7

Monk überquerte den Fluss früh am Morgen mit der ersten Fähre. Es war ein kühler, ruhiger Tag; an der Wasseroberfläche zeigte sich kaum ein Kräuseln der trägen Gezeitenströmung. Nebelschwaden hüllten die vor Anker liegenden Boote ein. Wie aus dem Nichts tauchten immer wieder Verbände von Leichterbooten auf.

Er hatte Indizien gegen Rupert Cardew gesammelt und war darauf vorbereitet, sie dem Gericht zu präsentieren, wenn es zum Prozess kam. Es war eine undankbare Aufgabe, an der er in Wahrheit kaum mehr Gefallen fand als Hester am Anfang ihrer Recherchen. Aber je mehr er erfuhr, desto leichter wurde es, in Rupert einen verwöhnten jungen Mann zu sehen, dessen fragwürdiger Lebenswandel und zügelloser Charakter sich am Ende doch noch gerächt hatten. In Mickey Parfitt war er dem Problem begegnet, das sein Vater nicht mehr für ihn lösen konnte. Kein Geldbetrag der Welt hätte ausgereicht, um eine Form der Erpressung zu beenden, die allem Anschein nach perfekt funktionierte.

Die einzige Unstimmigkeit in der Beweiskette bestand darin, dass Parfitt die Erpressung professionell betrieb. Von seinen siebenunddreißig Lebensjahren hatte er die letzten zehn davon bestritten, dass er die Schwächen anderer Männer ausnutzte. Unter seinen Opfern hatte mindestens eines Selbstmord begangen, wahrscheinlich sogar mehrere, aber bis zu seinem Tod war er selbst von keinem angegriffen worden. Anscheinend hatte er immer genau gewusst, wie weit er mit seinen Drohungen gehen konnte. Ein totes Opfer war schlecht für die Geschäfte, das hatte er nie vergessen – oder fast nie.

Stellte das eine Schwäche in der Beweiskette dar oder lediglich eine Tatsache, die noch erklärt werden musste? In dem Prozess gegen Jericho Phillips hatte Rathbone Monk nicht einfach nur geschlagen, er hatte ihn und später – bei ihrer Aussage – auch Hester gedemütigt. Das alles hatte er in dem Wissen um ihre verwundbaren Stellen getan, einem Wissen, das nur ein enger Freund erlangen kann.

Immer noch wallte bei der bloßen Erinnerung der Zorn in Monk auf. Aber vielleicht hatte Hester weniger darunter gelitten, als ihn die Niederlage quälte. Sie hatten nie darüber gesprochen, als wäre es noch zu schmerzhaft, die Wunde zu berühren.

Diesmal würde er entweder dafür sorgen, dass Rupert schuldig gesprochen wurde, indem er Beweise lieferte, die über jeden Zweifel erhaben waren, ob vernünftig oder nicht; oder aber er würde den wahren Schuldigen finden und das beweisen.

Wen er natürlich noch viel dringlicher fassen wollte, war der Mann, der Mickey Parfitt in dem schmutzigen Gewerbe etabliert und ihm die Kunden besorgt hatte. Genau das wollte Monk herausfinden und beweisen, egal, wer derjenige sein mochte, ja, selbst wenn Sullivans Behauptungen zutrafen und es tatsächlich Arthur Ballinger war. Sogar jemanden wie Lord Cardew würde er aufspüren – jeden, und zwar ohne Ausnahme.

War seine Härte eine Folge der Skrupellosigkeit dieser Machenschaften oder des Umstands, dass kleine Jungen wie Scuff brutal missbraucht wurden?

Die Fähre erreichte das andere Ufer. Monk entrichtete den Fahrpreis und erklomm die glitschigen Stufen zum Kai.

Es widerstrebte ihm, Rupert Cardew zu verfolgen, aber es gab keine Möglichkeit, sich dieser Aufgabe zu entziehen. Besonders schmerzte ihn dabei, dass die ganze Angelegenheit völlig unsinnig war. Rupert hätte doch nie sein auffälliges Seidenhalstuch abgenommen, es mit Bedacht verknotet und dann einen bewusstlosen Mann damit erdrosselt. Das ganze Vorgehen schien so völlig unnötig. Darüber hinaus war es, wie er jetzt begriff, einfach keine Tat, die einem Genugtuung verschaffen konnte. Es fehlte der unmittelbare körperliche Kontakt, die Entladung aufgestauter Gewalt. Sie hatte etwas Kaltblütiges. Das war allerdings der einzige Aspekt, der ihm nicht einleuchtete. Den leidenschaftlichen Drang, Parfitt zu zerstören, konnte er nur zu gut verstehen.

Als er die oberste Stufe erreichte, durchbrach die Sonne den Nebel und brachte den Tau auf dem Stein einen Moment lang zum Glitzern. Aber dafür hatte Monk jetzt keinen Blick. Eilig ging er zur Straße, während sich seine Gedanken weiter um den Hauptverdächtigen drehten.

War Rupert wirklich so naiv gewesen, sich einzubilden, mit dieser Tat könne er das widerwärtige Geschäft mit Menschen ein für alle Mal beenden? War er derart verwöhnt und fern aller Realität, dass er glaubte, ein Mann wie Parfitt wäre der Drahtzieher der Machenschaften, derjenige, der die Kunden anwarb und dann haargenau einschätzte, wie weit er jeden Einzelnen schröpfen konnte, bevor dieser zusammenbrach und sich das Leben nahm? Tote konnte man nicht mehr erpressen.

Nein, es war der Mann hinter Parfitt, den Monk haben wollte, und dieser Gedanke beschäftigte ihn auch noch eine Stunde später, als er Oliver Rathbone aufsuchte. Nach kurzem Warten wurde er in das hübsche, elegante Büro geführt.

»Guten Morgen, Monk«, begrüßte ihn Rathbone mit gelindem Erstaunen. »Ein neuer Fall?« Er wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.

»Danke.« Monk ließ sich auf dem Stuhl nieder, lehnte sich anscheinend entspannt zurück und schlug die Beine übereinander. »Der gleiche Fall.«

Lächelnd machte es sich nun auch Rathbone bequem, wobei er nicht vergaß, das Hosenbein etwas hochzuziehen, damit es nicht verknitterte. »Da wir jeweils die Seite des Gegners vertreten, verspricht dieser Fall ja sehr interessant zu werden. Was kann ich für Sie tun?«

»Vielleicht Cardew vor dem Strick retten?«

Rathbones Lächeln erstarb. Ein schmerzlicher Ausdruck trat in seine Augen. Monk sah das und verstand. Er war froh, dass die Last der Verantwortung nicht auf seinen Schultern ruhte, dass es nicht von seinem Können oder Urteil abhing, ob ein Mensch gerettet wurde oder das Leben verlor.

»Es tut mir sehr leid«, entschuldigte sich Monk. Eine persönliche Stellungnahme war vermutlich unangemessen, aber jetzt, in diesem Moment, waren sie ja keine Gegner. Beim Gedanken an den Tod durch Hängen empfanden sie beide dasselbe Mitleid, denselben Abscheu. »Ich habe nicht den geringsten Wunsch, ihn zu verfolgen«, fuhr er fort. »Als ich Parfitts Leiche untersuchte, dachte ich tatsächlich daran, erst gar nicht nach seinem Mörder zu fahnden, zumal ich die Bilder von dem Boot und den dort eingesperrten Jungen noch frisch im Kopf hatte. Doch als dann das Halstuch auftauchte, hatte ich keine Wahl mehr.«

»Das weiß ich«, erwiderte Rathbone mit fahlem Gesicht. »Was genau wollen Sie, Monk?«

»Den Mann dahinter. Sie nicht auch?«

»Natürlich. Aber ich habe keine Ahnung, wer es ist.« Er sah Monk unverwandt in die Augen, ohne ein einziges Mal zu blinzeln. Dachte er gerade an die Nacht, in der Sullivan erst Phillips auf so grässliche Weise umgebracht und dann sich selbst gerichtet hatte? Dann hatte er doch sicher auch noch die Worte im Ohr, mit denen Sullivan kurz zuvor Arthur Ballinger bezichtigt hatte, der Drahtzieher zu sein? Warum hatte er das nur getan? Zorn, Unwissen, zusammenhangsloses Geschwätz in dem Moment, da er dem Wahnsinn verfiel? Rache für etwas ganz anderes? Oder doch die Wahrheit?

