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15. Kapitel

Tobias kochte noch immer vor Wut, als er eine Stunde später sein Arbeitszimmer betrat. Anthony, der am Schreibtisch saß, blickte interessiert auf. Der Ausdruck auf seinem Gesicht wandelte sich zuerst in Erschrecken und dann in belustigte Resignation. Er warf seinen Stift beiseite, lehnte sich in dem Sessel zurück und umfasste die Armlehnen.

»Du hast dich wieder einmal mit Mrs. Lake gestritten, nicht wahr?«, fragte er ohne Einleitung.

»Und wenn schon?« Tobias verzog das Gesicht. » Übrigens ist das mein Schreibtisch. Wenn du nichts dagegen hast, würde ich ihn heute Nachmittag gern selbst benutzen.«

»Diesmal muss es aber ein ganz besonders hitziger Streit gewesen sein.« Anthony stand lässig auf und kam hinter dem Schreibtisch hervor. »Eines Tages wirst du zu weit gehen, und sie wird eure Partnerschaft auflösen.«

»Warum sollte sie das tun?« Tobias übernahm das Kommando auf seinem Schreibtisch und setzte sich. »Sie weiß sehr gut, dass sie meine Hilfe braucht.«

»Genauso, wie du die ihre brauchst.« Anthony ging hinüber zu dem großen Globus, der in einem Ständer in der Nähe des Kamins stand. »Aber wenn du so weitermachst, könnte sie auf die Idee kommen, dass sie auch ohne dich ganz gut auskommt.«

Ein Hauch von Unbehagen huschte über Tobias' Gesicht. »Sie ist rücksichtslos und impulsiv, aber sie ist kein Dummkopf.«

Anthony deutete mit einem Finger auf ihn. »Denk an meine Worte. Wenn du nicht lernst, sie mit dem höflichen Respekt zu behandeln, den sie als Dame verdient, dann wird sie alle Geduld mit dir verlieren.«

»Du glaubst, sie verdient höflichen Respekt von mir, nur weil sie eine Dame ist?«

»Natürlich.«

»Lass mich dir ein oder zwei Dinge über das richtige Benehmen einer Dame erzählen«, schlug Tobias mit ausdrucksloser Stimme vor. »Eine Dame zieht nicht das Kostüm einer Putzfrau an und schleicht sich auch nicht in einen Raum voller erotischer Wachsarbeiten, die nur für die Augen von Männern gedacht sind. Eine Dame bringt sich nicht absichtlich in eine Lage, in der sie für eine billige Straßendirne gehalten werden kann. Eine Dame geht keine dummen Risiken ein, die sie dazu zwingen, ihre Ehre mit einem Mopp zu verteidigen.«

Anthony sah ihn an und zog die Augen zusammen. »Du gütiger Himmel. Willst du mir damit etwa sagen, dass sich Mrs. Lake heute Nachmittag in Gefahr begeben hat? Bist du deshalb in einer so entsetzlichen Laune?«

»Ja, genau das will ich dir damit sagen.«

»Verdammt. Das ist ja schrecklich. Geht es ihr gut?«

»Jawohl.« Tobias biss die Zähne zusammen. »Dank des Mopps und ihres schnellen Verstandes. Sie war gezwungen, zwei Männer abzuwehren, die sie für eine Prostituierte hielten.«

»Gott sei Dank neigt sie nicht dazu, in einer Krise ohnmächtig zu werden«, meinte Anthony erleichtert. »Mit einem Mopp, wie?« Bewunderung leuchtete in seinem Blick. »Ich muss schon sagen, sie ist eine sehr erfindungsreiche Frau.«

»Um ihren Erfindungsreichtum geht es hier gar nicht.

