Acht
J ill stieg aus dem Taxi und starrte auf Lexham Villas, wo Allen Henry Barrows lebte. Der Block bestand aus viktorianischen Reihenhäusern, alle weiß verputzt und durch schmiedeeiserne Gitter zur Straße hin geschützt. Das Haus von Mr. Barrows, Lexham Villas No. 12, lag an der Ecke. Ein schmaler, von bunten Stiefmütterchen gesäumter Weg führte zum Eingang des weißen Hauses. Vor dem Haus gab es zwei winzige Fleckchen grünen Rasens und zwei alte, schattige Bäume. Es war einfach zauberhaft.
»Darf ich Ihnen mit dem Gepäck helfen, Madam?«, fragte der Fahrer, nachdem er ihre drei Reisetaschen aus dem Kofferraum gehievt hatte.
Jill fuhr herum. »Oh ja, danke«, sagte sie, zugleich erfreut und erstaunt. Das war so typisch britisch, dachte sie, und anstatt dem Taxifahrer zur Haustür zu folgen, die graublau gestrichen war, ging sie um das Haus herum.
Zu ihrem allergrößten Entzücken fand sie auf der Rückseite einen blühenden Garten voller Tulpen und Narzissen, Azaleen und Hortensien, der zu allen Häusern des Wohnblocks gehörte. Da war sogar eine alte, weißgetünchte Schaukel. Rosa und weiße Petunien füllten die Blumenkästen auf den Fensterbrettern.
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Jill eilte wieder nach vorn, bezahlte den Fahrer, gab ihm ein dickes Trinkgeld und bekam dafür ein noch dickeres Dankeschön. Sie ging hinein.
Der Flur war dunkel, und direkt vor ihr führte eine schmale Treppe mit einem glänzenden Holzgeländer nach oben. Sie sah sich um. Die Wände waren mit cremeweißen Prägetapeten bedeckt. Der Holzfußboden war alt und zerkratzt, aber gewachst und gebohnert. Sie konnte direkt ins Wohnzimmer blicken. Da lagen einige alte Teppiche, und ihr gegenüber war ein offener Kamin aus Backstein. Das Sofa war dick gepolstert, überdimensioniert und wirkte sehr nobel, wie die beiden Lehnstühle. Das Tischchen daneben war offensichtlich antik, ebenso der Spiegel an einer der Wände. Sie lächelte.
Das Haus gehörte in eine andere Zeit, an einen anderen Ort, und obwohl Jill ein durch und durch moderner Mensch war, gefiel es ihr sehr. Es war warm und kuschelig und so anheimelnd. Sie lief ins Wohnzimmer. Der Kamin war echt - sie würde sich heute Abend ein Feuer anmachen. Sie ging zu den Fenstern, vor denen schwere Musselin-Vorhänge hingen, und schob diese beiseite. Der Himmel draußen klarte auf. Die Sonne wollte zum Vorschein kommen. Jill öffnete alle Fenster und ließ Luft herein, die ihr unglaublich frisch, rein und sehr süß erschien.
Sie konnte die blühenden Blumen im Garten riechen und den Regen von vorhin. Das Gras war nass.
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Und in einem Baum direkt vor dem Fenster sang ein Vogel. Jill legte den Kopf in den Nacken, um den kleinen Sänger auszumachen, und entdeckte ein Rotkehlchen. Als merkte es, dass es Publikum hatte, sang es noch lauter. Jill lächelte wieder.
Sie fühlte sich unbeschwerter, als das seit Hals Tod je der Fall gewesen war. Sie hatte vier Wochen gebraucht, um ihre Wohnung unterzuvermieten und ihre Angelegenheiten in New York zu regeln. In diesen vier Wochen war Jill mehrmals in die Bibliothek gegangen, um mehr über ihren Großvater oder Kate herauszufinden. Sie hatte nichts gefunden außer einem Nachruf auf einen Gummi-Millionär, Peter Gallagher, der 1905 gestorben war und eine Ehefrau namens Mary und eine Tochter namens Katherine Adeline hinterlassen hatte. Jill fragte sich, ob das Kates Vater gewesen sein könnte. Sie hatte keine Ahnung. Aber die angegebene Adresse gehörte damals zu den feinsten der Stadt – Washington Square.