Rathbone konnte es sich nicht leisten, Margarets Vater zu verdächtigen. Der Preis dafür wäre verheerend. Doch ebenso wenig war es ihm möglich, es zu ignorieren. Monk befand sich in demselben Dilemma, auch er konnte nicht wegschauen, ging es doch um Cardew und – noch wichtiger für ihn – um Scuff. Und auch um die Wahrheit ging es, die vielleicht sogar der dringlichste Grund war, denn wenn er das Gift jetzt nicht vernichtete, würde es sich immer weiter ausbreiten.

»Nein«, antwortete Monk langsam, »aber wenn der richtige Druck auf Cardew ausgeübt würde, dann ließe sich von ihm vielleicht etwas mehr in Erfahrung bringen, das es uns ermöglichen würde, hinter die Wahrheit zu kommen.«

»Warum sollte er aussagen?«, fragte Rathbone mit gepresster Stimme. »Damit würde er doch sicher zugleich sein mächtigstes Motiv für den Mord an Parfitt zugeben. Ich weiß, dass Sie glauben, seine Schuld beweisen zu können, aber er schwört, dass er es nicht war.«

»Und Sie glauben ihm?«, fragte Monk. »Eigentlich hilft Ihnen diese Annahme überhaupt nichts, selbst wenn Sie recht haben. Worauf es ankommt, ist das, was die Geschworenen glauben. Wenn er sich bereit zeigt, uns seine Aufzeichnungen über die an Parfitt geleisteten Zahlungen auszuhändigen, einschließlich der Daten und genauen Beträge, könnten wir sie anhand von Parfitts Büchern weiterverfolgen. Und sollte das vor Gericht zur Sprache kommen, würde es womöglich eine ganze Lawine auslösen.«

»Und Cardew endgültig an den Galgen bringen«, sagte Rathbone leise. »In seinen Gesellschaftskreisen wird man ihm nie verzeihen, dass er auf einem solchen Boot verkehrt hat, egal, ob er den Dreckskerl, der es betrieb, getötet hat oder nicht.« Seine Lippen kräuselten sich zu einem bitteren Lächeln. »Abgesehen von allem anderen, würde damit die Tatsache ans Licht kommen, dass Männer aus seiner gesellschaftlichen und finanziellen Schicht die Hauptkunden von Kreaturen wie Parfitt waren und ihm seine Machenschaften erst ermöglicht haben. Aber auch wenn das unbestreitbar zutrifft, ist es doch etwas ganz anderes, dergleichen vor der Öffentlichkeit auszubreiten.«

»Das weiß ich«, räumte Monk ein. »Andererseits werden ihm sein Ekel, als er von der wahren Natur der Geschäfte erfuhr, und die Tatsache, dass er danach nicht mehr zu dem Boot zurückkehrte, einiges an Verständnis einbringen. Dafür zu sorgen ist Ihre Aufgabe und nicht der Schutz des Rufs anderer Männer in seiner Situation. Ich weiß von keinem Beweis, dass Cardews Version diesbezüglich in irgendeiner Weise nicht der Wahrheit entspräche.«

Rathbone stemmte die Ellbogen auf den Schreibtisch und legte die Fingerspitzen leicht aneinander. »Sie bieten mir lebenslängliches Gefängnis im Tausch gegen ein volles Schuldeingeständnis einschließlich der beweisbaren Einzelheiten seiner Besuche auf dem Boot, der Beschreibung der Natur der dortigen Vorgänge und einer Darstellung der Zahlung von Erpressungsgeld an Parfitt? Und all das in der Hoffnung, dass es irgendwie zu dem Mann hinter dem Ganzen führt?«

Es hatte keinen Zweck, sich um Bedeutungsnuancen zu streiten. »Ja.«

»Ich werde ihn fragen, bin mir aber nicht sicher, ob ich ihm das in seinem Interesse empfehlen kann. Mein Gott, was für ein Durcheinander!«

Darauf erwiderte Monk nichts.

Den Rest des Tages konzentrierte sich Monk auf die Arbeit am Fluss. Im Pool of London war einem Mann von der East India eine größere Ladung Gewürze gestohlen worden, und es dauerte fast bis Mitternacht, die Waren aufzuspüren und wenigstens einige der an dem Verbrechen Beteiligten zu verhaften. Um Viertel vor eins wirkte der Fluss bei Neumond gespenstisch. Die mit eingeholten Segeln vor Anker liegenden Schiffe sahen im Sternenlicht aus wie ein fein gearbeitetes Flechtwerk aus Spitzen, wunderschön und ohne jede Farbe. Sonst gab es nur noch das gedämpfte Murmeln des Wassers und den scharfen Geruch von Salz in der Luft. Bei den Princes’ Stairs verließ Monk die Fähre und ging langsam den Hügel hinauf nach Hause.

Hester hatte im Wohnzimmer das Licht brennen lassen, doch erst als Monk das Gas abdrehen wollte, erkannte er, dass sie zusammengerollt auf dem großen Sessel lag und tief schlief.

Sein erster Gedanke war: Sie hatte auf ihn gewartet, sonst läge sie längst im Bett. Oder war Scuff krank? Nein, natürlich nicht, denn dann wäre sie jetzt bei ihm. Er erinnerte sich an die vielen Nächte, die sie im Stuhl neben Scuffs Bett verbracht hatte, als der Junge bei der Jagd auf die Verbrecher in der Kanalisation verletzt worden war.

Er beugte sich über sie und sagte ganz leise, um sie nicht zu erschrecken, ihren Namen. »Hester.«

Sie öffnete die Augen und setzte sich auf. Lächelnd strich sie sich Haare aus dem Gesicht. »Er war’s nicht!«, verkündete sie überglücklich.

Monk war verwirrt und zu müde, um zu denken. »Wer war was nicht?«

»Rupert Cardew!« Sie stand auf und war jetzt so nahe bei ihm, dass er ihre Wärme spürte und ihm der Geruch ihrer Haut, ihres Haars, ihrer frisch gewaschenen Baumwollkleider und ihrer Seife in die Nase stieg. »Es tut mir leid. Ich weiß ja, dass der Fall damit weiter offen bleibt und du mit der Fahndung wieder von vorn anfangen musst. Aber ich bin einfach so froh, dass Rupert es nicht war.«

»Hat er dir das gesagt? Es überrascht mich, dass er dich zu sich hereingelassen hat. Hat sein Vater dich mitgenommen?«

Ein angewiderter Ausdruck flackerte über ihr Gesicht. »Um Himmels willen, William! Für wie naiv hältst du mich! Nein, ich war nicht bei ihm und würde auch nicht erwarten, dass er mir gegenüber etwas anderes sagen würde.« Sie strich ihre Röcke ohne besondere Wirkung glatt; sie waren hoffnungslos zerknittert und bedurften dringend eines Plätteisens. »Mit Crows Hilfe habe ich eine Prostituierte aufgetrieben, bei der er an dem bewussten Tag war. Sie gibt zu, sein Halstuch gestohlen und jemand anders gegeben zu haben, ist allerdings zu verängstigt, um zu verraten, wer das war. Aber wenn Rupert es nicht hatte, kann er es auch nicht benutzt haben, um Mickey Parfitt zu erdrosseln. Und das Halstuch ist das einzige Beweismittel, das ihn wirklich belastet. Alles andere sind ja nur Indizien. Er hat nie geleugnet, auf dem Boot gewesen oder deswegen erpresst worden zu sein. Aber dasselbe gilt für so viele andere Leute.«

Sie hatte soeben die Anklage gegen Cardew zu Fall gebracht. Monk hätte darüber befremdet oder wütend sein sollen, doch stattdessen empfand er eine geradezu absurde Erleichterung.

Sie sah es in seinen Augen. Von einer Zentnerlast befreit schlang sie ihm die Arme um den Hals, zog zärtlich seinen Kopf zu sich herab und küsste ihn.

Monk wachte spät auf. Hester war bereits auf den Beinen. Es dauerte noch ein wenig, bis ihm wieder einfiel, was ihm Hester über das Halstuch berichtet hatte. Sobald die Erinnerung zurückgekehrt war, sprang er aus dem Bett, erledigte in Windeseile seine Morgentoilette und war in wenigen Sekunden angezogen. In seinem Kopf nahm eine neue Idee Gestalt an, deren Elemente er jetzt aneinanderreihen und eines nach dem anderen beweisen musste.

Nachdem er sein Frühstück hinuntergeschlungen hatte, gab es nur ein kurzes Gespräch mit Scuff, einen flüchtigen Moment, in dem sich seine und Hesters Blicke begegneten und er ihre Wange berührte, dann stürmte er zur Tür hinaus.

