17. Kapitel
Das Gryphon war warm und trocken, aber das war auch schon alles, was man zu den Vorzügen der verrauchten Taverne rechnen konnte. Dennoch fand Tobias, dass das in einer feuchten, nebligen Nacht nicht zu verachten war.
Das Feuer in dem riesigen Kamin brannte fröhlich und erhellte das Lokal mit seinem böse flackernden Licht. Die Dienstmägde waren alle große, dralle, gut gebaute Frauenzimmer. Die Ähnlichkeiten in ihrer Gestalt waren kein Zufall. Smiling Jack, der Eigentümer dieses Lokals, liebte sie so. Tobias hatte sich für diesen Abend umgezogen. In den abgetragenen Hosen eines Dockarbeiters, dem schlecht sitzenden Rock, der formlosen Kappe und den dicken Stiefeln erregte er nur wenig Aufmerksamkeit, als er sich zwischen den groben Gästen des Gryphon bewegte. Das ärgerliche Humpeln, wenn er ging, passte zu seiner Verkleidung, fand er. Die meisten der Menschen um ihn herum verdienten ihren Lebensunterhalt mit ihren Verletzungen. Ein Humpeln wie das seine war alltäglich. Genau wie Narben und fehlende Finger. Augenklappen und Holzbeine waren auch zahlreich vertreten.
Eine Dienstmagd mit ausladendem Busen versperrte Tobias den Weg. Sie schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. »Hallo, gut aussehender Mann, was darf es denn heute Abend sein?«
»Ich habe Geschäfte mit Smiling Jack«, murmelte Tobias.
Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, so wenig wie möglich mit der Bedienung und den Gästen des Gryphon zu sprechen. Der raue Akzent der Docks, den er für seine Besuche in diesem Lokal annahm, brachte ihn durch kurze Unterhaltungen. Er war nicht sicher, ob er in einer längeren, eingehenderen Unterhaltung den Akzent richtig würde durchhalten können.
»Jack ist in seinem Zimmer hinten.« Die Dienstmagd deutete zum Ende des Flurs und zwinkerte ihm zu. »Sie klopfen besser an, ehe Sie die Tür öffnen.«
Sie verschwand in der Menge, das Tablett hielt sie hoch über ihrem Kopf.
Tobias bahnte sich einen Weg zwischen den Tischen und Bänken hindurch. Am anderen Ende des Gastraumes betrat er einen düsteren Flur, der zu dem Raum führte, den Smiling Jack sein Büro nannte. Er ging durch den Flur und blieb vor der Tür stehen.
Ein unterdrücktes weibliches Lachen drang durch die dicke Tür bis zu ihm. Tobias klopfte laut.
»Verschwinde, wer auch immer du bist.« Jacks Stimme rumpelte wie eine Ladung Kohlen. »Ich habe Geschäfte zu erledigen.«
Tobias legte eine Hand um den Türgriff und drückte ihn herunter. Die Tür schwang nach innen auf. Er lehnte sich gegen den Türrahmen und sah Smiling Jack.
Der große Eigentümer des Gryphon saß hinter einem zerkratzten Schreibtisch. Sein Gesicht hatte er in den großen nackten Busen einer Frau gedrückt, die rittlings auf seinen Schenkeln saß. Die Röcke des Frauenzimmers waren bis zu ihrer Taille hochgezogen und enthüllten ihren nackten Po.
»Ich habe deine Botschaft bekommen«, sagte Tobias.
»Bist du das, Tobias?« Lächelnd hob Smiling Jack den Kopf und blinzelte. »Ein wenig früh, wie?«
»Nein.«
Jack stöhnte auf und gab seiner Gespielin einen leichten Klaps auf ihren nackten Po. »Verschwinde, Mädchen. Mein Freund hier hat es eilig, und ich sehe, dass er heute Abend nur wenig Geduld hat.«
Die Frau kicherte. »Ach, lass nur, Jack.« Sie wackelte mit ihrem Po. »Ich bleibe hier sitzen und mache mit dem weiter, womit wir angefangen haben, während ihr beide über eure geschäftlichen Dinge sprecht.«
»Ich fürchte, das wird nicht möglich sein, Süße.« Jack seufzte bedauernd auf und schob sie sanft von seinem Schoß. »Du lenkst mich ab, leider. Ich kann mich nicht auf meine geschäftlichen Dinge konzentrieren, während du deinen Charme spielen lässt.«
Die Frau lachte noch einmal, sie stand auf und schüttelte die Röcke glatt. Sie zwinkerte Tobias zu und ließ sich Zeit, den Raum zu verlassen. Ihre ausladenden Hüften schwangen hin und her und hatten die ungeteilte Aufmerksamkeit der beiden Männer, bis sich die Tür hinter ihr schloss. Ihr Lachen hallte über den Flur.
