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9. Kapitel

Am nächsten Nachmittag kam Tobias kurz vor zwei in der Claremont Lane an. Er sprang aus der Mietkutsche, sobald sie anhielt. Seine Finger umklammerten die Tür, als ein heftiger Schmerz durch seinen linken Oberschenkel fuhr. Er holte tief Luft, und der Schmerz ließ ein wenig nach.

Er gewann sein Gleichgewicht wieder und stieg dann die letzte Stufe zur Straße hinunter.

»Wir haben Glück.« Anthony sprang anmutig hinter Tobias aus der Kutsche. »Es hat aufgehört zu regnen.«

Tobias warf einen Blick zu dem bleigrauen Himmel. »Aber nicht lange.«

»Habe ich dir eigentlich schon einmal gesagt, dass eine der Eigenschaften, die ich an dir am meisten bewundere, deine optimistische Natur ist? Du hast ein richtig sonniges Gemüt.«

Tobias würdigte diese Bemerkung keiner Antwort. In Wahrheit hatte er schlechte Laune, und das wusste er auch. Der Grund dafür war nicht der dumpfe Schmerz in seinem Bein. Es war die Ahnung, dass etwas passieren würde, und das beschäftigte ihn.

Er war heute Morgen mit einem eigenartigen Gefühl aufgewacht, das ihn beunruhigte. Ein Mann in seinem Alter und mit seiner Erfahrung sollte seine Gefühle besser unter Kontrolle haben, sagte er sich. Sein Eifer, Lavinia wiederzusehen, passte wohl eher zu einem jungen Mann in Anthonys Alter, der sich auf einen Besuch bei seiner Freundin freute.

Sein Unbehagen wich erst Überraschung und dann offenem Ärger, als er die andere Mietkutsche bemerkte, die auf der Straße vor dem kleinen Haus stand.

Er blieb stehen. »Was zum Teufel hat sie denn jetzt schon wieder vor?«

Anthony grinste. »Wie mir scheint, hat deine neue Geschäftspartnerin für den heutigen Tag ihre eigenen Pläne.«

»Der Teufel soll mich holen, ich habe ihr heute Morgen eine Nachricht geschickt, in der ich ihr gesagt habe, dass ich um zwei Uhr hier sein würde.«

»Vielleicht mag Mrs. Lake es nicht, wenn du ihr befiehlst, zu warten, wenn es dir in den Sinn kommt«, meinte Anthony ein wenig zu hilfreich.

»Es war ihre Idee, noch einige andere Wachsmuseen zu besuchen.« Tobias ging auf die Treppe zu. »Wenn sie glaubt, dass ich ihr erlauben werde, die Eigentümer dieser Museen ganz allein zu befragen, dann hat sie sich verdammt noch einmal geirrt.«

Die Tür des Hauses Nummer sieben öffnete sich weit, gerade als Tobias und Anthony die unterste Treppenstufe erreicht hatten.

Lavinia, in ihrem wohl bekannten braunen Wollmantel und Halbstiefeln, erschien an der Tür. Sie wandte der Straße den Rücken zu und sprach mit jemandem im Haus.

»Pass auf, Emeline. Das ist das beste Stück von allen.«

Ohne den Kopf zu wenden, kam Lavinia vorsichtig aus der Tür. Tobias sah, dass sie ein großes Paket in der Hand trug, eingewickelt in Stoff.

Ein paar Sekunden später erschien auch Emeline. Ihr glänzendes dunkles Haar war zum Teil von einer blassblauen Haube verdeckt, die ihr hübsches Gesicht einrahmte. Sie mühte sich mit dem anderen Ende des langen, verhüllten Objektes ab.

»Es ist sehr schwer«, erklärte sie und blickte nach unten, um nicht zu stolpern. »Vielleicht sollten wir lieber eine der anderen verkaufen.«

Anthony zog scharf den Atem ein. Tobias fühlte, wie er neben ihm erstarrte.

Lavinia hatte die beiden Männer am Fuße der Treppe noch immer nicht bemerkt, sie fuhr fort, rückwärts die Treppe hinunterzugehen.

