11
»Es tut mir leid«, murmelte Monk, als sie im Wohnzimmer saßen. »Ich wollte es dir erst sagen, wenn ich eine bessere Erklärung habe. Ich hatte gehofft, genügend Einzelheiten in Erfahrung zu bringen, die bestätigt hätten, dass du nicht das Geringste hättest tun können.«
Hester saß wie erstarrt da. Tränen brannten ihr in den Augen, und das machte sie wütend auf sich selbst, denn es war nicht nur Trauer um Hattie, die sie bewegte, sondern auch Schuldgefühle angesichts ihres Versagens. War sie schon so abgestumpft, dass sie sich an den Tod von Straßenmädchen gewöhnt hatte, auch an den junger Frauen, lange bevor sie verblüht und von Krankheiten zerstört waren? Bei vielen, die verwundet in die Klinik kamen, zusammengeflickt und wieder entlassen wurden, wusste Hester, dass die Heilung nur vorübergehend war – das war eben der Lauf der Dinge.
Aber Hattie hatte ihr vertraut! Monk hatte sich darauf verlassen, dass sie Hattie sicher unterbrachte.
»Das tut mir leid«, flüsterte sie. »Ich hätte sie doch schützen müssen. Damit ist wohl auch die Klage gescheitert, und Ballinger wird davonkommen. Ohne Hatties Aussage wird es zwangsläufig vernünftige Zweifel geben. Also wird wieder ein Schatten auf Ruperts Namen fallen. Oh, verdammt! Verdammt! Verdammt!« Am liebsten hätte sie richtig geweint und so fürchterlich geflucht, wie sie es bei den Soldaten gehört hatte, Ausdrücke herausgeschrien, die Monk nie gehört hatte und von denen ihr lieber gewesen wäre, sie hätte sie nie gelernt.
Aber jetzt war keine Zeit, sich gehenzulassen. Ihre Energie wurde für viel Dringlicheres gebraucht. So stand sie vor einer schwierigen Aufgabe, vor der ihr jetzt schon graute. Denn Scuff musste es erfahren, allein schon deshalb, weil er sie zu ihrem ersten Gespräch mit Hattie begleitet hatte. Zwar war es inzwischen nach neun Uhr abends, aber morgen früh würde die Zeit nicht reichen. Sie würde bei ihm bleiben und sorgfältig abschätzen müssen, wie viel Trost sie ihm schenken durfte. Ob er ihn überhaupt annehmen würde, wusste sie nicht. Er war am Flussufer aufgewachsen und oft mit dem Tod konfrontiert gewesen, auch mit dem Tod von Leuten, die er gekannt hatte. Hesters Reaktion würde ihn prägen, vielleicht sogar sein Leben lang. Sie durfte keine Angst zeigen, aber genauso wenig durfte sie ihm je das Gefühl vermitteln, es sei ihr egal.
Monk redete unterdessen weiter. Sie sah auf und erkannte in seinen Augen Besorgnis.
»Verzeih«, sagte sie sanft, »ich habe gerade nicht zugehört. Was hast du gesagt?«
»Willst du, dass ich mit Scuff spreche? Er muss es erfahren.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Du hast auch so schon genug zu tun. Du musst schlafen. Ich sage es ihm und bleibe bei ihm. Und wenn er weinen muss, können wir das dann zusammen tun.« Sie lächelte trotz der Tränen, die über ihre Wangen rannen. »Er wird das von mir erwarten, und es wird gut so sein.« Sie wandte sich zur Tür.
»Hester!«
Sie drehte sich zu ihm um. »Ja?« Sie nahm an, er wolle ihr danken, doch das wäre ihr nicht recht gewesen. Es war ja nicht so, als hätte sie ihm etwas geschenkt.
»Ich liebe dich«, sagte er leise.
Zittrig atmete sie ein und musste sich dazu zwingen, sich nicht an ihn zu klammern und ihren Tränen freien Lauf zu lassen. »Das weiß ich doch. Glaubst du, ich hätte sonst noch die Kraft, all das durchzustehen, was jetzt zu leisten ist?« Ohne auf seine Antwort zu warten, lief sie aus dem Zimmer, um Scuff zu wecken und ihm die Nachricht von Hatties Tod zu überbringen.
Wie immer klopfte sie zunächst an. Der Junge brauchte schließlich einen Ort, den ohne seine Erlaubnis niemand betreten durfte. Wie sie schon erwartet hatte, gab er keine Antwort. Also öffnete sie die Tür und trat ein. Das Nachtlicht brannte immer noch. In seinem Zimmer musste es auch in der Nacht stets so hell sein, dass er sofort wusste, wo er war, falls er aufwachte. Auf keinen Fall, nicht einmal einen Augenblick lang, sollte er noch einmal das Entsetzen erleben müssen, dem er während seiner Gefangenschaft im Stauraum von Jericho Phillips’ Boot ausgeliefert gewesen war.
»Scuff«, sagte Hester leise.
Der Junge rührte sich nicht. Sie betrachtete sein vom Kissen umrahmtes Gesicht, das zerzauste Haar, das nach dem Bad noch feucht war.
»Scuff«, wiederholte Hester, etwas lauter jetzt.
Er rührte sich, und als sie ihn zum dritten Mal ansprach, öffnete er die Augen und setzte sich auf, wobei er darauf achtete, das Nachthemd mit einer Hand zuzuhalten.
Sie ließ sich am Fußende seines Betts nieder. Sie konnte sein Gesicht im Lichtschein sehen.
»Was is’ los?«, fragte er, als er ihre Tränen bemerkte. »Was is’ passiert?« Auf der Stelle begriff er, dass etwas sie bekümmerte, und das machte ihm Angst. Hester ihrerseits tat es weh zu erkennen, wie sehr der Junge von ihr abhängig war.
»Hattie ist tot«, antwortete sie, bevor ihn irgendwelche Sorgen um Monk erfassen konnten. »Sie wurde ermordet. William hat es mir soeben erzählt. Er wollte es für sich behalten, bis er Klarheit darüber hatte, wie das geschehen konnte, aber dann ist es heute im Gericht bekannt geworden.«
Scuff blinzelte. »Jemand hat sie ermordet?« Er schluckte, dann streckte er seine kleine, dünne Hand aus und legte sie so leicht auf ihre, dass sie sie kaum spürte, sondern nur sah. »Weinen Sie nich’ um sie«, flüsterte er. »Bei ihr war klar, dass sie ein schlimmes Ende nimmt. So was bringt man besser schnell hinter sich, dann tut’s nich’ so weh. Das is’ wie bei ’nem kaputten Zahn. Den zieht man ja am besten auch gleich, weil er sowieso raus muss.«
Hester hätte ihn am liebsten an sich gedrückt, aber damit wäre sie zu weit in seinen Privatbereich eingedrungen. Nicht jeder ließ sich gerne umarmen.
»Du hast vollkommen recht«, sagte sie und war gleichzeitig wütend auf sich selbst, weil ihre Stimme zitterte. »Trotzdem muss ich wissen, wie sie die Kinik verlassen konnte und wer ihr dabei half. Verstehst du das?«
Scuff nickte, ohne sie auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Er war immer noch voller Angst. Wenn Hester das geringste Zaudern erkennen ließ, würden wieder all seine Zweifel über ihn hereinbrechen und seinen Mut ersticken.
»Glauben Sie, dass einer sie verschleppt hat?«, fragte er.
»Nein. Für wahrscheinlicher halte ich, dass sie hereingelegt wurde. Jemand hat ihr Sicherheit versprochen oder irgendeine andere Lüge aufgetischt. Ich will wissen, wer das war, weil ich solchen Leuten nie wieder mein Vertrauen schenken darf.« Klang das zu extrem? Als würde sie niemals Fehler verzeihen? Jagte sie ihm womöglich Angst davor ein, dass er für immer ihre Liebe verlieren würde, wenn er einmal einen Fehler beging? »Ich meine, wenn sie es absichtlich getan haben«, ergänzte sie.
»Wie haben sie sie umgebracht?«, flüsterte er.
»Schnell. Ich nehme an, sie hat gar nicht mitbekommen, was passiert ist.«
»Wie bei Mickey Parfitt?«
»Ja, genau so.«
»War es derselbe Mann, der ihn abgemurkst hat?«
»Das nehme ich an. Sie wurde wie er im Fluss gefunden und fast an der gleichen Stelle.«
»Is’ Mr Ballinger denn nich’ im Gefängnis?« Er schlang sein Nachthemd etwas fester um sich.