»Eine neue Angestellte.« Jack schloss seine Hose. »Ich denke, sie wird ganz gut sein.«
»Sie scheint ein fröhliches Wesen zu haben.« Tobias legte den Akzent der Docks ab. Er und Jack kannten einander dafür viel zu gut.
Tobias kannte zum Beispiel die Geschichte der grotesken Narbe, die dem Mann den Namen Smiling Jack gegeben hatte. Mit mehreren Stichen war die Messerwunde genäht worden, die ihm eine arme Näherin beigebracht hatte. Sie war verheilt und gab Jack das Aussehen eines grinsenden Totenkopfes, denn sie reichte von seinem Mundwinkel bis zu seinem Ohr.
»Aye, das ist wahr.« Jack hievte seinen massigen Körper aus dem Stuhl und winkte Tobias zu, sich auf einen der mit
Leder bezogenen Stühle in der Nähe des Kamins zu setzen. »Setz dich, Mann. Es ist eine schlimme Nacht. Ich bringe dir etwas von meinem guten Brandy, der vertreibt die Kälte aus deinem Körper.«
Tobias griff nach einem der Stühle in der Nähe des Kamins, drehte ihn herum und setzte sich rittlings darauf. Die Arme verschränkte er über der Rückenlehne und versuchte, nicht auf den Schmerz in seinem Bein zu achten.
»Den Brandy trinke ich gern«, sagte er. »Was hast du für Neuigkeiten für mich?«
»Es gibt einige Dinge, die dich interessieren werden. Zuerst hast du mich gebeten, mir einige von Nevilles Frauen anzusehen.« Jack goss Brandy in zwei Gläser. »Ich habe dabei ein oder zwei sehr interessante Dinge herausgefunden.«
»Ich höre.«
Jack reichte eines der Gläser Tobias und setzte sich wieder in den Sessel hinter seinem Schreibtisch. »Du hast mir gesagt, dass sich Neville normalerweise seine Frauen in den Bordellen sucht und nicht aus den Rängen der modischeren erfolgreicheren Frauen. Du hattest Recht.«
»Und was ist mit ihnen?«
»Ich bin mir nicht sicher, warum er sich mit der billigeren Sorte zufrieden gibt, aber eines kann ich dir sagen. Wenn Frauen aus einem Bordell sich in den Fluss werfen, dann nehmen die Behörden davon keine Notiz.« Jack verzog das Gesicht. Dabei verzerrte sich die Narbe zu einer grässlichen Imitation von Belustigung. »Es gibt sogar einige Menschen, die sagen würden, gut, dass sie weg ist. Eine Dirne weniger, die ihre Dienste verkauft.«
Tobias schloss die Finger fester um das Glas. »Willst du damit etwa behaupten, dass mehr als nur eine von Nevilles leichten Mädchen im Fluss gelandet sind?«
»Ich kann nicht sagen, wie viele der Frauen sich ertränkt haben, nachdem er sie beiseite geschoben hat, aber mindestens zwei von ihnen konnten mit ihrem gebrochenen Herzen nicht weiterleben. Eine Frau mit Namen Lizzy Prather hat sich vor anderthalb Jahren umgebracht. Vor einigen Monaten hat man ein Frauenzimmer mit dem Namen Alice auch aus dem Fluss gezogen. Es gibt Gerüchte, dass noch drei andere sich umgebracht haben.«
Tobias nippte an dem langsam warm werdenden Brandy. »Schwer zu glauben, dass so viele Frauen sich einer so heftigen Melancholie hingegeben haben, nachdem Neville mit ihnen fertig war.«