Was ich damit sagen will, ist, dass sie sich niemals in eine solche Lage hätte begeben dürfen.«

»Ja, nun ja, du hast oft gesagt, dass Mrs. Lake sehr unabhängig ist.«

»Unabhängig ist eine riesige Untertreibung. Mrs. Lake ist unzähmbar, unberechenbar und stur. Sie lässt sich nichts sagen und nimmt einen Rat nur dann an, wenn es ihr passt. Ich weiß nie, was sie als Nächstes tun wird, und sie hat kein Bedürfnis, mich zu informieren, bis es zu spät ist, sie aufzuhalten.«

»Sie ist sicherlich der Ansicht, dass du genau die gleichen Fehler hast«, erklärte Anthony spöttisch. »Unzähmbar. Unberechenbar. Ich habe auch noch nicht erlebt, dass du ein besonderes Bedürfnis hast, sie von deinen Plänen zu informieren, bevor du sie durchgeführt hast.«

Tobias fühlte, wie er die Zähne zusammenbiss. »Wovon zum Teufel redest du überhaupt? Es besteht gar keine Notwendigkeit, sie von jedem Schritt zu informieren, den ich in dieser Angelegenheit mache. So wie ich sie kenne, würde sie darauf bestehen, mich zu begleiten, wenn ich mit einem meiner Informanten reden will, und das wäre einfach unmöglich. Ich kann sie ganz sicher nicht mitnehmen, wenn ich in Lokale wie The Gryphon gehe, und sie kann mich auch nicht in meine Clubs begleiten.«

»Mit anderen Worten, du informierst Mrs. Lake auch nicht über deine Pläne, weil du weißt, dass ihr darüber sehr wahrscheinlich in Streit geraten werdet.«

»Genau. Ein Streit mit Lavinia ist eine ganz sinnlose Angelegenheit.«

»Das bedeutet, dass du manchmal als Verlierer daraus hervorgehst.«

»Die Lady kann außerordentlich schwierig sein.«

Anthony antwortete nichts auf diese Bemerkung, doch seine Augenbrauen zogen sich als schweigender Kommentar hoch.

Tobias griff nach einem Stift und klopfte damit auf den Tintenlöscher. Aus irgendeinem Grund hatte er das Bedürfnis, sich zu verteidigen. »Mrs. Lake ist heute Nachmittag beinahe angegriffen worden«, erklärte er ruhig. »Ich habe wirklich einen Grund, schlecht gelaunt zu sein.«

Anthony dachte lange darüber nach, dann senkte er, zu Tobias' Erstaunen, verständnisvoll den Kopf.

»Furcht hat manchmal diese Wirkung auf einen Mann, nicht wahr?«, bemerkte Anthony. »Ich mache dir keine Vorwürfe für deine starken Gefühle in dieser Angelegenheit. Zweifellos wirst du heute Nacht Albträume haben.«

Tobias antwortete ihm nicht. Er fürchtete, dass Anthony Recht hatte.

Lavinia blickte von ihren Notizen auf, als Mrs. Chilton Anthony in ihr Arbeitszimmer führte.

»Guten Tag, Sir.«

Er verbeugte sich angemessen. »Danke, dass Sie mich empfangen, Mrs. Lake.«

Lavinia schaffte es, freundlich zu lächeln und ihn nicht sehen zu lassen, dass sie den Atem anhielt. »Sie sind mir willkommen. Bitte, setzen Sie sich doch, Mr Sinclair.«

»Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich lieber stehen bleiben.« Anthonys Gesichtsausdruck war entschlossen. »Dies ist ein wenig schwierig für mich. In der Tat habe ich so etwas noch nie zuvor getan.«

Ihre schlimmsten Ängste bestätigten sich.

Lavinia unterdrückte einen Seufzer, sie schob ihre Notizen beiseite und bereitete sich darauf vor, sich eine förmliche Bitte um Emelines Hand anzuhören.

