im Haus herumstrich. Sie glaubte nicht, dass ihren Gastgebern das sonderlich gefallen würde. Sie wusste von Hal, dass Lauren und Alex nicht im Haus wohnten. Wenn sie auf jemanden stieß, würde es 63

dieser fiese Thomas sein. Das war eben Pech.

Diesmal würde sie ihm die Stirn bieten, wenn er es noch einmal wagte, sie so zu attackieren wie an diesem Abend. Sie war den Sheldons überhaupt nichts schuldig. Sie war wieder auf sich allein gestellt, und wenn sie sich nicht selbst um sich kümmerte, würde es niemand tun.

Jill erreichte das Wohnzimmer ohne Zwischenfall, schenkte sich einen Scotch ein, obwohl sie das Zeug sonst nicht trank und eigentlich nicht mochte, und machte sich wieder auf den Weg nach oben. Auf dem Treppenabsatz im ersten Stock hielt sie inne und nippte an dem starken Drink. Er wärmte sie sofort, und, was noch besser war, er dämpfte augenblicklich Trauer, Schmerz und Verwirrung. Sie wusste, dass Hals Zimmer auf diesem Stockwerk lag. Er hatte ihr oft erzählt, wie sehr er es liebte, wenn die Morgensonne in sein Schlafzimmer im ersten Stock schien.

Sie sehnte sich so danach, in sein Zimmer zu gehen und seine Sachen um sich zu haben. Andererseits wusste sie, dass die Familie sehr verärgert sein würde, wenn sie das ohne ihre Erlaubnis tat.

Aber Hal hätte nichts dagegen. Jill konnte förmlich fühlen, wie er sie ermutigend anlächelte.

Und sie scherte sich nicht darum, was die Sheldons denken würden, schon gar nicht, nachdem man sie an diesem Abend so grob behandelt hatte.

64

Mit dem Scotch in der Hand ging Jill den Gang entlang, so leise wie möglich. Vor einer Tür blieb sie stehen und drückte das Ohr dagegen. Als sie nichts hörte, klopfte sie ganz vorsichtig. Noch immer kein Geräusch von innen.

Mit wild klopfendem Herzen drehte Jill am Türknauf und öffnete die Tür. Dunkelheit empfing sie. Sie drückte einen Lichtschalter.

Vor ihr lag ein Schlafzimmer, das seit Jahren nicht mehr bewohnt worden war, und Jill sah nichts, was auch nur ansatzweise darauf hingewiesen hätte, dass es einem Jungen gehört hatte, und schon gar nicht Hal. Sie machte das Licht aus, trat zurück und schloss die Tür. Ihr Puls dröhnte wie Donner in ihren Ohren.

Sie setzte ihren Weg durch den Flur fort, trank ihren Scotch aus und entdeckte drei weitere unbewohnte Zimmer, während ihr Herz heftig gegen ihre Rippen hämmerte. Sie fragte sich allmählich, ob sie sich nicht sehr dumm benahm, aber der Scotch hatte ihren Mut gestärkt. Beim fünften Versuch wusste sie, dass sie auf sein Zimmer gestoßen war.

Sie holte tief Luft und rang um Fassung. Denn sie blickte auf ein Bücherregal, in dem ein ganzes Bord von gerahmten Fotografien eingenommen wurde.

Auch die Wände waren mit Fotos übersät.

Jill begann zu zittern. Sie hätte Hals Arbeiten überall erkannt. Sie schlüpfte ins Zimmer, machte das Licht an und schloss die Tür hinter sich.

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Sie war auf allen Seiten von seinen Werken umgeben. Jill spürte das Verlangen nach einem weiteren Drink.

Tränen rannen über ihre Wangen.

»Oh Hal«, flüsterte sie. Sie hörte den schmerzlichen Unterton in ihren eigenen Worten.

Die königsblauen Vorhänge waren halb geöffnet, und die Lichter von der Straße und

gegenüberliegenden Häusern ließen die Schatten tanzen. Jills Herz hämmerte wie wild, als sie zu dem Regal hinüberging. Sie lächelte, und neue Tränen traten ihr in die Augen. Hal hatte erwähnt, dass er als Teenager wie ein Verrückter alles fotografiert hatte, was er vor die Linse bekam. Sie sah Aufnahmen von wilden Tieren - er war offenbar auf einer Safari gewesen , von Blumen, Bäumen, Landschaften, Stonehenge. Und dann waren da Bilder von seiner Familie.