Während die Fähre in ihrem eigenen Rhythmus durch das Wasser zum anderen Ufer des Flusses pflügte, drehten sich seine Gedanken um die neueste Enthüllung und ihre möglichen Auswirkungen. An Hesters Wort hatte er nicht den geringsten Zweifel, später wollte er diese junge Frau selbst aufsuchen und sich vergewissern, dass sie ihre Aussage aus eigenem Antrieb gemacht und niemand sie dabei beeinflusst hatte. Ihr Zeugnis würde womöglich noch einer Überprüfung durch das Gericht standhalten müssen. War es vorstellbar, dass Lord Cardew jemanden angeworben hatte, mit dem Auftrag, sie aufzuspüren und ihr am Ende noch Geld dafür zu geben, wenn sie eine solche Lüge verbreitete? Monk hielt das für ausgeschlossen, doch Gründlichkeit war oberstes Gebot. Wenn je ein anderer dringend Verdächtiger gefunden und vor Gericht gestellt wurde, würde er mit Sicherheit einen Verteidiger nehmen, der hinsichtlich der Raffinesse Oliver Rathbone in nichts nachstand. Da musste man sich auch auf solche Fragen vorbereiten.

Doch das Gespräch mit der neuen Zeugin wollte Monk auf später verschieben. Vorher musste er noch andere mögliche Spuren untersuchen. Orme hatte Parfitts Buchhaltung geprüft, darin aber keinen Hinweis entdeckt, dass Parfitt irgendwelche Zahlungen unterschlagen hätte, die vom eigentlichen Eigentümer stammten. Falls er das trotzdem getan hatte, dann hatte er das Geld sehr sorgfältig verborgen und ganz gewiss nicht für sein persönliches Vergnügen ausgegeben. Er führte kein aufwändigeres Leben, als sich durch die branchenüblichen Einkünfte aus den Geschäften mit dem Boot rechtfertigen ließe, in denen die Erpressungsgelder natürlich nicht auftauchten. Wer immer der unbekannte Drahtzieher sein mochte, hatte folglich kein offensichtliches Motiv, sich Parfitts zu entledigen, zumal ihn dessen Tod ja dazu zwang, einen gleichwertigen Ersatz zu finden.

Oder hatte er schon jemanden im Auge? Einen Freund, einen Verwandten, einen Gläubiger, dem er einen Gefallen schuldete?

Der Wunsch, diesen Kerl endlich zu fassen, war so stark, dass Monk einen bitteren Geschmack auf der Zunge spürte. War es Ballinger? Oder konnte es am Ende sein, dass Ballinger zu den vielen Opfern gehörte und Sullivan genau das gemeint hatte? Ein Opfer wie er, nur dass Ballinger dazu gebracht worden war, vielleicht als Preis für das eigene Überleben noch mehr Opfer anzuwerben? Eine gefährliche Taktik. Ballinger war nicht jemand, dessen Schwächen man ausnutzen konnte.

Bevor er irgendetwas unternahm, musste Monk so viele Fakten wie nur möglich in Erfahrung bringen. Wo, zum Beispiel, war Ballinger in der Nacht von Parfitts Tod gewesen?

Hester hatte ihm von einem Fährmann erzählt, der damals einen Mann von Ballingers Aussehen über den Fluss gerudert und später zurückgebracht hatte. Es konnte nicht allzu schwierig sein, festzustellen, ob das Ballinger gewesen war. Falls er nur einen Freund besucht hatte, gab es auch keinerlei Anlass, es zu leugnen.

»Gewiss«, bestätigte Ballinger lächelnd, als Monk ihn in seiner Kanzlei in der City aufsuchte. »Bertie Harkness.« Er saß bequem hinter seinem Schreibtisch. Das Büro zeugte von dezentem Komfort. Zwei Wände waren von Bücherschränken gesäumt, die unordentlich mit dunklen Lederbänden vollgestellt waren. Keine Frage, sie wurden benutzt und standen nicht zur Zierde herum. An den freien Wänden hingen alte Gemälde mit Jagdmotiven; auf den Kaminsimsen und Festerbänken befanden sich persönliche Erinnerungsstücke, ein silbern gerahmtes Porträt seiner Frau, eine Bronzebüste von Julius Cäsar, ein perlenbesetztes Opernglas.

»Wir kennen uns seit Jahren«, fuhr Ballinger fort. »Eigentlich noch viel länger, als ich mich erinnern möchte. Ich schaue hin und wieder auf ein spätes Abendbrot und ein nettes Gespräch bei ihm vorbei.« Seine Miene drückte Verwirrung aus. »Aber warum macht Ihnen das zu schaffen, Inspektor? Unvorstellbar, dass Sie irgendeinen Verdacht gegen Harkness hegen könnten.« Seine Augenbrauen hoben sich. »Oder bin ich derjenige, den Sie verdächtigen?« Er sagte das mit gelinder Belustigung, doch seine Augen richteten sich mit beängstigender Direktheit auf sein Gegenüber.

Monk setzte eine überraschte Miene auf. »Sie? Welcher Tat denn? Dass Sie vielleicht versucht sein könnten, Verständnis für Parfitts Mörder aufzubringen, wer immer das auch war? Viele, darunter auch ich, können ihn irgendwie verstehen. Aber ich glaube nicht, dass Sie lügen würden, um ihn zu schützen.« Er deutete ein Schulterzucken an. »Es sei denn, er wäre ein Familienmitglied. Aber zu dieser Vermutung besteht ja keinerlei Anlass.«

Ballinger wirkte immer noch verwirrt. Monk senkte den Blick auf die Hände seines Gegenübers, die regungslos auf der mit Leder bezogenen Tischplatte ruhten. Nur mit äußerster Konzentration konnte man dafür sorgen, dass man sich derart still hielt.

Monk lächelte. »Ich habe eine ungefähre Vorstellung, was den Zeitpunkt Ihrer Fahrt über den Fluss betrifft … mit der Fähre.« Er bemerkte, dass ein schwaches Lächeln Ballingers Mundwinkel geringfügig hob, und in diesem Moment erkannte er, dass Ballinger trotz allen Bemühens, diesen Eindruck zu erwecken, keineswegs überrascht war. »Natürlich haben wir diejenigen verhört, von denen wir wussten, dass sie sich dort regelmäßig aufhielten«, fuhr Monk mit fast ausdrucksloser Stimme fort. »Zum Beispiel Fährmänner. Es besteht ja immer die Möglichkeit, dass ein zufälliger Zeuge etwas gesehen haben könnte, dessen Bedeutung er erst später erkennt.«

»Ich habe Rupert Cardew nicht gesehen«, erklärte Ballinger, die Augen forschend auf Monks Gesicht gerichtet. »Zumindest bin ich mir dessen nicht bewusst. Ich habe ein paar andere Leute am Fluss beobachtet; einige kamen mir wie junge Männer vor, die zweifelsohne privaten Vergnügungen nachgingen, aber ich könnte es nicht verantworten, irgendeinen Namen zu nennen. Es tut mir leid.«

»Dennoch«, beharrte Monk, »wenn Sie mir den Zeitpunkt nennen könnten, so gut Sie sich daran erinnern, und mir exakt beschreiben, was Sie gesehen haben, würde uns das vielleicht auch helfen.«

Ballinger zögerte, als verstünde er immer noch nicht, was daran so wichtig sein sollte.

»Uns ist schon geholfen, wenn bloß die Version eines anderen bestätigt wird«, fügte Monk hinzu. »Oder widerlegt.«

»Ich könnte niemanden identifizieren.« Ballinger vollführte eine Geste der Hilflosigkeit. »Bis auf den Fährmann natürlich. Stanley Willington.«

Monk nickte. »Selbstverständlich. Aber wenn Sie eine oder zwei Personen bemerkt haben, kann uns das vielleicht weiterbringen. Oder wenn Sie gewisse Leute nicht bemerkt haben, obwohl sie zur fraglichen Zeit dort gewesen sein wollen …« Er ließ den Satz bewusst in der Luft hängen und überließ es Ballinger, Schlüsse daraus zu ziehen.

