6

Hester fühlte sich befangen, als sie am nächsten Vormittag um zehn Uhr auf den Stufen von Lord Cardews Haus im Cheyne Walk stand. Es war ein sonniger, windiger Tag, und der mit der Flut ansteigende Fluss war aufgewühlt. Vergnügungsboote tanzten auf und ab, die Leute hielten ihre Hüte fest, Bänder flatterten. Die rostroten Segel einer Barge blähten sich, ihr Rumpf neigte sich zur Seite.

Hester hatte schon oft die Nachricht vom Tode eines Menschen überbracht, ebenso von Verstümmelungen, Verbrennungen und Entstellungen. Eine einfache Art, mit Kummer umzugehen, gab es nicht; und nichts zu sagen, das änderte auch nichts daran. Wenn die Wunden mit der Zeit heilten, geschah das nur von innen.

Es war schwierig, mit jemandem zu sprechen, dessen einziges lebendes Kind eines abscheulichen Verbrechens wie diesem Mord beschuldigt wurde. Wenn Rupert einen Gegner in einem erbitterten Kampf oder kaltblütig aus Rache getötet hätte, wäre das schon schlimm genug gewesen. Aber mit einem so fürchterlichen Mann wie Mickey Parfitt in Verbindung gebracht zu werden, ihn gekannt und seine Dienste genutzt zu haben, ohne ein Wort darüber zu verlieren, hinterließ einen Schandfleck, der sich nie tilgen lassen würde.

Und doch hielt sie es für eine nicht hinnehmbare Grausamkeit, den Kummer des Vaters zu ignorieren, als wäre er ohne Bedeutung und eine Peinlichkeit, der man besser aus dem Weg ging.

Ein Butler öffnete die Tür. Seine Miene war verschlossen, auch wenn sein Blick die Bürde, die auf dem Haus lastete, bereits ahnen ließ.

»Guten Morgen, Madam. Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Guten Morgen.« Sie zeigte ihm ihre Karte. »Mr Rupert Cardew war immer außerordentlich großzügig zu mir und der Klinik für die Armen, die ich leite. Nun scheint es ein angemessener Anlass zu sein, Lord Cardew jeden Dienst anzubieten, den ich für ihn leisten kann.« Sie schenkte ihm ein knappes Lächeln, das genügen musste, um ihren guten Willen zu zeigen.

Der Butler entspannte sich. »Gewiss, Madam. Wenn Sie eintreten möchten, werde ich seine Lordschaft unverzüglich über Ihre Anwesenheit informieren.«

Hester legte ihre Karte auf das kleine silberne Tablett neben der Tür, dann folgte sie dem Butler durch die Vorhalle mit dem geschnitzten Kaminsims und dem meisterlich gefertigten Stuck an Decke und Fries. Im Frühstückszimmer, wo bereits eingeschürt worden war, forderte er sie auf zu warten. Hester betrachtete die ausgebleichten Teppiche und mit Meeresmotiven tapezierten Wände, die zahlreichen Bücherschränke, die mit Goldbuchstaben in allen passenden und unpassenden Größen beschrifteten Buchrücken. Sie erkannte auf den ersten Blick, dass diese Werke gekauft worden waren, um sie zu lesen, und nicht, um damit zu protzen.

Der Butler entschuldigte sich und schloss die Tür. Unter anderen Umständen hätte Hester sich die Titel der Bücher genauer angeschaut; es war immer interessant zu wissen, was andere Leute lasen, doch heute konnte sie sich nicht darauf konzentrieren. Obwohl völlige Stille herrschte, bildete sie sich ein, in der Vorhalle Schritte zu hören. Angestrengt suchte sie nach Formulierungen, die nicht nach einer oberflächlichen Person klangen, die keinen Begriff von Schmerz und Tragödie hatte.

Sie wanderte vom Bücherschrank zurück zum Fenster und starrte gedankenverloren in den Garten hinaus, als unvermittelt die Tür geöffnet wurde. Sie fuhr erschrocken herum.

»Bitte verzeihen Sie, dass ich Sie habe warten lassen, Mrs Monk«, sagte Lord Cardew leise und schloss die Tür hinter sich.

»Es ist sehr freundlich von Ihnen, dass Sie mich überhaupt empfangen«, antwortete sie. »Es hätte mich nicht überrascht, wenn Sie das abgelehnt hätten. Vor allem, da ich seit meiner Ankunft hier kaum noch weiß, was ich Sinnvolles sagen soll; außer dass ich, wenn ich irgendwie hilfreich sein könnte, das gerne wäre.«

Cardew wirkte erschöpft. Seine Haut erinnerte an Papier, als wäre all sein Blut ausgetrocknet und sein Fleisch tot. Aber was Hester am schmerzlichsten berührte, war die Leere in seinen Augen. Sie hatten etwas Gestaltloses, Panisches an sich, eine Verzweiflung, die zu mächtig war, als dass er damit fertig werden konnte.

»Danke für Ihr Angebot, aber ich weiß nicht, was andere da tun könnten«, antwortete er. »Doch Ihre Freundlichkeit ist ein kleines Licht in einer endlosen Dunkelheit.«

Er war ein schlanker Mann. Früher musste er die Eleganz und Geschmeidigkeit eines Offiziers besessen haben. In vielem erinnerte er sie an die Soldaten, die sie auf der Krim kennengelernt hatte. Doch der Krieg dort schien jetzt in eine andere Zeit zu gehören. Unwillkürlich musste sie beim Anblick Cardews an ihren Vater denken, was vielleicht nur daran lag, dass er unter der Last seines finanziellen Ruins auch älter ausgesehen hatte, als er war.

In einer Zeit, als ihr Vater sie am dringendsten gebraucht hätte, war sie nicht zu Hause gewesen. Er war allein gestorben, während sie in Sewastopol Fremde gepflegt hatte. Er hatte Leuten vertraut, bei denen Vertrauen überhaupt nicht angebracht war, sodass ihn ein Mann mit allem Anschein von Ehre um sein ganzes Hab und Gut betrogen hatte. Ihr Vater war nur eines von vielen Opfern dieses Mannes gewesen, doch als er die Schulden nicht mehr begleichen konnte, zerbrach er seelisch daran. Am Ende sah er nur noch einen einzigen möglichen Ausweg: sich selbst das Leben zu nehmen.

Auch das hatte Hester nicht verhindern können, weil sie nicht daheim gewesen war. Ebenso wenig hatte sie ihrer Mutter in deren Kummer beistehen können. Aber nie hatte ihr irgendjemand Vorwürfe gemacht. Nur sie selbst mit ihrem Wissen um ihre Abwesenheit in einer Zeit der Not hielt die Wunde offen.

»Wir können herausfinden, was tatsächlich geschehen ist«, versprach sie impulsiv. »So einfach, wie es aussieht, kann es nicht gewesen sein. Entweder war es jemand anderes, der Parfitt ermordet hat, und dann kann Rupert nicht wissen, wer es war, oder aber Rupert kennt ihn sehr wohl, schützt ihn jedoch, weil er das für das einzige Richtige hält. Möglich ist schließlich auch, dass Rupert tatächlich Parfitt umgebracht hat, und zwar aus einem Grund, der die Tat nur allzu verständlich erscheinen lassen würde.« Sie hielt inne, damit Cardew antworten konnte.

Ruperts Vater kämpfte mit einem Gefühl, das so schmerzhaft war, dass es sich auf seinem Gesicht abzeichnete. »Meine liebe Mrs Monk, bei all Ihrer Hilfe für die armen Frauen, die sich in ihrer Not an Sie wenden, können Sie keinen Begriff davon haben, in was für einer Welt Männer wie Parfitt hausen. Ich kann nicht verantworten, dass Sie in einen solchen Sumpf der Abscheulichkeiten stolpern, nicht einmal aus Zufall. Aber Ihre Liebenswürdigkeit berührt mich zutiefst. Ihre Anteilnahme ist …«

»Zwecklos«, unterbrach sie ihn sanft, »wenn Sie mir verwehren, die Hilfe zu leisten, zu der ich in der Lage bin. Ich bin Krankenschwester auf dem Schlachtfeld gewesen, Lord Cardew. Nach Balaclava bin ich zwischen den Toten und den Sterbenden hin und her gelaufen. Ich habe trotz der Ratten, der Hungersnot und der Seuchen im Krankenhaus von Sewastopol gearbeitet. Ich habe hier, in den Slums von London, in einem Fieberkrankenhaus Menschen gepflegt, und ich habe in einer Klinik eingeschlossen ausgeharrt, bis die Beulenpest vorbei war. Bitte sagen Sie mir nicht, was ich für einen Freund, der eindeutig in Not ist, tun kann und was nicht.«

Darauf fiel ihm keine Antwort ein. Hester war für ihn ein Paradebeispiel für all das Mitgefühl, das er an den Frauen idealisierte, doch zugleich durchbrach sie die einzige Struktur, mit der er vertraut war.

Sie nutzte die Gelegenheit, um weiterzureden. »Ich weiß zumindest ein wenig über das Bescheid, was auf diesen Booten getrieben wurde, Lord Cardew. Ich war dabei, als Jericho Phillips verhaftet wurde, entkam und dann ermordet wurde. Wenn Mickey Parfitt vom selben Schlage war, lässt sich vieles zur Verteidigung desjenigen vorbringen, der die Welt von einer Plage wie ihm befreit hat. Aber um Rupert vor Gericht zu verteidigen, müssen wir die ganze Wahrheit wissen. Sie haben vollkommen recht mit der Vermutung, dass die Schandtaten einer Kreatur wie Parfitt das Wissen und das Vorstellungsvermögen der für die Geschworenenbank ausgewählten Männer übersteigen.«

»Die Polizei wird doch sicher …«

»Es ist nicht ihre Aufgabe, mildernde Umstände ausfindig zu machen, sondern nur, Beweise zu liefern. Hat Rupert Ihnen Näheres geschildert? Ich könnte mir vorstellen, dass ihm nicht unbedingt danach war.«

»Es ist ein bisschen zu spät dafür, meine Gefühle zu schonen«, bemerkte Lord Cardew trocken, den Hauch eines Lächelns in den Augen. »Ich würde alles hergeben, was ich habe, könnte ich ihm nur glauben, aber …« Er wandte den Blick ab und richtete ihn dann erneut auf Hester. Langsam füllten sich seine Augen mit Tränen. »Aber seine früher getroffene Entscheidung macht das unmöglich. Es tut mir leid, Mrs Monk, aber ich sehe keine Möglichkeit, wie Sie helfen könnten. Es wäre mir lieber, Sie würden sich keinen Gefahren aussetzen, ob persönlich oder in Form der Seelenqualen, die solches Wissen bei Ihnen auslösen könnte. Die Dinge, die man sieht, kann man danach nicht mehr vergessen.«

Sie bedachte ihn mit einem winzigen Lächeln. »Ich werde nichts gegen meinen Willen tun, Lord Cardew. Danke, dass Sie so freundlich waren, mich zu empfangen.«

Tief in Gedanken versunken kehrte sie nach Hause zurück. Lord Cardews größter Wunsch war es, an Ruperts Unschuld zu glauben, doch das konnte er nicht.