Jill blinzelte die Tränen fort und nahm ein Foto von Thomas herunter, das wohl etwa zehn Jahre alt war.

Schon damals hatte er das blendende Aussehen eines Models oder Schauspielers besessen. Jill starrte auf das Bild. Nicht, weil er nach all den Jahren noch besser aussah, sondern deshalb, weil die Aufnahme ihn offensichtlich schmeichelhaft darstellte; Hal hatte Thomas eingefangen, als er sich über ein Baby beugte, und sein Gesicht zeigte einen zauberhaften Ausdruck von Liebe. Das Kind, nahm Jill an, war sein eigenes.

66

Sie stellte das Bild zurück. Dann erstarrte sie.

In einem weiteren Regal standen mehrere Fotos von Hal als Teenager und als junger Mann. Es waren keine Selbstporträts, Jill kannte Hals künstlerische Handschrift genau. Diese hatte jemand anderes gemacht.

Sie begann lautlos zu weinen, und die Tränen strömten ihr unablässig über die Wangen.

Sie berührte die Rahmen. Auf einem Foto spielte er Fußball, das nächste zeigte ihn bei einer Jagd mit der Meute - auf diesem sah er so unverschämt blaublütig aus, und auf dem letzten hielt er sein Abschlusszeugnis hoch. Sie musste durch ihre Tränen hindurch lächeln.

Dann blieb ihr Blick an einem vierten Bild hängen.

Es zeigte ihn auf einem Skihang mit einer jungen Frau. Ein scheußlicher Stoß durchfuhr sie, während sie es betrachtete. Das war nicht Lauren - diese Frau hatte rotes Haar und war umwerfend schön. Natürlich musste das Foto mehrere Jahre alt sein, und ihre erste Reaktion, Eifersucht, war völlig absurd. Jill studierte es aus der Nähe und kam zu dem Schluss, dass Hal sehr dünn aussah, selbst in seinem Skianzug. War er krank gewesen, als das Foto gemacht wurde?

Sie stellte es wieder hin und ließ den Blick über die wenigen Bücher huschen, die noch auf dem Regal standen. Dann schlenderte sie zum Bett, das mitsamt den hohen Pfosten aus massivem, sehr dunklem Holz gefertigt war. Ihre Hand strich über die karierte 67

Steppdecke. Er hatte wahrscheinlich jahrelang nicht darin geschlafen.

Sie setzte sich auf die Bettkante und betrachtete die Bilder, die an der Wand hingen. Die meisten waren Schwarzweißfotos. Viele waren von Leuten, die sie nicht kannte, viele von seiner Familie. Jill starrte ein Porträt an, das eine schöne, geradezu königlich wirkende ältere Frau zeigte; das musste seine Mutter sein, die Gräfin, die sie noch nicht kennen gelernt hatte. Die Ähnlichkeit war unverkennbar.

Jill blieb reglos sitzen, saugte Hals Gegenwart in sich auf und konnte ihn für einen Augenblick beinahe neben sich spüren, doch dann war der Augenblick verflogen. Sie legte sich hin, jetzt noch erschöpfter als jemals sonst im Lauf der letzten Tage. Hals Bett war mehr als bequem - es war beruhigend und tröstlich.

Sie konnte fast sein Eau de Cologne riechen, aber das entstammte nur ihrer Erinnerung.

Sie legte den Kopf auf die andere Seite, und ihr Blick prallte förmlich gegen ein weiteres Foto - aber dieses war sehr alt und stand in einem antiken silbernen Rahmen auf seinem Nachttisch. Jill setzte sich auf.

Sie nahm das gerahmte Bild von seinem Platz auf dem Tischchen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie es an.

Es war eine alte Schwarzweißaufnahme von zwei jungen Frauen in altmodischer Kleidung. Für Jills ungeübtes Auge sahen sie nach Jahrhundertwende 68

aus; die Röcke der weißen, langen Kleider waren schmal geschnitten, und beide Frauen trugen große Strohhüte. Sie standen dicht nebeneinander vor einem schmiedeeisernen Gitter. Sie starrten in die Kamera, ohne zu lächeln.

Hatte das Bild Hal gehört?