»Ja … ich verstehe. Lassen Sie mich überlegen …« Ballingers Augen bohrten sich immer noch in die Monks, als handelte es sich um ein Duell, bei dem keiner als Erster nachgeben durfte. »Ich habe einen Hansom nach Chiswick genommen und dürfte gegen neun angekommen sein. Am Fluss hielt sich noch eine ganze Reihe von Leuten auf, obwohl es ja schon dunkel war. Ich habe sie als Schemen auf dem Kai wahrgenommen. Sie haben geredet, gelacht. Ich habe Rauch gerochen – Zigarren. Das habe ich deshalb in Erinnerung behalten, weil das Aroma nicht zu verkennen ist. Und es ist ein Hinweis auf Herren aus der besseren Gesellschaft.«

Monk nickte. Das war wirklich klug von Ballinger, dass er diese Beobachtung eingestreut hatte.

»Ich musste etwa zehn Minuten auf die Fähre warten. Ich zog es nämlich vor, wie stets mit Stanley zu fahren. Er ist immer so unterhaltsam.«

Die Beschreibungen waren gut, und sie stimmten mit Willingtons eigener Aussage überein, was Ballinger mit Sicherheit von vornherein eingeplant hatte.

Ballinger redete weiter. Alle Angaben bestätigten, was Monk bereits wusste, aber trotzdem dienten sie dem Zweck, den er verfolgte. Später würde er alles überprüfen, nicht nur mit Hilfe der Männer, die bis hinauf zum gut eineinhalb Meilen entfernten Mortlake am Fluss arbeiteten, sondern auch anhand von Bertie Harkness’ Angaben, dessen Adresse ihm Ballinger ebenfalls genannt hatte.

Zu guter Letzt standen sie in der Tür, wo sich Monk beim Abschied noch einmal bedankte. »Ihre Angaben können sich als wertvoll erweisen und uns dabei helfen, jemanden bei einer Lüge zu ertappen.«

»Ich gebe zu, dass ich den Zweck des Ganzen immer noch nicht begreife«, erwiderte Ballinger. »War es denn eine Fehlinformation, dass Sie genügend Beweise haben, um Rupert Cardew vor Gericht zu stellen?«

Monk lächelte, vielleicht etwas zu wölfisch – dank bitterer Erinnerungen. »Er wird von Oliver Rathbone verteidigt«, gab er zur Antwort. »Darum benötige ich jeden Beweisfetzen, den ich finden kann. Es darf keine Überraschungen geben, keine Schlupflöcher. Sie verstehen.«

Ballinger atmete tief ein, dann ließ er die Luft mit einem Seufzen entweichen und erwiderte das Lächeln. »Natürlich«, bestätigte er, ohne sich darum zu bemühen, seine Freude zu verbergen.

Einen weiteren Arbeitstag verbrachte Monk damit, sämtliche Aussagen zu überprüfen, die ihm von ’Orrie Jones, Crumble, Tosh und einer Reihe von Arbeitern vorlagen, die das Boot gewartet hatten. So kam er erst spät dazu, Bertram Harkness aufzusuchen.

Harkness war ein beleibter Herr und wie Ballinger in den frühen Sechzigern. Auffällig an ihm war seine militärische Haltung, auch wenn er weder einen Rang noch irgendwelche Dienstjahre bei der Armee erwähnte. Sein kurz geschnittenes Haar wurde, wie auch sein struppiger Bart, allmählich grau.

Er empfing Monk im Büro seines Hauses, ein Raum, gesäumt von Büchern, Zeichnungen und einer sonderbaren Mischung aus Muscheln und Miniaturabgüssen von Schusswaffen, welche größtenteils napoleonische Geschütze darstellten.

»Ich weiß nicht, wie Sie darauf kommen, dass ich Ihnen irgendetwas sagen kann«, begann Harkness ziemlich abrupt. »In der fraglichen Nacht war ich halbwegs nahe beim Fluss, aber ich habe nichts gesehen oder gehört. Ich habe ein spätes Abendessen mit Arthur Ballinger genossen, den ich seit Jahren kenne. Seit unserer Schulzeit, genauer gesagt. Er schaut oft bei mir vorbei. Ich selbst komme wegen meiner Verletzung nicht mehr so viel herum. Bin böse von meinem Pferd gestürzt.« Er klopfte auf seinen rechten Schenkel. »Nett von Ballinger. Hält mich immer auf dem neuesten Stand, was Nachrichten betrifft, die ich nicht aus den Zeitungen erfahre, Sie verstehen?«

Monk nickte. »Ich verstehe. Ja, es muss erfreulich sein, Einsichten zu erhalten, die tiefergehend sind als das, was in den Druckerzeugnissen für die Allgemeinheit steht.«

»Verdammt richtig! Was, um alles in der Welt, wollen Sie dann also von mir, junger Mann? Ballinger ist über den Fluss gekommen. Ist doch nett, an einem Herbstabend so zu reisen. Aber, Menschenskind, glauben Sie wirklich, dass er nicht sofort zu Ihnen gekommen wäre, wenn er irgendetwas von diesem vermaledeiten Mord mitbekommen hätte?« Nicht nur Harkness’ Stimme verriet Kampfeslust, sondern auch sein vorgereckter Kopf.

»Doch, Sir«, erwiderte Monk höflich, dem zunehmend klar wurde, dass Harkness leicht reizbar war. »Er hat mir bereits genau beschrieben, was er beobachtet hat. Aber es geht um die exakten Zeiten, und in dieser Hinsicht ist er sich nicht sicher. Da habe ich mir gedacht, dass Sie mir vielleicht helfen könnten.«

Das schien Harkness zu besänftigen. »Ah! Schlimme Angelegenheit. Tut mir leid für Cardew. Armer Teufel. Hat seinen älteren Sohn verloren und den jüngeren nach Strich und Faden verwöhnt. Kommt vor. Ein Fehler, den viele machen. Jetzt wird er einen hohen Preis dafür zahlen. Beide Söhne verloren. Name der Familie ruiniert. Nichts als Kummer mit den Kindern. Ich würde den Dreckskerl ja auspeitschen lassen, wenn sie ihn nicht sowieso hängen würden.«

»Die Uhrzeiten, Mr Harkness«, erinnerte ihn Monk. »Mir wäre sehr geholfen, wenn Sie diesbezüglich Angaben machen könnten, die es mir erlauben würden, genau einzuordnen, wann Mr Ballinger auf dem Fluss war, und zwar sowohl auf dem Hin- als auch auf dem Heimweg.«

»Weiß das denn der verdammte Fährmann nicht?«

»Nein, Sir.«

»Tja, ich habe auch nicht auf die Uhr geschaut«, sagte Harkness schroff. »Wenn ich mich richtig erinnere, haben wir uns gegen zehn Uhr zum Abendessen an den Tisch gesetzt. Und danach haben wir uns noch ungefähr eine Stunde lang unterhalten. Schätze, dass er gegen Mitternacht aufgebrochen ist. Was immer er sagt, das dürfte so ungefähr stimmen.«

Je länger Harkness geredet hatte, desto selbstzufriedener hatte seine Stimme geklungen. Und jetzt wollte er gar nicht mehr aufhören. »Auch wenn er sich nicht so genau mit den Zeiten auskennt, ein guter Sportsmann ist er, mein Freund Ballinger. So was habe ich schon immer bewundert, wissen Sie?« Er musterte Monk von oben bis unten. »Nein, das wissen Sie wohl nicht. Dabei sehen Sie gar nicht aus wie ein verdammter Polizist, das muss Ihnen der Neid lassen.«

Monk schluckte seinen Zorn mit beträchtlicher Mühe hinunter. »Guter Sportsmann?«, fragte er.

»Hab ich doch gesagt! Herrgott, Mann! Verdammt gut an den Rudern. Und beim Ringen erst! Stark, verstehen Sie?«

»Gewiss, Sir.« Monk atmete langsam aus. Da war es, das unverhoffte Geschenk unter all den irrelevanten Einzelheiten. Der Gedanke leuchtete hell und heiß in seinem Bewusstsein. »Danke, Mr Harkness.«

Harkness zuckte mit den Schultern. »Ehre, wem Ehre gebührt; daran habe ich mich schon immer gehalten«, sagte er, den Rücken noch ein wenig mehr durchgestreckt.

Monk verkniff sich eine Erwiderung, obwohl ihm schon eine auf der Zunge lag. Er dankte Harkness noch einmal und ließ sich vom Butler in die zunehmend stürmische Dunkelheit führen.

Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis er einen Fährmann fand, der bereit war, ihn von Mortlake nach Chiswick zu rudern. Und dann maß er die Zeit für die Überfahrt bis zum Anlegen. Nachdem er im Boot Platz genommen hatte, ließ er sich noch einmal durch den Kopf gehen, was ihm Harkness gesagt hatte, insbesondere die Zeitangaben und die Details, die er ihm hatte bestätigen können.