»Ehe Sie beginnen, Mr Sinclair, lassen Sie mich Ihnen sagen, dass ich finde, Sie sind ein sehr bewundernswerter Gentleman.«

Er schien von ihrer Bemerkung überrascht. »Es ist sehr nett von Ihnen, so etwas zu sagen, Madam.«

»Sie sind gerade erst einundzwanzig Jahre alt geworden, glaube ich.«

Er runzelte die Stirn. »Was hat denn mein Alter damit zu tun?«

Sie räusperte sich. »Es gibt Menschen, die reifer sind, als ihre Jahre es annehmen lassen. Das ist bei Emeline ganz sicher der Fall.«

Anthonys Augen leuchteten vor Bewunderung auf. »Miss Emeline ist wirklich erstaunlich klug für einen Menschen egal welchen Alters.«

»Dennoch ist sie kaum achtzehn Jahre alt.«

»In der Tat.«

Das ging gar nicht gut, dachte Lavinia. »Tatsache ist, Sir, ich würde Emeline nicht voreilig zu einer Heirat drängen.«

Anthony strahlte. »Ich könnte Ihnen da nicht mehr zustimmen, Mrs. Lake. Miss Emeline muss sich in dieser Sache Zeit lassen. Es wäre ein großer Fehler, wenn sie sich vorschnell verloben würde. Ein kluger Verstand wie der ihre darf nicht vorschnell durch die Zwänge einer Ehe unterdrückt werden.«

»In diesem Punkt sind wir uns einig, Sir.«

»Miss Emeline sollte erlaubt werden, selbst das Tempo zu bestimmen.«

»In der Tat.«

Anthony reckte sich. »Doch sosehr ich Miss Emeline bewundere und obwohl ich mich ihrem Glück unterworfen habe ...«

»Ich habe gar nicht gewusst, dass Sie das getan haben.«

»Es ist mir ein großes Vergnügen«, versicherte Anthony ihr. »Aber wie ich schon sagte, ich bin heute nicht hierher gekommen, um von ihrer Zukunft zu sprechen.«

Die Erleichterung, die Lavinia fühlte, machte sie beinahe schwindelig. Es schien, als müsste sie doch keine Ausrede finden, um die junge Liebe zu verhindern. Sie entspannte sich und lächelte Anthony an.

»In diesem Fall, Mr Sinclair, worüber wollten Sie mit mir sprechen?«

»Tobias.«

Ein wenig ihrer Erleichterung verschwand wieder.

»Was ist denn mit ihm?«, fragte sie vorsichtig.

»Ich weiß, dass er sich heute Nachmittag mit Ihnen gestritten hat.«

Sie winkte lässig ab. »Sein Temperament ist mit ihm durchgegangen. Was ist schon dabei? Es war wohl kaum das erste Mal.«

Anthony nickte unglücklich. »Tobias hat immer die Tendenz, ein wenig brüsk zu sein, und er hat nie sehr große Geduld mit Dummköpfen gehabt.«

»Ich sehe mich nicht als Dummkopf, Mr Sinclair.«

Entsetzen trat in Anthonys Augen. »Ich hatte nie die Absicht, so etwas anzudeuten, Mrs. Lake.«

»Danke.«

»Was ich zu sagen versuche ist, dass in der Natur seiner Verbindung zu Ihnen etwas liegt, das eine ungewöhnlich provozierende Wirkung auf ihn ausübt.«

»Wenn Sie gekommen sind, um mich zu bitten, ihn nicht noch weiter zu ärgern, dann fürchte ich, haben Sie Ihre Zeit verschwendet. Ich versichere Ihnen, ich bin nicht absichtlich darauf aus, ihn zu ärgern. Aber wie Sie ja gerade bereits bemerkt haben, es scheint etwas in der Art unserer Verbindung zu liegen, das ihn stört.«

»In der Tat.« Anthony lief vor ihrem Schreibtisch auf und ab. »Es ist nur so, dass ich nicht gern möchte, dass Sie ihn zu hart beurteilen, Mrs. Lake.«

Jetzt war sie erstaunt.

»Wie bitte?«, fragte sie.

»Ich verspreche Ihnen, dass Tobias unter seinem ein wenig rauen Äußeren ein feiner Mann ist.« Anthony blieb vor dem Fenster stehen. »Niemand kennt ihn besser als ich.«

»Mir ist klar, dass Sie ihn sehr gern mögen.«

Anthony verzog den Mund. »Ich mochte ihn nicht immer so sehr. In der Tat habe ich damals, als meine Schwester ihn geheiratet hat, Tobias sogar eine Weile lang gehasst.«

Lavinia erstarrte. »Aber warum das denn?«

»Weil ich wusste, dass Anne gezwungen war, ihn zu heiraten.«

»In der Tat.« Sie wollte nicht hören, dass Tobias seine Frau geheiratet hatte, weil er sie geschwängert hatte.