Denn so wie Monk das verknotete Halstuch beschrieben hatte, handelte es sich nicht um ein aus Furcht oder Panik begangenes Verbrechen. Es dauert mehr als ein paar Sekunden, um in ein Seidenhalstuch ein halbes Dutzend feste Knoten zu knüpfen. Wer würde schon eine solche Waffe schaffen und dabei ein wertvolles Kleidungsstück ruinieren, wenn nicht mit dem Vorsatz, sie zu benutzen? Wer sich auf Notwehr berief, hätte nicht den Hauch einer Chance, sich gegen dieses Argument durchzusetzen, es sei denn, Rupert wäre irgendwo gefangen gehalten worden, ohne gefesselt oder beobachtet zu werden, und hätte reichlich Zeit gehabt, die Vorbereitungen für den Mord zu treffen.

Sie hatte sofort ihre Hilfe angeboten, weil sie von Rupert nur seine Freundlichkeit, seinen Witz und seine unaufdringliche Großzügigkeit in Erinnerung hatte. Aber wie gut kannte sie ihn wirklich? Alle möglichen Leute konnten sich charmant geben. Das erforderte Fantasie, Verständnis und die Fähigkeit, zu erkennen, worüber andere sich freuten, und vielleicht eine Prise Humor sowie Geistesgegenwart. Nicht zwingend erforderlich waren Ehrlichkeit oder der Wille, die Interessen anderer den eigenen voranzustellen. Während sie jetzt im Rückblick das Bild von Rupert Cardew wieder vor sich auferstehen ließ, fiel ihr ein, dass er eine gewisse Nervosität an sich gehabt hatte. Immer wieder war er plötzlich ihren Blicken ausgewichen, was sie damals als Zeichen von Verlegenheit angesichts der ungewohnten Umgebung einer Klinik gewertet hatte. Aber vielleicht hatte es an der Scham über sein eigenes Tun gelegen, das hässlicher gewesen war als alles, was diese Frauen erlitten hatten.

Ihre Gedanken wanderten in eine neue Richtung. Zu den Dingen, die sie Lord Cardew nicht sagen konnte, gehörte der Umstand, dass sie ihre eigenen Gründe hatte, warum sie wissen musste, was genau mit Mickey Parfitt geschehen war. Wenn der Täter so wie Rupert zu seinen Opfern gehört hatte, dann war die Sache für ihn mit dem Mord abgeschlossen. Handelte es sich jedoch um einen Rivalen oder womöglich um den Mann, der ihm den Kauf des Bootes finanziert hatte, würde es einen kurzen Aufschub geben, bis der Mord an Parfitt geklärt war und die Aufregung darum sich gelegt hatte, ehe das ganze schmutzige Geschäft wieder von vorn begann. Der einzige Unterschied wäre, dass es dann andere Männer hinter den Kulissen betreiben würden und das Boot vermutlich den Standort gewechselt hätte. Aber um Scuffs willen musste sie die Gewissheit haben, dass es vorbei war. Die Alpträume würden erst dann aufhören, wenn der Junge auch die Leichen derer gesehen hatte, die hinter Leuten wie Jericho Phillips oder Mickey Parfitt standen.

Und wie kam hier Rupert Cardew ins Spiel? Wusste er mehr, oder war er nur eines von vielen Opfern, wenn auch eines, das zurückgeschlagen hatte und dafür sterben sollte?

Als sie zu Hause ankam, saß Scuff in der Küche und verzehrte eine dicke Scheibe Brot mit Butter und einem Berg von Marmelade darauf. Sobald er sie bemerkte, hörte er auf zu kauen, was nichts daran änderte, dass sein Mund voll war und er das Brot mit beiden Händen hielt.

Hester versuchte, ein Lächeln zu verbergen. Endlich fühlte sich der Junge heimisch genug, um sich etwas zu essen zu nehmen, wenn ihm danach war. Sie würde allerdings darauf achten müssen, dass sein Appetit sich auf Brot beschränkte und nicht auf anderes ausweitete – wie zum Beispiel den kalten Braten, den sie für das heutige Abendbrot beiseitegestellt hatte.

»Gute Idee«, sagte sie beiläufig. »Ich nehme mir auch eine Scheibe. Möchtest du eine Tasse Tee dazu? Ich nämlich schon.« Sie ging an ihm vorbei zum Herd, füllte den Kessel und stellte ihn aufs Feuer.

Er schluckte deutlich vernehmbar.

»Jaaa«, meinte er lässig. »Soll ich die Scheibe für Sie runterschneiden?«

»Gern. Aber ich nehme ein bisschen weniger Marmelade, wenn es dir nichts ausmacht.« Sie wandte sich ihm nicht zu, um ihn bei der Arbeit zu beobachten, sondern konzentrierte sich darauf, den Tee zuzubereiten.

»Wo waren Sie denn?«, erkundigte er sich, um einen sorglosen Ton bemüht. Sie hörte, wie er mit dem Messer an der Brotkruste sägte.

Dass er gerade in Gedanken bei Mickey Parfitt war, wusste sie bereits. Monk hatte ihm die wichtigsten Bruchstücke der Wahrheit gesagt; die Details waren nicht so wichtig.

»Bei Lord Cardew«, antwortete sie und stellte die blauweiße Teekanne zum Wärmen an den Rand der Herdplatte. »Ich fürchte, meine Gefühle sind mit mir durchgegangen, und ich habe ihm meine Hilfe dabei angeboten, etwas für Rupert zu tun.« Sie drehte sich zu Scuff um, denn sie musste wissen, was diese Nachricht in ihm auslöste. Sie sah, wie Angst über sein Gesicht zuckte. Hatte er Angst um sie, Angst davor, die neue, wertvolle Sicherheit wieder zu verlieren?

»Wie können wir ihm denn schon helfen, wenn er es war, der Mickey Parfitt abgemurkst hat?« Seine Augen bohrten sich in die ihren. »Sie werden ihn hängen. Denen is’ doch egal, dass Parfitt gleich nach seiner Geburt ersäuft gehört hätte.«

»Nun, es gibt sicher viele Menschen, die froh über Parfitts Tod waren«, begann Hester. »Es ist also möglich, dass es gar nicht Rupert war, der ihn umgebracht hat. Aber selbst wenn er es am Ende doch getan hat, könnte es Umstände geben, die dafür gesorgt haben, dass es kein kaltblütiger Mord war.«

»Was für welche?« Scuff balancierte den Brotlaib in den Händen, bereit, eine Scheibe herunterzuschneiden, sobald er sich darauf konzentrieren konnte.

»Ich bin mir nicht ganz sicher«, gab Hester zu. »Notwehr könnte ein Grund sein. Und manchmal geschieht so etwas aus Zufall. Vielleicht ist es sogar ein richtiger Unfall, weil man nicht genügend aufgepasst hatte, aber nicht wollte, dass jemand stirbt.«

Er wandte die Augen nicht von ihr. Nervös biss er sich auf die Lippe. »Dann hätte es wirklich ein dummer Unfall sein können, bei dem er ihn irgendwie umgebracht hat?«

»Nein«, räumte sie ein, »das glaube ich nicht. Sein Vater hat gesagt, dass er die Tat abgestritten hat. Und viele Leute haben Parfitt gehasst wie die Pest.«

»Glauben Sie ihm also?«

»Ich weiß es nicht. Sein Vater hat mir erzählt, dass er früher ziemlich üble Sachen angestellt hat, aber nichts, das so schlimm war wie Mord. Ich muss mehr über ihn in Erfahrung bringen, Dinge, von denen sein Vater vielleicht nichts weiß, weil er sich zu sehr schämte, um darüber zu reden. Ich werde in den nächsten Tagen wohl öfter und länger unterwegs sein.«

»Wen werden Sie alles fragen? Andere feine Pinkel? Werden seine Freunde Ihnen so was erzählen? Ich täte keinen Freund verpetzen, schon gar nich’ an die Frau von ’nem Greifer.« Er merkte, dass er sich in der Wortwahl vergriffen hatte. »Aber wahrscheinlich binden Sie denen ja nich’ auf die Nase, wer Sie sind.«

Lächelnd nahm sie den dampfenden Wasserkessel vom Herd und gab die Teeblätter in die angewärmte Kanne. »Natürlich nicht. Als Erstes werde ich in die Klinik gehen und den Frauen, die wir gerade im Haus haben, ein paar Fragen stellen. Dort habe ich wenigstens so etwas wie einen Vorteil. Und morgen werde ich dann mein Einsatzgebiet erweitern.«

Er nickte. »Sie glauben also, dass es eine gute Tat war, dass er Mickey Parfitt abgemurkst hat?«

»So weit würde ich nicht gehen«, erwiderte sie vorsichtig. »Aber durch und durch schlecht war sie nicht.«

»Sie ham recht.« Er nickte erneut, heftiger diesmal. »Wir müssen uns da einmischen. Machen Sie jetzt den Tee. Der Kessel verdampft ja schon. Und ich hab Marmelade für Sie.«

In der Klinik eingetroffen begann Hester, mit Squeaky Robinson die Buchführung durchzusprechen.

»Uns geht’s gut«, erklärte er sichtlich zufrieden und deutete auf die Ziffer unter dem Summenstrich, bei der nicht einmal ein Griesgram wie er lamentieren konnte. »Und wir brauchen nich’ mehr so viel«, fügte er ergänzend hinzu. »Nur ein paar Teller als Ersatz für die zerbrochenen. Wir haben genügend Bettwäsche, sogar Nachthemden als Reserve, Handtücher. Medikamente sind auch ausreichend da: Quinin, Laudanum, Brandy. Alles.«

Hester wich seinem Blick aus. »Ich weiß. Das ist großartig.«

»Was wollen Sie jetzt also unternehmen?«, erkundigte er sich.

Im ersten Moment wollte sie so tun, als hätte sie nicht verstanden, was er mit seiner Frage meinte. »Es weise verwenden«, sagte sie ausweichend.

»Unbedingt!«, stimmte er ihr zu. »Jetzt wird ja so bald nix mehr reinkommen. So wie’s aussieht, werden sie den armen Kerl aufknüpfen. Es sei denn natürlich, jemand unternimmt da was.«

»Was schwebt Ihnen denn so vor, Squeaky?« Kaum hatte sie das gefragt, bereute sie es auch schon. Was immer dieser Mann im Sinn haben mochte, es war sicher illegal. Er war der Eigentümer der Gebäude der heutigen Klinik gewesen, die er als Bordell betrieben hatte, bis Oliver Rathbone sie ihm auf raffinierte, aber rechtlich völlig einwandfreie Weise abgeluchst hatte. Sie hatten ihm dann angeboten, auf dem Gelände weiter Kost und Logis zu erhalten, sofern er das Freudenhaus in eine Klinik für kranke und verletzte Straßenmädchen umwidmete und deren Buchführung übernahm. Vor Empörung bebend und in Selbstmitleid zerfließend hatte sich Squeaky am Ende einverstanden erklärt. Und auch wenn er es nie zugegeben hätte, war er jetzt durchaus stolz auf seinen neuen Status. Zwar hielt er sich nicht immer an die Gesetze, doch er handelte eindeutig mildtätig.

