5
Rathbone befiel ein eisiges Gefühl in der Magengrube, als sein Diener ihm meldete, dass Monk im Wartezimmer saß und müde und ziemlich niedergeschlagen wirkte.
»Schicken Sie ihn herein«, forderte der Anwalt ihn auf. Er wollte die Sache hinter sich bringen. Allerdings würde es ihm bestimmt schwerfallen, dem nächsten Mandanten seine volle Aufmerksamkeit zu schenken, falls Monk wieder etwas Neues entdeckt hatte und all seine Gedanken sich nur noch darum drehten. Die Tatsache, dass Monk persönlich zu ihm gekommen war, ließ freilich nur einen Schluss zu: Sein Besuch konnte nur mit dem Mord an Mickey Parfitt und dem Boot zu tun haben, auf dem dieser sein widerwärtiges Gewerbe betrieben hatte.
Rathbone hatte versucht, aus seinem Bewusstsein zu verdrängen, dass Sullivan Arthur Ballinger bezichtigt hatte, seinen Verfall herbeigeführt zu haben. Erst die Versuchung, dann die Korruption und schließlich sein Selbstmord. War er am Ende unzurechnungsfähig gewesen und hatte er Ballinger deshalb beschuldigt, weil er seine eigene Verantwortung für das, was aus ihm geworden war, nicht mehr ertragen konnte? Es hatte nie etwas anderes gegeben als Worte, keine Fakten und erst recht keine Einzelheiten, die Sullivan nicht selbst hätte erfinden können.
Monk trat ein und zog sogleich die Tür hinter sich zu. Der Diener hatte recht: Er wirkte müde und deprimiert, fast geschlagen. Die kalte, eiserne Faust in Rathbones Magen schien sich noch fester zu schließen. Er wartete.
»Ich weiß jetzt, wer Mickey Parfitt ermordet hat«, sagte Monk leise. »Die Indizien scheinen mir recht schlüssig. Ich habe mir gedacht, dass Sie es gerne erfahren würden.«
»Allerdings!«, bellte Rathbone. »Also raus mit der Sprache! Stehen Sie nicht herum wie ein Leichenbestatter mit Zahnschmerzen – sagen Sie’s mir!«
Ein Lächeln flackerte über Monks Gesicht und verschwand wieder. »Rupert Cardew.«
Rathbone prallte benommen zurück. Es fiel ihm schwer, das zu glauben. Gewiss, Rupert Cardew führte ein ausschweifendes Leben, aber er war bestimmt nicht schlimmer als viele junge Männer mit zu viel Geld und zu großen Privilegien. Wie, um alles in der Welt, konnte er so tief sinken?
Gleichzeitig mit dem Bedauern empfand er unendliche Erleichterung. Die Vorstellung, dass Arthur Ballinger in Pornografie, Erpressung und Mord verstrickt gewesen sein könnte, war lächerlich. Wenn Claudine Burroughs’ Beobachtung zutraf und es wirklich Ballinger gewesen war, den sie vor dem Laden mit den pornografischen Abbildungen gesehen hatte, dann hatte er in diesem Moment ganz gewiss einem Freund geholfen und sich in seiner Eigenschaft als Anwalt um irgendeinen armen Teufel bemüht, der in eine Dummheit hineingeschlittert war. Gut möglich, dass es ihm darum gegangen war, eine Erpressung zu durchkreuzen, indem er die Fotografien an sich brachte, die seinen Mandanten belasteten. Aber natürlich! Eine ganz einfache Erklärung. Und kaum war sie ihm eingefallen, fragte er sich, warum das so lange gedauert hatte.
»Das tut mir sehr leid«, sagte Rathbone, und als er Monk in die Augen blickte, erkannte er die Traurigkeit darin. Aus Anteilnahme mit Hester, ohne Zweifel. Cardew hatte der Klinik viel gespendet, und sie war ihm nicht nur dankbar, sondern hatte ihn auch gemocht. Wie typisch für Hester, die immer ein Herz für Leute in Bedrängnis hatte, für diejenigen, denen andere aus dem Weg gingen, sobald sie Bescheid wussten.
Und wenn sie das erfuhr, würde auch sie ihn meiden. Vieles würde sie verzeihen, aber im ganzen Leben würde sie keinen Mann bei sich dulden, der Kinder missbraucht und ermordet hatte: verwundbare Kinder, die froren, die hungrig und allein waren wie Scuff.
