»Wut und Schmerz«, sagte Mrs. Vaughn ganz leise. »Schmerz und Wut. Erstaunlich.«
Sie hatte diese Worte so leise gesprochen, dass Lavinia sie kaum hören konnte. Sie warf einen Blick zu Tobias, der neben ihr am Ende der nur schwach erleuchteten Galerie stand. Er sagte nichts, seine ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf Mrs. Vaughn. Huggett stand ängstlich in der Nähe der Tür, ein Skelett, bereit, bei der ersten Gelegenheit in den Schatten zu verschwinden.
»Höchst unanständig«, murmelte Huggett. »Es war nie meine Absicht, dass diese Figuren von anständigen Damen angesehen werden. Diese Galerie war ausschließlich für Gentlemen gedacht, das sage ich Ihnen.«
Sie alle ignorierten ihn. Mrs. Vaughn ging langsam zum nächsten Ausstellungsstück weiter und blieb dann stehen, um die Gesichtszüge zu betrachten.
»Ich erkenne die Gesichter dieser Frauen nicht, aber ich kann Ihnen sagen, dass sie aus dem Leben genommen wurden.« Mrs. Vaughn zögerte. »Oder vielleicht aus dem Tode.«
»Totenmasken, meinen Sie?«, fragte Tobias.
»Das kann ich nicht sagen. Es gibt drei Arten, eine Ähnlichkeit in Wachs zu erreichen. Die erste, diejenige, die ich anwende, ist es, die Gesichtszüge so zu formen, wie man einen Stein formt oder Ton. Die zweite Art ist es, einen Wachsabdruck vom Gesicht eines lebenden Menschen zu machen und dieses Modell dann für die Skulptur zu verwenden. Die dritte Art ist natürlich die Totenmaske.«
Lavinia betrachtete das Gesicht der Frau in dem nächsten Ausstellungsstück, die sich in Schmerz oder in Ekstase wand. »Würden die Gesichtszüge einer Totenmaske denn nicht weniger, äh, bewegt sein? Eine Leiche würde doch sicher nicht so lebendig aussehen.«
»Ein erfahrener Künstler, der mit Wachs arbeitet, könnte vielleicht eine Totenmaske mit erstarrten Gesichtszügen nutzen und daraus das Abbild eines noch lebendigen Gesichtes formen.«
»Ganz und gar nicht anständig.« Huggett rang seine knochigen Hände. »Damen sollten hier nicht sein.«
Niemand warf ihm auch nur einen Blick zu.
Tobias trat näher an eine der Wachsarbeiten und betrachtete das Gesicht der männlichen Gestalt. »Was ist mit den Männern? Würden Sie sagen, dass sie von lebendigen Gesichtern genommen wurden oder von toten?«
Mrs. Vaughn sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Die Gesichtszüge der männlichen Gestalten stammen alle vom gleichen Modell, ist Ihnen das denn nicht aufgefallen?«
»Nein.« Tobias sah sich eine der Männergestalten genauer an. »Das ist mir nicht aufgefallen.«
Erschrocken blickte Lavinia auf in eines der gewalttätig verzogenen Gesichter einer der männlichen Gestalten. »Ich glaube, Sie haben Recht, Mrs. Vaughn.«
»Ich glaube kaum, dass die Männer, die in diesen Raum kommen, viel Zeit damit verbringen, sich die Gesichter der männlichen Ausstellungsstücke anzusehen«, behauptete Mrs. Vaughn spöttisch. »Zweifellos gilt ihre Aufmerksamkeit anderen Dingen.«
»Aber die Gesichter der Frauen sind deutlich.« Lavinia ging zu einer anderen Figur hinüber. »Es sind alles andere Menschen. Alle fünf.«
»Ja«, stimmte Mrs. Vaughn ihr zu. »Das würde ich auch sagen.«
Lavinia warf Tobias einen Blick zu.