»Aye.« Jacks Stuhl knarrte, als er sich zurücklehnte. Er ignorierte das warnende Knarren und verschränkte die Hände über seinem vorstehenden Bauch. »Mach keinen Fehler, so etwas passiert ab und zu. Es gibt immer ein paar dumme Mädchen, die wirklich glauben, dass sie bei einem reichen Mann die wahre Liebe gefunden haben, und denen das Herz bricht, wenn die Sache vorüber ist. Aber die meisten der Frauenzimmer wissen, auf was sie sich einlassen, wenn sie mit einem Mann von Nevilles Stand zusammenkommen. Sie nehmen ihn aus und holen so viel Schmuck aus ihm heraus, wie sie nur können, und wenn sie dann feststellen, dass sie ihre Miete wieder allein bezahlen müssen, gehen sie zum nächsten Mann über.«
»Eine geschäftliche Abmachung auf beiden Seiten.«
»Aye.« Jack nahm einen großen Schluck von seinem Brandy, stellte das Glas ab und wischte sich über den Mund. »Hör mir jetzt gut zu, denn jetzt kommt der interessanteste Teil dieser ganz besonderen Sache.« »Ja?«
»Nevilles letzte Geliebte, Sally, ist auch verschwunden. Seit gestern Nachmittag hat niemand sie mehr gesehen.«
Tobias rührte sich nicht. »Der Fluss?«
»Zu früh, um Genaueres zu sagen. Ich habe noch nicht gehört, dass man eine Leiche aus dem Wasser gezogen hat, aber das kann auch eine Weile dauern. Alles, was ich sagen kann, ist, dass sie verschwunden ist. Und wenn meine Informanten sie nicht finden können, dann kann das niemand.«
»Verdammte Hölle.« Tobias rieb sich sein Bein.
Smiling Jack ließ die Neuigkeit ein wenig wirken, ehe er weitersprach.
»Da ist noch etwas, was du vielleicht wissen möchtest.«
»Über Sally?«
»Nein.« Jack senkte die Stimme, obwohl außer ihnen niemand im Zimmer war. »Es geht um das Blue Chamber. Es gibt da einige Gerüchte.«
Tobias zog die Augen zusammen. »Ich habe dir doch gesagt, dass das Blue Chamber zu Ende ist. Azure und Carlisle sind beide tot. Der dritte Mann ist in den Untergrund gegangen, aber nicht für lange. Ich werde ihn bald haben.«
»Was du sagst, mag ja vielleicht stimmen. Aber was ich auf den Straßen höre, ist, dass ein kleiner Privatkrieg ausgetragen wird.«
»Und wer ist daran beteiligt?«
Jack zuckte mit den Schultern. »Das kann ich nicht sagen, aber ich habe gehört, dass der Gewinner die Kontrolle über das übernehmen will, was von dem Blue Chamber noch übrig ist. Man hört, dass er plant, das Imperium wieder aufzubauen, das nach Azures Tod zusammengebrochen ist.«
Tobias blickte lange ins Feuer und dachte über das nach, was er gehört hatte.
»Ich bin dir für diese Information etwas schuldig«, meinte er schließlich.
»Aye.« Jack lächelte sein grässliches Lächeln. »Das ist wahr. Aber ich mache mir keine Sorgen. Du zahlst deine Rechnungen immer.«
Der Nebel war noch dichter geworden, während er im Gryphon gewesen war. Tobias blieb auf der Treppe stehen. Die Lichter des Lokals wurden von dem Nebel auf der Straße zurückgeworfen. Der unheimliche Schein war eigenartig hell, doch er enthüllte nichts.
Nach einem Augenblick überquerte er die Straße und widerstand dem Wunsch, den Kragen seines uralten Mantels über die Ohren zu ziehen. Die dicke Wolle würde ein wenig die Kälte vertreiben, doch sie würde ihm auch die Sicht nach beiden Seiten nehmen und die Geräusche der Nacht dämpfen. In dieser Gegend war es ratsam, all seine Sinne einzusetzen.
Schnell ging er durch den schwachen Schein, den der Nebel warf, und verschwand in der Dunkelheit. Niemand sonst schien unterwegs zu sein. In einer Nacht wie dieser war das wohl kaum überraschend, dachte er.