Jill war unsicher, bis sie sich daran erinnerte, dass sie in New York einige Museen zusammen besucht hatten. Hal hatte es Spaß gemacht, ihr Einzelheiten aus dem Alltagsleben im späten neunzehnten Jahrhundert zu zeigen - worüber er ziemlich viel zu wissen schien. Natürlich hatte das Bild ihm gehört.

Zweifellos hatte er es bewundert.

Jill betrachtete es genauer und versuchte herauszufinden, was ihn daran fasziniert hatte, aber für sie war es nur ein altes Foto von zwei hübschen jungen Frauen. Sie zuckte mit den Schultern und legte das Bild aufs Bett. Doch dann stutzte sie plötzlich.

Hal hatte keine alten Fotografien gesammelt. Er war zu sehr mit seinen eigenen Arbeiten beschäftigt gewesen. Eine Gänsehaut lief ihr über die Arme.

Jill zögerte und nahm dann das Bild wieder in die Hand. Einem unbestimmten Drang nachgebend, drehte sie es um und schnappte nach Luft. Jemand hatte etwas auf die Rückseite geschrieben. Neugierig sah Jill genauer hin. Ihre Augen weiteten sich, als sie laut vorlas: »Kate Gallagher und Anne Bensonhurst, Sommer 1906.« Das war Hals Handschrift.

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Sie konnte sich nicht irren. Jill war starr wie ein Eiszapfen. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Aber ihr Nachname war Gallagher - und Hals letztes Wort, sterbend an sie gerichtet, war »Kate«

gewesen.

Sie starrte zitternd auf das Foto.

Dies war zweifellos nur ein wirklich eigenartiger Zufall, sonst nichts. Jill sagte sich mahnend, dass Hal sie geliebt hatte, dass er es ihr gesagt hatte, bevor er starb, und dass dieses Bild nichts mit jener Frau namens Kate zu tun hatte, die wahrscheinlich nur seine Anwältin oder etwas Ähnliches war. Jill drehte das Bild wieder um. Wer waren diese Frauen und warum hatte ihre Fotografie Hal so viel bedeutet, dass er etwas auf die Rückseite geschrieben und das Bild an sein Bett gestellt hatte?

Sie spürte Bitterkeit in sich aufsteigen, gegen die all ihre beruhigenden Einwände nichts ausrichten konnten. Eigenartigerweise fühlte sie sich unwohl und wünschte, sie hätte diesen Raum nie betreten.

Trotzdem starrte sie weiter auf das Bild. Beide Frauen hatten dunkles Haar und helle Haut. Natürlich hatten sich die Damen zu jener Zeit nicht der Sonne ausgesetzt. Eine der beiden war weder besonders schön noch unscheinbar; trotz ihrer klassischen Züge verblasste sie irgendwie neben der anderen Frau, die kühn und bemerkenswert wirkte. Es war diese andere junge Frau, die plötzlich Jills ganze Aufmerksamkeit für sich einnahm.

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Jill konnte den Blick nicht abwenden. Sie war wie gebannt. Diese Frau hatte etwas Unwiderstehliches an sich. Etwas Außergewöhnliches. Sie war schön, aber nicht im klassischen Sinne. Ihre Nase war gerade und fast römisch geschnitten, ihr Unterkiefer zu kräftig, ihre Wangenknochen sehr hoch - und auf der rechten Wange saß eindeutig ein Leberfleck. Jill glaubte, dass es nicht ihr Aussehen war, was sie so faszinierend machte. Vielleicht war es der Ausdruck in ihren Augen. Sie waren dunkel und sprühten vor Intelligenz, Energie und Lebensfreude, und Jill gewann den Eindruck, dass diese Frau vergnüglich auf ein großes Geheimnis anspielte.

Die Frau mit dem Schönheitsfleck starrte aus dem Bild zurück. Jill erkannte nun den Anflug eines Lächelns um ihren Mund, und ihre Augen schienen Jill herauszufordern ... zu was?

»Was glauben Sie eigentlich, was Sie hier zu suchen haben?«, fuhr eine barsche Stimme sie von hinten an.

Jill schrie auf und ließ das Bild fallen.

»Ich will wissen, was Sie hier zu suchen haben«, wiederholte Alex, der in der Tür stand. Und er schaltete die übrigen Lichter an.

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