Er zog eine Augenbraue hoch. »Die Antwort ist nein. Ich erkenne keine von ihnen.«
Sie errötete und räusperte sich dann. »Was ist mit den Gesichtern der Männer?«
Tobias schüttelte entschieden den Kopf. »Ich kenne sie nicht«, erklärte er. Abrupt wandte er sich um und sah zu Huggett. »Wer hat Ihnen diese Arbeiten verkauft?«
Huggett zuckte zusammen. Seine Augen weiteten sich. Er wich zurück, bis er mit dem Rücken gegen die Tür stieß. »Niemand hat sie mir verkauft«, sagte er, und seine Stimme klang sowohl entsetzt als auch gekränkt. »Das schwöre ich.«
»Sie haben sie doch von irgendjemandem bekommen.« Tobias machte einen Schritt auf ihn zu. »Es sei denn, Sie sind der Künstler.«
»Nein.« Huggett schluckte und versuchte, sich unter Kontrolle zu halten. »Ich bin kein Künstler. Und ganz bestimmt habe ich auch nicht diese Figuren modelliert.«
»Wie ist denn der Name des Künstlers, der sie geschaffen hat?«
»Ich weiß es nicht, Sir, und das ist die Wahrheit«, jammerte Huggett.
Tobias trat noch einen Schritt näher. »Wie sind Sie denn daran gekommen?«
»Es gibt da eine Abmachung«, begann Huggett zu erzählen. »Wenn eine neue Figur fertig ist, erhalte ich eine Botschaft und gehe zu einer gewissen Adresse, um sie dort abzuholen.«
»Was ist das für eine Adresse?«
»Es ist nie die gleiche Adresse«, erzählte Huggett. »Normalerweise ist es ein Warenhaus, irgendwo in der Nähe des Flusses, doch es ist nie das gleiche Warenhaus.«
»Und wie bezahlen Sie dafür?«, wollte Tobias wissen.
»Das versuche ich Ihnen ja gerade zu erklären, Sir.« Huggett wand sich. »Ich bezahle sie gar nicht. Die Vereinbarung ist, dass ich sie umsonst bekomme, unter der Bedingung, dass ich sie öffentlich ausstelle.«
Tobias deutete auf die Ansammlung von Figuren. »Welche von diesen war die Letzte, die Sie bekommen haben?«
»Die da.« Mit einem zitternden Finger deutete Huggett auf die Figuren in der Nähe. »Ich habe vor vier Monaten eine Botschaft bekommen, in der es hieß, dass sie fertig waren.«
Lavinia blickte auf die Figur der Frau, erstarrt in dunklem, ekstatischem Entsetzen, und ein Schauer rann ihr über den Rücken.
»Und es hat keine neuen Botschaften von dem Künstler gegeben?«, fragte Tobias.
»Nein«, versicherte ihm Huggett. »Keine.«
Tobias warf ihm einen kalten Blick zu. »Sollten Sie eine weitere Nachricht von dem Künstler bekommen, dann werden Sie mich sofort benachrichtigen. Haben Sie verstanden?«
»Ja, ja«, krächzte Huggett. »Sofort.«
»Ich warne Sie, es geht in dieser Sache um Mord.«
»Ich möchte keinen Anteil an einem Mord haben«, versicherte ihm Huggett. »Ich bin nur ein unschuldiger Geschäftsmann, der versucht, seinen Lebensunterhalt zu verdienen.«
Lavinia und Mrs. Vaughn warfen einander einen Blick zu. »Sie haben gesagt, dass ein Künstler mit diesen Fähigkeiten sich wünscht, dass seine Arbeiten öffentlich ausgestellt werden.«
Mrs. Vaughn nickte. »Das ist nur natürlich. Offensichtlich ist dieser Künstler nicht dazu gezwungen, einen Profit mit seinen Werken zu machen.«
»Wir suchen also nach einer Person, die gewisse finanzielle Mittel besitzt«, meinte Tobias.
»Das würde ich sagen.« Mrs. Vaughn blickte nachdenklich vor sich hin. »Nur jemand, der noch eine andere Einkommensquelle besitzt, kann es sich leisten, so große und gut gearbeitete Wachsarbeiten einfach kostenlos abzugeben.«
»Eine letzte Frage noch, wenn Sie so freundlich sein würden«, bat Lavinia.