Die Verbindung zur kriminellen Unterwelt hatte er dabei jedoch keineswegs verloren und war im Kern seines Wesens ganz der Alte geblieben; geändert hatte sich nur sein Zugehörigkeitsgefühl. Dass die Mitarbeiterinnen der Klinik auf ihn bauen konnten, hatte sich gezeigt, als Claudine Burroughs sich auf eine abenteuerliche Verbrecherjagd begeben hatte und nicht mehr zurückgekehrt war. Irgendwann hatte sie einen Mann, den sie für Arthur Ballinger hielt, vor einem Laden gesehen, der pornografische Erzeugnisse verkaufte. Er hatte sich eine Fotografie angeschaut, die derart oszön war, dass sie vor Entsetzen in das tiefe Gassengeflecht in der Nähe des Themse-Ufers geflohen und dort bis zur Erschöpfung herumgeirrt war. Nur dank Squeakys Hartnäckigkeit war sie gefunden worden.

Bis dahin war er noch nie ein Held gewesen. Jetzt genoss er das in vollen Zügen.

»Und?«, drängte Hester.

Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. »Glauben Sie, dass ihm das jemand angehängt hat?«

»Ich weiß es nicht«, gab sie offen zu. »Jedenfalls gibt es mehr als genug Leute, die sich Parfitts Tod gewünscht haben könnten.«

»Genau«, brummte Squeaky. »Das Komische is’ nur: Wie kommt es, dass er das nich’ wusste? Wie blöd muss einer sein, dass er allein auf dem Deck von ’nem Boot steht und einen Mann an Bord klettern lässt, von dem er weiß, dass der ihn hasst? Mir würde das nich’ passieren! Und glauben Sie mir, wer ein hübsches, kleines Geschäft auf dem Fleischmarkt hat, weiß, wer seine Rivalen sind. Man is’ gewappnet. Man umgibt sich mit Leuten, bei denen man sich drauf verlassen kann, dass sie einem den Rücken freihalten.« Er beobachtete ihre Reaktion.

»Stimmt, das wird man wohl. Demnach wurde er also vermutlich von jemandem angegriffen, den er für ungefährlich hielt.«

»Genau. Zum Beispiel einer, der gekommen war, um ihm Geld für irgendeinen Dienst zu geben, von dem er über kurz oder lang mehr haben wollte. Aber man beißt doch nich’ in die Hand, die einen füttert.«

Langsam ließ Hester alle Luft entweichen. »Es sei denn, man kann seinen Jähzorn nicht beherrschen und denkt nicht weit voraus … und ist es außerdem gewöhnt, dass andere den Dreck wegräumen, den man hinterlässt, und hat es nie nötig gehabt, für irgendetwas geradezustehen. Ich denke, ich sollte noch sehr viel mehr über Rupert Cardew herausfinden, wenn das möglich ist.«

Squeaky nickte. »Und ihm helfen. Ich hab nix dagegen, mit Frauen Geschäfte zu machen, die sowieso in dem Gewerbe sein wollen, aber bei Kindern is’ das was ganz anderes. Und Erpressung is’ schlecht fürs Geschäft. Ich sag immer: Ein ordentlicher Preis muss sein, und wenn er bezahlt is’, sind wir quitt.«

Sie bedachte ihn mit einem müden Blick.

»Gerecht is’ gerecht«, meinte er schulterzuckend. »Sie haben Ihre Gründe, Mr Cardew zu retten. Ich sag, er muss gerettet werden, weil es sowieso höchste Zeit war, dass Mickey Parfitt um die Ecke gebracht wurde. Der Kerl hat das Geschäft in Verruf gebracht, und außerdem war Mr Cardew sehr großzügig zu uns. Wir könnten uns glatt daran gewöhnen, so weiterzuleben. Er tut viel Gutes für diejenigen, die sonst keinen haben, der ihnen hilft.«

»Sehr fromm, Squeaky!«, kommentierte Hester.

»Danke«, sagte er liebenswürdig. Es war in der Tat ein aufrichtiges Kompliment gewesen, keine sarkastische Bemerkung. Andererseits verriet ein schalkhaftes Glitzern in seinen Augen, dass er die Doppelbödigkeit des Lobes sehr wohl verstanden hatte.

Ein kurzes Klopfen ließ sie aufhorchen. Ehe Hester »Herein!« rufen konnte, ging die Tür bereits auf, und Margaret Rathbone trat ein. Sie trug eine sehr elegante grüne Kombination, doch ihrem Gesicht fehlte fast alle Farbe, und ihre Augen blickten kalt.

»Guten Morgen, Hester. Störe ich?«

»Überhaupt nicht. Ich war gerade am Gehen.« Hester fühlte sich peinlich berührt, als würde sie Margaret hintergehen, wenn sie beabsichtigte, Rupert Cardew zu helfen. Warum eigentlich? Das hatte doch überhaupt nichts mit Margarets Vater zu tun, außer dass sie im Hinterkopf immer noch der Gedanke beschäftigte, er könne tatsächlich ein Interesse an dem Boot haben.

»Ich würde im Moment nicht in Erwägung ziehen, mehr neues Geschirr zu kaufen als unbedingt nötig«, sagte Margaret unaufgefordert. »Ich fürchte, unsere Geldquelle hat über Nacht aufgehört zu sprudeln.« Ihr Gesicht zeigte einen Ausdruck, den man für Mitleid hätte halten können, doch Hester spürte, dass es purer Abscheu war.

»Ich bin mir dessen bewusst«, erwiderte Hester so emotionslos, wie ihr das möglich war. Gleichwohl enthielt ihre Stimme immer noch einen Unterton von Schroffheit. »Aber bisher ist das ja nur eine Beschuldigung, die erst noch bewiesen werden muss.«

Margarets Augenbrauen hoben sich. »Sie glauben doch sicher nicht, dass Mr Monk sich getäuscht hat?« Auch sie gab sich Mühe, sich die Ironie nicht anmerken zu lassen, und wie Hester gelang ihr das nicht ganz.

»Ich glaube nicht, dass er sich geirrt hat«, entgegnete Hester. »Aber wie er bin ich mir dessen bewusst, dass ein Irrtum nie ganz ausgeschlossen werden kann. Indizien können auf mehr als nur eine Weise interpretiert werden. Neue Fakten kommen ans Tageslicht. Bisweilen erweist sich das, was Menschen sagen, als unwahr.«

Margaret reagierte mit einem verkniffenen Lächeln. »Es tut mir leid, Hester, aber Sie machen sich Illusionen. Soviel ich weiß, haben Sie Rupert als charmant empfunden, aber leider ist er ein durch und durch verderbter junger Mann. Wenn Sie ihn als das sehen könnten, was er wirklich ist, kann ich mir nicht vorstellen, dass Sie dann noch Mitleid mit ihm hätten. Das ist viel eher bei seinen Opfern angebracht.«

»Wie bei Mickey Parfitt?«, blaffte Hester. »Da kann ich Ihnen nicht zustimmen.« Sie wandte sich kurz an Squeaky Robinson. »Was unsere Geldmittel betrifft, hat Lady Rathbone allerdings völlig recht. Bis auf Weiteres werden wir nur das Nötigste ausgeben, und auch das nur mit der erforderlichen Umsicht.« Sie rauschte an Margaret vorbei zur Tür, ohne sich danach zu erkundigen, ob Margaret mit ihr oder mit Squeaky hatte sprechen wollen. Gleichzeitig verübelte sie sich ihren Zorn und ihre Unfähigkeit, ihn zu zügeln.

Nachdem sie in der Küche eine Tasse Tee getrunken hatte, ging sie wieder nach oben und trat gleich in das erste Zimmer. Dort fand sie Phoebe Weller, eine Frau, etwa dreißig Jahre alt, mit wunderschönem kastanienbraunen Haar, einem üppigen Körper und von Pockennarben entstelltem Gesicht.

»Wie geht es Ihnen, Phoebe?«, fragte sie in einem lockeren Konversationston.

Die Angesprochene lag mit halb geschlossenen Augen auf ihrem Bett, ein winziges Lächeln auf dem Gesicht. Sie befand sich keineswegs im Koma, wie man bei einem oberflächlichen Blick hätte meinen können, sondern noch im Halbschlaf und träumte vielleicht gerade davon, in Zukunft immer allein schlafen zu können, in einem sauberen Bett, und nicht mehr gezwungen zu sein, schwere oder sogar gefährliche Dinge zu tun, um sich die nächste Tasse heißen Tee oder die nächste Scheibe Brot mit Marmelade zu sichern.

Sie wachte auf, als sie Hester ihren Namen sprechen hörte. »Oh … ich glaub nich’, dass ich schon wieder ganz gesund bin«, flüsterte sie.

Hester verbarg ein Grinsen. »Wahrscheinlich nicht. Würde eine Tasse Tee vielleicht helfen?«

Phoebe öffnete die Augen und setzte sich auf, ohne auf das geprellte Bein, die gerissenen Bänder am Knöchel und die dick verbundene Wunde in ihrem Schenkel zu achten. »Sie ham ja so recht, die würde mir ganz bestimmt helfen.«

Hester reichte ihr die Tasse, die Phoebe sogleich mit beiden Händen umfasste.

Hester ließ sich auf dem Stuhl neben dem Bett nieder und strich sich ihre grauen Kleider glatt, als beabsichtigte sie, länger zu bleiben.

»Mit mir geht es schon aufwärts!«, rief Phoebe einigermaßen beunruhigt.

»Ganz bestimmt«, versicherte ihr Hester liebenswürdig. »Sie haben doch an zwei, drei verschiedenen Orten gearbeitet, nicht wahr …?«

»J-jaaa«, lautete die zögernde Antwort.

»In einigen der vornehmen Gebiete?«

»J-jaaa …«

»Haben Sie da je etwas über Rupert Cardew gehört, den Sohn von Lord Cardew?«

Phoebe starrte sie an.

»Nur eine freundliche Warnung«, fuhr Hester fort. »Mir ist egal, ob die Wahrheit gut oder schlecht ist, aber wenn Sie mich anlügen und ich Sie dabei ertappe, sitzen Sie auf der Straße, und dann strecke ich Ihnen keine helfende Hand entgegen, wenn Sie von einer Kutsche überrollt werden. Verstehen Sie mich? Ich brauche die Wahrheit, die volle Wahrheit.«

Phoebe überlegte. Ihr war deutlich anzumerken, dass sie das Für und Wider gegeneinander abwog.

Hester wartete.

»Was woll’n Sie denn wissen?«, fragte Phoebe schließlich.

»Kennen Sie Mädchen, die mit ihm geschlafen haben … für Geld?«

»Natürlich für Geld«, sagte Phoebe geduldig. »Is’ schließlich egal, ob er gut aussieht wie der Teufel persönlich und nett is’ und einen zum Lachen bringt; ein Mädchen muss ja trotzdem essen, und dann is’ auch noch der Beschützer da, der auch seinen Anteil haben will.«

»Kennen Sie irgendwelche Mädchen, die mit Rupert Cardew geschlafen haben?«

»Jaaa! Ich hab’s Ihnen doch schon gesagt! Hab’s selber ein paar Mal gemacht.«

Hester unterdrückte ein Aufflackern von Widerwillen. Was hatte sie denn gedacht, was Rupert mit den Straßenmädchen getrieben hatte, wenn er sie so gut kannte und seine Fürsorge sogar so weit ging, dass er Leuten, die ihnen halfen, Geld spendete?