»Jetzt ist er hinter Gittern, doch als sie ermordet wurde, war er frei. Allerdings gilt das Gleiche auch für Rupert Cardew.«
Seine Augen weiteten sich. »Glauben Sie denn, dass er sie umgebracht hat?«
»Nein. Aber die andere Seite könnte versuchen, es so aussehen zu lassen, um für Mr Ballinger einen Freispruch herauszuholen.«
»Sie mögen Mr Cardew, nich’ wahr?«
»Ja, aber das hat nichts damit zu tun. Zumindest sollte es das nicht.«
Das verwirrte ihn. »Würden Sie ihn denn nich’ mehr mögen, wenn er es getan hätte?«
Seine Hand lag immer noch auf ihrer, als hätte er sie ganz vergessen. Hester wiederum achtete sorgfältig darauf, sich nicht zu bewegen. »Es kann sein, dass ich ihn dann immer noch mögen würde. Man hört ja nicht auf, Menschen zu mögen oder zu lieben, nur weil sie etwas Falsches getan haben. Wahrscheinlich versucht man dann zuallererst zu verstehen, warum. Und es macht einen großen Unterschied aus, wenn es ihnen leidtut – wirklich leidtut. Aber das heißt noch lange nicht, dass sie nicht dafür büßen müssen oder so viel wiedergutmachen, wie sie nur können. Für alle muss das Gleiche gelten, sonst gibt es keine Gerechtigkeit.«
Scuff nickte. »Und was machen wir jetzt?«
»Herausfinden, was geschehen ist.«
»Morgen?«
»Ja. Es tut mir leid, dass ich dich geweckt habe, um es dir zu erzählen, aber morgen früh reicht die Zeit dafür vielleicht nicht und …«
Er wartete. Seine Augen waren jetzt überschattet.
»Ich wollte es dir einfach lieber jetzt sagen.«
Sein Mund wurde schmaler. »Sie haben gedacht, ich heul gleich los.« Er stand tatsächlich kurz davor und war deswegen wütend auf sich selbst.
»Nein«, versicherte sie ihm, »ich dachte vielmehr, ich würde weinen. Und das kann immer noch passieren.«
Er blickte mit einem breiten Lächeln zu ihr auf, als hätte sie etwas Lustiges gesagt. Gleichzeitig quollen zwei große Tränen aus seinen Augen und kullerten über seine Wangen.
Diesmal überlegte sie nicht lange, sondern umschlang ihn mit beiden Armen. Zunächst ließ er es einfach mit sich geschehen, doch plötzlich erwiderte er ihre Umarmung, ja, er klammerte sich an sie und verbarg das Gesicht in ihrem Haar, das sich aus den Spangen befreit hatte und lose herabhing.
Am nächsten Morgen kehrte Monk zum Gericht zurück, während Hester und Scuff in die Klinik gingen.
»Sie müssen heute doch gar nich’ im Haus sein«, brummte Squeaky bei ihrem Eintreten und sah von seinem mit Quittungen übersäten Tisch auf. »Und du auch nich’«, fügte er, an Scuff gewandt, hinzu.
»O doch!«, erwiderte Hester in einem Ton, der weder Widerspruch noch Ausflüchte zuließ. »Und Scuff kann mir helfen. Ich will herausfinden, was genau mit Hattie Benson passiert ist, warum sie von hier weggegangen ist und wer sie dazu gebracht hat.«
Squeaky zog eine trübsinnige Miene. »Wird doch nix nützen. Vielleicht hat sie Sie angelogen. Haben Sie schon mal daran gedacht?«
»Ja, und ich glaube nicht daran. Gestern ist es vor Gericht herausgekommen, Squeaky. Sie ist ermordet worden, und zwar auf dieselbe Weise wie Mickey Parfitt – erdrosselt und bei Chiswick in den Fluss geworfen.«
»Gott im Himmel, Frau!«, explodierte Squeaky. »Wie können Sie das vor dem Kleinen hier ausquatschen? Manchmal sind Sie eine kaltherzige Stute, und das is’ die Wahrheit!«
Scuff beugte sich mit geballten Fäusten über den Tisch und funkelte Squeaky böse an. »Wag’s bloß nich’, noch mal so mit ihr zu reden, du Schweißwurm! Du verdienst es doch nich’ mal, ihr die Stiefel zu putzen!«
Hester wollte ihn schon zurechtweisen, entschied sich dann aber dagegen. Sie konnte ihm nicht das Recht rauben, sie zu verteidigen. Allerdings musste sie sich auf die Lippen beißen, um ein Grinsen zu verbergen.
Squeaky wich in seinem Stuhl zurück.
»Du verdienst es nich’ mal …« Scuff hatte sich in Fahrt geredet, doch dann biss er sich auf die Zunge. Statt weiter zu schimpfen, starrte er Squeaky voller Abscheu an. »Halten Sie mich für ein Baby oder so was, dem man die Wahrheit nich’ sagen kann?«
Squeaky überlegte kurz. »Ich kann dir mit Brief und Siegel bestätigen, dass du schlimmer bist als wie ’ne wilde Katze! Und ich wollte dich verteidigen! Vor euch beiden muss ich mich ja selber ins Schutz nehmen!« Er wandte sich wieder an Hester. In seinen Augen glommen eine merkwürdige Belustigung und so etwas wie Verlegenheit darüber, als würde er sich insgeheim freuen, wäre aber entschlossen, ihnen das nicht zu zeigen. »Und wie wollen Sie rausfinden, wer die arme Hattie zur Tür gebracht und sie dann rausgestoßen hat?«
»Ich werde herumfragen«, erklärte Hester. »Und anfangen werden wir mit einem umfassenden Bericht darüber, wer alles im Haus war, wann die jeweiligen Personen eintrafen und was genau sie hier taten.«
»Wie die Scheißpolizei«, knurrte Squeaky angewidert.
Hester riss Scuff gerade noch rechtzeitig zurück, bevor er erneut mit geballten Fäusten auf Squeaky losgehen konnte.
»Richtig«, bestätigte sie. »Wir sind hier die Polizei. Was hatten Sie denn erwartet? Dass ich die Leute lieb und nett fragen würde, ob sie Hattie ihrem Mörder zugeführt haben?«
»Ich nehme an, Sie wollen, dass ich alles für Sie aufschreibe«, sagte er in vorwurfsvollem Ton. »Aber geben Sie nich’ mir die Schuld, wenn die Weiber alle beleidigt davonrauschen!«
Hester fielen gleich mehrere Antworten darauf ein, doch sie schluckte sie alle hinunter. Schließlich war sie auf Squeakys Hilfe angewiesen.
»Wer war denn am fraglichen Tag im Haus?«
»Glauben Sie etwa, dass ich mich noch daran erinnere?«
»Allerdings. Ich glaube, dass Sie noch ganz genau wissen, welche Frauen im Haus waren, welche nützlichen Dienste sie geleistet und wie viel sie gegessen haben. Ich müsste mich in der Berurteilung Ihrer Fähigkeiten sehr getäuscht haben, wenn bei Ihnen irgendetwas davon in Vergessenheit geraten wäre.«
Es dauerte einen längeren Moment, bis er die exakte Bedeutung ihrer Worte erfasst hatte. Dann beschloss er, sie als Kompliment zu werten, fischte seine Unterlagen aus der Schublade und schlug die Seite mit den Einträgen des Tages von Hatties Verschwinden auf.
Scuff beobachtete ihn fasziniert. »Hat er alles da drin? In dem Gekritzel?«, flüsterte er Hester ins Ohr.
»Ja. Erstaunlich, nicht wahr?«, antwortete sie.
Scuff bedachte sie mit einem scheelen Blick von der Seite. Noch hatte sie ihn nicht von der Notwendigkeit der Lese- und Schreibkunst überzeugt. Erst vor Kurzem hatte sie das wieder erwähnt. Was wollte sie denn nur? Er konnte doch zählen, und das genügte ja wohl.
Squeaky las vor, welche Patientinnen am fraglichen Tag schon ein Bett belegt hatten und wer am Morgen um welche Zeit neu aufgenommen worden war. Außerdem berichtete er darüber, wer welche Aufgaben verrichtet hatte und ob die jeweiligen Personen die seiner Meinung nach angemessene Anerkennung für ihre Bemühungen erhalten hatten.
Mit einem Stift, den sie sich von Squeaky borgte, machte sich Hester ein paar Notizen, dann zog sie los, die Frauen eine nach der anderen zu befragen.
Sie alle zeigten sich zunächst sehr misstrauisch, weil sie dachten, ihre Arbeit würde kritisiert, und um das sicher geglaubte Essen und den Schlafplatz fürchteten.
Meistens folgte Scuff Hester auf Schritt und Tritt, als müsse er sie beschützen, auch wenn er keine Ahnung hatte, wovor eigentlich.