»Keiner der anderen wird uns so viel Geld bringen wie dieser hier«, sagte sie. »Tredlow hat angedeutet, dass er einen Sammler kennt, der eine hübsche Summe für einen Apollo in ausgezeichnetem Zustand bezahlen würde.«

»Ich meine noch immer, dass wir diese Statue nicht verkaufen sollten, nur um für das Geld ein paar Kleider zu kaufen.«

»Du musst die neuen Kleider als eine Art Investition ansehen, Emeline. Ich habe dir das heute doch schon ein paar Mal erklärt. Kein passender junger Mann wird dich bemerken, wenn du in einem alten, unmodernen Kleid ins Theater gehst.«

»Ich habe dir gesagt, dass jeder Mann, der nicht den Mensch hinter dem Kleid sieht, ein Mann ist, von dem ich gar nicht möchte, dass er mich bemerkt.«

»Unsinn. Du weißt sehr gut, dass du ruiniert sein wirst, wenn du zulässt, dass ein Mann den Mensch unter deiner Kleidung sieht, ehe du ordentlich verheiratet bist.«

Emeline lachte.

»Sie ist ein glitzernder Bach, der unter einem sonnigen Himmel tanzt«, flüsterte Anthony.

Tobias stöhnte auf. Er war ganz sicher, dass Anthony nicht Lavinia meinte.

Er sah den beiden Frauen zu, wie sie die Treppe hinunterkamen. Der körperliche Kontrast zwischen Tante und Nichte hätte nicht deutlicher sein können. Emeline war groß, anmutig und von eleganter Gestalt. Lavinia war beträchtlich kleiner und zierlicher in jeder Hinsicht. Es war erstaunlich einfach gewesen, sie in seinen Armen zu halten, so dass ihre Füße den Boden nicht mehr berührt hatten, überlegte er.

»Wo wollen Sie hin?«, fragte Tobias.

Lavinia schrie leise und erschrocken auf und wirbelte dann herum, um ihn anzusehen. Das mumienartige Paket auf ihrem Arm wankte gefährlich. Anthony machte heldenhaft einen Satz nach vorn und fing ihr Ende der Statue auf, ehe sie auf die Treppe fiel.

Lavinia warf Tobias einen bösen Blick zu. »Sehen Sie nur, was Sie beinahe angerichtet hätten! Wenn ich diese Statue hätte fallen lassen, dann wäre das ganz allein Ihre Schuld gewesen.«

»Das ist es doch immer«, antwortete er höflich.

»Mr March.« Emeline lächelte ihn freundlich an. »Wie nett, Sie heute zu sehen.«

»Es ist mir eine Freude, Miss Emeline. Darf ich Ihnen meinen Schwager vorstellen, Anthony Sinclair. Anthony, das ist Miss Emeline und ihre Tante, Mrs. Lake. Ich glaube, ich habe die beiden dir gegenüber bereits erwähnt.«

»Angenehm.« Es gelang Anthony, sich zu verbeugen, ohne die Statue fallen zu lassen. »Erlauben Sie mir, Miss Emeline.« Er übernahm die ganze Last der Statue.

»Sie sind aber sehr schnell, Sir.« Emeline strahlte ihn an. »Ich schwöre, der Apollo hätte jetzt eine böse Beule, wenn Sie nicht so schnell gewesen wären.«

»Ich bin immer froh, wenn ich einer Dame behilflich sein kann«, versicherte Anthony ihr.

Er betrachtete Emeline, als stände sie auf einem Sockel und wäre mit Flügeln geschmückt.

Lavinia kam auf Tobias zu. »Sie hätten hier beinahe eine Katastrophe angerichtet, Sir«, erklärte sie. »Wie können Sie es wagen, sich so von hinten anzuschleichen?«

»Ich habe mich nicht angeschlichen. Ich bin genau um die Zeit hier, die ich in meiner Nachricht heute Morgen angegeben hatte. Sie haben sie doch bekommen, nehme ich an.«

»Ja, ja, ich habe Ihren königlichen Befehl erhalten, Mr March. Aber da Sie sich nicht die Mühe gemacht haben nachzufragen, ob die Zeit Ihres Besuches mir angenehm war, habe ich mir nicht die Mühe gemacht, Ihnen die Nachricht zurückzuschicken, dass mir der Zeitpunkt überhaupt nicht passt.«

Er stand absichtlich so nahe vor ihr, dass er sie überragte. »Wenn ich mich recht erinnere, Madam, waren Sie doch diejenige, die darauf bestanden hat, dass wir zusammen noch weitere Besitzer von Wachsmuseen befragen sollten.«

»Ja, nun ist es allerdings so, dass etwas Wichtigeres dazwischengekommen ist.«

Er beugte sich noch näher zu ihr. »Was ist wichtiger, als mit unserer Untersuchung fortzufahren?«