Monk stand kerzengerade da wie immer und drückte eine Würde aus, die fast wie Arroganz wirkte. Allerdings trog dieser Eindruck. Und da Rathbone ihn so gut kannte wie kaum jemand anders, wusste er auch, dass diese Haltung seiner Verteidigung diente und sein Glaube an sich selbst ein Panzer war, der umso fester geworden war, seit ihn sein Gedächtnisverlust auf einzigartige Weise verletzlich gemacht hatte.
Und jetzt stand er im Begriff, Hester Schmerzen zuzufügen. Es würde keine Möglichkeit geben, sie zu trösten oder die Desillusionierung zu lindern. Rupert Cardew erinnerte sie bestimmt an die jungen Offiziere, die sie auf der Krim als Verwundete gekannt, als Sterbende gesehen hatte und die bis zum Schluss darum gekämpft hatten, so etwas wie Würde zu bewahren. Damals hatte sie bei den wenigsten etwas gegen den Tod ausrichten können, und auch jetzt konnte sie nichts für Rupert Cardew tun. Wenn das je möglich gewesen wäre, dann hätte es vor Jahren geschehen müssen.
Monk deutete ein Schulterzucken an. »Ich habe mir gedacht, dass Sie das vielleicht wissen wollen.« Ballinger oder Margaret erwähnte er mit keinem Wort. Aber das brauchte er auch gar nicht. Keiner von ihnen beiden würde je die Nacht auf Jericho Phillips’ Boot vergessen, das Entsetzen und die Angst, dass Scuff vielleicht schon tot war und sie zu spät gekommen waren, den Gestank der halb verwesten Leiche im Kielraum, als sie ihn bargen, klein und leichenblass, am ganzen Körper zitternd. Ebenso wenig würden sie die Leichen am Execution Dock vergessen.
»Sind Sie sicher, dass es Cardew war?«, fragte der Anwalt. Er wunderte sich, wie normal seine Stimme klang.
»Der Dreckskerl wurde mit seinem Halstuch erdrosselt«, klärte Monk ihn auf. »Der Pathologe musste es förmlich aus Parfitts Hals herausschneiden, da es von dem zugeschwollenen Fleisch verdeckt gewesen war. Es war ungewöhnlich: dunkelblau mit goldenen Leoparden, eine Dreiergruppe.«
Rathbone spürte, dass sich der Knoten, der ihm am Anfang den Magen zugeschnürt hatte, lockerte. Das war ein echtes Beweisstück. Es beschämte ihn, dass die Verzweiflung eines anderen ihm solche Erleichterung verschaffte. Jetzt wusste er es mit Gewissheit, dass er große Angst gehabt hatte, Ballinger wäre irgendwie in die Verbrechen verwickelt. Er hatte es sich nicht eingestanden, aber in dem Maße, in dem jetzt die Angst nachließ, wurde ihm klar, welche Macht sie über ihn gehabt hatte, und auf einmal wurde ihm fast schwindlig.
»Ja«, sagte er laut, »Sie haben recht. Das scheint in der Tat schlüssig. Es tut mir aufrichtig leid; Lord Cardew wird am Boden zerstört sein. Armer Mann.«
Monk schwieg. Sein Gesicht war immer noch blass, und seine Augen wirkten hohl. Er nickte langsam, bedankte sich mit einem knappen Lächeln, dann drehte er sich abrupt um und ging.
Rathbone hörte noch, wie er draußen eine ihm vom Diener angebotene Tasse Tee dankend ablehnte.
Als die Tür zugefallen war und Rathbone wieder hinter dem Schreibtisch Platz genommen hatte, begann er plötzlich zu zittern. Nicht vor Schreck, sondern aus unendlicher Erleichterung. Er hatte das Gefühl, einer Gefahr entronnen zu sein, für die er sich gewappnet hatte, bis ihn jedes Glied vor Anspannung schmerzte. Er hatte nicht vermocht, den Gedanken, dass Ballinger tatsächlich ein Verbrecher sein könnte, konsequent zu verfolgen, weil er Margaret damit nicht wiedergutzumachenden Schmerz zugefügt hätte. Sie liebte ihren Vater noch immer mit der gleichen Bedingungslosigkeit, wie sie es als Kind getan haben musste.