»Natürlich, meine Liebe.« Mrs. Vaughn strahlte. »Das macht mir überhaupt nichts aus. In der Tat war es für mich eine sehr interessante Erfahrung.«
»Glauben Sie, dass der Künstler, der diese Wachsarbeiten geschaffen hat, der gleiche sein könnte, der die Todesdrohung gemacht hat, die ich Ihnen gezeigt habe?«
Mrs. Vaughn blickte zu dem gequälten Gesicht der Figur in ihrer Nähe. Ein Schatten fiel über ihr Gesicht.
»Oh ja«, flüsterte sie. »Ja, in der Tat. Ich denke, es ist sehr gut möglich, dass die beiden Künstler die gleichen sind.«
Tobias lehnte sich gegen einen der steinernen Pfeiler, die das Dach der kunstvoll entworfenen gotischen Ruine hielten, und blickte hinaus in den überwucherten Garten.
Die Ruine war vor einigen Jahren errichtet worden. Der Architekt hatte zweifellos die Absicht gehabt, eine anmutige Ergänzung zu dieser abgelegenen Gegend des großen Parks zu schaffen. Einen Ort der friedlichen Einkehr in der beruhigenden Stille der Natur.
Doch dieser Teil des ausgedehnten Parks war in der Öffentlichkeit nie sehr beliebt gewesen. Als Ergebnis davon waren die Ruine, die sie umgebende Hecke und die Gärten verwildert. Die unkontrollierte Natur war wild gewuchert und hatte einen natürlichen Schleier geschaffen, der die Ruine vor den Blicken eines jeden schützte, der vielleicht zufällig in diesen isolierten Teil des Parks spazierte.
Tobias war vor langer Zeit über diese versteckte Ruine gestolpert. Er kam manchmal hierher, wenn er über etwas nachdenken wollte, ohne dabei abgelenkt zu werden. Dies war das erste Mal, dass er jemand anderen an diesen Ort mitgebracht hatte, den er als seinen persönlichen Rückzugsort ansah.
Es hatte seit einiger Zeit aufgehört zu regnen, doch die Bäume tropften noch. Die Mietkutsche, die sie erwischt hatten, nachdem sie Huggetts Museum verlassen hatten, wartete auf einem Weg in einem anderen Teil des Parks.
Wenigstens hoffte er, dass sie dort wartete. Der Gedanke, den ganzen Weg zurück zu Lavinias Haus zu Fuß gehen zu müssen, gefiel ihm gar nicht. Sein Bein schmerzte heute.
»Wir haben einige scheinbar unzusammenhängende Dinge hier«, meinte er. »Die Todesfälle oder das Verschwinden einiger von Nevilles Geliebten, die Wachsarbeiten und die Gerüchte um den Krieg, der angeblich über das ausgebrochen ist, was von dem Blue Chamber noch übrig ist. Irgendwo muss es eine Verbindung geben.«
»Ich stimme dir zu.« Lavinia stand in der Nähe eines der anderen Pfeiler, die Arme hatte sie vor der Brust verschränkt. »Ich denke, die Verbindungen sind offensichtlich.«
»Unsere Klienten.«
»Beide haben uns von Anfang an angelogen.«
Tobias nickte. »Das ist richtig.«
»Beide haben versucht, uns für ihre geheimen Zwecke zu benutzen.«
»Offensichtlich.«
Sie warf ihm einen Blick zu. »Ich denke, die Zeit ist gekommen, um sie mit diesen Dingen zu konfrontieren.«
»Ich würde vorschlagen, wir beginnen mit deiner Klientin.«
»Ich habe befürchtet, dass du das sagen würdest.« Sie seufzte. »Ich glaube nicht, dass Mrs. Dove erfreut sein wird. Sie wird mich sehr wahrscheinlich entlassen.«
Tobias richtete sich auf und griff nach ihrem Arm. »Wenn es dich tröstet, ich erwarte nicht, irgendwelches Geld von Neville zu bekommen.«
»Ich hoffe, ich kann noch eine weitere meiner Statuen verkaufen, um die Miete zu bezahlen und den Lohn von Mrs. Chilton, den sie alle drei Monate bekommt«, meinte Lavinia. »Eines der Dinge, die ich an dir bewundere, Lavinia, ist es, dass dir immer etwas einfällt.«
Joan Dove saß so still auf dem gestreiften Sofa, dass man sie für eine von Mrs. Vaughns elegant modellierten Wachsarbeiten hätte halten können.