Als er den unheimlichen Schein des Gryphon endlich hinter sich gelassen hatte, konnte er einen kleinen, schwachen Lichtschein erkennen, der hoch über dem Boden hing. Er nahm an, dass es die Laterne einer Kutsche war, und ging darauf zu, dabei hielt er sich auf der Mitte der Straße, so weit wie möglich entfernt von unbeleuchteten Gassen und dunklen Hauseingängen.
Trotz all seiner Vorkehrungen war die einzige Warnung das leise, gleitende Geräusch der Schritte eines Mannes, der schnell hinter ihm herkam. Ein Straßenräuber.
Er kämpfte gegen den Instinkt, sich umzudrehen und seinem Angreifer gegenüberzutreten, weil er wusste, dass dies wahrscheinlich nur eine Ablenkung sein würde. Die Straßenräuber von London jagten meistens zu zweit.
Er trat zur Seite und suchte den Schutz der nächsten Mauer in seinem Rücken. Schmerz fuhr durch sein linkes Bein, doch die plötzliche Richtungsänderung hatte ihren Zweck erfüllt. Sie überraschte den Mann hinter ihm.
»Verdammte Hölle, ich habe ihn verloren.«
»Mach die Laterne an. Mach schnell, Mann. Beeil dich, sonst werden wir ihn in diesem verdammten Nebel nie wiederfinden.«
Das beantwortete seine Frage, dachte Tobias. Es waren in der Tat zwei Straßenräuber, die zusammenarbeiteten. Die ärgerlichen Stimmen verrieten ihren Standort.
Er zog die Pistole aus seiner Tasche und wartete.
Der erste Mann fluchte laut und kämpfte mit der Laterne. Als das Licht aufflackerte, nutzte Tobias es als Ziel. Er drückte ab. Der Knall der Pistole hallte in der Straße wider. Die Laterne zerbrach.
Der Straßenräuber schrie auf und ließ die Laterne fallen. Das Öl brannte lichterloh, als es sich über die Pflastersteine ergoss.
»Verdammte Hölle, der Bastard hat eine Pistole«, beklagte sich der zweite Mann.
»Nun, jetzt hat er sein Pulver verschossen, nicht wahr? Sie wird ihm also nichts mehr nützen.«
»Manche Leute haben auch zwei Pistolen bei sich.«
»Nicht, wenn sie keine Schwierigkeiten erwarten.« Er trat in das flackernde Licht, das von dem brennenden Öl auf der Straße ausging, dabei grinste er teuflisch und erhob die Stimme. »Du da, in dem Nebel. Wir sind gekommen, um dir eine Botschaft zu bringen.«
»Es wird nicht lange dauern«, stimmte der andere Mann mit lauter Stimme ein. »Wir wollen nur sichergehen, dass du begreifst, wie ernsthaft die Botschaft ist.«
»Wo ist er? Ich kann verdammt gar nichts mehr sehen.«
»Sei still. Hör doch genau hin, du elender Dummkopf.«
Doch die Kutsche am Ende der Straße war jetzt in Bewegung gekommen. Das Rattern der Räder und das Klappern der Hufe auf den Steinen klang laut in der Nacht. Tobias nutzte den Lärm. Er zog den geflickten Mantel aus und hängte ihn locker über ein Eisengitter in der Nähe.
»Verdammte Hölle, der elende Nachtwächter kommt in unsere Richtung«, rief einer der Straßenräuber.
>Nicht der Wagen des Nachtwächters,* dachte Tobias und trat vor, um den näher kommenden Wagen abzufangen. »Bitte, nur nicht der Wagen des Nachtwächters. Alles andere, nur das nicht.<
Die schwankende Lampe war ihm jetzt beinahe gegenüber. Die Gestalt auf dem Kutschbock schrie und klatschte mit den Zügeln auf die Hinterhand der Pferde und drängte sie so zu einer schnelleren Gangart. Tobias griff nach dem Wagen, als er vorüberrumpelte.
Der entsetzliche Gestank des Inhaltes des Wagens traf ihn wie ein Schlag. Der Nachtwächter war seiner Arbeit nachgegangen, die privaten Latrinen zu leeren und den Abfall der Haushalte und Geschäfte in der Nachbarschaft zu sammeln. Tobias versuchte, den Atem anzuhalten, als er sich auf den Wagen zog.
»Konntest du keinen anderen Wagen finden«, fragte er, als er sich auf den Sitz neben dem Kutscher fallen ließ.