Jetzt ging Jill in die kleine, sehr altmodische Küche, in der es noch uralte Wasserhähne und Geräte gab.
Dann entdeckte sie eine kleine Vase mit Gänseblümchen auf dem Küchentisch. Daneben lag ein Zettel.
»Herzlich willkommen, Miss Gallagher, genießen Sie Ihren Aufenthalt in meinem Haus.« Es folgten Anweisungen, wie die beiden Katzen, Lady Eleanor und Sir John, zu füttern waren. Am Schluss stand: 267
»Alles Gute, Allen Henry Barrows.« Jill lächelte und legte den Zettel zurück.
Sie hörte Schritte im Wohnzimmer und nahm an, es sei Lucinda, ihre Nachbarin, der sie ihre genauen Reisepläne gefaxt hatte. Sie rannte hinüber.
Schlitternd kam sie zum Stehen, als sie Alex Preston erblickte, der in einem grauen, zweireihigen Nadelstreifen-Anzug vor ihr stand.
Er lächelte sie leicht verschämt an. »Du hast die Tür sperrangelweit aufgelassen. Es gibt keine Klingel.
Nur einen Türklopfer. Du hast ihn nicht gehört.«
Jill verschränkte schützend die Arme vor der Brust.
Sie sahen sich an, und ihr Puls raste. »Woher weißt du, dass ich hier bin?« Er hatte sie nicht nur überrascht - sie war völlig perplex, dass er überhaupt auftauchte und noch dazu so kurz nach ihrer Ankunft.
Sie hatte ihn nicht angerufen, um ihm zu sagen, dass sie nach London kam. Sie hatten nicht einmal mehr miteinander gesprochen, seit er sie vom Flughafen aus angerufen hatte, um ihr mitzuteilen, dass die Briefe verloren waren.
Sie hatte deren Verlust immer noch nicht verwunden und sich bei einem Fachmann erkundigt.
Ein Kurzschluss kam bei Computern äußerst selten vor.
Andererseits hatte man ihr gesagt, dass das durchaus möglich war.
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»Lucinda hat es mir gesagt«, erklärte er, und sein Lächeln erlosch - als spürte er, dass er eigentlich nicht willkommen war.
Jill sah ihn stumm an. Er war eigentlich nicht willkommen - aber er sah umwerfend gut aus in seinem eleganten Maßanzug. Sie wollte das nicht denken. Sie wollte den Gedanken lieber auf ihre Medikamente schieben. Ihr Arzt hatte sie angerufen, und als er herausgefunden hatte, dass sie die Beruhigungsmittel weggeworfen hatte, hatte er sie gebeten, es mit der halben Dosis zu versuchen, und das hatte sie getan. In den letzten Wochen hatte sie begonnen, sich wieder wie ein Mensch zu fühlen. Hal hatte sie angelogen, Hal hatte Marisa geliebt, aber sie hatte schon viel einstecken müssen, und sie konnte -
und würde - auch das überstehen. »Ich wusste nicht, dass du Lucinda kennst«, sagte sie langsam. Warum war er hier?
Warum fühlte sie sich so völlig überrumpelt?
»Sie hat mich vor ein paar Wochen durch Uxbridge Hall geführt«, antwortete er. Sein Lächeln kehrte zurück, aber er wirkte etwas verlegen. Während Jill noch versuchte zu verstehen, warum er in Uxbridge Hall gewesen war, bemerkte sie, dass er eine in Geschenkpapier gewickelte Flasche unter dem Arm hielt. Es handelte sich offenbar um Wein, und offensichtlich war er für sie bestimmt.
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Er folgte ihrem Blick und hielt ihr die Flasche hin.
»Champagner. Ein kleines Willkommensgeschenk.