»Sie lügt«, kommentierte er beiläufig, als sie eine junge Frau in der Waschküche verließen, die mit hochgekrempelten Ärmeln arbeitete und vom heißen Wasser und der ätzenden Waschlauge rote Hände hatte. Aber das waren nun einmal die Arbeitsbedingungen, und anders ließ sich die von den Körperflüssigkeiten der Kranken und Verletzten verschmutzte Wäsche nicht reinigen.
»Wir werden das bei Claudine nachprüfen«, versprach Hester dem Jungen. »Für dich übrigens Mrs. Burroughs. Sie wird wissen, ob Kitty hier war oder nicht.«
»Sie war nich’ da«, verkündete Scuff. »Wetten, dass sie an der Hintertür war und irgendwas Verbotenes getan hat. Schmeißen Sie sie jetzt raus?«
»Nein«, sagte Hester sofort, »es sei denn, sie hätte Hattie etwas angetan.«
»Oh!«
Sie sah, dass er lächelte.
Danach befragte sie zwei andere Frauen, alle beide Patientinnen, die die Klinik noch nicht verlassen konnten, aber immerhin in der Lage waren, beim Kochen und Saubermachen mitzuhelfen. Ihre Angaben standen in Widerspruch zu dem, was Kitty und eine der anderen Frauen gesagt hatten.
Schließlich suchten sie Claudine in der Speisekammer auf, wo sie die Vorräte überprüfte. Mehl, Bohnen aller Arten, Gerste, Hafer und Salz waren reichlich vorhanden. Bei anderen Lebensmitteln wie Dörrpflaumen und braunem Zucker herrschte Knappheit.
Claudine lächelte, als sie Hesters Blick auf dem halb leeren Topf mit Pflaumenmarmelade verweilen sah, und bemerkte, wie Scuffs Augen sich angesichts all der Lebensmittel weiteten, die ihm wie Luxus vorkommen mussten.
»Ich gebe dir später eine Scheibe Toast mit Marmelade, wenn du brav bist«, versprach Claudine Scuff.
Hester stupste ihn an.
»Danke«, sagte Scuff hastig.
»Oder möchtest du stattdessen lieber ein Stück Kuchen?«, fragte Claudine mit fröhlich funkelnden Augen.
»Ja!«, rief er, wie aus der Pistole geschossen. Dann schielte er zu Hester hinüber. »O ja – bitte.«
Hester berichtete Claudine von den Widersprüchen in den Aussagen der Frauen, die am Morgen von Hatties Verschwinden gearbeitet hatten.
Claudine begriff sofort, dass es um etwas Ernstes ging. »Da stimmt was nicht«, bestätigte sie. Sie drehte sich zu Scuff um. »Wenn du in die Küche gehst, wirst du Bessie dort antreffen. Sag ihr, dass ich dir ein Stück Pflaumenkuchen aus dem dritten Glas versprochen habe. Vergiss nicht: aus dem dritten Glas. Dann weiß sie, dass du die Wahrheit sagst. Niemand sonst weiß, dass er dort ist.«
Scuff sog die Luft tief ein und ließ sie wieder entweichen. »Ich ess ihn später«, erklärte er und trat näher an Hester heran. »Sie werden ihr gleich sagen, wer die Tür aufgemacht hat und Hattie rausgelassen hat, damit sie sie umbringen. Da muss ich dabei sein. Aber danke.«
Claudines Blick wanderte von ihm zu Hester. »Hat er recht?«
Hester nickte. »Ja, leider. Sie hatte strenge Anweisungen, das Haus nicht zu verlassen, egal, aus welchem Grund. Nicht einmal in den großen Räumen durfte sie sich blicken lassen, wo ein ständiges Kommen und Gehen herrscht. Sie wusste, dass ihr Gefahr drohte.«
Claudine starrte sie entsetzt an. »Und? Ist sie ermordet worden?«
»Ja. Claudine, ich muss wissen, wer sie dazu überredet hat, die Klinik zu verlassen.«
»Was wird das jetzt noch nützen? Dem armen Mädchen ist doch nicht mehr zu helfen.«
Hester schüttelte den Kopf. »Auf den ersten Blick könnte man meinen, sie hätte sich einfach nur dummm verhalten. Aber wenn sie mit Absicht weggelockt wurde, muss ich die Zusammenhänge erfahren. Der Prozess läuft schlecht. So wie es aussieht, kann nichts bewiesen werden, und Ballinger kommt dank begründeter Zweifel noch einmal davon. Wir werden dann wieder ganz von vorn anfangen müssen.« Was sie nicht sagte, war, dass die schrecklichen Geschäfte auf den Booten exakt so weitergehen würden wie zuvor, sobald der Drahtzieher im Hintergrund einen Ersatz für Mickey Parfitt gefunden hatte. Sie wollte Scuff nicht unnötig beunruhigen, fürchtete aber, dass er sich nicht lange täuschen lassen würde.
Mit einem Schlag verschwand das heitere Funkeln aus Claudines Augen, und jetzt wirkten sie müde und zutiefst unglücklich. »Dann sollten Sie besser Lady Rathbone befragen. Sie war an diesem Vormittag im Haus und hat in der Waschküche und im Medikamentenzimmer gearbeitet, einfach um die Vorräte zu überprüfen. Sie wird wissen, wer hier lügt.«
Hester prallte erschrocken zurück. »Margaret war hier?«
Claudines Gesicht gab nichts preis. »Ja.«
»Wie lange?«
»Ungefähr eine Stunde.« Claudine beobachtete Hester, und ihre Miene verriet wieder Bestürzung.
»In der Waschküche?«
»Ja. Hester … ich glaube nicht, dass die Frauen, egal, welche, Sie anlügen würden. Sie sind Ihnen doch dankbar und müssten sonst nur befürchten, in Zukunft nicht mehr hier behandelt zu werden. Außerdem: Was hätten sie davon? Nicht in einer solchen Angelegenheit. Anderen gegenüber würden sie lügen wie gedruckt, aber nur um Sie zu beschützen. Ihnen würden sie in dieser Angelegenheit die Wahrheit sagen. Sie alle wussten doch, warum Sie Hattie Schutz bieten wollten.«
Hester war klar, dass sie recht hatte. Margaret war diejenige, die allen Grund hatte, Hatties Aussage zu fürchten. Nur wäre es Hester nicht in den Sinn gekommen, dass sie so weit gehen würde. Aber wer Hattie dazu hatte bringen wollen, dass sie nach Chiswick zurückkehrte, wo sie letztlich im Fluss endete, musste etwas viel Komplizierteres ersonnen haben, als sie einfach zum Weggehen zu überreden.
Scuffs Augen wanderten zwischen Hester und Claudine hin und her. »Hat sie’s jetzt getan?«
»Nein, getötet hat sie sie nicht«, versicherte Hester ihm hastig. »Aber es sieht ganz danach aus, als ob sie sie von hier weggebracht hätte.«
»Wer hat sie dann ermordet?«, fragte er.
»Das weiß ich nicht. Ich weiß nicht genau, was Margaret getan hat oder was sie bezweckte. Aber ich werde es herausfinden.« Hester wandte sich an Claudine. »Vielen Dank. Ich halte es für das Beste, wenn Sie den Leuten hier nichts von den jüngsten Ereignissen sagen, auch dann nicht, wenn sie Sie danach fragen. Bitte.«
»Natürlich, ich werde schweigen.« Claudine schien noch etwas hinzufügen zu wollen, überlegte es sich dann aber anders.
Hester nahm an, dass es vielleicht eine Warnung sein mochte, oder, Claudines sanfter Miene nach zu schließen, ein Ausdruck persönlicher Anteilnahme. Sie erwiderte das Lächeln der anderen Frau. Worte waren nicht nötig.
Nach einem kurzen, äußerst bestimmten Wortwechsel, in dem Hester Scuff erklärte, dass er sie auf keinen Fall begleiten würde, setzte sie den Jungen in einen Hansom und bezahlte den Kutscher im Voraus für die Fahrt zur Polizeiwache von Wapping. Scuff drückte sie dann das Geld für die Fähre nach Hause in die Hand, ehe sie weiter zum Gericht eilte.
Sogar auf dem Bürgersteig vor dem Gerichtsgebäude herrschte Gedränge. Alle warteten begierig darauf, Neuigkeiten vom Geschehen drinnen aufzuschnappen. Dass Hester es überhaupt schaffte hineinzugelangen, verdankte sie einem Gerichtsdiener, den sie gut kannte. Er führte sie entschlossen durch die Vorhalle und durch einen Hintereingang in den Gerichtssaal.