Sie wich nicht vor ihm zurück. »Nicht weniger als die Zukunft meiner Nichte steht auf dem Spiel, Mr March.«

Emeline verzog das Gesicht. »Das ist eine Übertreibung, in meinen Augen.«

Anthony warf ihr einen besorgten Blick zu. »Was ist geschehen, Miss Emeline? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

»Das bezweifle ich, Mr Sinclair.« Sie verzog die Nase, als sie ihn ansah. Ihre Augen blitzten vor spöttischer Belustigung. »Apollo muss geopfert werden.«

»Warum?«

»Für Geld natürlich.« Sie lachte leise. »Die Sache ist die, ich bin für morgen Abend in Gesellschaft von Lady Wortham und ihrer Tochter ins Theater eingeladen worden. Tante Lavinia sieht das als eine Gelegenheit, mich vor einigen begehrten Gentlemen zu präsentieren, die, arme Dummköpfe, die sie sind, keine Ahnung davon haben, dass sie ihre Blicke auf sie geworfen hat.«

»Ich verstehe.« Anthonys Gesicht verdüsterte sich.

»Lavinia ist davon überzeugt, dass ein teures, modisches Kleid nötig sein wird, um meine Vorzüge ins beste Licht zu rücken. Sie hat beschlossen, den Apollo zu opfern, um die nötigen Mittel aufzubringen.«

»Verzeihen Sie mir, Miss Emeline«, meinte Anthony mit ernsthafter Galanterie, »aber jeder Mann, der nicht bemerkt, dass Ihr einzigartiger Charme am besten ohne jedes Kleid zum Vorschein kommt, muss ein gottverlassener Idiot sein.«

Es gab eine kurze Pause. Alle sahen Anthony an. Er wurde über und über rot.

»Ich meinte, Ihr Charme wäre, äh, charmant, ganz gleich, ob sie nun angekleidet sind oder nicht«, stotterte er.

Niemand sagte ein Wort.

Anthony sah jetzt wirklich geschlagen aus. »Ich wollte damit sagen, Sie würden auch in einer Schürze großartig aussehen, Miss Emeline.«

»Danke«, murmelte sie. Ihre Augen blitzten.

Amthony sah aus, als würde er am liebsten im Boden versinken.

Tobias hatte Mitleid mit ihm. »Nun, wenn es zu Miss Emelines Charme nichts weiter zu sagen gibt, dann schlage ich vor, dass wir zu dem Thema zurückkehren, wie wir die verschiedenen Aufgaben an diesem Nachmittag erledigen wollen. Ich würde vorschlagen, dass Miss Emeline und Lavinia weiter ihre Pläne verfolgen, Apollo zu opfern. Anthony, du und ich, wir werden uns um die Eigentümer der Wachsmuseen kümmern.«

»Sicher«, stimmte ihm Anthony zu.

»Augenblick.« Lavinia stellte sich Tobias in den Weg.

Misstrauen blitzte in ihren Augen auf. »Ich habe nie gesagt, dass ich bei den Befragungen nicht dabei sein möchte.«

Tobias lächelte. »Verzeihen Sie mir, Mrs. Lake, aber ich hatte den Eindruck, dass Sie heute wichtigere Dinge vorhaben.«

»Es gibt keinen Grund, warum wir nicht sowohl die Sache mit der Statue als auch die Befragungen erledigen können«, erklärte sie schnell. »Emeline hat vor, heute Nachmittag zusammen mit ihrer Freundin Priscilla Wortham einen Vortrag über ägyptische Antiquitäten anzuhören. Ich habe die Absicht, sie am Institut abzusetzen und dann zu Mr Tredlows Laden weiterzufahren, um mich dort um den Apollo zu kümmern. Wenn das erledigt ist, können Sie und ich mit den Befragungen weitermachen. Wenn wir damit fertig sind, werde ich zurück zum Institut fahren und Emeline abholen.«

Begeisterung blitzte in Anthonys Augen auf. »Es wäre mir eine große Freude, Sie und Ihre Freundin zu dem Vortrag zu begleiten, Miss Emeline. Ich interessiere mich wirklich sehr für ägyptische Antiquitäten.«

»Wirklich, Sir?« Emeline schwebte die Treppe hinunter und ging auf die Kutsche zu. »Haben Sie vielleicht zufällig Mr Mayhews letzten Artikel gelesen?«

»Ja, natürlich.« Anthony ging neben ihr her. »Meiner Meinung nach hat Mayhew einige interessante Tatsachen erwähnt, aber ich glaube nicht, dass er Recht hat mit seiner Deutung der Szenen, die auf den Wänden der Tempel aufgemalt waren, die er untersucht hat.«