»Wie ist sein Charakter denn so?«, fragte sie laut.

»Himmel! Sagen Sie bloß, Sie haben vor …!«

»Nein, das habe ich nicht vor«, versicherte ihr Hester spitz. »Aber angenommen, es wäre meine Absicht?«

»Also doch!«

»Wenn ich es Ihnen doch sage! Andererseits … warum nicht?«

»Weil er lustig is’ und einen zum Lachen bringt, bis das Mieder platzt, und wenn’s ans Zahlen geht, isser alles andere als geizig. Aber dann kann er auch zornig werden wie ’ne Ratte, die in die Enge getrieben worden is’, o ja!«

»Hat er Sie etwa geprügelt?« Hester überlief es eiskalt, und plötzlich hatte sie ein flaues Gefühl im Magen.

Phoebe riss die Augen weit auf. »Mich? Nein! Aber den Joe Biggins hat er grün und blau geschlagen, weil er sich so über ihn geärgert hat. Und nich’ nur den. Verzogen, würde ich sagen. Is’ es nich’ gewöhnt, auch mal ’n Nein zu hören, und versteht dann gar keinen Spaß mehr. Ich hab gehört, dass er mal ’nen Zuhälter fast totgeschlagen hätte, weil der ihn blöd angeredet hat. Keine Ahnung, wegen was. Und ’nen anderen armen Scheißer, der ihm auf die Nerven gegangen war, hat er windelweich geprügelt. Hat ihm später ’ne Menge Geld gegeben, damit er die Klappe hält.«

»Warum? Wissen Sie das?«

Phoebe zuckte ihre blassen, glatten Schultern. »Nein. Hätte alles Mögliche sein können. Hab gehört, dass es ziemlich übel war. Der dumme Affe hätte dabei auch draufgehen können. Hat ihm die Arme und den Schädel gebrochen und das Gesicht zu Brei geschlagen. Ich hab’s Ihnen ja gesagt, hitzköpfig is’ der Mann, wie man sich das bei einem, der sich die meiste Zeit wie ein Gentleman benimmt, gar nich’ vorstellen kann. Behandelt dich immer, wie wenn du was wert wärst. Bitte hier und danke dort. Nimmt sich aber andrerseits nie weniger, als sein Geld wert is’! Gesund wie ein Pferd!« Sie zuckte mit den Schultern und grinste Hester an – von Frau zu Frau.

Hester nickte, darum bemüht, lediglich eine leicht interessierte Miene zur Schau zu stellen, nicht mehr. Einiges von dem, was sie zu hören bekam, hätte sie lieber nicht erfahren. Das alles war wirklich schrecklich peinlich. »Trinkt er viel?«

»Tüchtig. Aber ich hab schon Schlimmeres gesehen.«

»Kennen Sie andere Mädchen, mit denen er … zusammen war?«

»Gutes Dutzend. Worum geht es überhaupt? Was hat er getan?«

»Er wird beschuldigt, jemanden umgebracht zu haben.«

»Wenn das ’n Zuhälter war, dann ham sie wahrscheinlich den Richtigen erwischt. Wird wohl nie erwachsen, der Kerl. Was meinen Sie, was der alles kurz und klein schlägt, wenn ihn der Zorn packt! Wie ein Kind, das nie ordentlich verdroschen wurde, als das nötig gewesen wäre. Wenn ich mich so aufgeführt hätte wie er manchmal, hätte mir mein alter Herr den Hintern versohlt, dass ich ’ne Woche lang beim Essen nich’ mehr hätte sitzen können. Tut mir leid, Miss, aber Sie wollten die Wahrheit, und das is’ sie.«

»Er hat viele verschiedene Frauen … aufgesucht? Haben Sie eine Vorstellung, warum? Warum hielt er sich nicht immer an dieselben?«

»Langeweile, schätze ich. Ein paar von den feinen Herren langweilen sich recht schnell.«

»Hat er je eine Vorliebe für kleine Mädchen geäußert? Richtige Kinder?«

»Was?« Die Verblüffung stand Phoebe ins Gesicht geschrieben. »Nich’ dass ich wüsste. Glaub ich eher nich’. Der is’ eher auf was Älteres aus. Auf Erfahrung. Fuchsteufelswild, wie gesagt, aber er konnte auch sehr freundlich sein. Er hat einen nie übers Ohr gehauen, und ich weiß von keiner, der er Angst gemacht hätte. Und wir erzählen uns immer gegenseitig, vor wem man sich in Acht nehmen muss. Wir müssen uns ja umeinander kümmern.«

»Und Jungen?«

»Was meinen Sie mit ›Jungen‹? Himmel!« Das Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Wollen Sie etwa sagen, er hätte was mit Jungs? Hol mich der Teufel, der doch nich’! Das is’ gegen das Gesetz! Obwohl … wer’s auf so was abgesehen hat, lässt sich davon bestimmt nich’ abschrecken. Aber er doch nich’!«

»Sind Sie sicher?«

»Natürlich bin ich sicher! Himmelherrgott!«

Hester bedankte sich und befragte noch einige andere Patientinnen. Mit etlichen Namen bewaffnet suchte sie danach alle möglichen Straßenecken auf, wo sie frühere Patientinnen antraf, die ihren Namen und Ruf kannten und gerne bereit waren, mit ihr zu sprechen.

Die meisten hatten noch nie von Rupert gehört, aber diejenigen, denen er ein Begriff war, konnten Phoebes Erfahrungen bestätigen: lustig, ehrlich, manchmal freundlich, aber von zügellosem Jähzorn, für den er keine Verantwortung zu übernehmen schien. Sie trauten ihm unbedingt zu, dass er jemanden in der Raserei töten konnte, aber keine hatte auch nur das leiseste Gerücht gehört, er könnte an etwas anderem als an Frauen Geschmack finden: Er mochte sie lieber etwas gepolstert als dürr und ganz gewiss nicht kindlich. Er schätzte Gelächter, ein bisschen Esprit und auf jeden Fall gute Konversation. Alles Eigenschaften, die Hester widerstrebend in diesen Frauen wiedererkannte. Kurz, ihr blieb nichts anderes übrig, als ihnen zu glauben.

Müde, hungrig und mit wund gelaufenen Füßen kehrte sie spät am Abend heim. Sie hatte Unmengenen von neuen Informationen gesammelt, war sich aber nicht sicher, ob sie jetzt wirklich klüger war. Rupert hätte ohne Zweifel jemanden in einem Wutanfall töten können, ja, er hatte großes Glück gehabt, dass das noch nicht geschehen war. Doch je mehr sie über ihn erfuhr, desto unwahrscheinlicher erschien es ihr, dass er einen Grund gehabt haben sollte, Mickey Parfitt zu töten. Lord Cardew hatte seine Schulden beglichen. Immer wieder hatte er Rupert vor den Konsequenzen seiner Maßlosigkeit gerettet. Hätte er da nicht auch Mickey Parfitt ausgezahlt?

Oder hatte es einen Streit zwischen Rupert und Parfitt gegeben, der andere Gründe hatte als die Erpressung? Parfitt hatte seinen Unterhalt mit Pornografie und Erpressung bestritten; da hatte er doch bestimmt gewusst, wie stark er seine Opfer unter Druck setzen konnte, ehe er sie in die totale Verweiflung trieb. Und wäre er nach Jericho Phillips’ Tod nicht noch vorsichtiger gewesen und hätte im Zweifel eher zu Behutsamkeit statt zu Schonungslosigkeit geneigt? Schließlich verliert ein zum Mord oder in den Selbstmord getriebenes Erpressungsopfer seinen Nutzen.

Monk war beim späten Abendessen schweigsam und in seine eigenen Gedanken versunken. Er erwähnte nur kurz, dass seine Ermittlungen zu den Geschäften auf dem Boot immer noch in vollem Gang waren und er weitere Zeugen suchte. In Ormes Beisein hatte die Leiterin des Findlingsheims mit den Jungen vom Boot gesprochen, doch die waren zu verängstigt und verwirrt gewesen, um irgendetwas Brauchbares zu sagen, sodass die Erzieherin das Verhör sehr schnell beendet hatte. Sie verstand durchaus, was auf dem Spiel stand, aber ihre Fürsorge galt zuallererst den Kindern in ihrer Obhut und nicht irgendwelchen zukünftigen Opfern. Mit bleichem Gesicht und einem Kind in den Armen hatte sie Orme aufgefordert zu gehen.

Der Polizist hatte verstanden und das Haus schweigend, wenn auch zutiefst bekümmert, verlassen.

Auch Hester sagte kein Wort, als sie den Tisch abräumte. Scuff blickte verunsichert von einem zum anderen, stellte jedoch keine Fragen und ging früh zu Bett.

Am nächsten Morgen hatte Monk das Haus bereits verlassen, als Hester für sich und Scuff das Frühstück auftrug. Es gab Porridge, weil sie wusste, dass er das mochte, und weil es ihn außerdem bis zum Mittag sättigen würde.

»War er’s denn nun?«, fragte Scuff, als er seinen Teller geleert hatte und bereit war für Toast mit Marmelade und Tee. Mit ernster Miene blickte er Hester forschend in die Augen. Er versuchte, die ganze Angelegenheit zu verstehen und etwas zu finden, das ihn von seiner Angst befreite.

Hester hängte das gestreifte Geschirrtuch, mit dem sie die Teller abgetrocknet hatte, wieder an seinen Haken und kehrte zum Tisch zurück, wo sie sich eine Tasse Tee einschenkte.

»Ich bin mir nicht sicher«, gab sie aufrichtig zu. »Es ist wirklich sehr schwierig, sich Gewissheit darüber zu verschaffen, ob man alles richtig erkannt und bewertet hat. Und mir ist auch noch nicht klar, wie stark man die Tat und die Umstände gewichten wird, wenn er es wirklich war. Man kann ja nicht einfach hergehen und Menschen töten, weil sie böse sind. Aber manchmal verliert man auch leicht die Nerven und vergisst das. Ich denke, ich muss noch mehr in Erfahrung bringen.«

Scuff nickte bedächtig, als hätte er begriffen, doch seine besorgten Blicke verrieten Hester, dass das keineswegs der Fall war.

»Was macht Mr Monk jetzt? Warum is’ er denn so böse?« Scuff wurde leiser. »Hab ich was ausgefressen?«

»Nein«, sagte Hester, angestrengt darum bemüht, sich ihre Gefühle nicht anmerken zu lassen. »Wir alle sind aufgeregt, weil wir Rupert mögen und uns von Herzen wünschen, dass er es nicht getan hat. Aber wir werden den Verdacht einfach nicht los, dass er es vielleicht doch war.«

»Oh.« Seine Miene hellte sich etwas auf. »Würden Sie ihn immer noch mögen, wenn sich rausstellt, dass Ihr Verdacht richtig war und er wirklich der Mörder is’?«

»Natürlich. Man hört doch nicht auf, Menschen zu mögen, nur weil sie Fehler machen. Aber das würde ihn nicht vor dem Gericht bewahren.«

»Hängen sie ihn dann auf?«

»Wahrscheinlich.« Bei der bloßen Vorstellung schnürte sich Hester die Kehle zu, und Tränen traten ihr in die Augen. Sie bemühte sich, das Bild aus ihrem Kopf zu verbannen – ohne Erfolg.