»Wie bitte?«, fragte Joan in dem eisigen Ton einer Frau, die es nicht gewohnt ist, ausgefragt zu werden. »Was wollen Sie damit sagen?«
Tobias schwieg. Er sah Lavinia an und ließ sie so wissen, dass er ihr zutraute, mit der unangenehmen Situation allein fertig zu werden. Dies war ihre Klientin.
Lavinias Blick begegnete dem seinen, dann stand sie von ihrem Stuhl auf. Sie stellte sich an eines der Fenster des Salons. Ihr rotes Haar bildete einen lebhaften Kontrast zu dem Dunkelgrün der Samtvorhänge.
»Ich dachte, meine Frage sei recht deutlich«, erklärte sie ruhig. »Ich habe Sie gefragt, ob Sie eine Affäre mit Lord Neville gehabt haben. War er derjenige, der Sie vor zwanzig Jahren verführt und dann achtlos fallen lassen hat?«
Joan antwortete nicht. Das erstarrte Schweigen, das von ihr ausging, schien den ganzen Raum zu unterkühlen.
»Verdammte Hölle, Joan.« Lavinia wirbelte herum und sah sie mit blitzenden Augen an. »Verstehen Sie denn nicht, was hier auf dem Spiel steht? Wir haben gute Gründe zu glauben, dass Neville mindestens zwei seiner früheren Geliebten ermordet hat. Vielleicht sogar noch mehr. Die letzte Geliebte könnte noch leben, doch wenn das so ist, dann hat sie das nur einem Glücksfall zu verdanken.«
Joan sagte nichts.
Lavinia begann, unruhig auf und ab zu laufen. »Wir wissen, dass Sally Johnson kurz vor ihrem Verschwinden Huggetts Museum besucht hat. Es gibt dort einen speziellen Ausstellungsraum, in dem einige hervorragend ausgeführte Wachsarbeiten ausgestellt sind. Die Drohung, die man Ihnen geschickt hat, war von einem hervorragenden Künstler gearbeitet. Wir glauben, dass der Künstler, der diese Arbeiten gemacht hat, ein und derselbe ist. Also, was ist hier um Himmels willen los?«
»Das reicht.« Joan presste die Lippen zusammen. »Sie brauchen mich nicht anzuschreien, Lavinia. Ich bin Ihre Klientin, haben Sie das vergessen?«
»Beantworten Sie meine Fragen.« Lavinia blieb mitten im Zimmer stehen. »Hatten Sie eine Affäre mit Neville?«
Joan zögerte. »Ja. Sie haben Recht. Er war der Mann, der mich vor so vielen Jahren verführt und mich dann im Stich gelassen hat.«
Einen Augenblick lang sagte keiner im Raum ein Wort.
Dann stieß Lavinia heftig den Atem aus. »Ich wusste es.« Sie sank auf den nächsten Stuhl. »Ich wusste, dass es irgendwo eine Verbindung geben musste.«
»Ich kann nicht erkennen, welche Bedeutung diese alte Indiskretion für diesen Mordfall haben sollte«, meinte Joan.