»Ich stimme Ihnen zu.« Emeline trat einen Schritt zur Seite, damit er den Apollo in der Kutsche verstauen konnte. »Mir ist auch klar, dass die Hieroglyphen der Schlüssel zu allem sind. Bis jemand sie richtig übersetzen kann, werden wir nie die Bedeutung der Bilder verstehen.«

Anthony beugte sich in die Kutsche, um die Statue auf dem Boden zurechtzurücken. »Ein richtiges Verständnis des Rosetta-Steines ist unsere einzige Hoffnung.« Seine Stimme klang ein wenig gedämpft, weil er im Inneren der Kutsche stand. »Wie ich höre, macht Mr Young einigen Fortschritt in dieser Hinsicht.«

Lavinia betrachtete das Paar einen Augenblick lang, während sie sich über ägyptische Antiquitäten unterhielten. Ihre Augenbrauen zogen sich zu einer nachdenklichen Linie über ihrer hübschen Nase zusammen.

»Hmm«, war alles, was sie sagte.

»Ich kann für Anthonys Charakter bürgen«, versprach ihr Tobias leise. »Ich versichere Ihnen, Ihre Nichte ist in seiner Gesellschaft sicher.«

Sie räusperte sich. »Ich nehme nicht an, dass er ein Erbe zu erwarten hat? Vielleicht ein Besitz in Yorkshire oder so?«

»Nicht einmal eine kleine Kate in Dorset«, erklärte Tobias mit grimmigem Humor. »Anthonys Finanzen sind in einem ähnlichen Zustand wie die meinen.«

»Und was für ein Zustand ist das?«, fragte sie sehr vorsichtig. »Prekär. Genau wie Sie, Madam, muss auch ich mich darauf verlassen, Klienten zu gewinnen, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Anthony hilft mir gelegentlich.«

»Ich verstehe.«

»Also«, meinte Tobias. »Sollen wir weitermachen, oder haben Sie die Absicht, hier mitten auf der Straße stehen zu bleiben und mich den Rest des Nachmittags über meine Finanzen auszufragen?«

Lavinia nahm den Blick nicht von Emeline, die noch immer eine lebhafte Unterhaltung mit Anthony führte. Einige Sekunden lang glaubte Tobias sogar, dass sie seine Frage gar nicht gehört hatte. Doch als sie sich zu ihm umwandte, blitzte wieder stahlharte Entschlossenheit in ihren Augen auf.

»Ich möchte keinen Augenblick mehr an Ihre Finanzen verschwenden, Sir. Sie gehen mich nichts an. Ich muss mir über meine eigenen Finanzen Sorgen machen.«

»Ein sehr hübscher Apollo, Mrs. Lake.« Edmund Tredlow tätschelte die harten Steinmuskeln eines wohl gestalteten Oberschenkels. »Sehr hübsch, wirklich. Ich sollte für ihn genauso viel bekommen können wie für die Venus, die Sie im letzten Monat gebracht haben.«

»Der Apollo ist beträchtlich mehr wert als die Venus, Mr Tredlow.« Lavinia ging um die nackte Statue herum und blieb auf der gegenüberliegenden Seite stehen. »Wir wissen das beide. Die Statue ist recht authentisch, und sie befindet sich in einem ausgezeichneten Zustand.«

Tredlow nickte ein paar Mal. Hinter den Brillengläsern leuchteten seine Augen hell. Lavinia wusste, dass er die Situation genoss. Sie konnte das Gleiche von sich selbst nicht behaupten. Zu viel hing von diesem Handel ab.

Tredlow war ein buckliger, zerknitterter kleiner Mann von unbestimmbarem Alter, der altmodische Hosen und nicht gestärkte Kragen trug. Er sah so alt und staubig aus wie die Statuen in seinem Laden. Graues Haar stand wild von seinem kahl werdenden Kopf ab. Sein Bart spross wie eine ungeschnittene Hecke.

»Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, meine Liebe.« Tredlow streichelte Apollos Po. »Der Zustand der Statue ist in der Tat sehr gut. Es ist nur so, dass in diesen Tagen keine sehr große Nachfrage besteht. Es wird nicht leicht sein, einen Sammler dafür zu interessieren. Ich werde vielleicht Monate auf diesem Ding sitzen bleiben, ehe ich es verkaufen kann.«

Lavinia biss die Zähne zusammen und lächelte kühl. Es war in Ordnung, wenn Tredlow das Handeln genoss. Für ihn war es ein Spiel und eine geschäftliche Angelegenheit. Aber sie brachte das mühsame Hin und Her ihrer Verhandlungen jedesmal zur Verzweiflung, und die wollte sie unter allen Umständen verbergen.