Scuff atmete tief durch. »Dann sollten wir besser was tun, oder?«, sagte er, die Augen fest auf ihr Gesicht gerichtet.

»Ja. Und ich beabsichtige, gleich heute Morgen damit anzufangen.«

Sofort stopfte er sich den Rest seines Toastbrots in den Mund und stand auf.

Hester setzte schon zu einer Mahnung an, dass das gefährlich sei und er daheimbleiben solle und er außerdem nichts ausrichten würde, doch im selben Moment wurde ihr klar, dass ihre Vorbehalte nicht zutrafen. So trank sie einen letzten Schluck Tee und stand ebenfalls auf. Richtig, Scuff musste dabei sein.

Was es über Rupert zu erfahren gab, wusste Hester bereits, und nichts davon hatte sie weitergebracht. Jetzt galt es, mehr über Mickey Parfitt herauszufinden, über seine Geschäfte ganz allgemein und seine Rolle dabei im Besonderen. Instinktiv hatte sie Scuff vor all den Einzelheiten eines solchen Gewerbes schützen wollen, doch nun gestand sie sich kleinlaut ein, dass er wohl besser darüber Bescheid wusste als sie. Die Frage war nur, ob die Erinnerung daran seine Alpträume verschlimmern würde. Oder würde er niemals darüber hinwegkommen, wenn er immer wegschaute? Würden die Schreckensbilder dann nur noch schlimmer werden?

»Wo wollen wir anfangen?«, fragte Scuff, der schon die Tür erreicht hatte.

»Das ist ja das Problem«, gab Hester zu. »Es gibt hier so viele Unklarheiten und zu wenig, was sicher ist. Es könnte von Nutzen sein, mit Ruperts Freunden zu sprechen, aber ich bezweifle, dass sie mir etwas sagen würden, wenn dabei unangenehme Wahrheiten über sie ans Licht kämen, und genau das würde bei den meisten von ihnen passieren.«

Scuffs Züge verzerrten sich vor Abscheu.

»Wir können es allerdings mit anderen Prostituierten versuchen«, schlug Hester vor. »Inzwischen ahnt wohl der ganze Bezirk, dass wir vielleicht noch einmal Erkundigungen anstellen, aber ich fürchte, überall nachzufragen würde sehr lange dauern. Zum Glück hat mir Squeaky Robinson ein paar Namen gegeben, mit denen wir anfangen könnten.«

Er blickte sie misstrauisch an. »Was für Leute sind das?«

»Personen, die Squeaky den einen oder anderen Gefallen schulden. Und ein paar davon kenne ich sogar: zwei Bordellbetreiber, eine Engelmacherin und einen Apotheker.«

»Ich könnte ja Mr Crow befragen, wenn Sie wollen?«, bot Scuff an.

»Wir werden ihn befragen«, verbesserte sie den Jungen. »Ja, das halte ich für eine hervorragende Idee. Aber weißt du, wo wir ihn finden?«

»Natürlich weiß ich das. Bloß is’ das keine Gegend, wo eine Dame hingehen sollte.« Jetzt legte er die Stirn besorgt in Falten.

»Scuff«, sagte Hester in ernstem Ton, »lass uns einen Handel schließen …«

Er starrte sie skeptisch an.

»Ich passe auf dich auf, und zwar ohne dich dabei zu bevormunden, wenn du es bei mir genauso hältst. Einverstanden?« Sie streckte ihm die Hand entgegen.

Er überlegte kurz, dann ergriff er sie mit seinen kleinen, dünnen Fingern. »Einverstanden.«

Gemeinsam liefen sie die Paradise Row zum Anlegesteg Princes’ Stairs hinunter und nahmen die Fähre nach Wapping, wo sich auch die Polizeiwache befand, deren Kommandant Monk war. Am anderen Ufer angekommen wandten sie sich gemäß Scuffs Anweisungen westwärts in Richtung Pool of London, dem betriebsamen Hafen mit seinen riesigen Docks.

Kein Wort fiel zwischen ihnen. Scuff schien sich auf Lauschen und Beobachten zu konzentrieren. Seine Jacke war bis zum Kinn zugeknöpft, seine Schirmmütze saß fest auf dem Kopf. Er trug seine neuen Stiefel, ein richtiges Paar und nicht wie früher irgendwo gefundene Einzelteile. Hester hing ihren eigenen Gedanken darüber nach, was sie noch alles in Erfahrung bringen musste und wie weit sie mit ihren Fragen gehen konnte, ohne Scuff und sich selbst zu gefährden. Pornografie und Prostitution stellten gewaltige Wirtschaftszweige dar, in denen man ungeheure Gewinne machen konnte. Aber natürlich drohten auch täglich Gefahren seitens der Justizbehörden. Nicht nur der Gewinn, sondern das Überleben hing davon ab, dass man wusste, was man nicht sagte, und vor allem, wem man es nicht sagte.

Fast den ganzen Vormittag mussten sich Hester und Scuff durch den Lärm und das hektische Treiben zwischen den Kränen, Karren und turmhohen Stapeln aus Frachtgut und Holz kämpfen, bis sie zu guter Letzt Crow in einem Wohnhaus in der Jacob’s Street am Südufer gegenüber der St. Saviour’s Wharf entdeckten. Crow war ein großer, schlanker Mann Mitte dreißig mit dichtem, pechschwarzem Haar, das er sich von der hohen Stirn nach hinten gekämmt hatte und das ihm über den Kragen fiel. Seine Miene wirkte ernst und düster – bis er lächelte: Dann entblößte er mit einem strahlenden, breiten Grinsen zwei Reihen kerngesunder Zähne.

Er war im Begriff zu gehen und kam gerade mit seiner großen schwarzen Arzttasche in der Hand die Treppe herunter, als sie das Haus erreichten. Bekleidet war er mit einem abgewetzten Mantelrock und einer schwarzen Hose, die ihm allenfalls bis zu den Knöcheln reichte. Er freute sich aufrichtig über das Wiedersehen mit Scuff, und der Junge war es, auf den sein Blick zuerst fiel, ehe er Hester begrüßte.

»Hallo, Mrs Monk. Was führt Sie in diese Gegend? Ärger?«

»Was sonst!« Sie reichte ihm die Hand.

Er spreizte seine knochigen Finger und betrachtete sie mit Abscheu. »Ich bin schmutzig«, brummte er kopfschüttelnd. Er schaute wieder zu Scuff hinüber, als müsste er dessen Unversehrtheit prüfen. Als Scuff von Jericho Phillips entführt worden war, hatte Crow alles stehen und liegen lassen, um bei der Suche nach dem Jungen zu helfen.

Hester erwiderte Crows Lächeln und ließ langsam die Hand sinken. »Haben Sie von dem Mord an Mickey Parfitt gehört?«, fragte sie, während sie sich in Bewegung setzten und die enge Gasse zum Fluss hinunterliefen, sorgfältig darauf bedacht, nicht in die Abfälle zu treten.

»Natürlich«, antwortete Crow. »Nehmen Sie’s mir nicht übel, Mrs Monk, aber ich hoffe, dass sie den armen Kerl, der ihn abgemurkst hat, nie erwischen werden. Falls Sie mich dafür um meine Hilfe bitten wollten, muss ich ablehnen. Tut mir leid, aber ich habe zu viel zu tun. Es wird Sie wundern, wie viele Kranke wir hier haben.« Er blickte zu den rußverschmierten Fassaden der links und rechts von ihnen dicht aneinandergereihten Wohnhäuser hinauf, von deren Dachsparren es unablässig herabtropfte.

Sie musterte ihn prüfend. Tiefe Falten hatten sich in sein Gesicht gegraben, und sein fröhliches Lächeln war erstorben. Sie kannte ihn seit Monks erstem Fall am Fluss, der nun bald ein Jahr zurücklag. Auch wenn sie sich seitdem gelegentlich über den Weg liefen, wurde ihr erst jetzt richtig klar, dass sie immer nur die Oberfläche seines Charakters zu sehen bekommen hatte. Über seinen Hintergrund sprach er nie, doch er verfügte über enormes medizinisches Wissen, das er einsetzte, um denjenigen zu helfen, die am Rande des Gesetzes oder im eisernen Griff der Armut lebten. Als Bezahlung nahm er entgegen, was ihm angeboten wurde: ein Versprechen für später oder eine Gefälligkeit, mit der man sich bei Bedarf revanchierte.

Hester hatte keine Ahnung, was Crow daran gehindert hatte, seine Ausbildung offiziell abzuschließen und eine reguläre Praxis zu eröffnen. Sein Akzent glich keineswegs dem der Bewohner des Hafenviertels, aber woher er stammte, konnte sie nicht heraushören. Jedenfalls mochte er Scuff, und das war die Hauptsache. Über die meisten Leute wusste man viel weniger, als man sich einbildete. Eltern, Herkunft, Geburtsdatum oder Ausbildung verrieten bei Weitem nicht so viel über das Herz eines Menschen wie das, was er tat, wenn einiges auf dem Spiel stand.

»Leider haben wir schon eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wer es war«, antwortete sie auf seine provokanten Worte, die Augen stets nach unten gerichtet, um nicht über zerbrochene Pflastersteine zu stolpern. »Jetzt versuche ich, Gegenbeweise zu finden, die seine Schuld infrage stellen oder, falls das nicht gelingt, wenigstens plausibel machen, dass er den Strick nicht verdient.«

»Sie wollen, dass er davonkommt?«, rief Crow überrascht.

So unverblümt hatte Hester es nicht ausdrücken wollen. Schon setzte sie zu einem Widerspruch an, als sie Scuffs Blick auf sich spürte, und blitzschnell erkannte sie, dass Crow womöglich doch recht hatte und sie aus Mitleid für Rupert handelte. Es war allerdings schwer, ihm eine ehrliche Antwort auf seine Frage zu geben, solange Scuff zwischen ihnen ging und jedes Wort begierig aufsog. Aber vielleicht war die ganze Wahrheit doch das Beste.

»Ich will, dass der Handel mit Sexualität beendet und ausgemerzt wird«, erklärte sie. »Um das zu erreichen, muss ich den Mann hinter dem Ganzen erwischen, den mit dem Geld. Aber dabei möchte ich Rupert Cardew nach Möglichkeit nicht opfern.«

Crows Augen weiteten sich ungläubig. »Möchten Sie vielleicht bei der Gelegenheit auch die Kronjuwelen ergattern, einfach nur so, als krönenden Abschluss?« Er wich gerade noch einem Haufen Abfall aus, woraufhin eine Ratte erschrocken davonjagte.