Tobias sah sie an. »Wie es scheint, ist Neville dabei, all seine früheren Geliebten beiseite zu schaffen. Mindestens zwei Frauen, mit denen er in den letzten beiden Jahren intim war, sind bereits tot. Von drei weiteren wird behauptet, dass sie tot sind, und eine wird vermisst.«
Joan runzelte die Stirn. »Warum um alles in der Welt sollte er sie umbringen?«
»Wir wissen es nicht sicher«, meldete sich Tobias. »Aber wir glauben, dass er sich davor fürchtet, dass sie zu viel über ihn wissen.«
»Was könnten sie denn schon wissen, dass er glaubt, er müsse sie umbringen?«
»Ich will ganz deutlich werden, Mrs. Dove«, erklärte Tobias. »Ich bin ziemlich sicher, dass Neville Mitglied einer kriminellen Organisation war, die Blue Chamber heißt. Die Bande hat viele Jahre im Geheimen gearbeitet und war sehr mächtig. Sie wurde von einem Mann kontrolliert, der sich selbst Azure nannte, und von seinen beiden Leutnants.«
»Ich verstehe.« Joan beobachtete ihn mit ausdruckslosem Gesicht. »Wie eigenartig.«
»Die Organisation Blue Chamber begann nach Azures Tod vor einigen Monaten auseinander zu fallen. Einer der beiden Leutnants, Carlisle, ist vor drei Monaten in Italien gestorben.«
Joan runzelte die Stirn. »Wissen Sie das ganz sicher?«
Tobias lächelte kalt. Er ließ den Blick nicht von ihrem Gesicht. »Ja. Ich bin absolut sicher, dass er tot ist.«
Joan warf Lavinia einen flüchtigen Blick zu. »Also ist jetzt nur noch ein Mitglied des Blue Chamber übrig, und Sie glauben, dass dieser Mann Lord Neville ist.«
»Jawohl«, stimmte ihm Lavinia zu. »Tobias hatte gehofft, dass das Tagebuch des Kammerdieners ihm den Beweis dafür liefern würde.«
»Doch das Tagebuch wurde zerstört, ehe jemand es lesen konnte«, sprach Tobias weiter.
Lavinia betrachtete ihre Fingerspitzen. »Es ist möglich, dass Neville Holton Felix umgebracht, das Tagebuch zerstört und es dann so eingerichtet hat, dass Tobias es fand. Aber es ist genauso gut möglich, dass jemand anderes all das getan hat.«
»Wer?«, fragte Joan.
Lavinia sah ihr in die Augen. »Sie.«
Einen Augenblick lang herrschte schockiertes Schweigen.
»Das verstehe ich nicht«, flüsterte Joan. »Warum sollte ich solche Dinge tun?«
»Weil Sie verzweifelt versucht haben, ein ganz besonderes Geheimnis zu verbergen, das dieses Tagebuch offenbart hätte«, erklärte Lavinia.
»Die Tatsache, dass ich eine Affäre mit Neville hatte?« Aus Joans Augen blitzte verächtliche Belustigung. »Ich gebe zu, ich wünsche mir sehr, dass diese Verbindung geheim bleibt, aber ich würde dafür sicher keinen Mord begehen.«
»Es ist nicht der Klatsch über Ihre Verbindung mit Neville, der Sie stört«, meinte Lavinia. »Es ist die Tatsache, dass Ihr Mann Azure war.«
Joan starrte sie an. »Sie sind verrückt.«
»Sie haben ihn sehr geliebt, nicht wahr?«, sprach Lavinia beinahe freundlich weiter. »Sie müssen entsetzlich erschrocken gewesen sein, als sie den ersten Erpresserbrief von Holton Felix bekommen haben, in dem stand, dass Fielding Dove der Anführer einer geheimen kriminellen Organisation gewesen ist. Sie würden alles tun, um diese Information geheim zu halten, nicht wahr? Die Ehre Ihres Mannes und sein guter Name stehen auf dem Spiel.«
Einige Sekunden lang wich alle Farbe aus Joans Gesicht. Dann aber lief ihr Gesicht vor Zorn hochrot an.
»Wie können Sie es wagen, anzudeuten, dass mein Mann sich mit diesem ... diesem Blue Chamber eingelassen hat? Wer sind Sie eigentlich, dass Sie es wagen, einen solchen Vorwurf auch nur anzudeuten?«
»Sie haben mir erzählt, als Ihr Ehemann starb, wurden Sie plötzlich mit einem äußerst komplizierten finanziellen Durcheinander konfrontiert. Sie haben erwähnt, dass Sie noch immer dabei sind, die einzelnen Fäden zu entwirren«, erklärte Lavinia.