»Tut mir Leid.« Anthony klatschte noch einmal mit den Zügeln auf den Rumpf des Pferdes. »Als deine Nachricht mich erreichte, hatte ich nicht mehr viel Zeit. Ich konnte keine Mietkutsche finden. In einer Nacht wie dieser sind sie alle besetzt.«
»Da ist er«, hörte Tobias einen der Straßenräuber rufen. »Dort drüben an dem Geländer. Ich sehe seinen Mantel.«
»Ich war gezwungen, zu Fuß loszugehen.« Anthony erhob seine Stimme, damit sie über dem Klappern der Hufe zu hören war. »Ich traf einen Nachtwächter und bot ihm ein wenig Geld für die Benutzung seines Wagens. Ich habe versprochen, ihm den Wagen innerhalb einer Stunde zurückzubringen.«
»Jetzt haben wir dich«, rief der andere der Straßenräuber.
Schritte erklangen auf den Pflastersteinen.
»Was zum Teufel? Er ist weg. Er muss auf dem Wagen des verdammten Nachtwächters sein.«
Ein Schuss ertönte in der Nacht. Tobias zuckte zusammen.
»Keine Sorge«, beruhigte ihn Anthony. »Ich bin sicher, du findest einen neuen Mantel, der genauso altmodisch ist wie jener.«
Ein zweiter Schuss ertönte im Nebel. Das Pferd des Nachtwächters hatte genug. Dies war sicher nicht Teil seiner normalen Arbeit. Das Tier legte die Ohren an, sprang vor und raste los.
»Er verschwindet, das sage ich dir. Wir werden nicht für die Arbeit dieser Nacht bezahlt, wenn wir ihn nicht erwischen.« Nachdem die Stimme des Straßenräubers verstummt war, meinte Tobias: »Es schien ein so einfacher, vernünftiger Plan zu sein. Alles, was ich von dir verlangt habe, war eine Mietkutsche und dass du draußen auf der Straße vor dem Gryphon auf mich warten solltest, falls es Probleme geben sollte, die mein schnelles Verschwinden notwendig machten.«
»Eine ausgezeichnete Vorsichtsmaßnahme, wenn man sich die Gegend hier ansieht.« Anthony schlug mit den Zügeln und genoss die Rolle des Kutschers voller Begeisterung. »Denk doch nur, was geschehen wäre, wenn du mir nicht die Nachricht geschickt hättest, hier auf dich zu warten?«
»Weißt du, aus irgendeinem Grund ist mir nie der Gedanke gekommen, dass du dazu ausgerechnet den Wagen eines Nachtwächters benutzen würdest.«
»Ein Mann muss mit den Mitteln arbeiten, die ihm zur Verfügung stehen. Du hast mir das beigebracht.« Anthony grinste. »Als ich keine Mietkutsche finden konnte, war ich gezwungen, es irgendwie anders zu machen. Ich habe gedacht, ich hätte die Initiative ergriffen.«
»Initiative?«
»Richtig. Und wohin fahren wir jetzt?«
»Zunächst einmal geben wir diese hervorragende Kutsche ihrem rechtmäßigen Eigentümer zurück und bezahlen ihn dafür, dass wir sie benutzen durften. Dann werden wir sofort nach Hause gehen.«
»Es ist noch nicht spät. Möchtest du nicht mehr in deinen Club gehen?«
»Der Portier würde mich nicht durch die Tür lassen. Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, wir beide brauchen dringend ein Bad.«
»Da könntest du Recht haben.«
Eine Stunde später kletterte Tobias aus der Wanne und trocknete sich vor dem Feuer ab, ehe er seinen Morgenmantel anzog. Er ging nach unten, wo Anthony frisch gebadet in sauberem Hemd und Hose saß, die er sich aus seinem alten Zimmer geholt hatte.
»Nun?« Anthony lümmelte sich in einem Sessel, die Füße hatte er zum Feuer gestreckt. Er wandte sich nicht um, als Tobias das Zimmer betrat. »Erzähl mir alles. Glaubst du, es waren ganz normale Straßenräuber?«
»Nein. Sie haben etwas davon gesagt, dass sie dafür bezahlt würden, eine Botschaft abzuliefern.« Tobias schob die Hände in die Taschen seines Morgenmantels.