Tobias betrachtete die Verhandlung von der anderen Seite des staubigen Ladens. Er lehnte lässig an einem Marmorsockel und sah ziemlich gelangweilt aus. Aber sie wusste, dass er voller Interesse jedem Wort ihrer Unterhaltung lauschte. Es machte sie wütend. Immerhin war es zum größten Teil seine Schuld, dass sie gezwungen war, hierher zu kommen und mit Tredlow wie ein Fischweib zu verhandeln.

»Ich möchte Ihre Freundlichkeit und Ihre Großzügigkeit nicht ausnutzen«, erklärte Lavinia aalglatt. »Wenn Sie wirklich glauben, dass Sie nicht in der Lage sein werden, einen Käufer zu finden, der die Großartigkeit dieser Statue zu schätzen weiß, dann werde ich sie wohl besser woanders hinbringen.«

»Ich habe nie gesagt, dass ich sie nicht verkaufen kann, meine Liebe, nur, dass es vielleicht eine Weile dauern kann.« Tredlow hielt einen Augenblick inne. »Wenn Sie die Statue in Kommission hier lassen wollen ...«

»Nein, ich habe die Absicht, sie noch heute zu verkaufen.« Sie machte großes Aufhebens davon, ihre Handschuhe zurechtzuzupfen, als wolle sie gehen. »Ich kann es mir wirklich nicht leisten, noch mehr Zeit zu verschwenden. Ich werde zu Prendergast gehen. Vielleicht besitzt er einen anspruchsvolleren Kundenstamm.«

Tredlow winkte mit der Hand ab. »Das wird nicht nötig sein, meine Liebe. Wie ich schon sagte, der Markt für Apollos ist im Augenblick nicht gerade gut, aber unserer langen Bekanntschaft wegen werde ich versuchen, einen Sammler zu finden, der diesen hier akzeptieren wird.«

»Wirklich, Sir, ich möchte Ihnen keine Umstände machen.«

»Das sind wirklich keine Umstände.« Er lächelte sie an.

»Sie und ich, wir haben in den letzten drei Monaten eine ganze Menge Geschäfte miteinander gemacht. Ich bin bereit, einen kleineren Gewinn als üblich mit ihrem Apollo zu akzeptieren, um Ihnen einen Gefallen zu tun, meine Liebe.«

»Ich würde nicht im Traum daran denken, Ihren Gewinn zu schmälern.« Sie machte sich daran, ihre Haube zuzubinden. »In der Tat würde ich es mir nie verzeihen, einen Vorteil aus Ihrer Freundlichkeit zu schlagen, Mr Tredlow.«

Tredlow betrachtete den gut ausgestatteten Apollo mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck. »Wenn ich noch einmal genauer darüber nachdenke, fällt mir, glaube ich, ein Gentleman ein, der für diese Statue eine recht ansehnliche Summe zahlen wird.«

Sie verbarg ihre Erleichterung und bedachte ihn mit einem strahlenden Lächeln. »Ich war sicher, dass Sie den richtigen Sammler kennen würden, Sir. Sie sind wirklich ein Experte auf diesem Gebiet.«

»Ich habe einige Erfahrungen gesammelt«, gestand Tredlow bescheiden. »Also, was den Preis betrifft, meine Liebe.«

Es dauerte nicht lange, bis sie sich auf einen angemessenen Preis geeinigt hatten.

Kurz darauf nahm Tobias Lavinias Arm, als sie das Geschäft verließen.

»Gut gemacht«, sagte er.

»Der Betrag, den Tredlow mir für den Apollo gegeben hat, sollte die Kosten für die neuen Kleider decken, die ich bei Madame Francesca bestellt habe.«

»Sie haben gut verhandelt.«

»Ich habe einige Dinge über die hohe Kunst der Verhandlung gelernt, als ich in Italien war.« Sie machte sich nicht die Mühe, ihre Zufriedenheit vor ihm zu verbergen.