Dafür bewunderte er sie, und doch hinderte es ihn daran, nach der Wahrheit über Ballingers Verstrickung zu forschen. Ein solches Verhalten stand in völligem Gegensatz zu seinem sonstigen Gerechtigkeitsempfinden. Es war das erste Mal, dass er sich so benahm, und dafür schämte er sich. Jetzt hatte das Schicksal ihm gestattet, sich der Konfrontation mit der Wahrheit zu entziehen, und das war ein unverdientes Geschenk.
Heute Abend wollte er mit Margaret zu einer Dinnerparty gehen, zu der sie bereits die Einladung angenommen hatten. Eine wunderbare Gelegenheit, diese Wendung mit ihr zu feiern. Es sollte ein unvergesslicher Abend voller Glück für sie werden. Er gestattete es sich, mit den Gedanken schon dort zu verweilen, bis ihm der Diener die Ankunft des ersten Mandanten an diesem Tag meldete.
Die Dinnerparty war überwältigend. Rathbone hatte Margaret erst kürzlich eine wunderschöne Halskette aus Granat mitsamt dazu passenden Ohrringen und einem Armreifen geschenkt. Der Schmuck war ein wenig extravagant, entsprach aber dem glanzvollen, doch diskreten Ambiente, das sie am liebsten mochte. An diesem Abend trug sie seine Geschenke zu einem Kleid aus weinroter Seide. Es hatte einen Rock, der ausladender war, als es normalerweise ihrem Geschmack entsprach, und das Mieder war vielleicht etwas tiefer ausgeschnitten als bei ihren übrigen Kleidern. Die Juwelen schimmerten auf ihrer makellosen, blassen Haut. Sie war so glücklich, wie er sie noch nie erlebt hatte.
Sie betraten den Festsaal, wo sie mit höflichen Worten empfangen wurden. Fast zwanzig Personen waren anwesend. Die Männer waren in elegantes Schwarz gehüllt, die Frauen in eine lodernd bunte Pracht, von den schimmernden Pastelltönen der jüngeren bis hin zum Burgunderrot, Violett, Pflaumenblau und satten Braun der Rangälteren der Aristokratie. Diamanten glitzerten in gebändigtem Feuer, Bänder aus Perlen glühten auf nackter Haut. Gedämpftes Lachen und das Klirren von Gläsern stiegen in die Luft, das sanfte Wogen einer Blumenwiese in einer milden Brise.
Margaret umfasste Rathbones Arm etwas fester. Er roch ihr Parfum, süß und rätselhaft.
»Ah! Sir Oliver, Lady Rathbone! Wie entzückend, Sie zu sehen!« Diese Begrüßung wurde ein ums andere Mal wiederholt. Rathbone kannte alle Anwesenden und brauchte sich nicht das Gehirn nach einem Namen, einer Stellung oder einer besonderen Leistung zu zermartern. Er zeigte sich bei seinen Antworten entspannt, lachte über einen Witz, beteiligte sich am Gespräch über eine Nachricht, das letzte Buch, die neueste Kunstausstellung.
Erst als man sich zum Dinner an die Tafel setzte, fiel ihm auf, dass die Zahl der Gäste ungerade war, ein Umstand, den eine englische Gastgeberin niemals bewusst herbeiführen würde.
»Was ist denn?«, flüsterte Margaret, als sie seine verwirrte Miene bemerkte.
»Wir sind neunzehn«, raunte er ihr zu.
»Da muss etwas passiert sein«, erklärte sie bestimmt. »Jemand ist erkrankt.« So beiläufig sie konnte, blickte sie sich um. »Es ist ein Mann«, verkündete sie schließlich. »Es sind zehn Frauen am Tisch.«
Mit einem Schlag war die Antwort klar und damit auch der Grund, warum es niemand erwähnt hatte. Bei dem fehlenden Mann handelte es sich um Lord Cardew. Angesichts der Gästeliste war sich Rathbone sicher, worüber die Herren nach dem Dinner bei Portwein und Zigarren diskutieren würden, sobald die Damen sich zurückgezogen hatten: die umstrittene Frage der industriellen Verschmutzung, insbesondere die der Flüsse. Er erinnerte sich, wie Ballinger davon gesprochen hatte, dass Lord Cardew sich seit Jahren mit diesem Thema befasste. Jetzt überlegte Rathbone, ob es am Ende nicht sogar Cardew gewesen war, der den einflussreichen Richter Lord Garslake so weit gebracht hatte, seine Meinung zu ändern und die Entscheidung des Appellationsgerichts in jenem berühmten Fall zu revidieren.