Ich hoffe, es macht dir nichts aus.«
Sie nahm sie an. »Danke.« Sie verstand nicht, was er hier wollte und warum er ihr ein Geschenk mitbrachte. Sie stellte die Flasche auf das Tischchen, ohne sie auszupacken. War das eine Art Friedensangebot? Aber hatten sie nicht schon Frieden geschlossen? War das ein Annäherungsversuch?
Jill wandte ihm den Rücken zu und holte tief Luft.
Das war ganz sicher kein Annäherungsversuch. Was für ein verrückter Gedanke. Alex war nicht nur Hals Cousin, er war außerdem ein mächtiger und reicher Mann. Männer wie Alex konnten so viele wunderschöne zwanzigjährige Möchtegernmodels haben, wie sie wollten, vor allem, wenn sie nicht nur stinkreich waren, sondern auch noch gut aussahen.
Das wusste Jill genau. In New York sah sie ständig fette, alte, reiche Kerle mit ihren jungen, makellosen Freundinnen.
Sie straffte die Schultern und drehte sich zu ihm um. »Ich wusste nicht, dass du dich auch für Geschichte interessierst.«
»Tue ich auch nicht. Eigentlich.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Jill. »Was wolltest du dann in Uxbridge Hall?«
Er kam näher, den Blick auf ihr Gesicht fixiert.
»Vielleicht hat Kate mich auch erwischt.«
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Jill hielt seinem Blick stand. Sie konnte gar nicht anders.
»Du willst sie immer noch finden, nicht?«, fragte er.
Sie zögerte. »Ja.« Mehr denn je, dachte sie.
»Bist du noch sauer auf mich wegen dieser verlorenen Briefe?«
Jill atmete tief durch. Die Frage verblüffte sie und machte sie misstrauisch. »Ich bin nicht sauer.«
»Ich habe es an dem Morgen, als ich anrief, an deiner Stimme gehört. Und sogar jetzt sehe ich Zweifel - an mir - in deinen grünen Augen.«
Warum bedrängte er sie so? Jills Misstrauen wuchs.
»Ich weiß nicht, was du hier willst. Es ist ja nicht so, als wären wir Freunde, und Hals Tod steht zwischen uns. Und außerdem: Meine Augen sind braun, nicht grün.«
Er starrte sie an. »Heute wirken sie grün. Das muss das Licht sein - oder dein Hemd.«
Sie trug ein eng anliegendes Hemd, eine Hommage an die Siebziger in knalligen Blau und Grüntönen, und dazu eine enge, schwarze Schlaghose.
»Ich mag es, dass du immer sagst, was du denkst, Jill. Aber ich dachte, wir wären vielleicht doch Freunde«, fuhr er fort.
Sie wurde rot und wandte sich erneut ab.
»Vielleicht ist das Leben zu kurz für alberne 271
Spielchen.« Er hatte ihre Frage nicht wirklich beantwortet.
»Verdammt richtig«, sagte Alex und schob die Hände in die Taschen. »Ich bin hergekommen, um dich in London willkommen zu heißen, weil du ja hier praktisch niemanden kennst, und wenn du willst, werde ich dir helfen, Kate zu finden.«
Jill nickte, aber sie war immer noch misstrauisch.
Sie hatte sich geschworen, dass sie sich auf niemanden mehr verlassen würde, nur auf sich selbst.
Aber eine innere Stimme redete auf sie ein, schubste sie vorwärts und sagte: Warum nicht? Warum sollten wir keine Freunde sein? Zwar stand Hals Tod noch immer zwischen ihnen, aber was, wenn er wirklich ein netter Kerl war? Sie konnte weiß Gott Hilfe brauchen, um sich in London zurecht zu finden. Er war clever und einfallsreich. Und er schien nett zu sein - jedenfalls sah er schick aus, ehrlich und wohlhabend. Was, wenn sie ihn auf die Probe stellte?
Der Gedanke beunruhigte sie, ließ sie erzittern.
»Du starrst mich schon wieder so an. Ist mir ein zweiter Kopf gewachsen?«, fragte er.