»Man sagt, dass Reisen bildet.«

Sie lächelte kühl. »Glücklicherweise konnten Emeline und ich einige unserer besten Stücke retten, in der Nacht, in der Sie unseren Laden zerstört und uns auf die Straße gesetzt haben. Aber ich bedaure noch immer, dass ich die hübsche Urne zurücklassen musste.«

»Ich persönlich fand, dass Sie einen sehr weisen Entschluss getroffen haben, als Sie sich entschieden haben, stattdessen den Apollo mitzunehmen.«

Die Leichenräuber mühten sich um Mitternacht an dem offenen Grab ab. Eine schwach brennende Laterne erhellte die makabre Szene und zeigte die Schaufeln und Seile, die benutzt worden waren, um den neuen Sarg aus dem Boden zu holen. Im Schatten wartete ein Karren.

»Wieder ein gestohlener Körper auf dem Weg zur medizinischen Schule in Schottland«, meinte Tobias fröhlich. »Wie erfrischend ist es doch zu wissen, dass der Lauf der modernen Wissenschaft nicht aufgehalten werden kann.«

Lavinia erschauerte und warf noch einen Blick auf die Figuren in dem Bild. Was die Qualität der Statuen hier in Huggetts Museum betraf, so ähnelte sie der der anderen Museen, die sie an diesem Nachmittag besucht hatten. Die Künstler hatten sich auf Schals, Hüte und fließende Umhänge verlassen, um die schlechte Modellierung der Gesichtszüge zu verbergen. Der entsetzliche Eindruck wurde hauptsächlich durch den sehr realistisch aussehenden Sarg und die unheimliche Beleuchtung vermittelt.

»Ich muss sagen, die Ausstellungsstücke hier sind sehr viel melodramatischer als die anderen«, meinte Lavinia.

Sie bemerkte, dass sie nur im Flüsterton gesprochen hatte, warum, wusste sie nicht. Sie und Tobias waren die einzigen Menschen in dem Museum. Aber irgendetwas in der Düsternis und der grausigen Szene beunruhigte sie.

»Huggett hat offensichtlich eine Vorliebe für das Theatralische«, meinte Tobias. Er ging durch den halbdunklen Gang und blieb vor der nächsten beleuchteten Szene stehen. Sie zeigte ein Duell. »Und er scheint eine Vorliebe für Blut zu haben.«

»Da wir gerade von Mr Huggett sprechen, er lässt sich ganz schön Zeit, nicht wahr? Der Kartenverkäufer ist schon vor einigen Minuten zu seinem Büro gegangen, um ihn zu holen.«

»Wir geben ihm noch ein paar Minuten.« Tobias ging zu einer anderen Reihe von Ausstellungsstücken weiter.

Als Lavinia feststellte, dass sie allein war, lief sie hinter ihm her. Sie warf nur einen flüchtigen Blick auf die Szene eines verurteilten Mörders vor dem Galgen, ehe sie um eine Ecke bog und beinahe mit Tobias zusammenstieß.

Sie starrte auf die Todesszene, die seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Sie zeigte einen Mann, der in einem Sessel neben einem Kartentisch zusammengesunken war. Der Kopf der Gestalt war nach vorn gefallen, auf eine Art, die nicht nur eine erschreckend genaue Nachahmung des Todes war, sondern die auch den Mangel an Kunstfertigkeit in den Gesichtszügen verbarg. Einer der Arme der Statue war zur Seite gestreckt. Die Gestalt des Mörders stand am Rande der Szene, in der Wachshand hielt er eine Pistole. Einige Spielkarten waren auf dem Teppich verstreut.

Lavinia blickte auf das beschriftete Schild. Eine Nacht in einer Spielhölle.

»Etwas sagt mir, dass wir auch hier nicht mehr erfahren werden als in den ersten beiden Museen«, meinte sie.

»Da würde ich Ihnen zustimmen.« Tobias betrachtete das Gesicht des Mörders genau und schüttelte ein wenig den Kopf. »Mrs. Vaughn hatte offensichtlich Recht, als sie sagte, dass die meisten Wachsmuseen eher das öffentliche Interesse für entsetzlichen Nervenkitzel befriedigen als den Bedarf nach hoher Kunst.«

Lavinia sah sich nach all den Grauen erregenden Szenen um, die sich in den Schatten verbargen. Grabräuber, Mörder, sterbende Prostituierte und gewalttätige Kriminelle erfüllten den großen Raum. Die Qualität der Kunst war vielleicht nicht hoch, dachte sie, doch der Eigentümer hatte es verstanden, eine Atmosphäre der Furcht zu schaffen. Sie wollte das gegenüber Tobias nicht zugeben, doch dieser Ort ging ihr an die Nerven.