»Sie hat ihn um meinetwillen geheiratet und auch um ihretwillen, müssen Sie wissen. Ich habe die Tatsache gehasst, dass sie sich gezwungen fühlte, sich zu opfern. Und eine Zeit lang habe ich in Tobias den Bösewicht gesehen.«

»Ich fürchte, das verstehe ich nicht«, meinte Lavinia.

»Nachdem unsere Eltern gestorben waren, wurden meine Schwester und ich zu einem Onkel und einer Tante gebracht, bei denen wir leben sollten. Tante Elizabeth war gar nicht begeistert darüber, uns bei sich zu haben. Und was Onkel Dalton betrifft, er war ein ekelhafter Kerl, einer, der sich an Zimmermädchen und Gouvernanten heranmachte und an andere hilflose Frauen, die das Pech hatten, ihn kennen zu lernen.«

»Ich verstehe.«

»Der Bastard hat versucht, Anne zu verführen. Sie hat sich gegen seine Annäherungsversuche gewehrt, doch er war sehr aufdringlich. Sie hat es vermieden, ihm zu begegnen, indem sie sich in der Nacht in meinem Schlafzimmer versteckt hat. Wir haben vier Monate lang jeden Abend die Schlafzimmertür verbarrikadiert. Ich glaube, Tante Elizabeth hat gewusst, was geschah, denn sie war entschlossen Anne zu verheiraten. Eines Tages kam Tobias, um meinen Onkel geschäftlich aufzusuchen.«

»Mr March war mit Ihrem Onkel bekannt?«

»Zu dieser Zeit hat Tobias sich seinen Lebensunterhalt als Geschäftsmann verdient. Er hatte eine ganze Anzahl Kunden. Onkel Dalton war kurz davor auch sein Kunde geworden. Tante Elizabeth nutzte Tobias' Besuch als Vorwand, einige der Nachbarn zum Abendessen und einer Partie Karten danach einzuladen. Sie bestand darauf, dass sie die Nacht in ihrem Haus verbrachten, anstatt so spät noch nach Hause zu fahren. Anne glaubte, dass sie mit so vielen Leuten im Haus sicher sein würde, deshalb hat sie die Nacht in ihrem eigenen Zimmer verbracht.«

»Und was ist passiert?«

»Der langen Geschichte kurzer Schluss ist, dass Tante Elizabeth es so eingerichtet hat, dass meine Schwester in einer, wie sie behauptete, kompromittierenden Situation mit Tobias gefunden wurde.«

»Gütiger Himmel. Wie hat sie das denn geschafft?«

Anthony starrte hinaus in den Garten. »Tante Elizabeth hat Tobias das Zimmer neben dem von Anne gegeben. Die beiden Zimmer hatten eine Verbindungstür. Sie war natürlich verschlossen. Doch ganz früh am nächsten Morgen ist meine Tante in Annes Zimmer gegangen und hat die Tür aufgeschlossen. Dann hat sie eine große Szene gemacht, in der sie dem ganzen Haushalt und ihren Gästen erzählte, dass Tobias offensichtlich mitten in der Nacht in Annes Schlafzimmer geschlichen sei und sich über sie hergemacht hätte.«

Lavinia war schrecklich wütend. »Aber das ist doch äußerst lächerlich.«

Anthony lächelte bitter. »Ja, natürlich war es das. Aber jeder wusste, dass Anne in den Augen unserer Nachbarn ruiniert war. Tante Elizabeth hat darauf bestanden, dass Tobias anbot, sie zu heiraten. Ich habe damit gerechnet, dass Tobias sich weigerte. Ich war noch ein kleiner Junge, doch schon damals war mir klar, dass er nicht die Art von Mann war, der sich zu etwas zwingen lässt, was er nicht tun will. Doch zu meiner Überraschung hat er Anne gesagt, sie solle ihre Koffer packen.«