Natürlich war keine der Zeiten exakt gewesen. Die einzige Möglichkeit, sie zu überprüfen, bestand im Vergleich mit den Angaben der anderen Zeugen. ’Orrie hatte Parfitt zu dem weiter oben stromaufwärts kurz vor Corney Reach vertäuten Boot gerudert, um ihn dort bis mindestens Viertel nach elf allein zu lassen. Vom Zweck des Ganzen hatte er angeblich keine Ahnung gehabt.

Binnen einer Stunde hätte ’Orrie zu Parfitt zurückkehren sollen, war aber aufgehalten worden, sodass er es erst um etwa zehn vor eins geschafft hatte. Zu diesem Zeitpunkt traf er Parfitt aber nicht mehr an.

Crumble hatte ’Orries Abfahrt und Rückkehr jeweils bestätigt. Tosh hatte seine Angaben gestützt und auch Aussagen zu seinen eigenen Aktivitäten gemacht – was nicht schwierig war, da Crumble und er die meiste Zeit zusammen gewesen waren.

Ballinger war gegen neun Uhr an Bord der Fähre gegangen und hatte sich den ganzen Weg vorbei an der Ait, den Corney Reach entlang direkt nach Mortlake rudern lassen, wo Harkness sich ziemlich präzise zu den Zeiten seiner Ankunft und Abreise geäußert hatte. Der Fährmann bestätigte, ihn eine halbe Stunde nach Mitternacht an Bord gelassen und Chiswick mehr oder weniger genau um ein Uhr in der Früh erreicht zu haben.

Rupert Cardew dagegen war betrunken gewesen und konnte nicht belegen, wie er den Großteil des Abends verbracht hatte, nachdem er Hattie Benson verlassen hatte. Diese wiederum bekannte, sein Halstuch gestohlen und jemandem überlassen zu haben, dessen Namen zu nennen sie sich weigerte. Angst? Oder war ihr Geld gegeben worden, damit sie das behauptete, und fürchtete sie jetzt die Folgen ihrer Lüge?

Parfitts Leiche war oberhalb des Boots am Corney Reach gefunden worden. Wie weit war er mit der Flut abgetrieben – oder gezogen worden? Wo war er überhaupt getötet worden? War das notwendigerweise auf dem Boot geschehen? Hatte er sich womöglich von ’Orrie zum Boot rudern lassen, um sich dann in einer Art Floß davon zu entfernen? Oder war jemand anders übers Wasser gekommen, bei dem er dann mitgefahren war?

Diese Fragen brannten Monk auf den Nägeln, und auf jede einzelne davon brauchte er eine Antwort.

Hatte der Mörder Parfitt mitgenommen und, um Verwirrung zu stiften, die Leiche weiter oben stromaufwärts über Bord geworfen, damit sie in Richtung Meer trieb? Je mehr Monk über diese Variante nachdachte, desto plausibler erschien sie ihm. Womöglich war er von Anfang an mit dem falschen Ansatz an das Verbrechen herangegangen. Zunächst hatte es nach einer Verzweiflungstat ausgesehen, begangen von einem Mann, der wütend war und Angst davor hatte, bloßgestellt oder durch Erpressung in den Ruin getrieben zu werden. Aber vielleicht war der Mord doch von einem kühl berechnenden Kopf sehr viel sorgfältiger geplant worden. Dann war es kein Verbrechen aus Leidenschaft, sondern eine rein geschäftliche Entscheidung.

Hatte Parfitt womöglich gegen seinen Geldgeber aufbegehrt und mit seiner Geldgier das ganze Projekt gefährdet? Oder hatte er heimlich mehr von den Einnahmen für sich abgezweigt, als ihm zustand?

Das brachte Monk auf eine Frage, die er zugleich fürchtete und doch am dringendsten zu beantworten suchte: Könnte es Ballinger selbst gewesen sein, der Parfitt getötet hatte? Oder war dieser Gedanke abwegig?

Erneut rechnete er sorgfältig die Zeiten für jede Aktion durch. Wenn jeder die Wahrheit sagte – Tosh, ’Orrie Jones, Crumble, der Fährmann, Harkness, Hattie Benson und sogar Rupert Cardew –, dann war es doch möglich, dass Ballinger, laut Harkness ein starker Ruderer, mit dem Boot seines Gastgebers losgerudert war und Parfitt irgendwo am Ufer getroffen hatte. Dort hätte er ihn töten und die Leiche ins Wasser legen können, bevor er zurückruderte, um das Boot wieder an Ort und Stelle zu vertäuen, und hätte, genauso wie er ausgesagt hatte, die Fähre zurück nach Chiswick genommen. Dieser Zeitrahmen war zwar knapp, aber einzuhalten. Der Gedanke daran lag Monk schwer im Magen, sorgte für Übelkeit und ließ sich einfach nicht abschütteln.

Wie aufrichtig war sein eigenes Denken in dieser Angelegenheit? Wünschte er die Antwort tatsächlich so verzweifelt herbei, dass er dafür alles in Kauf nehmen würde, alles außer einer Niederlage?

Was er benötigte, war ein Beweis dafür, dass Ballinger Parfitt und – falls möglich – auch Jericho Phillips gekannt hatte. Das würde erfordern, dass er sämtliche Spuren ein weiteres Mal sorgfältig zurückverfolgte und im Hinblick auf ein neues Handlungsmuster analysierte, das sich grundsätzlich von den bisher für möglich gehaltenen Abläufen unterschied. Und damit musste er sofort anfangen, sobald er diese Hattie Benson gesprochen und ihre Aussage über das Halstuch überprüft hatte.

Er traf sie am nächsten Vormittag in der Küche ihres kleinen Hauses an, das sie in Chiswick mit jemandem teilte. Sie wirkte müde und hatte verquollene Augen, aber auch wenn der Gürtel ihres Morgenrocks zerrissen war und ihr Haar sich aus den Klammern gelöst hatte und völlig zerzaust herunterhing, zeugten ihre makellose Haut und ihr naives Gesicht von Schönheit.

»Ich hab nix getan!«, rief sie, noch bevor Monk sich ihr gegenüber auf den Stuhl mit der wackeligen Lehne gesetzt hatte.

»Ich will Sie ja gar nicht verhaften, Miss Benson«, wiegelte er mit einem düsteren Lächeln ab. »Ich glaube nur, Sie können mir helfen.«

Sie verdrehte die Augen. »Ach ja? Um diese Zeit am Morgen schon? Sie sollten sich was schämen! Was, meinen Sie, würde Ihre Frau dazu sagen, hä?«

»Das können Sie sie selbst fragen, wenn Sie sie wiedersehen. Ich würde gerne noch einmal von Ihnen hören, was Sie ihr über das Halstuch erzählt haben, das Sie Rupert Cardew gestohlen haben.«

Hattie starrte ihn mit offenem Mund an.

»Sie kam hierher in Begleitung eines Mannes namens Crow, wie ich glaube«, fügte Monk hinzu. »Sie haben ihnen erzählt, was hier an dem Tag vor dem Fund von Mickey Parfitts Leiche geschehen ist. Jetzt muss ich Sie bitten, mir alles noch einmal zu berichten, und zwar möglichst detailliert.«

Sie erstarrte. »Das kann ich nich’!«

»O doch!«, beharrte er. »Es sei denn, natürlich, Sie hätten gelogen.« Wie konnte er das Mädchen dazu bringen, ihm alles zu schildern, und sich gleichzeitig davon überzeugen, dass es die Wahrheit war? Vielleicht hatte sie sich im Gespräch mit Hester und Crow als einfache Zeugin gesehen und erst jetzt begriffen, welche Gefahren ihr drohten, wenn sie der Polizei erklärte, dass Cardew unschuldig war. Womöglich dämmerte ihr nun, dass man den Fall von vorn aufrollen und alle möglichen Leute verhören würde, die sie kannte und die sie kannten.

»Hattie.« Er zwang sich, in sanftem Ton zu sprechen, gleichwohl beugte er sich etwas weiter über den Tisch. »Ich will Sie nicht wegen Diebstahls anzeigen, egal, ob Sie vorhatten, das Halstuch für sich zu behalten, zu verkaufen oder es jemandem zu schenken. Und ich halte es bestimmt nicht für wahrscheinlich, dass Sie Mickey Parfitt damit erdrosselt haben, auch wenn das andererseits nicht unmöglich wäre.« Er ließ die Andeutung bewusst in der Schwebe.