Sie musste nicht lange warten – nur ein paar Minuten, in denen Winchester ein Plädoyer vortrug –, bis der Richter die Mittagspause verkündete. Hester wurde von der ins Freie strömenden Menge hin und her gestoßen; erst von den Leuten auf den hinteren Rängen der Galerie, dann endlich von denen auf den vorderen Sitzen. Sie erkannte Lord Cardew, der kreidebleich war und seit ihrer Begegnung vor wenigen Wochen um ein Jahrzehnt gealtert wirkte. Sie schämte sich für ihre Erleichterung darüber, dass er sie nicht bemerkte. Was konnte sie ihm denn schon sagen, das seinen Schmerz nicht weiter verschlimmerte? Wie viel Mut musste es ihn kosten, sein Haus zu verlassen, hier zu sitzen und sich all das anzuhören, während sein Entsetzen immer größer wurde und der Zweifel alles zerfraß, was einst so schön und sicher gewesen war?
Dann entdeckte sie Margaret und ihre Mutter, die hinter zwei anderen Paaren Seite an Seite mit blassem, angespanntem Gesicht zum Ausgang strebten. Beide hielten den Kopf starr nach vorn gerichtet, schauten weder nach links noch nach rechts, als wollten sie jeden Kontakt vermeiden. Die Ähnlichkeit mit den Frauen vor ihnen – die Konturen des Kopfes, die Form der Stirn – ließ Hester vermuten, dass das Margarets Schwestern mit ihren Ehemännern sein mochten, aber es war Margaret, mit der sie sprechen musste, und zwar unter vier Augen.
Kurz entschlossen trat sie nach vorn, Mrs Ballinger mitten in den Weg. Das war unhöflich – gelinde gesagt –, doch sie hatte keine andere Wahl.
Zu Tode erschrocken blieb Mrs Ballinger abrupt stehen. Margaret zögerte nur eine Sekunde lang, dann erfasste sie die Situation und wandte sich an ihre Mutter.
»Mama, anscheinend muss Hester mit mir sprechen. In der Klinik ist wohl etwas geschehen …«
»Das kann warten«, stieß Mrs Ballinger zwischen aufeinandergepressten Zähnen hervor. »Es lässt sich wohl kaum vorstellen, dass von den Verhältnissen dort irgendetwas jetzt für uns von Belang sein könnte.«
»Mama …«
»Margaret, mir ist egal, was mit dem Haus dort ist, und wenn es bis auf die Grundmauern abgebrannt ist! Erwartet sie von uns, dass wir Ketten bilden und Eimer mit Wasser nach vorn reichen?« Sie wirbelte zu Hester herum und funkelte sie erbost an.
»Es geht um Beweismittel, Mrs Ballinger.« Es kostete Hester enorme Anstrengung, in ruhigem, höflichem Ton zu sprechen. »Es wäre mir lieber, die Angelegenheit nicht an Mr Winchester heranzutragen, aber das ist meine einzige Alternative.«
Die letzte Spur von Farbe wich aus Mrs Ballingers Gesicht. »Wollen Sie mir drohen, Mrs Monk?«
Hester kochte innerlich vor Zorn. »Ich versuche lediglich, Ihre Aufmerksamkeit zu erlangen, Mrs Ballinger, oder genauer gesagt Margarets Aufmerksamkeit. Die vorliegende Angelegenheit ist wichtiger als unsere persönlichen Gefühle.«
Margaret fasste ihre Mutter kurz am Arm. »Ich treffe dich, wenn die Verhandlung fortgesetzt wird, Mama. Bleib mit Gwen und Celia zusammen.« Ohne die Antwort ihrer Mutter abzuwarten, ließ sie sie los und drehte sich zu Hester um. »Gehen wir besser in Olivers Räume. Was immer Sie zu sagen haben, sollte nicht zu einem Spektakel hier draußen aufgebauscht werden. Kommen Sie.« Dann führte sie sie vorbei an den wenigen noch in den Korridoren weilenden Leuten zu dem Büro, welches das Gericht Rathbone für die Dauer des Prozesses zur Verfügung gestellt hatte, damit er dort seine Unterlagen aufbewahren und – falls nötig – Gespräche führen konnte. Der Gerichtsdiener erkannte Margaret und ließ sie hinein, ohne Fragen zu stellen. Da Hester als ihre Begleiterin erkennbar war, durfte sie ebenfalls passieren.
Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, baute sich Margaret vor Hester auf.
»Nun, worum geht es? Nach den Beschuldigungen Ihres Mannes gegen meinen Vater können Sie ja wohl kaum von mir erwarten, dass ich mich darüber freue, Sie zu sehen, oder mir einbilde, Sie könnten mein Wohlergehen im Sinn haben.«
Es war noch gar nicht so lange her, dass sie enge Freundinnen gewesen waren, zusammen gelacht und geträumt hatten, miteinander gefiebert hatten, als Rathbone Margaret den Hof machte, und tausend Ängste ausgestanden hatten, dass er es vielleicht nicht wagen würde, um ihre Hand anzuhalten. Margaret hatte es nie direkt gesagt, aber es hatte eine Zeit gegeben, zu der sie fürchtete, er würde nur Hester lieben, und sich insgeheim vorstellte, dass Hester ihn glücklicher machen würde. Und es hatte lange gedauert, bis ihr klar geworden war, dass das nicht stimmte.
Jetzt standen sie einander gegenüber in diesem kleinen Zimmer mit Tisch, Stühlen und Bücherschränken. Räumlich lagen vielleicht zwei Armeslängen zwischen ihnen, emotional trennten sie Welten.
Sie konnten es sich nicht leisten, ihre Zeit mit Konversation oder den Bemühungen um eine gute Atmosphäre zu vergeuden.
»Sie waren an dem Morgen, als Hattie Benson verschwand, in der Klinik«, stellte Hester fest.
Margaret stand steif da, die Schultern hochgezogen, und die Wangen von einem sehr blassen Rot. »Sind Sie gekommen, um mir das zu sagen?«, fragte sie überrascht. »Sie haben Ihren Beweis verloren. Das weiß ich. Sie wird nicht aussagen, um Ihren Freund zu retten. Wie Sie allerdings mit Rupert Cardew befreundet sein können, entzieht sich meiner Vorstellungskraft. Ich versichere Ihnen, Ihre Loyalität ist hier fehlgeleitet.«
Alle möglichen bitteren Erwiderungen lagen Hester auf der Zunge, doch sie sprach nichts davon aus. Sonst riss die an einem seidenen Faden hängende Verbindung zwischen ihnen endgültig, doch sie musste unbedingt die Wahrheit in Erfahrung bringen.
»Ich möchte wissen, was Hattie zugestoßen ist, Margaret, das ist alles, was mich im Moment umtreibt. Ich habe ihr versprochen, dass ich mich um sie kümmere. Jetzt will ich wissen, warum ich gescheitert bin, egal, was sie im Zeugenstand ausgesagt hätte.«
»Sie hätte zum Beispiel sagen können, dass sie Sie angelogen hat«, entgegnete Margaret. »Sie waren freundlich zu ihr, und sie wollte Ihnen schmeicheln. Ich könnte mir vorstellen, dass sie außerdem eine ziemlich genaue Vorstellung von ihren Interessen hatte, sollte sie jemals eine Krankheit oder Verletzung erleiden oder Ihre Hilfe bei einem Problem benötigen. Sie wäre ja nicht die Erste gewesen, die gelogen hat, um sich bei der Polizei lieb Kind zu machen, sei es aus Angst, aus Rachsucht oder weil das schlicht und ergreifend leichter ist, als dauernd zu kämpfen. Sie wissen genauso gut wie ich, dass Straßenmädchen davon leben, dass sie anderen schmeicheln, häufig jenen, vor denen sie Angst haben.« Sie machte eine kleine, halb mitleidige, halb verächtliche Geste. »Sie wissen, was die Leute wollen, und geben es ihnen. Das ist ihr Gewerbe.«
Hester schüttelte energisch den Kopf, als wollte sie sich von etwas befreien. »Ist es das, was Sie in ihr sehen? Einen Menschen, der lügt, um zu gefallen, sonst nichts?«
»Ach, um Himmels willen, Hester, seien Sie nicht so selbstgerecht! Jetzt hat die Stunde der Wahrheit geschlagen. Ja, genau so sehe ich Mädchen wie Hattie. Wenn ich das Pech gehabt hätte, ihr Los zugeteilt zu bekommen, wäre ich vielleicht auch so geworden. Aber das bin ich nicht. Ich hatte wunderbare Eltern, erfreute mich bester Gesundheit, konnte guten Beispielen folgen und habe einen großartigen Mann geheiratet. Meine Dankbarkeit dafür zeige ich mit dem Dienst an denjenigen, die nicht so vom Schicksal begünstigt sind, aber ich lasse mich nicht durch Sentimentalität hinsichtlich ihrer Natur – oder ihrer Schwächen – blenden. Manchmal glaube ich, dass Sie das tun.«
Hester wurde von einer solchen Wut gepackt, dass sie darüber staunte.