»Sie haben Recht, Mr Sinclair«, stimmte Lavinia ihm sanft zu. »Tobias wäre nicht auf die Forderung Ihrer Tante eingegangen, wenn er nicht dazu bereit gewesen wäre.«

»Die Tatsache, dass er Anne mitgenommen hat, war nicht einmal das Erstaunlichste daran. Das wirklich Erstaunliche war, dass Tobias mir gesagt hat, ich solle auch meine Sachen packen. An diesem Tag hat er uns beide gerettet, auch wenn ich das erst viel später begriffen habe.«

»Ich verstehe.« Lavinia dachte darüber nach, wie es wohl für einen kleinen Jungen gewesen sein musste, von einem Fremden mitgenommen zu werden. »Sie waren sicher sehr verängstigt.«

Anthony verzog das Gesicht. »Nicht um meinetwillen. Soweit es mich betraf, war alles besser, als mit unseren Verwandten zu leben. Aber ich hatte fürchterliche Angst, was Tobias wohl mit Anne machen würde, wenn er sie erst einmal in seiner Macht hatte.«

»Hat Anne sich vor Tobias gefürchtet?«

»Nein. Niemals.« Anthony lächelte in Erinnerung an diese Zeiten. »Für sie war er ihr Ritter in der glänzenden Rüstung, von Anfang an. Ich glaube, sie hatte sich schon in ihn verliebt, als wir noch nicht einmal die Einfahrt des Hauses hinuntergefahren waren, aber ganz sicher, ehe wir auf die Hauptstraße nach London eingebogen waren.«

Lavinia stützte das Kinn in die Hand. »Vielleicht war das einer der Gründe, warum Sie Tobias nicht von Anfang an gemocht haben. Bis zu diesem Tag waren Sie derjenige, dem die Zuneigung Ihrer Schwester gehörte.«

Anthony blickte einen Augenblick nachdenklich vor sich hin, dann runzelte er die Stirn. »Sie könnten Recht haben. Von diesem Standpunkt aus habe ich die Sache noch gar nicht betrachtet.«

»Hat Mr March Ihre Schwester gleich geheiratet?«

»Innerhalb eines Monats. Er muss sich auf den ersten Blick in sie verliebt haben. Wie hätte es auch anders sein können? Sie war sehr schön, innerlich und äußerlich. Sie war die sanfteste Kreatur. Freundlich, anmutig, liebevoll mit einem ausgeglichenen Temperament. Sie war mehr ein Engel als eine Frau aus Fleisch und Blut, denke ich. Sicher zu gut für diese Welt.«

Kurz gesagt, diese Frau war das genaue Gegenteil von mir, dachte Lavinia.

»Aber Tobias fürchtete, dass ihre Gefühle für ihn nur auf Dankbarkeit beruhten und bald wieder verschwinden würden«, sprach Anthony weiter.

»Ich verstehe.«

»Er hat Anne gesagt, dass sie nicht verpflichtet wäre, seine Frau zu werden, und dass er auch nicht von ihr erwartete, die Rolle seiner Geliebten zu spielen. Doch ganz unabhängig von ihrer Entscheidung hat er deutlich gemacht, dass er schon einen Weg finden würde, für uns zu sorgen.«

»Aber sie hat ihn geliebt.«

»Ja.« Anthony betrachtete einen Augenblick lang das Muster des Teppichs, dann sah er mit einem kleinen, traurigen Lächeln zu ihr auf. »Sie hatten noch nicht einmal fünf gemeinsame Jahre, ehe sie und das Baby an einem Fieber im Kindbett starben. Tobias blieb mit einem dreizehnjährigen Schwager zurück.«

»Ihre Schwester zu verlieren war sicher außerordentlich schwierig für Sie.«

»Tobias war sehr geduldig mit mir. Am Ende des ersten Jahres seiner Ehe habe ich ihn verehrt.« Anthony umklammerte die Stuhllehne. »Aber nachdem Anne gestorben war, bin ich ein wenig durchgedreht. Ich habe ihn für ihren Tod verantwortlich gemacht, müssen Sie wissen.«

»Das verstehe ich.«

»Bis zum heutigen Tag ist es ein Wunder für mich, dass er mich nicht wieder zu meiner Tante und meinem Onkel zurückgeschickt hat in den Monaten nach der Beerdigung oder dass er mich nicht wenigstens nach auswärts in die Schule geschickt hat. Aber Tobias hat behauptet, es sei ihm nie in den Sinn gekommen, mich loszuwerden. Er behauptet, dass er sich daran gewöhnt hatte, mich um sich zu haben.«

Anthony wandte den Rücken zum Fenster und schwieg, offensichtlich war er gefangen in seinen Erinnerungen.