»Nicht unbedingt«, erwiderte Hester, ohne die Miene zu verziehen. »Für dergleichen hätte ich nicht genügend Verwendung. Es wäre schrecklich unbequem, sich immer stockgerade zu halten, damit die Krone nicht herunterfällt. Ich glaube nicht, dass ich das könnte.«

Scuff starrte die beiden verwirrt an.

»Sie scherzt nur«, versicherte Crow dem Jungen und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Zumindest hoffe ich das.«

»Halb«, räumte Hester ein und fügte dann lächelnd hinzu: »Vielleicht könnte ich sie ja sogar tragen, aber wenn ich etwas verlöre, beispielsweise mein Taschentuch, müsste es jemand anders für mich aufheben.«

»Wenn Sie eine Krone trügen, würde sich dazu auch jeder verpflichtet fühlen.« Crow lächelte.

Scuff lachte, doch unmittelbar unter der Heiterkeit schwelte die Angst, erneut verlorenzugehen und von ihr getrennt zu werden, und das hörte Hester deutlich.

Die nächsten fünf Minuten gingen sie schweigend weiter, vorbei an den sich vor ihnen auftürmenden Stapeln aus Kisten, Fässern und Holz. Dann endlich erreichten sie die Stufen zur Fähre, die sie ans Nordufer bringen sollte. Es war Gezeitenwechsel, und das Wasser war aufgewühlt. Verbände von aneinandergebundenen Leichterbooten, beladen mit Kohle, Holz und Holzfässern, zogen flussaufwärts. Ein Schiff rauschte mit geblähten Segeln vorbei. Das Licht über dem Wasser war hell, und als der Wind gegen die Wellenkämme prallte, peitschte er eine fein sprühende Gischt vor sich her.

»Ich will all die Einzelheiten in Erfahrung bringen, die kein Mensch einem Polizisten verraten würde«, ließ Hester Crow wissen, nachdem die Fähre sie am anderen Ufer abgesetzt hatte. »Was unter den Leuten gemunkelt wird.«

Eigentlich hatte sie keine genaue Vorstellung davon, was sie herausfinden wollte. Die Fakten sagten unmissverständlich, dass Rupert schuldig war. Ließe sich jemals die Tötung eines Menschen – selbst eines Mannes wie Parfitt – vor dem Gesetz rechtfertigen? Ließen sich Geschworene dazu bewegen, um Milde zu bitten? Oder würden sie bei der Konfrontation mit den Abscheulichkeiten, die dieser Mann verkauft hatte, zu dem Schluss gelangen, dass jeder, der sich auf so etwas einließ, egal, wie zögerlich oder arglos, in Wahrheit kaum besser war als Parfitt selbst? Seine Kunden waren vermutlich allesamt reich, sonst wären sie ohne Nutzen für ihn gewesen. Keiner von ihnen litt Hunger, fror oder war obdachlos. Sie langweilten sich einfach nur. War das wirklich eine Entschuldigung?

Oder verhielt es sich so, dass sie Rupert mochte und um Scuffs willen verzweifelt den Mann hinter dem Ganzen suchte, um zu verhindern, dass alles bald wieder von vorn losging, nur mit einem neuen Bordellbetreiber? Und nicht zuletzt musste Scuff mit eigenen Augen sehen, dass ihr Kampf erfolgreich war, um glauben zu können, dass man wirklich etwas erreichen konnte – und dass er mitgeholfen hatte.

»Crow«, begann sie zögernd, »halten Sie es für möglich, dass ein Konkurrent den Mord angezettelt haben könnte. Parfitt muss mit dem Boot Unmengen verdient haben. Wenn jemand anders seine Geschäfte und seine Kunden übernähme, würde er doch genauso viel Gewinn einstreichen, oder? Mir käme es darauf an zu erfahren, wie der Betrieb geführt wurde. Wer profitiert geschäftlich von seinem Tod? Ich meine, unabhängig von der Erpressung. Schauen wir uns einfach die Einkünfte an.«

Crow nickte bedächtig. Auf seinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. »Geben Sie mir zwei, drei Tage.« Nachdenklich neigte er den Kopf zur Seite. »Ich nehme an, Sie wollen vor allem die Einzelheiten und nicht bloß meine Schlussfolgerungen.«

»Ja, bitte. Meine Schlussfolgerungen könnten anders ausfallen.«

Darauf erwiderte er nichts, doch kurz blitzte Belustigung in seinen Augen auf. »Das wird hässlich«, warnte er sie.

»Natürlich wird es das. Danke.«

Dem gab es im Moment nichts hinzuzufügen. Sie dankte Crow noch einmal und ging.

»Und jetzt?«, fragte Scuff, der zwischendurch immer wieder schneller laufen musste, um mithalten zu können. »Wir hören doch jetzt nich’ auf, bloß weil er hilft, oder?« Sein Ton ließ Zweifel anklingen und auch Enttäuschung.

»Nein«, antwortete Hester entschieden. »Wir werden feststellen, ob in der Nacht, in der Parfitt ermordet wurde, vielleicht noch jemand zugegen war, der ein Interesse an den Profiten des Bootes hatte.«

»Wie soll das gehen?« Scuff war sichtlich verwirrt.

Bisher hatte Hester ihm nichts von Sullivans Aussagen über Ballinger erzählt. Sie nahm an, dass Monk sich ebenso verhalten hatte. Wenn die Beschuldigungen des jetzt toten Kinderschänders begründet waren, wäre Unwissenheit wohl der sicherste Schutz für den Jungen.

»Nun, falls es einer von den Männern ist, die ich im Verdacht habe, wird er zwangsläufig immer wieder mal am Fluss gewesen sein. Wenn ich jemanden auftreibe, der ihn gesehen hat, dann wäre das ein guter Anfang.«

»So was wie ’nen Kutscher?«

»Ich habe vor, mit dem Fährmann anzufangen. Kutscher bekommen nicht allzu viel von den Gesichtern ihrer Fahrgäste zu sehen, vor allem nicht bei Dunkelheit.«

»Klar!«, rief Scuff eifrig. »Man sitzt in ’nem Boot, und da muss der Fährmann einen ja anschauen! Wenn der Kerl nich’ wollte, dass sich die Leute an ihn erinnern, is’ er bestimmt selber gerudert. Oder wenn er das nich’ konnte, is’ er wohl in ’nem Boot rübergefahren, wo so viele Leute drauf waren, dass er in der Menge nich’ aufgefallen is’.«

»Ganz richtig«, stimmte Hester zu. »Lass uns mit den Fährmännern in Chiswick anfangen. Für Leute, die in London leben, wäre der kürzeste Weg wohl mit dem Hansom über die Putney Bridge zur Anlegestelle Barnes Common und von dort mit der Fähre zu Parfitts Boot vor Corney Reach.«

»Genau«, krähte der Junge, obwohl er überhaupt nichts verstand. Er kannte den Pool of London wie seine Hosentasche, aber darüber hinaus so gut wie nichts. Worum es ihm ging, war schlicht, nicht ausgeschlossen zu sein.

Mit dem Pferdeomnibus dauerte es bis weit in den Nachmittag, um vom Hafenviertel am östlichen Ende mit seinen großen Werften und Docks quer durch die Stadt zu ihrem vornehmeren grünen Rand im Westen und dann noch weiter hinaus aufs üppige Land am Südufer zu gelangen. Für den Rest der Reise durch den Barn Elms Park zu der kleinen Gemeinde Barnes selbst und dort zur High Street direkt am Wasser gab es keinen Omnibus. So legten sie entsprechend müde, durstig und mit wund gelaufenen Füßen im White Hart Inn Rast ein, doch Scuff beklagte sich kein einziges Mal.

Hester fragte sich insgeheim, ob sein Schweigen damit zu tun hatte, dass dieser Ort so anders war als das, was er kannte: grün, gepflegt, fast glitzernd in dem vom Wasser reflektierten, grellen Licht. Oberflächlich besehen schien es eine ganz andere Welt als das dunkle Flussufer zu sein, wo Jericho Phillips sein Boot betrieben hatte. Dort schwemmten die Gezeiten all die Abfälle des Hafens an – zersplittertes Treibholz, das teilweise halb versunken war, Kleiderfetzen und Seilstücke, Nahrungsabfälle und Fäkalien. Sogar in der Nacht herrschte hier der Lärm der Stadt: das Trappeln von Hufen auf Pflastersteinen, Rufe, Gelächter, das Klappern von Rädern. Und natürlich gingen die Lichter nie aus, brannten unentwegt Straßenlampen, Kutschenlampen; nur wenn der Nebel sich hereinwälzte, wurden sie erstickt. Doch dann erhob sich das klagende Dröhnen der Nebelhörner.

Hier war der Fluss weniger breit. Weiter unten gab es am Nordufer Schiffswerften. Die Geschäfte waren geöffnet und belebt; gelegentlich fuhr ein Karren vorbei; auch hier wurde laut gerufen. Aber all das fand in einem überschaubaren Rahmen statt. Was fehlte, waren die Gerüche aus den Kaminen von Fabriken, von Salz und von Fisch und das Schreien der Möwen. Ein vereinzelter Frachtsegler glitt auf dem Fluss vorbei, die Segel fast schlaff in der Brise.

Scuff konnte sich nicht sattsehen an den Frauen in ihren sauberen, hellen Kleidern, die umherspazierten und lachten, als hätten sie sonst nichts zu tun.

Hester und Scuff aßen erst einmal ein spätes Mittagsmahl, bestehend aus kaltem Wildbret, Gemüse und – eine besondere Gaumenfreude – einem ganz leichten Ale.

Scuff trank sein Glas leer, leckte sich beim Abstellen die Lippen und blickte Hester erwartungsfroh an.

»Wenn du älter bist«, sagte sie.

»Wie lang dauert das Älterwerden?«, fragte er.

»Das tust du die ganze Zeit.«

»Ja, aber bis ich wieder so ein Glas kriege?« Er hatte nicht vor nachzugeben.

»Ungefähr drei Monate.« Sie hatte Mühe, nicht zu lächeln. »Aber ein Stück Apfelkuchen kannst du schon jetzt haben, wenn du möchtest. Oder Pflaumenkuchen, wenn dir das lieber ist.«

Er beschloss, sein Glück herauszufordern. Die Stirn in Falten gelegt, blickte er zu ihr auf. »Alles beides?«

Sie dachte an den Weg, der ihnen noch bevorstand, und an den Grund dafür. »Gute Idee. Ich glaube, ich mache es wie du.«

Als ihre Teller bis zum letzten Krümel leer gegessen waren, zahlte Hester die Rechnung. Scuff bedankte sich ernst und bekam einen Schluckauf. Dann gingen sie zum Fluss hinunter und begannen ihre Suche nach Fährmännern, Fischern, irgendjemandem, der sich am Rand des Wassers aufhielt, plauderte, an Booten oder Segeln werkelte oder einfach zuschaute, wie der Nachmittag vorüberglitt.

Mehr als zwei vergnügliche, aber unergiebige Stunden vergingen, bis sie den o-beinigen Fährmann entdeckten, der in seiner Aussage angegeben hatte, er hätte in der Nacht vor dem Morgen, als Mickey Parfitts Leiche in Corney Reach gefunden wurde, noch sehr spät einen feinen Herrn aus der City zum Boot hinausgerudert.