»Ich nehme an, wir beide haben bisweilen Gedanken über andere, die nicht unbedingt schmeichelhaft sind«, presste sie hervor. »Oder auch regelrecht unfreundlich. Ich will wissen, warum Sie Hattie – zumindest – bis zur Tür geführt und zugeschaut haben, wie sie das Haus verließ, obwohl Sie wussten, dass ich sie in der Klinik untergebracht hatte, um sie zu schützen und ihr zu ermöglichen, vor Gericht auszusagen. Warum haben Sie das getan?«
»Sie reden ja wie ein Polizist!« Margaret schnaubte mit verächtlich gekräuselten Lippen. »Sie maßen sich ein Gebaren an, zu dem Sie keinerlei Recht haben. Ich habe meine Zeit geopfert, um der Klinik zu helfen, weil ich an die Arbeit glaube, die Sie dort leisten. Ich bin nicht Ihre Dienerin, die Ihre Fragen beantworten muss.«
»Entweder ich bitte Sie darum, oder William tut das!«, knurrte Hester.
»Dann kann William es ruhig versuchen«, schnappte Margaret. »Ich brauche Ihnen nicht Rechenschaft darüber abzulegen, wohin Hattie gegangen ist, selbst wenn ich es wüsste.«
»Das brauchen Sie mir auch nicht zu sagen«, begann Hester, die jetzt wütend auf sich selbst war, weil ihre Stimme zitterte.
»Genau das habe ich Ihnen soeben erklärt.« Margaret lächelte. »Ich habe es nicht nötig …«
»Weil ich es schon weiß!«, blaffte Hester. »Sie ist nach Chiswick zurückgekehrt, wo sie erdrosselt und ihre Leiche in den Fluss geworfen wurde!«
Jetzt war Margaret diejenige, die erbleichte und nach Luft schnappte.
»Vielleicht verstehen Sie jetzt mein Anliegen«, fügte Hester spitz hinzu. »Und auch, warum es gut möglich ist, dass William Sie fragt, wohin sie gegangen ist und warum Sie sie zur Tür gebracht haben.«
Nur mit Mühe gewann Margaret die Fassung zurück. »Nun, offenbar hat Rupert sie ermordet. Damit sie nicht in den Zeugenstand gerufen werden kann, um zu gestehen, dass sie gelogen hat und sein Halstuch genauso wenig gestohlen hat wie ich. Er hat es nämlich behalten, wie es ohnehin jeder vermutet, und hat später Mickey Parfitt damit erdrosselt, weil er es sich nicht mehr leisten konnte, ihm weiter Erpressungsgeld zu zahlen. Wenn Sie ein bisschen weniger von Ihren Kreuzzügen geblendet wären, hätten Sie das auf den ersten Blick erkannt. Es tut mir leid, dass Hattie sterben musste, nur damit Sie sich endlich der Wirklichkeit stellen.«
Hester spürte, wie ihre Fingernägel sich in die Handflächen gruben. »Die Wirklichkeit sieht so aus, dass Hattie der einzige Mensch war, der Rupert hätte entlasten können«, zischte sie. »Und Sie haben sie zur Tür gebracht und auf die Straße gehen lassen, fort von dem Ort, wo sie in Sicherheit war, und prompt wurde sie ermordet. Vielleicht war Rupert Cardew der Mörder; genauso leicht hätte es aber auch Ihr Vater sein können. Er war derjenige, dem ihre Aussage geschadet hätte. Und Sie waren es, die sie rausgeschickt hat.«
Margaret starrte sie mit wütend blitzenden Augen an, das Gesicht weiß. »Wollen Sie etwa meinen Vater – meinen Vater – mit Rupert Cardew vergleichen? Rupert ist ein zügelloser, schwacher, perverser und … und … widerwärtiger Kerl, aber Sie sind aus irgendeinem nur mit Ihrer Moral, Ihrer Erinnerung oder Ihren Bedürfnissen erklärbaren Grund nicht fähig, ihn als das zu durchschauen, was er ist!«
»Natürlich sehe ich, dass er schwach ist!« Obwohl Hester sich alle Mühe gab, nicht die Beherrschung zu verlieren, wurde sie immer lauter. »Wie zügellos er ist, kann ich nicht beurteilen und Sie ebenso wenig. Aber Ihre Loyalität zu Ihrem Vater verschließt Ihnen die Augen davor, dass er womöglich kein bisschen weniger gierig, grausam und auf seine Weise zügellos ist. Vielleicht schaut er nicht dabei zu, wie kleine Jungen vergewaltigt und missbraucht werden, aber ist er denn besser, wenn er sie einsperrt und veranlasst, dass all das geschieht, nur damit er die erbärmlichen Kerle erpressen kann, die das tun? Ich glaube, das ist noch schlimmer!«
»Meine Loyalität gibt mir die Gewissheit, dass nichts davon wahr ist!« Margaret keuchte. »Aber so etwas würden Sie nie verstehen. Sie waren auf der Krim und haben die edle Retterin gespielt, obwohl Ihr Vater Sie brauchte. Er starb allein und verzweifelt, während Sie in der Ferne Ruhm einheimsten. Und als ob das noch nicht genügen würde: Wer war Ihrer Mutter in ihrem Kummer eine Stütze? Sie nicht. Sie sind ja nicht einmal zu seiner Beerdigung zurückgekehrt.«
Hester verschlug es die Sprache. Schlimmer noch, sie bekam keine Luft mehr.
»Sie wissen überhaupt nicht, was Loyalität ist!«, fügte Margaret hinzu, die ihren Vorteil witterte und nun zum entscheidenden Schlag ausholte. »Ich hatte immer Mitleid mit Ihnen, weil Sie keine eigenen Kinder haben, nur den kleinen Bengel, den Sie im Hafenviertel aufgelesen haben, um die Leere zu füllen. Aber im Grunde genommen verstehen Sie überhaupt nicht, was eine Familie ist. Sie sind zu egoistisch, zu sehr von Ihrem eigenen Bild von der Liebe eingenommen, um die Wirklichkeit zu begreifen.« Sie holte Luft, dann stürmte sie an Hester vorbei in den Korridor hinaus, während die Tür wieder zufiel.
Stimmte das? Und wenn nur ein Teil davon zutraf! Hester wusste nicht, wie verzweifelt ihr Vater gewesen war. Sie hatte nichts davon mitbekommen, dass er betrogen, belogen und verraten worden war. Von seinem Selbstmord hatte sie erst im Nachhinein erfahren. Briefe waren wochenlang unterwegs gewesen, und oft hatte sie sich gerade auf dem Schlachtfeld bei Scutari befunden, wenn die Schiffe mit der Post eintrafen.
Hätte sie es wissen können? Wissen müssen? Ihr jüngerer Bruder war in einer Schlacht gefallen. Gab es irgendetwas, das sie hätte tun können? Hätte sie von vornherein zu Hause bleiben müssen?
Nein! Sie war nicht nur ihrem Herzen gefolgt, sondern auch ihren Überzeugungen, als sie sich den Krankenschwestern in jenem Höllenloch angeschlossen hatte, das Scutari und die Schlachtfelder darstellten. Sie hatte Schmerzen gelindert und Leben gerettet. Sie hatte ihren Vater mehr geliebt, als Margaret wissen konnte.
Und sie liebte Monk. Sie hätte gerne Kinder gewollt, um ihm eine Freude zu machen, um ihm alles zu geben, wozu Liebe in der Lage ist, aber sie sehnte sich nicht voller Verzweiflung nach eigenen Babys. Ja, sie liebte Scuff! Warum sollte sie das leugnen? Aber sie liebte ihn als den Menschen, der er war, nicht um irgendeine innere Leere zu füllen. Monk allein genügte ihr: als Gefährte, Verbündeter, Liebhaber und Freund.
Hatte sie Fehler begangen, vielleicht sogar schwerwiegende? Ja, natürlich! Aber nie aus Gleichgültigkeit.
Sie stand regungslos da, ihr war schwindlig, und vor ihren Augen verschwamm das Zimmer. Sie wartete, bis sie sich so weit gefasst hatte, dass sie in den Gerichtssaal zurückkehren und die Nachmittagssitzung verfolgen konnte.