»Eine Warnung?«
» Offensichtlich.«
Anthony drehte den Kopf ein wenig. »Von jemandem, der nicht möchte, dass du noch weitere Nachforschungen anstellst?«
»Ich war nicht lange genug in ihrer Nähe, um sie danach zu fragen. Es ist möglich, dass die Botschaft von jemandem kam, der möchte, dass ich meine Nachforschungen einstelle. Aber es gibt auch noch einen anderen Verdächtigen.«
Anthony warf ihm einen wissenden Blick zu. »Pomfrey?«
»Ich habe Crackenburnes Warnung nicht sehr ernst genommen. Doch er könnte Recht gehabt haben, als er mir gesagt hat, dass Pomfrey sich möglicherweise für das rächen will, was im Theater passiert ist.«
Anthony dachte eine Weile darüber nach. »Das ergibt einen Sinn. Pomfrey ist nicht der Mann, der eine solche Sache auf die ehrenwerte Weise erledigt.« Er hielt inne. »Wirst du Mrs. Lake erzählen, was heute Abend passiert ist?«
»Verdammte Hölle, was hältst du von mir? Glaubst du, ich bin verrückt? Natürlich werde ich ihr nichts über mein Abenteuer am heutigen Abend erzählen.«
Anthony nickte. »Ich dachte mir, dass du das sagen würdest. Natürlich möchtest du sie im Ungewissen lassen, weil du nicht willst, dass sie sich zu große Sorgen um deine Sicherheit macht.«
»Das hat damit überhaupt nichts zu tun«, erklärte Tobias heftig. »Ich werde ihr nichts über die Begegnung mit den beiden Männern sagen, weil ich sicher bin, dass sie die Gelegenheit nutzen würde, um mir einen längeren Vortrag zu halten.«
Anthony machte sich gar nicht erst die Mühe, seine Belustigung zu verbergen. »Genauso einen wie den, den du ihr gehalten hast, als du festgestellt hast, dass sie verkleidet als Putzfrau zu Huggett gegangen ist und in Schwierigkeiten geraten ist?«
»Genau. Ich denke, es wäre sehr ärgerlich, wenn ich der Empfänger einer solchen Schimpfkanonade sein würde.«
Lavinia hatte ihr Frühstück beinahe beendet, als sie Tobias im Flur hörte.
»Bemühen Sie sich nicht, Mrs. Chilton. Ich kenne mich hier schon aus. Ich kann mich selbst anmelden.«
Emeline griff nach dem Buttermesser und lächelte. »Wie es scheint, haben wir einen frühen Besucher.«
»Er scheint sich hier schon heimisch zu fühlen, nicht wahr?« Lavinia schob eine Gabel voll Rührei in den Mund. »Was zum Teufel kann er denn um diese Zeit schon wollen? Wenn er glaubt, dass ich mir noch eine weitere seiner Belehrungen anhören werde, dass ich keine Bewegung machen darf, ohne ihn vorher darüber zu informieren, dann irrt er sich aber gewaltig.«
»Beruhige dich.«
»Es ist ganz unmöglich, sich zu beruhigen, wenn es um Mr March geht. Er hat ein Talent dafür, Unruhe zu verbreiten.« Lavinia hörte auf zu kauen, als ihr ein Gedanke kam. »Gütiger Himmel, ich frage mich, ob vielleicht etwas Entsetzliches geschehen ist?«
»Unsinn. Mr March klingt, als sei er bei guter Gesundheit.«
»Ich meinte, ich frage mich, ob wohl etwas Schreckliches geschehen ist, was unsere Nachforschungen betrifft.«
»Ich bin sicher, er hätte eine Nachricht geschickt, wenn das der Fall wäre.«
»Darauf solltest du dich nicht verlassen«, erklärte Lavinia düster. »Wie ich dir schon in Italien erklärt habe, Mr March spielt ein dunkles Spiel.«
Die Tür öffnete sich. Tobias betrat das Frühstückszimmer und erfüllte den kleinen, gemütlichen Raum mit der Energie und der Kraft seiner männlichen Anwesenheit. Lavinia schluckte schnell ihre Eier hinunter und versuchte, nicht auf die leise Erregung zu achten, die sich ihrer bei seinem Anblick bemächtigte.