Plötzlich wurde ihm bange. Er fühlte sich elend und auch schuldig, weil er in einer Stimmung ungetrübten Glücks hierhergekommen war. Dabei konnte er nun wirklich nichts dafür, dass Rupert Cardew Parfitt ermordet hatte. Was ihn beschämte, waren seine Erleichterung und seine Bereitschaft wegzuschauen, wenn Unbehagen sein privates Glück bedrohte. Vielleicht hatte Cardew es genauso gemacht, sich geweigert, Ruperts wahres Wesen zu erkennen, sich der Wahrheit zu stellen und wenigstens zu versuchen, auf seinen Sohn einzuwirken. In dieser Hinsicht waren er selbst und der Lord einander sehr ähnlich, nur dass Rathbone noch nie gezwungen gewesen war, dafür geradezustehen.
Margarets Stimme riss ihn aus seinen Grübeleien. »Oliver?«
Er verwarf seine trüben Gedanken sogleich und zwang sich, nur noch an den Augenblick zu denken – und an sie.
»Ja«, sagte er hastig, »jemand muss erkrankt sein. Wollen wir hoffen, dass es harmlos ist und er sich bald wieder erholt.« Kurz legte er seine Hand auf die ihre, dann trat er lächelnd vor und nahm seinen Platz am Tisch ein.
Niemand erwähnte Cardew oder irgendein anderes Thema, das die Freude an diesem Abend hätte trüben können. Rathbone machte es glücklich zu sehen, dass Margaret ihre frühere Schüchternheit hinter sich gelassen hatte, dass sie lachte und amüsante, bisweilen sogar doppelbödige Bemerkungen zum Gespräch beisteuerte, wenn sie mit einer Ansicht nicht einverstanden war. Mehr als ein Mal perlte Gelächter über den Tisch, und Bewunderung war zu erkennen.
Rathbone war stolz auf seine Frau.
Unwillkürlich fiel ihm Hester ein: ihre flinke Zunge; die Leidenschaft, die bei ihr bisweilen schockierende Reaktionen auslöste; ihre Wut über Unfähigkeit und falschen Stolz, mit dem Täuschungen bemäntelt wurden; ihr Mitgefühl, das dazu führte, dass sie sich auf ihren Kreuzzügen viel zu wenig um die Etikette und die Folgen ihres Verhaltens scherte. Sie würde immer eine aufregende Frau für ihn bleiben. Allerdings hatte er das einmal irrtümlich für Liebe gehalten und sich eingebildet, er könne mit ihr glücklich werden. Gott sei Dank hatte sie ihn nicht erhört. Bei einer Dinnerparty wie der heutigen würde er immer voller Bangen darauf warten, dass sie in ein Fettnäpfchen trat und eine verheerend freimütige Bemerkung machte, deretwegen sie niemals vergessen, geschweige denn ignoriert werden konnte.
Er blickte über den Tisch zu Margaret hinüber. Mit ernster Miene antwortete sie dem Mann zu ihrer Linken. Es ging um die gewaltige Macht der Industrie und das komplexe Verhältnis zwischen Profit und Verantwortung. Die Haltung des Mannes hatte nichts Herablassendes an sich, als er freundschaftlich zu bedenken gab, dass ein Kampf gegen solche Giganten aussichtslos sei.
Rathbone lächelte. Plötzlich, als spürte sie, dass er sie anschaute, blickte Margaret mit warmen, leuchtenden Augen, aus denen vollkommenes Glück sprach, zu ihm hinüber.
Diese süße, vertraute Stimmung hielt sich auch noch während der Heimfahrt in der Kutsche und wurde noch intensiver, als sie den Bediensteten für den Rest der Nacht freigaben und allein nach oben gingen. Auf einmal fiel die Leidenschaft unendlich leicht. Alles war so selbstverständlich, keiner musste etwas fragen. Mehr noch, überhaupt etwas zu sagen hätte einen Zweifel an dem Geschenk eines solch großen Glücks bedeutet.
Am nächsten Morgen in der Kanzlei wurde Rathbones Seelenfrieden allerdings gründlich zertrümmert.