Rathbone kämpfte für Ballingers Verteidigung, was, wie Hester von Anfang an gewusst hatte, in jeder Hinsicht seine Pflicht war. Er hatte keine Wahl, ob beruflich oder emotional.
Er rief einen Zeugen nach dem anderen auf, die alle ein anschauliches Bild von dem Gewerbe entwarfen, das Parfitt betrieben hatte, einschließlich seiner Stammkunden aus der Klasse der Reichen und Ausschweifenden, unter denen sich auch Rupert Cardew befand, auf den ausdrücklich und höchst dezidiert hingewiesen wurde.
»Nur die Reichen?«, fragte Rathbone einen schmierig und verschlagen wirkenden Mann, der gerade, die Hände an die Seiten gepresst, im Zeugenstand aussagte.
»Natürlich«, antwortete der Mann. »Hat ja keinen Sinn, die Armen zu erpressen!«
Ein unterdrücktes Kichern war auf der Galerie zu hören, das sofort erstarb.
»Und die Hochangesehenen?«, hakte Rathbone nach. »Diejenigen, die in der Gesellschaft einen Namen haben?«
Der Zeuge bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick. »Gibt doch keinen Anlass zu zahlen, wenn man keinen Rang zu verlieren hat. Wenn du ein Niemand bist, dann sagste ihm einfach, er kann dich gernhaben und die Bilder an jeden verkaufen, der sie haben will.«
»Sehr richtig«, bestätigte Rathbone mit Nachdruck. »Vielen Dank, Mr Loftus.« Er wandte sich an Winchester. »Ihr Zeuge, Sir.«
Winchester erhob sich. Seine Bewegungen waren nicht minder elegant als am Vormittag, doch Hester fiel auf, dass sein Gesicht blass war und er unwillkürlich die Hände geballt hatte.
»Mr Loftus, Sie scheinen ja bestens über dieses ganze Gewerbe Bescheid zu wissen. Umfangreicher als zum Beispiel ich, obwohl ich mir ja aufgrund dieses Prozesses möglichst viele Kenntnisse aneignen musste. Woher kommt das, Sir?«
»Ach, ich weiß so alles Mögliche.« Loftus tippte sich an einen Nasenflügel, als wollte er damit auf seinen besonders ausgeprägten Geruchssinn hinweisen.
»Das glaube ich Ihnen gern, Sir, aber woher haben Sie es?«, fuhr Winchester mit der Andeutung eines Lächelns fort. »Wie weit sind Sie zum Beispiel selbst in dem Gewerbe engagiert?«
Loftus setzte zu einer Antwort an, bemerkte dann aber Winchesters Blick und überlegte es sich offenbar anders. »Na ja, ich sehe … so manches.«
»Sie sehen so manches«, wiederholte Winchester skeptisch. »Was genau, Mr Loftus? Ein stetes Kommen und Gehen gut gekleideter Männer an Bord eines am Fluss vertäuten Boots, meinen Sie das?«
»So isses. Spät in der Nacht, und glauben Sie mir: Sie sind nich’ dort, um zu angeln.«
Wieder breitete sich ein Kichern auf der Galerie aus. Ein Geschworener hob die Hand ans Gesicht, um sein Grinsen zu verbergen.
»Spät in der Nacht?«, fragte Winchester sanft. »Also bei Dunkelheit?«
»Klar«, feixte Loftus. »Sie glauben doch nich’, die sind unterwegs, wenn die Leute sie erkennen können, oder? Sie haben mir nich’ zugehört, Sir.« Das »Sir« sprach er übertrieben betont aus. »Für einen guten Zweck sind sie bestimmt nich’ dort.«
»Es ist also zu dunkel, um erkannt zu werden. Und dennoch wissen Sie, um wen es sich handelte?« Winchester erwiderte sein Lächeln und hob fragend die Augenbrauen.
Loftus wusste, wann er in einer Falle saß. »Na gut!«, knurrte er wütend. »Hin und wieder hab ich geholfen. Aber nur draußen! Den Jungs dort hab ich nie was angetan.«
»Sie haben draußen geholfen«, imitierte ihn Winchester. »Wegen der Güte Ihres Herzens? Oder wurden Sie vielleicht mit Sachleistungen bezahlt? Ein paar Bilder, vielleicht, die Sie an andere weiterverkaufen konnten? Nachdem Sie sie selbst ausgiebig betrachtet hatten? Vielleicht, um sie an die darauf dargestellten erbärmlichen Kerle zurückzuverkaufen, die von der Kamera bei Handlungen ertappt worden waren, die sie ruinieren würden, wenn ihre Freunde davon erführen? Ist das der Grund, warum Sie sich so sicher waren, dass Rupert Cardew darin verwickelt war?«
Rathbone erhob sich. »Mylord, könnten wir es bei nicht mehr als zwei Fragen zugleich belassen? Ich werde Schwierigkeiten damit haben, auseinanderzusortieren, welche Antwort sich auf welche Frage bezieht.«
Im Saal gab es gedämpftes, nervöses Gelächter.
»Verzeihung«, entschuldigte sich Winchester. »Meine Verwirrung muss ansteckend sein.« Er wandte sich wieder an Loftus. »Ihre Belohnung für diese Hilfe, Sir. Welche Form nahm sie an?«
»Geld!«, stieß Loftus empört hervor. »Reines Geld. Wie Ihr eigenes, Sir.«
»Mein Geld haben Sie bestimmt nicht, Mr Loftus«, entgegnete Winchester lächelnd. »Aber da Sie wissen, dass Mr Cardew dort war, kennen Sie doch sicher auch die Namen anderer Männer. Wer alles nahm noch an diesen … Feiern teil?«
Loftus fuhr sich mit einem Finger über den Mund. »Schweigegelübde, Sir. Verstehen Sie? Alle möglichen Arten von Herren wollen Aufregung von der etwas würzigeren Sorte haben. Da ruiniere ich ja halb London, wenn ich plaudere.«
»Ganz zu schweigen von Ihrem eigenen zukünftigen Einkommen und dem des Herrn hinter dem ganzen Geschäft, der nun, da Mr Parfitt tot ist, einen neuen Geschäftsführer finden muss. Könnten Sie das sein, Mr Loftus?«
Plötzlich herrschte absolute Stille im Gerichtssaal. Das unvermeidliche leise Rascheln der Kleider war erstorben, man konnte die Leute beinahe atmen hören.
Rathbone erhob sich. »Mylord, Mr Winchester setzt Dinge als Fakten voraus, die niemand bewiesen hat. Er macht ständig Andeutungen bezüglich einer grauen Eminenz hinter Parfitt, aber bisher hat niemand einen Beleg für deren Existenz vorgelegt, geschweige denn Mr Loftus eine Zahlung für irgendetwas geleistet.«
»Mylord, jemand hat Mickey Parfitt einen Brief mit Anweisungen geschickt, um sicherzustellen, dass er in der Nacht seiner Ermordung allein auf dem Boot war«, hob Winchester hervor. »Jemand stellte das Geld für den Kauf und die Ausstattung des Boots zur Verfügung. Jemand sprach die Männer an, beobachtete und verführte diejenigen, die für diese Art von Zügellosigkeit empfänglich sind. Jemand erpresste sie und trieb mindestens einen in den Selbstmord und dem Anschein nach einen zum Mord. Und da Mr Loftus geschworen hat, dass Rupert Cardew ein Opfer dieses Gewerbes war und andere Zeugen uns drastisch seinen Niedergang vom leichtgläubigen Freund zum Zuschauer abscheulicher, widerwärtiger Szenen geschildert haben, kann er nicht der Mann im Hintergrund gewesen sein. Man erpresst sich nicht selbst.«
Der Richter überlegte kurz, dann zog er eine Schulter zu einer Geste der Anerkennung hoch. »Mr Winchester scheint recht zu haben. Man kann in Mr Cardew nicht beides sehen. Entweder war er der Erpresser oder das Opfer, das zurückschlug.«
»Mylord.« Rathbone verneigte sich. »Für mich besteht kein vernünftiger Zweifel daran, dass Mr Parfitt ein niederträchtiger Mann war, der anderen einen Königsweg zur totalen Entwürdigung bot, zu einer Verderbtheit, die jeden anständigen Menschen anwidern muss. Dafür ließ er seine Opfer gleich doppelt zahlen: erst für die Teilnahme und später dafür, dass sie der Schande durch ihre Bloßstellung vor ihren Freunden und vor der Gesellschaft entgingen. Aber wie es möglich war, Persönlichkeiten mit einer solchen Schwäche zu finden, wissen wir nicht. Viele Antworten sind vorstellbar. Wenn tatsächlich ein Drahtzieher dahintersteckte, wissen wir nicht, wer das ist. Ich persönlich würde ihn – wie wohl auch Sie – gerne hängen sehen. Aber mich würde es nicht befriedigen, wenn wir in unserem gerechtfertigten Abscheu und Zorn den Falschen aufknüpften!«
Dafür erntete er zustimmendes Lächeln. Jemand rief seine Zustimmung sogar laut heraus.