»Ich kenn seinen Namen nich’, Madam«, sagte der Mann misstrauisch. »Ich frag die Leute nie, wie sie heißen – hab ja auch keinen Grund dazu, oder! Ich frag sie auch nich’, wo’s hingeht. Geht mich ja nix an. Einfach freundlich sein, ein bisschen mit ihnen reden, um die Zeit zu vertreiben, und sie trocken und wohlbehalten auf die andere Seite bringen. Bei diesem Mann erinner ich mich allerdings, dass er ein richtig feiner Herr war. Wusste alles Mögliche.«

Hester spürte wieder, wie sich ihr der Magen zuschnürte. Plötzlich war die Gefahr einer entsetzlichen Tragödie ganz real, einer Wunde, die nie heilen würde. »Wirklich?«, brachte sie hervor. »Wie alt, würden Sie sagen, war er denn?«

Er legte den Kopf etwas schief und betrachtete erst sie, dann Scuff und dann wieder sie. »Wieso wollen Sie das wissen, Miss? Hat er Ihnen was angetan?«

Hester wusste genau, was er dachte, und nutzte das aus, ohne sich auch nur eine Sekunde zu schämen. »Das weiß ich nicht, solange mir nicht klar ist, ob er es war«, antwortete sie, darauf bedacht, jedes belustigte Funkeln aus ihren Augen zu verbannen. Sie wäre am liebsten herausgeplatzt. Doch der Lachreiz verging ihr schnell, als sie an all die Frauen dachte, die in diesem Fall betroffen gewesen wären. Wie konnte sie nur das Leid anderer so kaltschnäuzig für ihre Zwecke ausnutzen?

»Das glaub ich nich’, Mädchen«, sagte der Mann betrübt. »Dieser Bursche war’n bisschen zu alt für Sie.«

»Zu alt?«, fragte sie überrascht. Sie schluckte. Dann konnte es nicht Rupert gewesen sein. Rupert war etwas über dreißig, jünger als sie. »Sind Sie sicher?« Sie wollte Zeit gewinnen, suchte verzweifelt nach einer Ausrede für die Bitte, den Mann ausführlich zu beschreiben.

Der Fährschiffer sog die Wangen ein, um sie dann wieder aufzublähen. »Na ja, vielleicht hätt ich das nich’ sagen sollen. Er sah ja immer noch recht imposant aus.«

»Blondes Haar?«, fragte Hester, das Bild von Rupert vor Augen, wie er in der Klinik in der Sonne stand. »Schlank und ziemlich groß?«

»Nein«, widersprach der Fährmann entschieden. »Tut mir leid, Mädchen, aber er dürfte um die sechzig gewesen sein; dunkles Haar, fast schwarz, soweit ich das im Lampenlicht erkennen konnte. Und breit war er, aber nich’ ungewöhnlich groß, eher normal groß, würde ich sagen.«

Da der Fährmann von ausgesprochen kleinem Wuchs war, fragte sich Hester, was er als durchschnittlich bezeichnen würde. Doch jetzt weiter nachzubohren verbot sich von selbst. Womöglich würde er das als Beleidigung auffassen.

»Ist er später noch einmal zurückgekommen?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln. Da jetzt Klarheit bestand, dass nicht von dem ehebrecherischen Ehemann die Rede war, den sie mit ihren Andeutungen herbeibeschworen hatte, sah sie sich unversehens in Verlegenheit gestürzt. Doch dann hatte sie eine Idee. »Verstehen Sie, ich habe die Sorge, dass es mein Vater gewesen sein könnte. Er ist schrecklich jähzornig, und …« Den Rest ließ sie ungesagt, sodass er als Andeutung in der Luft schwebte. »Er war doch nicht … verwundet, oder?«

»Da haben Sie sich ja die Richtigen ausgesucht, was?«, meinte der Fährmann schulterzuckend. »Aber ihm hat nix gefehlt. Vielleicht ein bisschen zerzaust, als ob er in ’ne kleine Rangelei geraten wär, aber ansonsten war er munter wie’n Fisch im Wasser. Da brauchen Sie sich keine Sorgen machen. Über den jungen Kerl mit den blonden Haaren kann ich Ihnen nix sagen. Den habe ich nich’ gesehen.«

»Vielleicht war er gar nicht hier.« Hester atmete vor Erleichterung auf. Dass ihre Reaktion trotz aller Freude töricht war, wusste sie selbst. Was war diese Nachricht denn schon wert? Von hundert Schwierigkeiten war ihnen nun eine erspart geblieben.

»Was bedeutet das?«, fragte Scuff, nachdem sie sich bei dem Mann bedankt und auf dem Weg den Fluss entlang entfernt hatten. »Ist das gut?«

»Ich bin mir nicht sicher«, antwortete Hester. Zumindest das war wahr. »Rupert war es jedenfalls nicht. Sogar bei tiefster Dunkelheit kann man ihn nicht mit einem Sechzigjährigen verwechseln. Und wenn der Mann zerzaust war, dann hatte er sicher einen Kampf hinter sich, den er, wie sich das anhört, gewonnen hatte.«

»Vielleicht hat er Mickey Parfitt erstickt und über die Kante geschmissen?«

»Vielleicht hat er Mickey Parfitt niedergeschlagen, dann mit einer verknoteten Seidenkrawatte erdrossselt und am Ende über die Kante befördert«, verbesserte ihn Hester.

Der Junge erschauerte. »Waren auch noch andere Leute auf dem Boot?«

»An diesem Abend offenbar nicht, bis auf die unter Deck eingesperrten Jungen.«

Scuff zögerte. »Wo sind die denn jetzt?«

Hester hörte die Anspannung in seiner Stimme, sah die schreckliche Erinnerung in seinen Augen. »Sie sind alle in Sicherheit«, sagte sie entschieden. »Sie werden gut versorgt, sind sauber und bekommen genug zu essen.«

Nach einem Moment schien Scuff bereit, ihr zu glauben. Nach und nach lösten sich die Verspannungen an seinen Schultern. »Wer war das dann also? War es der Mann, der Mickey Parfitt umgebracht hat?«

»Durchaus möglich.«

»Und wie finden wir raus, wer das war?«

»Da habe ich schon eine Idee. Aber für heute gehen wir erst mal heim.«

»Wir suchen ihn nich’?« Er zitterte leicht und versuchte, sich aufrecht zu halten, um sich nichts anmerken zu lassen. Und ganz bewusst zog er seine Jacke fester zu, obwohl es nicht kalt war.

»Zuerst muss ich William noch ein paar Fragen stellen. Da ich nicht glaube, dass ich die Gelegenheit, den Kerl zu stellen, zweimal bekomme, muss ich gleich beim ersten Mal alles richtig machen.«

»Er wird Ihnen das nich’ erlauben«, warnte Scuff. »Wenn ich er wäre, würde ich’s Ihnen verbieten.«

»Wetten, dass nicht.« Diesmal machte sich Hester gar nicht erst die Mühe, ihr Lächeln zu verbergen. »Das ist der Grund, warum ich ihn nicht fragen werde, und du genauso wenig.«

»Das könnte ich aber.«

Sie maß ihn mit einem Blick. Eine Drohung war das nicht. Sucff hatte auch Angst um sie. Sie sah es seinen Augen an. Darin lag ein schlimmer Schmerz, der an ihm nagte. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte der Junge so etwas wie Sicherheit gefunden, und schon war diese bedroht. Natürlich war er an Verlust gewöhnt, doch saß diese neue Angst zu tief, als dass er sie allein bewältigen konnte. Andererseits war er zu sehr an Einsamkeit gewöhnt, um mit anderen darüber zu sprechen, ja, er war sogar zu verletzlich, um sich das selbst einzugestehen.

»Ich gehe mit Ihnen mit«, erklärte er, ohne ihr Gesicht aus den Augen zu lassen. Er wartete regelrecht darauf, dass sie ihn zurückwies.

Es war ein tollkühnes Vorhaben. Und vielleicht kam es sie beide teuer zu stehen. Aber Hester nickte. »Danke. Wenn William wütend wird, sage ich ihm, dass du nur mitgekommen bist, damit ich garantiert in Sicherheit bin. Es war nicht deine Schuld.«

Grinsend vergrub er die Hände in den Jackentaschen. »Bestimmt nich’!«, pflichtete er ihr, von Erleichterung überwältigt, bei.

Eigentlich wollte Hester von Monk nur wissen, welche Aussagen ihm darüber vorlagen, wo Arthur Ballinger in der Nacht von Parfitts Tod gewesen war. Die Beschreibung des Fährschiffers traf Ballinger jedenfalls außerordentlich genau – auch wenn sie natürlich ebenfalls auf Tausend andere Männer zutraf. Sie hasste es, sich diese Möglichkeit vorzustellen, zumal sie wusste, welche Schmerzen das für Rathbone und vor allem für Margaret bedeuten würde. Doch wer immer hinter den Booten von Männern wie Phillips und Parfitt steckte, musste allein schon um Scuffs willen gestellt und für die Verschleppung, Vergewaltigung und auch Ermordung kleiner Kinder angeklagt und gehängt werden. Dass sich ihm auch Erpressung nachweisen lassen würde, bezweifelte sie, denn wer würde schon zugeben, dass er eine besondere Schwäche hatte und so ebenfalls zu einem der Opfer dieses Verbrechers geworden war? Auch das machte das Geschick des Erpressers aus.

»Warum?«, fragte Monk sofort zurück. Sie standen Seite an Seite vor der offenen Glastür zum Garten. Die Luft an diesem ruhigen Abend war durchdrungen von den Gerüchen der Erde und des feuchten Laubs. Die Dämmerung war hereingebrochen, und bis auf das Rascheln der Blätter im Wind und ein oder zwei Rufe einer Eule drangen nur wenige Geräusche aus dem kleinen Garten zu ihnen. Vielleicht war der Nachtvogel vom Southwark Park gekommen, der praktisch um die Ecke lag. Der Himmel war kristallklar; das letzte Licht schimmerte auf dem Fluss unter ihnen wie auf einem blank polierten Zinnteller. Hier oben war von den Geräuschen der Boote nichts zu hören, keine Rufe, keine Nebelhörner. Ein einsames Transportboot mit Gaffelsegel trieb lautlos wie ein Gespenst den Fluss hinauf.

»Warum?«, wiederholte Monk, den Blick auf sie gerichtet.