Sie war so in ihre Gedanken versunken, dass sie zusammenschrak. »Ich werde einfach nicht schlau aus dir.«
Er lächelte. »Da gibt es nicht viel zu wissen. Ich bin ein hart arbeitender Junge aus Brooklyn - den man nach London verpflanzt hat. Punkt.«
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Auch Jill lächelte und schüttelte den Kopf. »Klar.«
Sie wussten beide, dass das eine wahnsinnige Untertreibung war.
»Du siehst aus, als ginge es dir besser«, sagte er abrupt.
»Ich fühle mich auch besser.« Jill schob sich ein paar Fransen aus der Stirn. »Ich nehme immer noch Medikamente, aber nur eine niedrige Dosis.« Sie sah ihm in die Augen. »Hal hat vieles durcheinander gebracht. Er hat mich durcheinander gebracht. Aber ich kann damit leben. Ich versuche, nicht zu viel daran zu denken.«
Er hielt ihrem Blick stand. Sie las Wärme und Verständnis und
sogar Mitgefühl darin. »Du bist eine starke Frau.
Ich denke, wir haben einiges gemeinsam, du und ich.«
Jill fühlte, wie sie bei diesem Kompliment errötete; dann dachte sie über seine Worte nach. In einem Punkt hatte er Recht. Sie waren beide in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, und sie hatten beide sehr früh ihre Eltern verloren. Aber das war’s auch schon. »Du bist reich, machst Karriere, du lebst mit Adeligen und bist in ihren Kreisen zu Hause. Ich bin völlig pleite, mein Beruf zwingt mich dazu, ausgelatschte Schuhe zu tragen, und ich kaufe in Secondhand-Läden ein.«
Er grinste breit.
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»Also schön«, sagte Jill und erlaubte sich ein weiteres kleines Lächeln. »Wir haben etwas gemeinsam.« Dann wurde sie ernst. Sie hatten auch Hal gemeinsam.
»Denk nicht daran«, sagte er mit weicher Stimme.
Da wurde ihr klar, wie scharfsinnig er wirklich war.
»Bist du telepathisch veranlagt?«
»Überhaupt nicht. Aber ich kann eben in die Menschen hineinschauen. Berufskrankheit.«
Jill nickte und ermahnte sich, es langsam angehen zu lassen, wenn sie ihn auch nur am Rande in ihr Leben ließ, als bloßer Freund oder Bekannter.
»Wie geht es deiner Tante und deinem Onkel?«, fragte sie, ehrlich interessiert.
Auch er wurde ernst. »Ganz gut. Margaret nimmt Medikamente für ihr Herz. Ich mache mir ziemliche Sorgen um sie.« Das sah man auch in seinen blauen Augen. »William geht es den Umständen entsprechend: Er ist ständig müde und jammert deswegen, aber er hat sich auf ein paar Firmenprojekte gestürzt, um sich abzulenken.« Jill konnte sie beide verstehen. »Und Thomas und Lauren?«
»Thomas arbeitet wie ein Pferd. Ich habe ihn noch nie so ackern sehen. Lauren trauert immer noch.« Er sah sie durchdringend an.
»Und du?« Die Worte waren ausgesprochen, ehe sie es sich anders überlegen konnte.
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Er zögerte mit der Antwort. »Ich wünschte, Hal wäre zu dir und Marisa aufrichtig gewesen. Ich wünschte auch, er hätte eine Chance gehabt, sein Leben zu leben.«
Jill schob die Hände in die winzigen Taschen ihrer engen Hose. Bedeutete das, dass er sie insgeheim immer noch für Hals Tod verantwortlich machte? Wie konnte es anders sein? Die hässliche Fratze der Schuld ließ sich nicht vertreiben. Sie hinterließ einen bitteren Geschmack in ihrem Mund. »Ich meine, wir wünschen uns alle, er wäre noch hier«, sagte sie endlich.
Sein Blick war forschend auf ihr Gesicht gerichtet.