»Sie sind verrückt, Mann! Total verrückt!«, schrie sie entsetzt. »Wie, in Gottes Namen, soll ich denn einen Mann wie Mickey erdrosseln? Er war zwar dürr wie ein Besenstil, aber Kraft hatte er! Der hätte mir den Schädel eingeschlagen.«

»War er gewalttätig?«

»Und ob er gewalttätig war, Sie Schafskopf! Der hat jeden zu Brei geschlagen, der ihn geärgert hat.«

»Wen, zum Beispiel?«

»Sie glauben, dass diese Leute ihn umgebracht haben? Angenommen, ich sag’s Ihnen, glauben Sie nich’, dass die dann auf mich losgehen?«

»Sie hätten Mickey töten können«, meinte Monk gedankenverloren. »Jemand hat ihm einen schweren Schlag auf den Hinterkopf versetzt, wahrscheinlich mit einem herabgefallenen Ast. Als er dann bewusstlos war, wurde er erdrosselt. Dafür muss man nicht besonders stark sein.«

»Von mir aus, aber ich war’s nich’! Ich hatte die ganze Nacht bis zwei in der Früh Kunden da. Und dann war ich wie gerädert.«

»Namen würden es mir leichter machen, Ihnen zu glauben.«

»Na klar! Das macht sich gut in meinem Geschäft, wenn ich Ihnen ’ne Liste mit den Kunden gebe, die bloß ’n bisschen Spaß haben wollen. Bewirkt Wunder für meinen guten Ruf!«

»Ich denke, ich kann die Namen auch woanders erfahren«, sagte Monk leichthin. »Ich kann ja in den Pubs der Mall herumfragen, wer alles bei Ihnen war.«

Ihr ohnehin schon blasses Gesicht wurde weiß wie die Wand. »Bitte, Mister, Sie ruinieren mich! Wenn ich meine Kunden verliere, is’ mein einziges Einkommen weg! Und ich hab doch noch Schulden. Dann gehen die Gläubiger auf mich los!« Sie beugte sich weit zu Monk hinüber, sodass er ihre Wärme spüren konnte und ihm ein Hauch von Parfum und Schweißgeruch in die Nase stieg. »Wenn ich Ihnen sag, dass ich an dem Nachmittag das Halstuch geklaut hab, dann wissen Sie, dass es nich’ Mr Cardew war, der Mickey umgebracht hat, aber dann fangen Sie wieder von vorn mit der Fragerei an. Und wenn Sie sich auch Tosh noch mal vorknöpfen, zieht er mir bei lebendigem Leib die Haut ab, weil er meinetwegen Ärger gekriegt hat. Grün und blau wird er mich schlagen, und dann kann ich erst recht nich’ arbeiten.«

»Sie haben recht«, sagte Monk sanft. »Das wäre gemein.«

Sie holte zittrig Luft und versuchte ein Lächeln.

»Besser Rupert Cardew hängen lassen, nicht?«, fuhr Monk leise fort. »Wer, glauben Sie, hat Mickey umgebracht?«

Sie ballte die Hände so fest, dass die Knöchel weiß anliefen.

»Ich weiß nich’ …«, flüsterte sie.

»Er wird zurückkommen müssen, um dafür zu sorgen, dass Sie es niemandem verraten«, warnte Monk. »Rupert wird sich daran erinnern, dass Sie ihm das Halstuch gestohlen haben. Das wird er dem Gericht sagen, selbst wenn ihm das niemand glaubt. Wie ich das sehe, wird der Staatsanwalt Sie als Zeugin vorladen, einfach damit Sie das bestreiten. Rupert soll sozusagen jeder Ausweg versperrt werden.«

»Himmel!«, stieß sie heiser hervor. »Sie sind ein Dreckskerl! Schlimmer noch als Tosh!«

»Nein, Hattie, das stimmt nicht«, widersprach Monk, obwohl ihm schmerzhaft bewusst war, dass ihr Vorwurf einen wahren Kern enthielt. »Ich möchte, dass Sie mir die Wahrheit sagen. Als Ausgleich werde ich für Ihre Sicherheit sorgen.«

»Ach ja?« Sie schnaubte verächtlich. »Und wie wollen Sie das machen? Mir irgendwo ein hübsches, kleines Zimmer kaufen, wo mich keiner findet, isses das? Und Essen und ’ne Beschäftigung?«

Mit einem Mal hatte Monk die Antwort vor Augen. »Jawohl, genau das werden wir tun. Aber vorher brauche ich die Wahrheit, am besten auf eine Weise, die sich überprüfen lässt.«

Sie blinzelte. In ihren Augen flackerte Hoffnung auf. »Wie denn?«

»Beschreiben Sie mir das Halstuch.«

»Hä? Das war doch bloß ein dunkelblaues Tuch. Hatte ungefähr diese Form …« Sie deutete die Größe an. »Aus Seide«, ergänzte sie noch.

»Wie lang?«

Wieder versuchte sie es und hielt die Arme einen knappen Meter auseinander.

»Weiter«, forderte er sie auf. »Was noch?«

»In der Mitte is’ es schmaler und an den Enden breiter. Ein Ende is’ größer als das andere … irgendwie länger.«

»War es einfach oder gemustert?«

»Gemustert. Mann, das wissen Sie doch! Es waren kleine gelbe Tiere drauf. Katzen oder so was.«

»Wie angeordnet?«

»Eine über der anderen. Insgesamt drei.«

»Danke, Hattie. Ich glaube Ihnen. Jetzt packen Sie ein paar Kleider in eine Tasche und ziehen sich an. Ich bringe Sie an einen sicheren Ort.«

Sie rührte sich nicht von der Stelle. »Wo?«

»In der Stadt. Portpool Lane. Dort werden Sie in Sicherheit sein. Sie werden Essen und ein eigenes Zimmer bekommen. Dafür werden Sie arbeiten. Mrs Monk wird Ihnen sagen, was anfällt.« Er bemerkte ihre skeptische Miene. »Das Haus war früher ein Bordell«, ergänzte er mit einem breiten Grinsen. »Jetzt ist es eine Klinik für kranke oder verletzte Frauen.«

Sie stieß aus tiefstem Herzen einen blumigen Fluch aus, tat aber, wozu er sie aufgefordert hatte.

Für die Strecke von der Chiswick Mall zum Herzen Londons nahmen sie einen Hansom. Es war eine lange, teure Fahrt, doch für Monk war der Aufwand durch die besonderen Umstände mehr als gerechtfertigt. Er wollte auf keinen Fall, dass man sie zusammen mit ihm sah; mehr noch, das konnte er sich schlichtweg nicht leisten. Wer hinter ihr her war, hätte es auf diese Weise leicht, ein paar Erkundigungen anzustellen und die Klinik zu finden. Vielleicht sollte er Squeaky Robinson einschärfen, Hattie besonders im Auge zu behalten und darauf zu achten, dass sie sich nicht in den Räumen zeigte, wo ambulante Patientinnen Behandlungen oder sonstige Hilfe erhielten. Zumindest bis sie ihre Aussage vor Gericht gemacht hatte, war erhöhte Vorsicht dringend angebracht. Danach musste ihre Sicherheit neu bewertet werden.

Während die Räder über das Pflaster rumpelten, bemühte er sich um ein Gespräch mit ihr, um sie von ihrer Situation abzulenken, aber auch in der Hoffnung, mehr über sie zu erfahren. Mit beidem kam er nicht sehr weit.

»Sie müssen verhindern, dass er mich findet!« Sie schlang beide Arme um ihren Oberkörper und beugte sich auf ihrem Sitz weit vor. »Er bringt mich um, er bringt mich um!«

»Wer?«

»Tosh natürlich!«, rief sie ärgerlich. »Vor Crumble hab ich keine Angst. Der könnte nich’ mal ’ne Fliege zerquetschen. Hat Angst vor seinem eigenen Schatten und noch viel größere vor Tosh.«

»Und ’Orrie Jones?«

»Keine Ahnung. Manchmal meine ich, der is’ blöd im Kopf, aber dann wieder gibt es Zeiten, wo ich mir da nich’ so sicher bin. Aber er würde nie was von selber machen; Tosh muss es ihm schon anschaffen.«

»Haben Sie je den Namen Jericho Phillips gehört?«

»Nein. Wer is’ das?«

»Er ist jetzt tot, aber er führte ein Boot wie das von Mickey, nur weiter unten in der Stadt.«

»Und jetzt is’ Mickey tot, hm?«, murmelte sie nachdenklich. »Könnte Mr Cardew den anderen auch umgebracht haben?«

»Nein. Bei Phillips wissen wir, wer ihn ermordet hat. Der Täter hat sich danach selbst getötet.«

Sie stieß ein leises Grunzen aus.