Was hatte er nur an sich, dass er diese kleinen Schauer der Erregung in ihr wecken konnte? Er war kein großer Mann. Niemand würde ihn als gut aussehend bezeichnen. Er machte sich kaum die Mühe, feine Manieren an den Tag zu legen, die man von einem Gentleman erwartete, und er brauchte ganz sicher einen neuen Schneider.
Außerdem war sie überhaupt nicht sicher, dass er sie besonders mochte, obwohl er auf eine eher derbe Art an ihr interessiert zu sein schien. Es war ja nicht so, als wären sie durch ein ätherisches, metaphysisches Band vereint, überlegte sie. Es lag keine Poesie in ihrer Verbindung; ganz im Gegenteil, es war eine rein geschäftliche Angelegenheit und eine eher spektakuläre Art der Lust. Wenigstens von ihrem Gesichtspunkt aus, überlegte sie schweigend. Sie war ganz und gar nicht sicher, dass ihre Verbindung für Tobias etwas Außergewöhnliches war.
Lavinia fragte sich, ob die eigenartigen Gefühle, die sie immer hatte, wenn Tobias in ihrer Nähe war, etwas mit ihren Nerven zu tun hatten. Das wäre gar nicht überraschend, überlegte sie, wenn man bedachte, unter welcher Anspannung sie in letzter Zeit gestanden hatte.
Irritiert durch diese Möglichkeit, zerknitterte sie heftig die Serviette in ihrem Schoß und warf ihm einen bösen Blick zu. »Was tun Sie hier so früh, Mr March?«
Bei dieser unfreundlichen Begrüßung zog er die Augenbrauen hoch. »Ich wünsche dir auch einen schönen Tag, Lavinia.«
Emeline verzog das Gesicht. »Achten Sie nicht auf sie, Mr March. Meine Tante hat in der letzten Nacht nicht gut geschlafen. Setzen Sie sich doch. Möchten Sie etwas Kaffee?«
»Danke, Miss Emeline. Eine Tasse Kaffee wäre sehr angenehm.«
Lavinia sah, wie vorsichtig er sich auf den leeren Stuhl setzte. Sie verzog das Gesicht. »Haben Sie Ihr Bein gezerrt, Sir?«
»Ich habe mich in der letzten Nacht ein wenig zu sehr angestrengt.« Er lächelte Emeline an und nahm die Tasse in Empfang, die sie für ihn gefüllt hatte. »Kein Grund, sich Sorgen zu machen.«
»Ich habe mir keine Sorgen gemacht«, versicherte ihm Lavinia hochmütig. »Ich war nur neugierig. Was du mit deinem Bein tust, ist ganz allein deine Sache.«
Er warf ihr einen belustigten Blick zu. »Dieser Bemerkung kann ich nur vollkommen zustimmen, Madam.«
Ganz plötzlich blitzte die Erinnerung daran, wie er in der Nacht in der Kutsche seine Beine zwischen ihre geschoben hatte, wieder in ihrer Erinnerung auf. Ihre Blicke trafen sich über den Tisch hinweg, und mit entsetzlicher Deutlichkeit war ihr bewusst, dass auch er an diesen leidenschaftlichen Zwischenfall gedacht hatte.
Sie fürchtete, dass sie vor Verlegenheit rot anlief, deshalb nahm sie schnell noch eine Gabel voll mit Eiern.
Emeline, die von den unterschwelligen Gefühlen nichts bemerkte, lächelte Tobias anmutig an. »Haben Sie gestern Abend getanzt, Sir?«
»Nein«, entgegnete Tobias. »Mein Bein nimmt es mir übel, wenn ich tanze. Ich habe mich anderen Übungen gewidmet.«
Lavinias Finger schlössen sich fester um die Gabel, bis ihre Knöchel weiß hervortraten, und sie fragte sich, ob Tobias wohl gestern Abend bei einer anderen Frau gewesen war.
»Ich habe heute sehr viel zu tun«, erklärte sie brüsk. »Vielleicht würdest du so freundlich sein, uns zu erklären, warum du uns zu einer so frühen Stunde besuchst.«
»Um es genau zu sagen, auch ich habe Pläne für den heutigen Tag. Vielleicht sollten wir uns absprechen.«
»Ich habe die Absicht, mit Mrs. Vaughn zu sprechen und sie zu bitten, mir ihre Meinung über die Wachsarbeiten in den oberen Ausstellungsräumen von Mr Huggett zu sagen«, erklärte Lavinia.