»Ich wäre früher oder später schon drauf gekommen«, sagte Jill grimmig. »Ich bin naiv. Aber ich bin nicht dumm.«
»Das bist du ganz sicher nicht«, stimmte er zu. »Ich hab was für dich.«
Jill war seine Aktentasche aus weichem, schwarzem Leder gar nicht aufgefallen, die neben ihrem Gepäck auf dem Boden stand. Er holte einen Umschlag heraus und gab ihn ihr. »Mach auf.«
Neugierig gehorchte Jill. Sie riss die Augen auf, als ihr eine dicke Überschrift der New York Times vom 21. Januar 1909 in die Augen sprang. »Amerikanische Erbin vermisst«, las sie. Der Untertitel lautete: »Keine Hinweise auf den Verbleib der Gallagher-Erbin.« Es war eine Kopie des alten Zeitungsartikels.
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Jill bebte vor Aufregung. Rasch blätterte sie zur nächsten Seite - eine weitere Kopie, diesmal von einem Artikel aus der Londoner Tribune. »Oh Gott«, flüsterte sie und las vor: »Keine Anzeichen für Verbrechen beim Verschwinden der Gallagher-Erbin.« Der dritte Artikel war aus der World, New York, vom 28. September 1909. Überschrift:
»Verschwinden von Kate Gallagher bleibt rätselhaft.«
»Der Fall wurde offiziell nie abgeschlossen«, sagte Alex beiläufig und holte Jill damit in die Gegenwart zurück. »Aber die Ermittlungen wurden im Herbst 1909 eingestellt, weil es keine brauchbaren Hinweise gab. Lucinda Becke hatte Recht. Kate Gallagher ist einfach verschwunden - als hätte sie sich in Luft aufgelöst.«
Jill sah ihn verblüfft an. »Woher hast du das? Hast du diese Artikel in den Archiven von Uxbridge Hall gefunden?«
Er grinste jungenhaft. »Nein. Ich surfe gern im Internet. Mit der richtigen Software kommst du überall rein - auch in alte Archive von Zeitungen wie der Times und der Tribune.«
»Aber warum? Warum diese Mühe?« Jill verstand es nicht. Und sie brannte darauf, die Artikel zu lesen.
Sie konnte sich kaum davon abhalten, sich sofort damit zum Sofa zu verziehen.
»Vielleicht wollte ich einfach helfen - nachdem ich dich bei den Briefen so enttäuscht habe.«
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Er lächelte nicht. Er wirkte sehr ernst - und sehr gespannt. Jill vergaß zu atmen. Warum machte er sich eine solche Arbeit?
Alex löste die Spannung. »Jetzt setz dich schon hin und lies. Ich mach uns einen Tee.«
Jill nickte. Sie sank aufs Sofa; ihre Hände zitterten.
Die Vermisstenanzeige war von Kates Mutter, Mary Gallagher, am 2. Januar 1909 erstattet worden. Jills Erregung wuchs. Der Artikel beschrieb Kate als Tochter des verstorbenen Peter Gallagher aus New York City. Sicher war das derselbe Peter Gallagher, der am Washington Square gewohnt hatte - jedenfalls nahm Jill das an.
Kate war offenbar auf einer Geburtstagsparty von Anne Bensonhurst das letzte Mal gesehen worden.
Die, so las Jill, hatte am Samstag, den 17. Oktober, auf Bensonhurst stattgefunden.
Schauer liefen Jill über den Rücken. Die Worte verschwammen vor ihren Augen. Sie starrte auf die Kopien in ihrer Hand, aber sie sah Kate, in einem schwarzen Ballkleid mit Spitze, hinreißend schön und bleich vor Kummer. Die Menge um sie herum bildete einen Wirbel fröhlicher Farben, die Damen waren mit Juwelen behängt, die Herren trugen Smokings und gestärkte weiße Hemden. Ein
Orchester spielte. Kate stand ganz allein und beobachtete die Menschen in dem riesigen Saal.
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»Ihre Mutter beharrte darauf, dass Kate nicht aus freien Stücken verschwunden ist«, sagte Alex.
Jill erschrak dermaßen, dass sie beim Klang seiner tiefen Stimme fast vom Sofa gefallen wäre. Er stand in der Küchentür und sah sie an. »Wo warst du gerade, Jill?«
»Ich konnte es sehen. Sie. Auf Annes Geburtstagsfest. Ein Dutzend Zeugen haben angegeben, dass sie sie dort zuletzt gesehen hätten.