Der Richter blickte mit gerunzelter Stirn in den Saal, verzichtete aber auf einen Tadel.
Rathbone wartete einen Moment, bis wieder Ruhe eingekehrt war, dann setzte er seine Ansprache fort. »Wir sind hier, um über Arthur Ballinger zu verhandeln, der des Mordes an Mickey Parfitt angeklagt ist. Ich gebe Ihnen zu bedenken, dass Mr Winchester trotz seiner Eleganz und meisterhaften Demaskierung der zutiefst widerwärtigen Natur von Mickey Parfitts Gewerbe nicht vermocht hat darzulegen, dass Mr Ballinger irgendetwas damit zu tun hatte, sei es als Investor oder als Opfer.«
Nun sah er die Geschworenen an.
»Ich beabsichtige, Ihnen in den nächsten ein, zwei Tagen die gewalttätige und tückische Natur anderer an den Rändern dieses Gewerbes beteiligter Elemente aufzuzeigen und nachzuweisen, wie leicht es jedem von ihnen gefallen wäre, Parfitt eigenhändig zu töten. Ich werde Ihnen Dutzende von Gründen darstellen, die sie dafür gehabt haben könnten und die größtenteils mit Gier zu tun haben. Wie bereits ausführlich gezeigt wurde, kann man durch Erpressung sehr viel Geld verdienen oder verlieren. Das Ansehen von Männern wird zerstört, ganze Vermögen werden vernichtet, Menschenleben wird ein Ende gesetzt. Solche Umstände sind Brutstätten des Mordes.«
Hester ersparte es sich, zu bleiben und ihn reden zu hören. Rathbone würde sorgfältig alle möglichen Andeutungen ausbreiten, die den Sachverhalt noch nebulöser erscheinen lassen würden. Wahrscheinlich würde er gar nicht versuchen, Rupert Cardew herauszupicken und seine Schuld zu beweisen, aber es wäre vielleicht gar nicht so schwierig, den Verdacht anzudeuten, dass er immerhin der Täter sein konnte, sodass am Ende niemand mehr Arthur Ballinger schuldig sprechen würde. Dann würde alles wieder von vorn beginnen, nur um womöglich zu noch mehr Zweifeln zu führen.
Sie trat hinaus in den Spätnachmittag, den Lärm der Straße, den Verkehr, fast in eine andere Welt. Sie gab sich alle Mühe, den Gedanken daran zu vermeiden, was es für Monk bedeuten würde, wenn der Prozess mit einem Freispruch endete. Margaret würde ihm trotzdem nicht vergeben. Und was würden die Männer von der Wasserpolizei sagen? Dass er den Falschen angeklagt hatte oder dass er recht gehabt hatte, aber daran gescheitert war, die nötigen Beweise vorzulegen? Ob so oder so, er hätte verloren.
Sie zwang sich, nicht zu vergessen, dass es darauf ankam, recht zu haben, und nicht darauf, den Anschein von Recht zu erwecken. Sie brauchte mehr Fakten. Und deshalb musste sie wissen, was genau mit Hattie geschehen war. Wenn Margaret sie zum Ausgang gebracht und ihr nahegelegt hatte, die Klinik zu verlassen, warum hatte Hattie dann gehorcht? Wohin war sie gegangen? Zu wem? Wer hatte gewusst, wo er sie finden würde, und sie dann umgebracht, um ihre Aussage vor Gericht zu verhindern? Was hätte sie dort beschworen? Dass Rupert unschuldig war? Oder dass er der Mörder war?
Nun würden sie nie erfahren, wem Hattie das Halstuch gegeben hatte, wenn sie es denn überhaupt jemals gestohlen hatte. War Rupert am Ende doch der Täter? Warum schmerzte sie dieser Gedanke derart? War es einfach nur der Schmerz über den Verlust einer Illusion? Oder die Demütigung, im Unrecht zu sein? Oder das herzzerreißende Mitleid mit seinem Vater?
Am nächsten Morgen war Hester früh in der Klinik und stellte erneut Fragen, mit denen sie so präzise wie nur möglich ermittelte, wann Hattie das Gelände verlassen hatte. Als sie danach draußen vor der Tür stand und in beide Richtungen schaute, herrschte Windstille. Am Himmel türmten sich schwere Wolken auf und kündigten Regen an. Wie immer strömten Passanten vorbei. Wer davon tat das jeden Morgen? Wer davon hatte regelmäßige Gänge zu erledigen? Zum Bäcker, in die Wäscherei, in die Arbeit?
Um die Arbeiter der Brauerei Reid’s abzufangen, war es zu spät. Die hatten schon vor Stunden angefangen. Die Fabriken und Läden waren auch schon seit mindestens zwei Stunden offen. War vielleicht ein Straßenverkäufer unterwegs? Sie konnte keinen entdecken.
Hester zog sich den Schal fester um den Hals und lief zur Leather Lane, wo sie in nördlicher Richtung abbog. Nach etwa hundert Metern kam ihr ein Zeitungsverkäufer entgegen, der lautstark die neuesten Nachrichten verkündete. Sehr zu seinem Missvergnügen hielt sie ihn an und fragte ihn, ob er Hattie gesehen hatte, die sie ihm so gut wie möglich beschrieb. Er wusste von nichts.
Sie ging zur Kreuzung zurück und lief in südlicher Richtung fast bis zur High Holborn, aber auch hier hatte niemand eine junge Frau bemerkt, auf die Hatties Beschreibung gepasst hätte.
Entmutigt, da Hatties Verschwinden wohl schon zu lange zurücklag, kehrte sie zur Leather Lane in den Schatten der Brauerei zurück und lief einmal mehr durch die Portpool Lane. Jetzt wollte sie es mit der Gray’s Inn Road an deren anderem Ende versuchen. Sie schlug eine nördliche Richtung ein und hatte fast schon die St. Bartholomew’s Church erreicht, als sie den Straßenverkäufer bemerkte, der Sandwiches feilbot. Sie blieb stehen und kaufte ihm eines ab, nicht nur, weil sie Hunger hatte, sondern auch, um mit ihm ins Gespräch zu kommen. Es musste schrecklich langweilig sein, den ganzen Tag allein dazustehen, nur hin und wieder ein paar Worte mit Fremden zu wechseln, in der Hoffnung, ihnen irgendwas zu verkaufen.
Sie verzehrte das Sandwich mit Genuss. Es war wirklich sehr gut, und das sagte sie dem Mann auch.
Er entblößte mit einem breiten Lächeln klaffende Zahnlücken und bedankte sich.
»Ich arbeite hier gleich um die Ecke«, erklärte sie, den letzten Rest ihres Sandwiches in der Hand. »Portpool Lane.«
»Ich weiß, wer Sie sind«, erwiderte der Straßenhändler.
»Ach, wirklich?«, fragte sie erstaunt. Der Mann verwechselte sie wohl mit jemand anders.
»Doch, doch! Sie nehmen Straßenmädchen auf, die krank sind oder zusammengeschlagen wurden.«
Seiner Miene konnte sie nicht entnehmen, ob er das gut oder schlecht fand. Wie auch immer, es hatte keinen Zweck, es zu leugnen. »Das ist richtig. Und jetzt suche ich eine Patientin, die uns am Dienstag verlassen hat und seitdem verschollen ist. Sie ist immer noch ziemlich krank, und ich mache mir Sorgen um sie.« Hester war sich nicht sicher, wie ehrlich sie sein sollte. Panik stieg in ihr hoch, und sie musste sie mit Gewalt unterdrücken; sie durfte sich jetzt nicht von der Angst vor den Konsequenzen beeinflussen lassen, falls sie scheiterte. Aber vielleicht fürchtete sie sich fast ebenso sehr vor den Erkenntnissen, die sie im Falle eines Erfolgs gewinnen würde, Dinge, die sie dann nicht mehr ignorieren konnte.
»Da würde ich mir keine Sorgen machen, Mädchen«, munterte der Straßenverkäufer sie liebevoll auf. »Sie wird hübsch schnell zurückkommen, wenn sie muss.«
Einen Moment lang wusste Hester nicht, was sie als Nächstes tun sollte. Dann fischte sie zwei Drei-Penny-Münzen aus ihrer Tasche. »Könnte ich bitte noch ein Sandwich haben? Der Schinken ist wunderbar.« Eigentlich war sie satt und wollte nichts mehr essen.