Lavinia blinzelte ein paar Mal, um die Feuchtigkeit zu vertreiben, die ihr in die Augen getreten war und die ihre Sicht behinderte. Schließlich gab sie ihre Bemühungen auf und holte ein Taschentuch aus der obersten Schublade. Sie tupfte sich schnell über die Augen und schnüffelte ein wenig.

Als sie sich wieder gefangen hatte, faltete sie die Hände auf dem Schreibtisch und wartete. Anthony machte keine Anstalten, seine Geschichte weiterzuerzählen.

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Ihnen eine Frage stelle?«, meinte sie nach einer Weile.

»Was für eine Frage?«

»Ich habe mich gefragt, warum Mr March humpelt. Ich bin ganz sicher, dass er diese Behinderung noch nicht hatte, als ich ihn in Rom getroffen habe.«

Anthony blickte überrascht auf. »Hat er Ihnen denn nicht erzählt, was geschehen ist?« Er verzog den Mund. »Nein, so wie ich Tobias kenne, hat er das nicht getan. Carlisle hat ihm an diesem Abend eine Kugel in das Bein gejagt. Es war ein Kampf auf Leben und Tod. Tobias hat ihn nur knapp überlebt. Er hat einige Wochen gebraucht, um sich von den Auswirkungen der Wunde zu erholen. Ich nehme an, er wird noch lange humpeln, vielleicht sogar den Rest seines Lebens.«

Benommen starrte Lavinia ihn an.

»Ich verstehe«, flüsterte sie schließlich. »Das habe ich nicht gewusst. Gütiger Himmel.«

Wieder gab es ein ausgedehntes Schweigen.

»Warum erzählen Sie mir all das?«, fragte sie schließlich.

Anthony zuckte ein wenig zusammen, dann sah er sie an. »Ich wollte, dass Sie ihn verstehen.«

»Was soll ich verstehen?«

»Er ist nicht wie andere Männer.«

»Glauben Sie mir, das weiß ich ganz genau.«

»Es ist nur so, dass er seinen eigenen Weg in der Welt gehen muss, müssen Sie wissen«, sprach Anthony ernsthaft weiter. »Ihm fehlt der richtige Schliff.«

Lavinia lächelte. »Irgendetwas sagt mir, dass kein Schliff in der Welt den Charakter von Mr March verändern würde.«

»Was ich zu erklären versuche ist, dass er viele ausgezeichnete Charakterzüge besitzt, auch wenn seine Manieren nicht immer so sind, wie sie vielleicht sein sollten, wenn er sich in der Gesellschaft von Damen befindet.«

»Bitte, machen Sie sich nicht die Mühe, mir eine Liste all der ausgezeichneten Charakterzüge von Mr March zu geben. Sie würden uns wahrscheinlich beide langweilen.«

»Ich fürchte, dass Sie sein aufbrausendes Wesen und seinen Mangel an Manieren ab und zu nicht richtig einzuschätzen wissen.«

Lavinia legte die Hände flach auf die Platte des Schreibtisches und stand auf. »Mr Sinclair, ich versichere Ihnen, dass ich mit Mr Marchs Temperament und seinen mangelhaften Manieren recht gut umzugehen weiß.«

»Wirklich?«

»Aber sicher, Sir.« Sie kam hinter ihrem Schreibtisch herum, um ihn zur Tür zu begleiten. »Wie könnte es auch anders sein? Ich selbst besitze genau die gleichen fehlerhaften Charakterzüge. Da können Sie jeden fragen, der mich kennt.«