Ich konnte sie sehen, und die ganze Gesellschaft, ganz deutlich. Es war fast beängstigend lebendig. «
Jill brachte kein Lächeln zustande. Er stieß sich vom Türrahmen ab und kam mit langen, lockeren Schritten auf sie zu. »Also hat sie ihr Kind bekommen - oder es verloren , und ist nach London zurückgekehrt, um dann einfach zu verschwinden.«
Daran hatte Jill nicht gedacht. »Du hast Recht.«
»Wenn du alle Artikel liest, wirst du sehen, dass einige ihrer Freunde ihrer Mutter widersprachen. Es scheint, dass deine Ahnfrau, wenn sie das denn war, als draufgängerische, impulsive und ziemlich wilde Person verschrien war.«
»Ich glaube, dass sie meine Urgroßmutter war.
Davon bin ich mit jedem Tag mehr überzeugt.«
»Warum?« Er setzte sich neben sie auf das Sofa, und in diesem Moment begann der Teekessel zu pfeifen.
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»Ist nur so ein Gefühl. Ein starkes Gefühl.« Jill sah ihn an und erwartete, dass er sie auslachte.
Er lachte nicht. Stattdessen sagte er: »Manchmal haben solche starken Gefühle Recht. Wenn ich so ein Gefühl im Bauch habe, höre ich meistens darauf.«
Jill lächelte über seine Ausdrucksweise. »Ich habe herausgefunden, dass mein Großvater, Peter Gallagher, 1970 im Alter von zweiundsechzig Jahren gestorben ist. Das bedeutet, dass er 1908 geboren wurde, Alex, in demselben Jahr, in dem Kate ihr Kind bekommen hat.«
»Das ist interessant«, sagte Alex. »Wie hast du das rausgefunden?« »Meine Mutter hat an ihre Mutter geschrieben.« Jetzt lächelte Jill begeistert. »Mein Großvater wurde außerdem in Yorkshire geboren, wahrscheinlich in York.«
Alex sah sie an. »Das beweist immer noch nichts.
Und wir wissen nicht, ob Kates Kind gesund war. Jill, damals sind viele Frauen im Kindbett gestorben; Kate aber nicht, jedenfalls nicht im Mai 1908, weil sie fünf Monate später auf Annes Geburtstagsfest noch springlebendig war. Aber damals sind sehr viele Neugeborene gestorben. « »Das ist mir klar«, sagte Jill, weigerte sich aber, pessimistisch zu denken.
»Was meinst du, was passiert ist?«
»Keine Ahnung.« Er sprang fröhlich vom Sofa auf und lief in die Küche, um den Herd abzustellen. Jill las gerade den zweiten Artikel, als er mit zwei Tassen 279
süßem schwarzem Tee wieder erschien. Er hatte sein Jackett abgelegt und seine wagemutig gemusterte rotgoldene Krawatte gelockert. »Ich hoffe, er ist dir nicht zu stark.« »Ich trinke eigentlich nie Tee.«
»Ich auch nicht. Schätze, du wirst dir etwas Kaffee besorgen müssen.«
Jill starrte ihn an, aber sie sah nur Kate. »Ich glaube, dass sie mit ihrem Liebhaber durchgebrannt ist.«
Seine blauen Augen schienen ihr Gesicht abzusuchen. »Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute?«
»Ja.« Jill wurde weder rot, noch verteidigte sie sich.
»Im wahren Leben geht selten etwas wie im Märchen aus, Jill«, sagte er langsam.
»Stimmt.« Sie dachte an Hal und verspürte einen schmerzlichen Stich. Sie fragte sich, ob sie ihm seine Heimlichtuerei je würde verzeihen können. Sie fragte sich, ob sie das wollte.