Er reichte es ihr hocherfreut mitsamt zwei Pence Wechselgeld.
»Ich glaube, sie weiß nicht, wie krank sie ist«, improvisierte Hester. »Manche von diesen Leiden sind ansteckend. Und ich fürchte, sie ist nicht allein geblieben. Jetzt könnten andere es von ihr bekommen.« Ihre Geschichte wurde immer verwegener, aber Hauptsache, sie gewann sein Interesse. »Am Ende vielleicht noch jemand mit Kindern! Wo Kinder doch so schnell krank werden!«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, wie Sie die finden wollen. Auf der Straße wimmelt es ja von Mädchen.«
»Diese eine ist aber von ungewöhnlichem Aussehen. Sie hatte auffallend blondes Haar, fast weiß. Und eine wunderschöne Haut. Übermäßig hübsch war sie allerdings nicht, sie wirkte nur irgendwie … unschuldig. Sehr reinlich, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Sie blickte ihn voller Hoffnung an.
»Dienstag, haben Sie gesagt?«
»Ja. Haben Sie sie bemerkt? Ungefähr um dieselbe Zeit, vielleicht etwas früher.«
»Und mit wem, haben Sie gesagt, war sie zusammen?«
»Das weiß ich nicht. Eine andere Frau vielleicht …«
»Älter, hm? Sah irgendwie ehrbar aus. Ein bisschen mollig. Braunes Haar.«
»Ja! Das könnte stimmen!« Hester hatte keine Vorstellung davon, wer das sein konnte. Sie tappte immer noch im Dunkeln. »Sie sind Ihnen tatsächlich aufgefallen. Wohin sind sie gegangen?«
»Wie soll ich das wissen? Da rauf?« Er deutete nach Norden, um die Kirche herum.
»Zur Kirche? In die St. Bartholomew’s?«
Er verdrehte die Augen. »Aber nein, Schätzchen, zum Droschkenstand dahinter, wo die Hansoms warten. Dort kriegt man immer einen.«
»Oh!« Jetzt wurde ihr heiß im Gesicht. »Ja, natürlich! Wie, haben Sie gesagt, sah die andere Frau aus? Was für Kleider trug sie?«
»Wofür halten Sie mich? Daran erinner’ ich mich doch nich’ mehr. Es war nix Besonderes, so viel kann ich Ihnen sagen. Bis auf ihre Handschuhe. Sie hatte wirklich gute Handschuhe. Leder. Und am Bund mit ’nem kleinen Muster bestickt. Auf dieser Höhe.« Er deutete auf sein Handgelenk. »Muss sie geklaut haben, oder sie hatte vielleicht ’nen Freier mit viel Geld.«
»Können Sie sie noch ein bisschen genauer beschreiben? Wie sah ihre Haut aus? Ihre Zähne?«
»Hä?«
»Ihre Haut? Ihre Zähne?«, wiederholte Hester.
»Wie soll ich das wissen?«, rief der Mann ungehalten. »Ihre Zähne sahen aus wie … Zähne eben! Irgendwie gepflegt, wenn ich es recht bedenke.«
Hester pochte das Herz zum Zerspringen. »Vorn ein bisschen schief, aber hübsch?«
»Genau! Stimmt. Kennen Sie sie? Is’ sie auch aus Ihrem Haus?«
»Vielleicht.« Stimmte das mit den Zähnen, oder hatte sie ihm diese Idee in den Kopf gesetzt, und er versuchte nur, ihr gefällig zu sein und sich weiteren Fragen zu entziehen? »Vielen Dank.« Sie aß ihr Sandwich auf, bedankte sich noch einmal und lief dann eilig zu dem Stand für die Hansoms hinüber.
Die Beschreibung, die er ihr gegeben hatte, passte auf eine der Frauen, die im Gerichtssaal neben Margaret und ihrer Mutter gesessen hatten. Oder auf jede andere Frau in London mit hübschen, leicht schiefen Zähnen und genügend Geld, um sich gute Handschuhe zu kaufen. Aber von allen Londonerinnen hatte Margarets Schwester ein Motiv, ihr und ihrem Vater zu helfen, indem sie Hattie Benson aus der Klinik lockte und an einen anderen Ort … Ja, wohin hatte sie sie gebracht? Hatte sie gewusst, dass sie sie in den Tod führte, oder hatte sie sich eingebildet, es wäre einfach ein Haus, wo man sie festhalten würde, bis es zu spät für eine Aussage war?
Es erforderte den ganzen Rest des Tages und mehr Geld, als sie sich eigentlich für Hansoms, Sandwiches, Tee und kleine Bestechungen leisten konnte, aber schließlich hatte sie doch einiges in Erfahrung gebracht. Eine halbe Stunde nachdem Margaret Hattie aus der Klinik in der Portpool Lane geführt hatte, waren zwei Frauen, deren Äußeres den Beschreibungen von Hattie und Gwen oder Celia entsprach, mit einem Hansom von der St. Bartholomew’s Church in die Avonhill Street in Fulham gefahren, von wo es nach Chiswick nur noch ein Katzensprung war.
Eine weitere Stunde, gefüllt mit zähen Befragungen und frei erfundenen Notlügen, später brachte die Abenddämmerung Hester die Gewissheit, in welchem Haus sich Hattie ein paar Stunden lang aufgehalten hatte.
»Jaaa«, stöhnte die Eigentümerin widerwillig, als Hester in ihrer Haustür stand, und trocknete sich die Hände an ihrem Rock ab. »Was wollen Sie denn damit anfangen? Das is’ ein anständiges Haus, und hier wird nich’ rumgehurt. Das war ’ne vornehme Dame, die sie hierhergebracht hat. Hat gesagt, dass sie ein paar Tage bleibt.«
»Aber so lange ist sie nicht geblieben, oder?«, drängte Hester. »Nach wenigen Stunden war sie wieder weg.«
»Dann hat sie’s sich eben anders überlegt. Gezahlt is’ jedenfalls worden. Was kümmert mich der Rest?«
»Mit wem ist sie weggegangen?« Hester spürte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte und ihre Hände klamm wurden.
»Sagte, er hieße Cardew. Sein Gesicht hab ich nich’ gesehen, aber so, wie er sprach, war er wirklich vornehm.«
Hester dankte ihr und schickte sich an zu gehen, geriet dann aber ins Stolpern und stieß gegen den Türpfosten. Dass sie sich dabei die Hand prellte, nahm sie kaum wahr.
»Das ergibt einfach keinen Sinn«, sagte Monk geduldig, als sie spät am Abend vor dem Kaminfeuer saßen und die Uhrzeiger sich Mitternacht näherten. Hester war erschöpft und fröstelte immer noch, obwohl es im Zimmer wohlig warm war. »Aus welchem Grund sollte Margaret Rupert helfen, wobei auch immer?«
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Hester kleinlaut. »Vielleicht hat er ihr etwas vorgelogen.« Schon während sie das sagte, war ihr klar, dass auch das keinen Sinn ergab. Sie blickte auf und las an Monks Augen ab, was er dachte. »Hat Hattie am Ende gelogen und das Halstuch gar nicht gestohlen? Vielleicht hat Rupert ihr ja Geld gegeben, damit sie das behauptet. Und dann hat sie die Nerven verloren und ist weggelaufen, weil sie nicht mehr mitmachen wollte.«
Monk nickte. »Damit wäre erklärt, warum er sie umgebracht hat, sofern er tatsächlich der Mörder ist. Aber aus welchem Grund hat dann Margaret sie zum Ausgang geführt? Wäre es nicht vielmehr in ihrem Interesse gewesen, Hattie im Haus zu behalten und auf sie einzuwirken, ihre Geschichte zurückzuziehen?«
»Hatte Hattie vielleicht Angst davor? Wollte sie einfach nur abhauen und überhaupt nichts sagen?«
Monk nickte bedächtig. »Das ist denkbar. Sie konnte dir – oder mir – nicht mehr in die Augen sehen und rannte weg. Ähnlich könnte es sich auch hinsichtlich Ballingers Verteidigung verhalten haben. Ihre erste Geschichte hätte doch niemand geglaubt. Also hilft Margaret ihr, und den Rest übernimmt ihre Schwester Gwen. Die Beschreibung klingt eher nach ihr und nicht nach Celia. Hattie lässt sich also in ein Haus bringen, wo sie sich in Sicherheit wähnt. Aber Rupert spürt sie trotzdem auf. Bloß wie?«
»Ist sie vielleicht schon einmal dort gewesen?« Hester vergrub das Gesicht in den Händen. »O William, was haben wir da nur angerichtet?«