»Ich fürchte, wir verschwenden nur unsere Zeit«, sagte sie.

»Zweifellos.« Tobias ging weiter zu einer Szene, in der ein Mann eine Frau mit einem Schal erdrosselte. »Aber nun sind wir ja einmal hier, und es ist das letzte Museum auf unserer Liste, da können wir auch noch mit Huggett sprechen, ehe wir gehen.«

»Warum sollen wir uns die Mühe machen?« Lavinia ging hinter ihm her. Sie verzog das Gesicht beim Anblick der Szene und warf einen Blick auf das Schild. Das Erbe. »Tobias, ich finde wirklich, wir sollten gehen. Sofort.«

Er warf ihr einen eigenartigen Blick zu. Ihr kam der Gedanke, dass sie ihn gerade zum ersten Mal mit seinem Vornamen angesprochen hatte. Sie fühlte, wie ihr plötzlich ganz warm wurde, und sie war dankbar für das schwache Licht.

Es war ja nicht so, als hätten sie noch keinerlei Intimitäten ausgetauscht, dachte sie. Immerhin waren sie ja auch Geschäftspartner. Und dann war da ja auch noch der Kuss in ihrem Arbeitszimmer gestern, obwohl sie sehr angestrengt versuchte, nicht an das leidenschaftliche Zwischenspiel zu denken.

»Was zum Teufel ist nur los mit Ihnen?« Tobias' Augen blitzten belustigt auf. »Sie wollen doch wohl nicht behaupten, dass diese Ausstellungsstücke Ihnen an die Nerven gehen. Ich hätte nicht geglaubt, dass Sie ein Mensch sind, den dunkle Vorstellungen ausgerechnet in einem Wachsmuseum überfallen.«

Es war der Zorn, der ihr wieder neue Kraft gab. »Meine Nerven befinden sich in einem ausgezeichneten Zustand, danke. Ich bin ganz sicher kein Mensch, der sich durch Ausstellungsstücke wie diese hier beeinflussen lässt.«

»Nein, natürlich sind Sie das nicht.«

»Es ist nur so, dass ich keinen Grund sehe, hier herumzustehen und auf einen unhöflichen Besitzer zu warten, der sich nicht einmal die Zeit nimmt, mit zwei Menschen zu sprechen, die gutes Geld bezahlt haben, um sich eine Eintrittskarte für diese schrecklichen Attraktionen zu kaufen.«

Am Ende eines Ganges kamen sie zu einer schmalen, gewundenen Treppe, die nach oben führte.

»Ich frage mich, was Mr Huggett wohl dort oben zeigt.«

Ein leises Geräusch in der Dunkelheit hinter ihr ließ sie wie angewurzelt stehen bleiben. Eine Stimme zischte kaum hörbar: »Die Ausstellung oben ist nur für Gentlemen.«

Lavinia wirbelte herum und blickte in den halbdunklen Raum.

In dem schwachen, flackernden Licht, das eine Mordszene in der Nähe erhellte, erkannte sie einen großen, skelettdürren Mann.

Die Haut seines Gesichtes spannte sich straff über seinen Knochen. Seine Augen lagen tief. Jeder Anflug von Wärme, der vielleicht früher einmal darin gelegen hatte, war schon vor langer Zeit ausgelöscht worden.

»Ich bin Huggett. Man sagte mir, dass Sie mit mir sprechen möchten.«

»Mr Huggett«, sagte Tobias. »Ich bin March, und dies ist Mrs. Lake. Wir sind dankbar, dass Sie Zeit haben, mit uns zu sprechen.«

»Was wollen Sie von mir?«, krächzte Huggett.

»Wir möchten Ihre Meinung über eine ganz bestimmte Wachsarbeit«, erklärte Tobias.

»Wir versuchen, den Künstler zu finden, der sie gemacht hat.« Lavinia hielt ihm die kleine Todesszene hin, die sie aus dem Tuch gewickelt hatte. »Wir haben gehofft, dass Sie vielleicht den Stil oder eine andere Besonderheit der Arbeit erkennen würden.«

Huggett warf einen Blick auf das Bild. Lavinia betrachtete sein totenkopfähnliches Gesicht sorgfältig. Sie war beinahe sicher, dass sie ein schwaches Aufblitzen des Wiedererkennens darin entdeckt hatte, doch schon im nächsten Augenblick war es wieder verschwunden. Als Huggett aufblickte, war sein Gesicht bar jeden Gefühls.