»Ich wollte keinen wunden Punkt berühren.«
Sie sah ihn an und sagte schließlich: »Du hast eine unglaubliche Intuition.«
»Krieg ich dafür ein paar Sympathiepunkte?«
Sie stand auf. Er war zu groß, er nahm zu viel von dem Sofa ein. »Warum solltest du dafür Punkte kriegen?«
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»Die meisten Frauen stehen auf sensible Kerle.« Er betrachtete sie weiterhin.
»Ich habe Hal geliebt«, sagte Jill barsch. Sie konnte es nicht fassen. Er machte sie tatsächlich an!
»Das weiß ich.« Alex starrte sie an. Er sagte nicht, was er sicherlich dachte - Jedenfalls glaubte Jill das: Aber du hast jemanden geliebt, der eine andere geliebt hat, und jetzt weißt du nicht, ob du ihn lieben oder hassen sollst. »Jill, das Leben geht weiter, auch für dich. Wenn ich das sagen darf.«
Plötzlich war Jill furchtbar wütend. »Was glaubst du eigentlich, was ich tue? Hal ist meinetwegen gestorben, er hat mich über einen Großteil seines Lebens belogen, ich habe ihn nicht wirklich gekannt, aber ich versuche, darüber hinwegzukommen - über ihn - so gut ich nur kann. Und weißt du was? Ich finde, ich mache das ganz gut - und das Letzte, was ich brauche, ist, dass du mich anmachst oder mir kluge Ratschläge gibst oder mir sagst, was ich alles nicht schaffe!«
Abrupt setzte Jill sich hin und starrte auf ihre Knie.
»Schau mal.« Er klang angespannt. Jill musste zu ihm aufsehen. Er war erhitzt, hatte sich aber unter Kontrolle. »Ich wollte dich nicht kritisieren. Und ich habe dich auch nicht angemacht.«
Ihre Blicke trafen sich. Jill glaubte ihm nicht, aber das behielt sie für sich.
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»Wenn ich dich anmache, wirst du es schon merken«, sagte Alex nüchtern.
Jill erstarrte. Etwas in seiner Stimme machte sie beklommen.
»Tut mir Leid. Ich bin nicht hergekommen, um dich durcheinander zu bringen, ich wollte dir nur meine Hilfe anbieten.« Alex schenkte ihr ein kurzes Lächeln. Es wirkte bemüht. »Vielleicht müssen wir mehr als nur Hal begraben, früher oder später.«
Jill zögerte und traute sich, ihm in die Augen zu schauen - traute sich, aufrichtig zu sein. »Das will ich ja. Ich hab das so satt. Ich hab es satt, traurig zu sein, wütend zu sein, glücklich zu sein - nur um dann festzustellen, dass ich mir was vorgemacht habe. Aber es ist so schwer. Ich wache nachts auf, und mein erster Gedanke ist, er fehlt mir. Dann fällt mir alles wieder ein, und er fehlt mir überhaupt nicht. Es ist schrecklich.«
»Kann ich mir vorstellen«, sagte er sanft. »Aber du hast keine andere Wahl, Jill. Du musst ihn gehen lassen. Du musst das alles hinter dir lassen.«
Sie sah ihn an. Er wusste gar nichts. Er konnte sich kaum vorstellen, welche Qualen sie litt. Niemand konnte das wissen - wenn ihn nicht ein geliebter Mensch belogen und betrogen hatte, der jetzt tot war.
»Was ist?«, fragte er.
Wieder hatte er ihre Gedanken erraten. Jill fühlte sich unwohl. »Da ist etwas, das ich dir nicht erzählt 282
habe. Das ich niemandem erzählt habe.«
Alarmglocken schrillten in ihrem Kopf und sie konnte fast die Warnlämpchen blinken sehen. Aber sie konnte den Mund nicht halten.
Alex wartete geduldig, schweigend, völlig ruhig.
»Als Hal gestorben ist, hat er gesagt, er liebt mich, aber er hat mich Kate genannt.«
Alex starrte sie verblüfft an. »Vielleicht hast du dich verhört.« »Nein, hab ich nicht. Er sagte: „Ich liebe dich, Kate.“ Und ich weiß einfach ganz sicher, dass er Kate Gallagher gemeint hat«, rief Jill.
Alex starrte sie wortlos an.
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