»Ich habe erklärt, dass er ein ausgezeichneter Investor war.«
»Ein Mann mit vielen geschäftlichen Investitionen könnte sehr gut seine kriminellen Tätigkeiten dahinter verborgen haben«, meinte Tobias leise.
Joan schloss die Augen. »Sie haben Recht. Holton Felix hat mir einen Brief geschickt, in dem er mir gedroht hat, Fieldings Rolle als Kopf eines ausgedehnten kriminellen Imperiums öffentlich zu machen.« Sie hob den Blick, und in ihren Augen lag Entschlossenheit. »Aber diese Drohung basierte auf einer Lüge.«
»Sind Sie da sicher?«, fragte Lavinia vorsichtig.
»Es ist nicht möglich.« Tränen glänzten in Joans Augen. »Fielding und ich waren zwanzig Jahre zusammen. Ich hätte es gewusst, wenn er kriminell gewesen wäre. So etwas hätte er nicht eine so lange Zeit vor mir verbergen können.«
»Viele Frauen haben ihr ganzes Eheleben lang keine Ahnung von den finanziellen Aktivitäten ihrer Männer«, erklärte Lavinia. »Ich kann Ihnen nicht sagen, wie viele Witwen nach der Beerdigung große Schwierigkeiten haben, weil sie ihre eigenen Finanzen nicht verstehen.«
»Ich weigere mich zu glauben, dass Fielding dieser Azure gewesen sein soll, von dem Sie gesprochen haben«, erklärte Joan mit ausdrucksloser Stimme. »Haben Sie Beweise?«
»Überhaupt keine«, stimmte ihr Tobias sofort zu. »Und da sowohl Azure als auch Ihr Ehemann tot sind, habe ich auch kein Interesse daran, diese Sache weiterzuverfolgen. Aber ich würde sehr gern Neville zur Strecke bringen.«
»Ich verstehe«, flüsterte Joan.
»Vorzugsweise, bevor er Sie auch noch ermordet«, stimmte ihm Lavinia zu.
Joans Augen weiteten sich. »Glauben Sie wirklich, dass er es war, der mir die Morddrohung geschickt hat?«
»Das ist sehr wahrscheinlich«, meinte Tobias. »Er ist kein Künstler, aber er hat vielleicht jemanden damit beauftragt, das kleine Bild zu schaffen, das Sie bekommen haben.«
»Aber warum sollte er mich vor seinen Absichten warnen?«
»Der Mann scheint ein Mörder zu sein«, meinte Lavinia. »Wer kann schon sagen, was in seinem Kopf vorgeht? Vielleicht will er Sie quälen oder auf irgendeine Art bestrafen.« Tobias wandte sich vom Fenster ab. »Es ist wahrscheinlicher, dass er Sie in eine Situation bringen will, in der Sie verletzlicher sind. Sie haben eine kleine Armee um sich versammelt, Mrs. Dove. Ihre Lakaien sind offensichtlich dafür ausgebildet, mehr zu tun, als nur Gläser mit Champagner auf silbernen Tabletts zu tragen.«
Sie seufzte. »Mein Mann war sehr wohlhabend, Mr Mach. Er hat nur Männer eingestellt, die uns und unseren Besitz beschützen können.«
»Es ist möglich, dass Neville Ihnen die Morddrohung geschickt hat, um Ihre Nerven zu strapazieren«, meinte Lavinia. »Er hofft vielleicht, dass Sie Angst bekommen, unvorsichtig werden und etwas Dummes tun, was es ihm ermöglicht, Sie in seine Macht zu bekommen.«
»Aber er hat doch gar keinen Grund, mich umzubringen«, erklärte Joan hartnäckig. »Selbst wenn er ein Krimineller ist, so hatte ich keine Ahnung von seinen Aktivitäten vor zwanzig Jahren. Das muss er doch wissen.«
Tobias sah sie an. »Wenn wir Recht haben, wenn Sie in der Tat mit Azure verheiratet waren, dann hat Neville Gründe genug zu befürchten, dass Sie viele seiner Geheimnisse kennen.«
Joan verkrampfte die Hände im Schoß. »Mein Mann war nicht Azure, das sage ich Ihnen doch.«
Doch diesmal hatte sie nicht mehr in einem so überzeugenden Ton geleugnet, dachte Lavinia.