»Wie sind Sie eigentlich darauf gekommen, dass es in beiden Fällen derselbe Mörder sein könnte?«, fragte Monk. »Und können Sie sich vorstellen, dass Mickey und Phillips sich kannten?«

»Keine Ahnung. Mickey hat nich’ für sich selbst gearbeitet. Er kam aus Chiswick wie alle anderen von uns auch. Er hatte nie genug Geld, um sich ein Boot zu kaufen. Jemand hat ihn da reingesetzt. Vielleicht war das dieselbe Person wie bei dem anderen.«

»Rupert Cardew?«

»Seien Sie nich’ so dämlich!«, blaffte Hattie. »Wieso sollte er mich sein Halstuch klauen lassen, damit alle ihn für Mickeys Mörder halten, noch dazu, wenn er der Mann hinter dem Ganzen is’? Nein, nein, das is’ einer, der doppelt so viel Verstand hat wie er.«

»Auch mehr als Mickey oder als Tosh?«

»Die sind schlau, aber das is’ nich’ dasselbe wie Verstand.«

Dem widersprach Monk nicht. Ganz bewusst lenkte er das Gespräch zu angenehmeren Themen, bei denen sie blieben, bis sie endlich in der Portpool Lane eintrafen. Er führte Hattie gleich ins Haus, wo er sie erst Squeaky Robinson und dann Claudine Burroughs vorstellte, denen er jeweils erklärte, warum es nötig war, sie zu schützen.

»Sie kann mir helfen«, erklärte Claudine entschieden. »Ich werde sie nicht aus den Augen lassen.«

Monk dankte ihr, fragte sich aber insgeheim skeptisch, was Hattie dazu sagen würde. Andererseits würde sie hier vermutlich die beste Fürsorge erhalten, die sie je erfahren hatte.

Am nächsten Vormittag suchte Monk Rathbone auf und berichtete ihm, dass er neue Hinweise erhalten hatte, die Rupert Cardews Täterschaft bei Mickey Parfitts Tod so gut wie ausschlossen.

Rathbone verstand die Welt nicht mehr. »Und das Halstuch? War es doch nicht seines?« Er konnte einfach nicht glauben, dass er aus heiterem Himmel der Verantwortung für eine unmögliche Aufgabe entbunden worden war.

»Doch, es war seines«, erwiderte Monk und nahm unaufgefordert auf dem Stuhl vor Rathbones Schreibtisch Platz. »Eine Prostituierte hat es ihm am Nachmittag des fraglichen Tages gestohlen und jemandem gegeben, dessen Namen zu nennen sie jedoch zu große Angst hat. Aber ich glaube ihr. So präzise, wie sie es beschrieben hat, muss sie es gesehen und befühlt haben, als es abgenommen worden war, denn sie wusste, dass es aus Seide war. Sie gestand mir, dass sie es gestohlen hat.«

Rathbone setzte zu einer Erwiderung an, überlegte es sich dann aber anders.

Lächelnd machte Monk es sich ein bisschen bequemer. »Hat Lord Cardew ihr Geld gegeben, damit sie das sagt?« Er sprach etwas aus, wovon er wusste, dass es Rathbone gerade durch den Kopf ging. »Sie können ihn jederzeit fragen.«

»Wo ist sie?« Der Anwalt ersparte es sich, seine Meinung über diese Bemerkung zu äußern.

»Das möchte ich Ihnen lieber nicht sagen«, antwortete Monk. »Um Ihrer Sicherheit und auch der des Mädchens willen.«

Ganz kurz weiteten sich Rathbones Augen, dann war sein Gesicht wieder eine ausdruckslose Maske. »Was werden Sie jetzt weiter in dieser Sache unternehmen?«, fragte er. »Sind Sie froh, diesen Fall als ungeklärt abhaken und sich einem neuen zuwenden zu können? Will irgendjemand wirklich wissen, wer Parfitt umgebracht hat?«

»Lord Cardew vielleicht«, bemerkte Monk. »Solange wir nichts Genaues wissen, wird immer ein Schatten auf seinem Sohn liegen. Aber ob er auf eine Klärung drängt oder nicht, ich will es tatsächlich wissen. Nicht dass ich einen Pfifferling auf Parfitt geben würde, aber ich muss herausfinden, wer hinter ihm stand, Oliver.« Er wandte die Augen nicht ab. Und er wusste genau, was Rathbone jetzt dachte, welche Erinnerungen ihm durch den Kopf gingen und was auf ihm lasten würde, wenn er, Monk, recht hatte.

Mehrere Sekunden lang starrten sie einander an, dann erhob Monk sich. »Es tut mir leid«, sagte er leise, fast im Flüsterton, »aber ich kann diese Sache nicht auf sich beruhen lassen.«

Rathbone gab keine Antwort.

Monk ging allein zur Tür. Als er im Foyer am Butler vorbeikam, bedankte er sich ausdrücklich.

Obwohl die Sonne schien, fühlte sich die Luft draußen kalt an.

Die nächsten zwei Tage verbrachte Monk damit, jeden zu befragen, der irgendwie mit Mickey Parfitt zu tun gehabt oder in der Nacht des Mordes jemanden direkt am Fluss oder in den Docks von Chiswick oder Mortlake gesehen hatte. ’Orrie, Crumble und Tosh wiederholten ihre Geschichten fast wortwörtlich, und am liebsten hätte er sie durchgeschüttelt. Nichts hatte sich geändert. Es stand immer noch im Raum, dass Ballinger körperlich in der Lage gewesen wäre, Parfitt zu töten, doch ohne ein offensichtliches Motiv, ohne Beweis, dass die zwei einander gekannt hatten, konnte man allenfalls von einer Mutmaßung, nicht von einem konkreten Verdacht sprechen.

Monk lief einen Uferweg den Corney Reach entlang, als er gegen einen Angler prallte.

»Laufen Sie doch nicht so dicht hinter mir!«, zischte ihn der Mann an. »Ich hätte Ihnen mit der Rute das Auge ausstechen können, Sie Trottel! Wo sind Sie denn aufgewachsen? In der Wüste?« Der Mann, der so schimpfte, war ein dürrer kleiner Bursche mit langer Nase und hohlen Wangen. Seine tief über die Stirn gezogene Mütze verbarg das, was ihm von seinen Haaren noch geblieben war.

Monk bat um Entschuldigung, was ungnädig akzeptiert wurde. Danach wollte er eigentlich schon weiterlaufen, aber aus bloßer Gewohnheit stellte er doch noch seine Frage: »Verbringen Sie viel Zeit hier?«

Der Fischer blinzelte ihn scheel an. »Natürlich tue ich das, Sie Blödmann! Ich leb schließlich dort drüben.« Mit einer ruckartigen Bewegung wies er in die Richtung eines Feldwegs, der von dem Städtchen in die Felder führte.

»Haben Sie ein Boot?«

»Ja, aber es is’ nich’ zu vermieten. Ich will nich’, dass irgendein Hornochse, der nich’ weiß, wo vorn und wo hinten is’, es mir zu Bruch fährt.«

»Ich bin auf Booten aufgewachsen«, entgegnete Monk säuerlich. Dass nach seinem Gedächtnisverlust nur Bruchstücke von Erinnerungen in ihm aufflackerten, ging diesen Mann nichts an. »Und ich bin auf der Suche nach Zeugen, nicht nach einem Boot zum Rausrudern.«

»Zeugen wofür? Ich hab nix gesehen. Nich’ mal ein blöder Fisch hat sich heute gezeigt.«

»Es geht nicht um heute. Sondern um den Tag, bevor Mickey Parfitts Leiche aus dem Fluss gezogen wurde.«

Der Mann kniff die Augen zusammen. »Was gab’s da schon zu sehen?«

»Leute, die kamen und gingen, und zwar solche, die keine Fährmänner waren. Irgendjemand, der sich ungewöhnlich verhielt. Irgendjemand, der in Eile war, Angst hatte, stritt, wegrannte.«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Herrgott, Sie wollen nich’ grade viel, was? Das Einzige, was ich gesehen hab, war, dass Tosh über den Kai hinter Mickey hergerannt is’ und geschrien hat, dass er warten soll. Dann zieht er ein Stück Papier aus der Hosentasche und gibt es ihm. Mickey liest es, stößt einen grässlichen Fluch aus, reißt Tosh einen Stift aus der Hand, schreibt was auf die Rückseite und gibt ihm das Papier zurück. Danach ruft er den Fährmann und sagt ihm, dass er es sich anders überlegt hat. Und gleich darauf stürzt er aufgeregt davon. Soviel ich weiß, is’ ihm keiner gefolgt, und keiner hat ihn niedergeschlagen oder erwürgt und schon gar nich’ in den Fluss geschmissen.«

Monk spürte ein Prickeln. »Mickey war also im Begriff wegzufahren und hat sich dann blitzschnell anders entschieden?«, drängte Monk.