»In der Tat.« Tobias schenkte ihr ein höflich fragendes Lächeln. »Und wie hast du dir gedacht, sie in diesen Raum zu schmuggeln, falls sie zustimmen sollte, sich die Figuren anzusehen? Willst du sie als Putzfrau verkleiden?«
Sein herablassendes Benehmen machte sie wütend. »Nein, ich habe mir eine andere Art einfallen lassen, sie in den Ausstellungsraum zu bekommen. Ich glaube, es wird möglich sein, den jungen Mann, der die Eintrittskarten verkauft, zu bestechen.«
»Du meinst das wirklich ernst, nicht wahr?«
Er hatte die Kaffeetasse klirrend auf die Untertasse zurückgestellt. »Verdammt, Lavinia, du weißt sehr gut, dass ich nicht will, dass du allein in diese Ausstellung gehst.«
»Ich werde nicht allein sein. Mrs. Vaughn wird mich begleiten.« Sie hielt inne. »Du bist natürlich auch eingeladen, mit uns zu kommen, wenn du das möchtest.«
»Danke«, erklärte er spöttisch. »Ich nehme gern an.«
Es gab ein kurzes Schweigen. Tobias streckte die Hand aus und nahm sich eine Scheibe Toast; Lavinia sah, wie seine Zähne weiß aufblitzten, als er hineinbiss.
»Du hast mir noch nicht gesagt, warum du heute Morgen hierher gekommen bist«, rief sie ihm ins Gedächtnis.
Er kaute nachdenklich. »Ich bin gekommen, um zu fragen, ob du mich begleiten möchtest, während ich Nachforschungen anstelle über eine Frau mit Namen Sally Johnson.«
»Wer ist Sally Johnson?«
»Nevilles letzte Geliebte. Sie ist vorgestern spurlos verschwunden.«
»Das verstehe ich nicht.« Doch er hatte ihre Aufmerksamkeit geweckt. »Glaubst du, dass es einen Zusammenhang mit unseren Nachforschungen gibt?«
»Das kann ich noch nicht sagen.« Tobias' Blick wurde vorsichtig. »Doch ich habe das böse Gefühl, dass es eine Verbindung geben könnte.«
»Ich verstehe.« Lavinia wurde ein wenig freundlicher. »Es war gut, dass du heute Morgen hergekommen bist, um mich über deine Pläne zu informieren und mich zu bitten, mit dir zu kommen.«
»Du meinst wohl, ganz im Gegensatz zu der Heimlichkeit, mit der du gestern deine Nachforschungen bei Huggett betrieben hast?« Tobias nickte. »In der Tat. Aber vielleicht nehme ich mir ja auch unsere Übereinkunft, als Partner zu arbeiten, viel mehr zu Herzen als du.«
»Das ist sehr unwahrscheinlich.« Sie klopfte mit der Gabel auf ihren Teller. »Was ist eigentlich los, Tobias? Warum bittest du mich, heute mit dir zu kommen?«
Er aß noch einen Bissen Toast, dann sah er sie eindringlich an. »Der Grund dafür ist der, wenn ich das Glück habe, Sally zu finden, möchte ich mit ihr reden. Ich gehe davon aus, dass sie viel eher mit einer Frau reden möchte als mit einem Mann.«
»Ich habe es doch gewusst.« Lavinia verspürte Zufriedenheit. »Du bist heute Morgen nicht hierhergekommen, weil du als Partner mit mir arbeiten willst, sondern weil du meine Hilfe brauchst, um deine eigenen Nachforschungen anzustellen. Was erwartest du von mir? Soll ich Sally in Hypnose versetzen und sie dazu bringen, frei zu sprechen?«
»Musst du meine Motive denn immer in Frage stellen?«
»Wenn es um dich geht, Sir, ist es mir lieber, wenn ich mit Vorsicht vorgehe.«
Er lächelte schwach, und seine Augen blitzten. »Nicht immer, Lavinia. Ich weiß, dass du bis jetzt ein oder zwei Ausnahmen von der Regel gemacht hast.«