»Wir nehmen an, dass er es war«, sagte sie. »Und wenn wir Recht haben, dann befinden Sie sich in großer Gefahr.«
Joan wurde ruhiger. Sie öffnete die Hände wieder. »Glauben Sie wirklich, dass Neville diese Frauen umgebracht hat?«
»Es sieht so aus«, meinte Tobias. »Ich glaube langsam, dass er die Wachsarbeiten in Huggetts Galerie in Auftrag gegeben hat, als eine Art makabre Erinnerung an die Morde.«
Joan erschauerte. »Welcher Künstler würde wohl solche Arbeiten schaffen?«
»Einer, dem man eine genügend große Summe gezahlt hat, stellt vielleicht nicht so viele Fragen«, behauptete Lavinia. »Oder einer, der um sein eigenes Leben fürchtet. Denken Sie daran, Madame Tussaud wurde dazu gezwungen, diese Totenmasken zu schaffen, während sie in Frankreich im Gefängnis war.«
Ein kurzes Schweigen senkte sich über den Raum.
»Ich habe vor, heute Abend Nevilles Haus zu durchsuchen«, meinte Tobias nach einer Weile. »Diese Sache muss zu einem Ende kommen, und zwar schnell. Ich brauche Beweise für seine Verwicklung in kriminelle Aktivitäten, und ich kann sie nur bei ihm zu Hause bekommen. Bis diese Sache beendet ist, dürfen Sie kein Risiko eingehen. Ich würde vorschlagen, dass Sie hier bleiben, in der Sicherheit Ihres Hauses.«
Joan zögerte, dann schüttelte sie den Kopf. »Heute Abend ist der Colchester-Ball. Es ist das einzige Ereignis in der Saison, das ich nicht verpassen kann.«
»Sicher können Sie doch mit Bedauern absagen?«
»Ganz unmöglich. Lady Colchester wird sehr beleidigt sein, wenn ich nicht komme. Ich habe Ihnen doch gesagt, sie ist die Großmutter des Verlobten meiner Tochter, und sie ist ein Tyrann in ihrer Familie. Wenn sie über mich verärgert ist, wird sie sich dafür an Maryanne rächen.«
Tobias entdeckte das mitleidige Verständnis in Lavinias Augen und stöhnte innerlich auf. Er wusste, dass Lavinia die Gefahren und Fallstricke bestens kannte, die damit verbunden waren, eine gute Partie zu machen. Schließlich war sie selbst mit einer ähnlichen Sache beschäftigt. Er wusste, noch bevor Lavinia den Mund öffnete, dass er diesen kleinen Kampf verloren hatte.
»Gütiger Himmel«, sagte Lavinia. »Glauben Sie denn, dass Lady Colchester so weit gehen könnte, Maryannes Verlobten dazu zu zwingen, die Verbindung wieder zu lösen?«
Joans Gesicht spannte sich an. »Das kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, dass ich Maryannes Zukunft nicht aufs Spiel setzen möchte, nur weil ich mich fürchte, heute Abend auf einen Ball zu gehen.«
Lavinia wandte sich schnell an Tobias. »Mrs. Dove wird in der Gesellschaft ihrer Lakaien sein, wenn sie zu dem Ball und später wieder nach Hause fährt. Und wenn sie erst einmal im Haus der Colchesters ist, wird sie von vielen Menschen umgeben sein. Dort müsste sie eigentlich in Sicherheit sein.«
»Es gefällt mir nicht«, hielt er dagegen, wusste jedoch, dass er nur seine Zeit verschwendete.
Lavinia begann zu strahlen. »Ich habe eine Idee.« Tobias zuckte zusammen und rieb abwesend sein Bein. »Natürlich hast du das«, meinte er. »Verdammte Hölle.«