Hester hatte zu keinem Zeitpunkt beabsichtigt, ihn zu täuschen, nur hatte sie sich eben ihr eigenes Urteil vorbehalten wollen. »Weil ich heute Vormittag mit Crow gesprochen habe, für den Fall, dass er helfen kann.«

»Wem helfen?«, fragte Monk sanft. »Rupert Cardew? Ich kann es ihm nicht verdenken, dass er Mickey Parfitt umgebracht hat, aber das Gericht wird ihm das nicht vergeben, Hester, egal, wie niederträchtig Parfitt war. Es sei denn, es war Notwehr. Aber, Hand aufs Herz, das wird niemand glauben. Oder kannst du dir vorstellen, dass ein Mann wie Parfitt dasteht und abwartet, wie Cardew sein Halstuch abnimmt, ein halbes Dutzend Knoten knüpft, es ihm um die Kehle schlingt und zuzieht?«

»Hat er ihn nicht vorher mit einem Schlag auf den Kopf außer Gefecht gesetzt?«, widersprach Hester. »Wenn Parfitt bewusstlos war, konnte er ihn nicht mehr daran hindern. Rupert könnte …« Sie verstummte. Genau auf dieses Argument hatte Monk abgezielt. »Ich verstehe«, gab sie zu. »Bewusstlos hätte er für Rupert – oder für sonst jemanden – ohnehin keine Gefahr mehr dargestellt.«

»Eben. Du kannst ihm nicht helfen, Hester.« In Monks Stimme klang Trauer über eine Niederlage an, und in seinen Augen schimmerte bitterer Humor auf. Sie wusste, dass er sich voller Selbstironie daran erinnerte, wie sie und er vor gar nicht so langer Zeit vor Gericht die Klingen mit Rathbone gekreuzt hatten. Ihr Freund hatte Jericho Phillips verteidigt, und sie waren ihres Sieges so unendlich sicher gewesen, nachdem seine moralische Schuld für sie unumstößlich festgestanden hatte.

Hester wollte widersprechen, doch jedes Argument, das sich mühsam an die Oberfläche ihres Bewusstseins drängte, erwies sich als untauglich, sobald sie versuchte, es in Worte zu fassen. Es lief alles auf dasselbe hinaus: Sie wollte Ruperts Schuld einfach nicht akzeptieren. Sie mochte ihn und war ihm für die Unterstützung der Klinik dankbar. Sein Vater tat ihr unendlich leid. Und ihr war vollkommen klar, dass er nichts mit der Macht und dem Geld hinter Parfitts Treiben zu tun hatte. Was sie wollte, war, den Mann, der die Verantwortung für das alles trug, zu zerstören. Und in diesem Bestreben versuchte sie, die Indizien ihren Bedürfnissen anzupassen, doch das war nicht nur unehrlich, sondern letztlich auch zwecklos.

»Nein, wahrscheinlich nicht.« Sie seufzte.

Monk schloss liebevoll seine Hand um die ihre. Damit war alles gesagt.

Seit Scuff verletzt, verängstigt und sehr geschwächt von Phillips’ Boot gerettet worden war, hatte er in Monks Haus sein eigenes Zimmer, in dem er jede Nacht schlief. Das war ein Arrangement zwischen ihnen, das beide Seiten in schweigendem Einvernehmen eingegangen waren, ohne dass es irgendwelcher Worte bedurft hätte. Am Anfang hatte noch jedes Mal die Frage in Scuffs Augen gestanden, wenn er zurückgekehrt war. Denn sobald er sich erholt hatte, legte er großen Wert darauf, das Haus tagsüber zu verlassen, einfach um zu beweisen, dass er seine Unabhängigkeit nicht verloren hatte und in der Lage war, sich selbst zu versorgen. Monk und Hester hatten beide darauf geachtet, das kommentarlos zu übergehen.

Am dritten Tag nach Hesters Begegnung mit Crow kam Scuff schon lange vor dem Abendessen heim. Bereits beim Betreten der Küche schnupperte er anerkennend, als ihm aus dem Rohr der Duft von Kuchen in die Nase stieg und er sah, wie Hester die Form aus dem Ofen nahm, um sie auf den Herd zu stellen.

»Crow hat was für Sie«, verkündete er fröhlich. »Ich soll Ihnen ausrichten, dass er morgen um Mittag gegenüber von der Chiswick Ait am Ufer auf Sie warten wird und Ihnen das geben kann, worum Sie ihn gebeten haben. Es is’ am billigsten, wenn wir den Zug nach Hammersmith nehmen und dann mit dem Hansom zur Hammersmith Bridge fahren und von dort am Fluss lang weitergehen. Ich weiß, wo das is’.« Er sog tief die Luft ein. »Is’ das Apple Pie?«

Am folgenden Tag warteten Hester und Scuff schon eine Viertelstunde vor der vereinbarten Zeit am Treffpunkt und beobachteten die Boote auf dem Fluss. Dann registrierte Hester aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Sie drehte sich um und erkannte Crows hagere Gestalt, die mit flatternden Rockschößen und im Wind wehendem Haar den Kai hinunterlief.

Sofort setzten sie sich in Bewegung.

Als sie ihn erreichten, blickte er wieder zuerst Scuff an.

»Geht es um etwas, das er nicht wissen sollte?«, fragte Hester hastig. »Ich kann ihn auf einen Botengang schicken. Er wollte nun einmal unbedingt mitkommen. Er … passt auf mich auf.« Aber musste sie das Crow wirklich erklären?

»Diese Sache ist noch schlimmer, als ich dachte«, sagte Crow leise. »Mir ist nur nicht klar, welchen Nutzen Ihr Freund davon haben wird. Hätte ich gewusst, was dieser Dreckskerl kleinen Jungs angetan hat, hätte ich ihn persönlich umgebracht, aber nicht so schonend mit einem kurzen Schlag auf den Kopf.« Sein Gesicht war verzerrt, sein Mund ein dünner Strich. »Ich hätte an ihm eine Operation ausgeführt, die ihm garantiert nicht gefallen hätte, und dabei hätte ich dafür gesorgt, dass er jeden verdammten Schritt sieht und vor allem spürt. Er hätte mit eigenen Augen verfolgen dürfen, wie er langsam, aber sicher verblutet.« Erneut musterte er Scuff, und als der Junge seinen Blick erwiderte, verschwand aller Zorn aus Crows Augen, und plötzlich schenkte er dem Jungen sein unverkennbares breites Grinsen.

»Ham Sie was für uns?«, fragte Scuff erwartungsfroh.

»Aber natürlich«, antwortete Crow. »Oder hast du geglaubt, ich würde den ganzen Weg bis hierher am Ende der Welt mit leeren Händen kommen? Hier entlang.« Und ohne weitere Erklärung führte er die beiden ein Stück weiter die Straße hinunter, auf der einen Seite die Boote und Tavernen, auf der anderen der Steilabhang.

Nach etwa hundert Metern überquerte er die Straße, wobei er lässig den wenigen vorbeifahrenden Pferdekarren auswich, und trat in eine Gasse, die zwischen Geschäften und Wohnhäusern vom Fluss wegführte. Vorbei an einer Wiese, dem Chiswick Field, lotste er sie dann zu einem winzigen Durchgang. Dahinter befanden sich mehrere Häuser. Er klopfte an einer Tür, wartete, zögerte kurz und klopfte wieder in exakt demselben Rhythmus.

Unmittelbar darauf öffnete ein Mädchen von etwa zwanzig Jahren die Tür. Sie war mollig, von heller, absolut makelloser Haut und hatte Haare, die so bleich waren, dass man sie im dunklen Eingang fast für weiß halten konnte. Als sie Crow erkannte, spannten sich ihre Züge vor Angst an, doch sie machte keine Anstalten, die Tür wieder zu schließen.

Crow bedachte sie mit seinem breitesten Grinsen, bei dem er nur noch aus blitzenden Zähnen zu bestehen schien, und stieß die Tür weiter auf, sodass sie beinahe gegen die Wand dahinter knallte.

»Hallo, Hattie«, begrüßte er das Mädchen freundlich. »Gute Zeit für einen Besuch, hm? Ich hab jemanden mitgebracht, der dich kennenlernen will.« Ohne sich umzudrehen, winkte er Hester und Scuff herein.

Scuff schloss die Tür. Während seine Augen unablässig von einer Seite zur anderen wanderten, hielt er sich dicht hinter Hester, ja, er trat ihr schon fast auf die Fersen.

Hattie führte die drei in eine schmale Küche, wo ein kleines Feuer eine Herdplatte warm hielt und von einer Pumpe in der Ecke Wasser in eine dünne Blechschale tropfte.

»Was wollen Sie?«, fragte sie vor Anspannung heftig schluckend. Ihre großen hellblauen Augen blieben die ganze Zeit auf Crow gerichtet, als wäre sonst niemand im Raum.

»Erzähl Mrs Monk, was du mir über Rupert Cardew gesagt hast«, bat Crow sie. Seine Stimme war sanft, fast lockend, doch sie strahlte eine Macht aus, die seine zwanglose Art zu sprechen Lügen strafte.

Hattie schluckte erneut. Hester bemerkte, dass ihre Hände zitterten. »Ich hab sie eingesteckt«, sagte sie, immer noch an Crow, nicht an Hester gewandt.

»Du hast was eingesteckt, Hattie?«, drängte er.

Sie fasste sich mit ihrer weißen Hand an die Kehle. »Seine Binde. Er hatte sie ja abgenommen, und da hab ich sie einfach versteckt, als er nich’ hinschaute. Er war stockbesoffen und hat beim Gehen gar nich’ gemerkt, dass sie ihm fehlt.«

»Sein Halstuch. Welche Farbe hatte es, Hattie?«

»Blau, mit kleinen gelben Tieren darauf.« Sie beschrieb mit dem Zeigefinger einen Schnörkel in der Luft.

»Warum hast du das getan?«

»Keine Ahnung.«

»O doch, du weißt es sehr wohl. War es Mickey Parfitt, der dich aufgefordert hat, es zu stehlen?«

»Nein! Das …« Wieder schluckte sie. »Es war in der Nacht, bevor sie ihn im Fluss gefunden haben.«

»Wem hast du es gestohlen, Hattie?«

»Ich hab’s Ihnen doch gesagt. Mr Cardew.«

»Und für wen? Wem hast du es gegeben?«

Sie schüttelte den Kopf. Ihr ganzer Körper spannte sich immer mehr an, bis alle Muskeln zu zittern schienen. »Ich weiß nich, wer’s hat! Und ich hab überhaupt nix gesagt! Das Ding is’ teurer, als mein Leben wert is’!«

Crow wandte sich an Hester. »Mehr kann ich leider nicht aus ihr herausbringen. Es tut mir leid.«

Hester musterte die junge Frau. Vielleicht brachte das Halstuch sie wirklich in Lebensgefahr. Es fiel ihr nicht schwer, das zu glauben. »Das macht nichts«, sagte sie gelassen. »Was zählt, ist, dass Rupert es nicht hatte. Folglich kann er es nicht verknotet und Mickey Parfitt um den Hals gelegt haben. Vielen Dank. Damit sind wir einen ganz entscheidenden Schritt weitergekommen.« Mit einem Lächeln drehte sie sich zu Crow um. Natürlich würde sie das Mädchen später dazu drängen, zu verraten, wem sie das Halstuch gegeben hatte, aber es war gut möglich, dass sie das auch auf andere Weise herausfand. Bestimmt gab es noch mehr Leute, denen ein Fremder oder ein bestimmter Besucher aufgefallen war. Für den Augenblick genügte ihr die unendliche Erleichterung darüber, dass Rupert nicht der Schuldige war.

Als Nächstes standen der Mord an Mickey Parfitt und der unbekannte Eigentümer des Bootes auf ihrer Liste, doch alles zu seiner Zeit. Sie bedachte nun auch Hattie mit ihrem Lächeln und dankte ihr noch einmal.