»Das hab ich doch gerade gesagt, Sie Blödmann! Hören Sie nich’ zu?«

»Wann war das ungefähr?«

»So um halb elf.«

»Danke. Das war sehr hilfreich. Wie heißen Sie, falls ich noch mal mit Ihnen sprechen muss?« Fast hätte er hinzugefügt, dass er eine offizielle Aussage von ihm benötigte, biss sich dann aber auf die Zunge. Er würde später Orme zu ihm schicken, und dann würden dem Mann keine Hintertürchen offen bleiben.

»’Orace Butterworth«, knurrte der Fischer. »Und jetzt verschwinden Sie. Sie verschrecken mir die Fische!«

Monk dachte sorgfältig darüber nach, wie sich am besten Nutzen aus dieser nicht ganz eindeutigen Information ziehen ließe. War das die Botschaft, die Mickey zum Boot und danach weiter stromaufwärts in Richtung Mortlake geführt hatte, nur damit er dort den Tod fand? Von wem stammte sie? Was hatte derjenige erreichen wollen? Es musste sehr dringend gewesen sein, wenn Mickey deswegen zu dieser späten Stunde noch einmal aufgebrochen war.

Von Tosh würde er es bestimmt nicht erfahren. Ebenso wenig den Namen oder die Herkunft des Boten. Sonst geriete er selbst in den Verdacht, an dem Mord beteiligt gewesen zu sein, der danach begangen worden war. Er würde schlichtweg alles leugnen, behaupten, Butterworth täusche sich und habe wahrscheinlich alles frei erfunden. Ein guter Anwalt würde ein solches Indiz binnen Minuten in der Luft zerreißen.

Nein, er musste eine Beweiskette aufbauen. Wer war das schwächste Glied? ’Orrie Jones. Bei ihm musste er anfangen.

Er traf ’Orrie in einer Werft an, wo dieser geduldig ein Stück Holz abschmirgelte. Dort arbeitete auch noch eine Reihe anderer Männer, die damit beschäftigt waren, zu sägen, zu planen, zu meißeln, Planken sorgfältig einzusetzen, Deichseln in Nuten einzuhängen. Der Boden war bedeckt mit Sägespänen, die auch zusammen mit den Gerüchen von Holz und Harz in der Luft hingen. Hinzu kam ein ständiges, wenn auch unregelmäßiges Hämmern, Klopfen, Raspeln und das leise Pfeifen eines Menschen.

Weiter unten, fast schon am Rand des Wassers, dichtete ein alter Mann mit tätowierten Armen die Seiten eines Boots ab, wobei er ab und an einen Schritt zur Seite machte, wenn Wasser über den Kies schwappte und seine Stiefel durchnässte.

Hier, in der Werft, waren sie vor dem Wind geschützt. Die Tide schmatzte an der steinernen Gleitbahn. Es roch nach Flussschlamm und nassem Holz.

’Orrie blickte auf, und als er den näher tretenden Monk erkannte, nahm sein Gesicht einen Ausdruck von unendlicher Müdigkeit an. »Sie schon wieder«, seufzte er. »Reicht es denn nich’, dass Sie den armen Scheißer hängen, den Sie in den Klauen haben? Müssen Sie wirklich auch noch jeden Nagel einzeln in den Sarg klopfen?«

»Ich muss doch sicherstellen, dass er passt, ’Orrie, so wie die Stücke, die Sie hier aneinanderfügen.«

»Was is’ es denn jetzt?« ’Orries gutes Auge starrte Monk an.

»Wann hat Mickey Sie gebeten, ihn zu dem Boot zu rudern?«

»Weiß nich’.«

»O doch! Denken Sie nach!«

’Orrie sah ihm in die Augen, und in diesem Moment wirkte er voll konzentriert und klar im Kopf. »Warum? Was hat das jetzt noch zu bedeuten? Macht doch jetzt keinen Unterschied mehr aus, wo man weiß, wer ihn umgebracht hat.«

»Sagen Sie das dem Strafverteidiger, ’Orrie. Wenn Sie ihm keine Antwort geben, nimmt er Ihr Privatleben Stück für Stück auseinander und …«

»Ich hab keine Ahnung, wann er beschlossen hat, zu dem Boot rauszufahren!«, protestierte ’Orrie wütend. »Aber vor elf hat er mich nich’ drum gebeten. Das weiß ich, weil ich grade ein Pint angefangen hatte und es wegen ihm stehen lassen musste.«

»Im Pub?«

»Natürlich im Pub! Glauben Sie, ich zieh’s aus dem Fluss?«

»Woher Sie es nehmen, ist mir egal. Warum hat Mickey seine Entscheidung so spät getroffen? Mussten Sie denn Tag und Nacht nach seiner Pfeife tanzen?«

’Orrie erstarrte. »Bestimmt nich’! Ich war doch nich’ sein Scheißdiener! Dem is’ einfach was dazwischengekommen.«

Monk nickte, angestrengt darum bemüht, seine Ungeduld zu bezähmen und eine ermutigende Miene aufzusetzen. »Ein Treffen vielleicht, völlig unerwartet?«

»Genau!«

»Und er hielt es für wichtig genug, um gleich hinzufahren? Ist ja auch für ihn nicht gerade angenehm. War er wütend? Oder hatte er Angst?«

»Weder noch. Er hat sich gefreut.«

»Warum?«

’Orrie holte langsam Luft, blickte Monk an, erwog, was am vorteilhaftesten wäre, und entschloss sich zu antworten. »Na ja, jetzt is’ es egal; der arme Hund is’ schließlich tot, oder? Mickey dachte, das wär’ eine gute Chance, sich ein neues Geschäft zu angeln. Aber sparen Sie sich den Atem, und fragen Sie mich nich’, was für eins. Das weiß ich nämlich nich’.«

»Natürlich nicht. Ist er Sie persönlich holen gekommen, oder hat er Ihnen eine Mitteilung geschickt?« Monk fragte das bewusst in einem hämischen Ton. »Hat jemand sie Ihnen vorgelesen?«

»Ich hab sie selber gelesen!«, blaffte ’Orrie. »Bloß weil ich schieläugig bin, heißt das doch nich’, dass ich blöd bin.«

»Wirklich? Was haben Sie mit der Nachricht gemacht?«

’Orrie wühlte in seiner Hosentasche und klatschte einen verschmierten Zettel auf das Brett, das er gerade bearbeitete. Wütend blitzte er Monk an.

Dieser nahm den Zettel und las die überraschend säuberliche Handschrift.

»Hervorragende neue Geschäftsgelegenheit. Treffe Sie um Mitternacht auf dem Boot. Seien Sie pünktlich, sonst vermittle ich es Jackie.«

Darunter war in einer ganz anderen Schrift eine zweite Nachricht hingekritzelt worden: »Hol mich um halb zwölf am Kai ab. Komm nicht zu spät! Mickey.«

Monk betrachtete das Papier noch ein paar Sekunden länger und befühlte mit den Fingern seine Struktur. Es war von guter Qualität, blassblau und weich. Der Verfasser der ersten Nachricht hatte es von einem größeren Blatt abgerissen.

Schließlich drehte er es um und erkannte, dass die andere Seite Teil eines längeren Briefs oder eine Liste gewesen sein musste. Hierfür war Tinte verwendet worden, doch die Worte waren schwerer zu entziffern, fast so als wäre das Dokument in einer anderen Sprache verfasst worden, vielleicht Latein. Allerdings ließ sich aufgrund der Kürze des Textes nichts Genaueres erkennen. Jedenfalls zeugten die wohlgeformten Buchstaben von einer ordentlichen Handschrift. Er fragte sich, woher der Text stammen mochte.

»Danke, ’Orrie«, sagte Monk leise und ließ den Atem langsam entweichen. »Das ist so ziemlich perfekt.«