»Ausgezeichnete Arbeit«, krächzte er. »Aber ich glaube nicht, dass ich den Künstler kenne.«

»Die Art der Darstellung würde in Ihr Museum passen«, meinte Tobias.

Huggett deutete mit knochigen Fingern in den Raum. »Wie Sie sehen, stelle ich lebensgroße Statuen aus, keine kleinen Bilder.«

»Wenn Ihnen der Name noch einfallen sollte, nachdem wir weg sind, bitte schicken Sie mir doch eine Nachricht an diese Adresse.« Tobias reichte Huggett eine Karte. »Ich kann Ihnen versichern, es wird Ihr Schaden nicht sein.«

Huggett zögerte, doch dann nahm er die Karte. »Wer wäre bereit, für eine solche Information zu zahlen?«

»Jemand, der sehr gern die Bekanntschaft des Künstlers machen würde«, antwortete Tobias.

»Ich verstehe.« Huggett zog sich in sich selbst zurück und verschwand dann in der Dunkelheit. »Ich werde über die Sache nachdenken«, versprach er noch.

Lavinia machte einen Schritt nach vorn. »Mr Huggett, noch eine Sache, wenn Sie nichts dagegen haben. Sie haben noch nicht erklärt, was es mit der Ausstellung oben auf sich hat. Was für Ausstellungsstücke zeigen Sie dort?«

»Ich sagte Ihnen doch, nur Gentlemen ist der Zugang erlaubt«, flüsterte Huggett. »Die Ausstellungsstücke oben sind für eine Dame nicht angemessen.«

Er verschwand in den Schatten, ehe sie noch weitere Fragen stellen konnte.

Lavinia warf einen Blick zu der Treppe. »Was glauben Sie, was er dort oben zeigt?«

»Ich denke, wenn Sie diese Treppe hinaufgehen«, meinte Tobias, »dann werden Sie eine Ausstellung nackter Wachsfiguren in erotischen Aktszenen sehen.«

Lavinia blinzelte. »Oh.« Sie warf noch einen Blick zu der Treppe und ließ sich dann von Tobias zur Tür führen.

»Er weiß etwas über unsere kleine Wachsarbeit«, erklärte sie leise. »Ich habe gemerkt, dass er die Art der Arbeit wiedererkannt hat, an der Art, wie er darauf reagierte.«

»Da könnten Sie Recht haben.« Tobias führte sie durch die Tür. »Seine Reaktion hatte etwas Eigenartiges.«

Sie lächelte erleichtert, als sie in den leichten Regen hinaustraten. Die Mietkutsche, mit der sie gekommen waren, stand noch auf der Straße.

»Gott sei Dank hat der Kutscher auf uns gewartet«, meinte sie fröhlich. »Ich möchte nicht den ganzen Weg nach Hause im Regen gehen.«

»Ich auch nicht.«

»Das war ein sehr erfolgreicher Nachmittag, nicht wahr? Ich glaube, ich habe gesagt, dass es sehr nützlich sein würde, die Leute zu befragen, die sich mit dem Stil der verschiedenen Künstler auskennen. Dank meiner Anregung haben wir wenigstens endlich eine Spur gefunden. Es ist Zeit, in die Hörner zu stoßen.«

»Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich lieber auf die unnötigen Metaphern der Jagd verzichten.« Tobias öffnete die Tür der Mietkutsche. »Ich finde sie ermüdend.«

»Unsinn.« Lavinia gab ihm ihre Hand und kletterte behände in die Kutsche. »Sie sind nur schlecht gelaunt, weil es meine brillante Idee war, die uns weitergeführt hat. Geben Sie es zu, Sir. Sie ärgern sich, weil keine Ihrer Angeln erfolgreich ausgelegt war.«

»Die Sprache der Fischer gefällt mir auch nicht.« Er umfasste die Türkante und zog sich in die Kutsche. »Wenn ich heute in einer unfreundlichen Laune bin, dann deshalb, weil es noch so viele unbeantwortete Fragen gibt.«

»Seien Sie ein wenig fröhlicher, Sir. Dem Aufblitzen in Huggetts Augen nach zu urteilen, erwarte ich, dass wir schon bald Neuigkeiten bekommen werden.«

Tobias betrachtete das hölzerne Schild über der Tür zu Huggetts Museum, als die Kutsche losfuhr. »Das Aufblitzen, das Sie in seinen Augen gesehen haben, war vielleicht gar kein Anflug von Interesse an unserem Geld.«

»Was sollte es denn sonst gewesen sein?«

»Angst.«