»Lord Cardew ist im Vorraum und möchte Sie sprechen«, eröffnete ihm sein Diener mit ernster Stimme. »Ich habe ihm gesagt, dass ich vorher mit Ihnen Rücksprache nehmen muss, aber ich habe mir die Freiheit gestattet, Lady Lavinia Stock zu fragen, ob es ihr möglich wäre, Sie ein andermal zu konsultieren. Ihr Anliegen ist ja eher trivial, und sie war so freundlich, ihren Termin zu verschieben.«
Rathbone starrte ihn voller Entsetzen an. Der Mann war ein hervorragender Bürodiener und hatte viele Jahre seines eigenen Lebens geopfert, um immer treu und zuverlässig an seiner Seite zu stehen, aber jetzt hatte er sich in der Tat eine sehr große Freiheit herausgenommen.
Die Wangen des Dieners hatten sich leicht gerötet, doch er stellte sich Rathbones Blick, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Da ich Sie so gut kenne, Sir, hielt ich es für sicher, dass Sie ihm zumindest die Güte erweisen würden, ihn anzuhören, selbst wenn Sie nicht den Wunsch haben sollten, den Fall zu übernehmen – oder das Gefühl hätten, diese Angelegenheit entziehe sich Ihrer Kompetenz.«
Rathbone setzte schon zu einer Widerrede an, nur um leicht belustigt festzustellen, dass der Mann ihn äußerst geschickt überlistet hatte. Im ganzen Leben würde er nicht zugeben, dass er nicht in der Lage war, einen Fall zu bearbeiten. Ebenso wenig konnte er sich weigern, Lord Cardew wenigstens anzuhören, da der Mann von der wahrscheinlich grausamsten Notlage seines Lebens heimgesucht wurde.
»Nun, wenn Sie schon entschieden haben, dass ich den Fall annehmen soll, führen Sie Lord Cardew wohl besser herein«, antwortete er trocken.
Der Diener verneigte sich. »Es steht mir nicht zu, zu bestimmen, welchen Fällen Sie sich widmen, Sir Oliver. Ich werde Lord Cardew unverzüglich hereinführen. Soll ich Tee machen, oder würden Sie in Anbetracht der Umstände womöglich etwas Stärkeres bevorzugen? Brandy vielleicht?«
»Tee ist hervorragend, danke. Ich muss stocknüchtern sein, wenn ich in dieser Sache von Nutzen sein will. Und …«
»Ja, Sir Oliver?«
»Über das andere werden wir noch ein Wörtchen reden müssen.«
»Sehr wohl, Sir. Ich bringe den Tee, sobald er fertig ist.«
Damit zog er sich zurück, nur um einen Moment später Lord Cardew die Tür aufzuhalten. Ein Herr von Anfang sechzig trat ein, auch wenn er an diesem Tag zwanzig Jahre älter wirkte. Aus seiner Haut, die so trocken war wie altes Pergament, war jede Farbe gewichen. Er stand kerzengerade da, die Schultern gestrafft, bewegte sich aber, als wäre er am ganzen Körper von Schmerzen gepeinigt.
Ein so banaler Gruß wie »Guten Morgen« erschien hier unangebracht. Für diesen Mann konnte der Tag nichts Gutes bereithalten. Rathbone dankte dem Diener und entließ ihn, dann bedeutete er seinem Gast, auf dem großen Ledersessel gegenüber seinem Pult Platz zu nehmen.
»Ich bin darüber auf dem Laufenden, was geschehen ist, zumindest in den groben Umrissen«, begann Rathbone eilig, um Cardew den Schmerz zu ersparen, es ihm berichten zu müssen.
Cardew blickte ihn verwirrt an.
»Commander Monk ist seit Langem mit mir befreundet«, erklärte Rathbone.
»Er erzählt Ihnen von allen seinen Fällen?«, fragte Cardew ungläubig.
»Keineswegs, Sir. Aber dieser bekümmert ihn mehr als die meisten anderen, da er eng mit der erst kürzlich abgeschlossenen Sache um Jericho Phillips zusammenhängt.«
Cardew wirkte auf den Anwalt wie ein alter Mann, der einfach zu stur war, um sich eine Niederlage einzugestehen. Rathbone hatte schon andere Männer dieser Art erlebt, für die eine Kapitulation zu wesensfremd war, um sie auch nur in Betracht zu ziehen. Sie waren vielleicht verunsichert, machten aber weiter, weil es ihre Gewohnheit war und sie unfähig waren, eine Alternative zu ersinnen.
»Warum sollte ihn das bekümmern?«, beharrte Cardew. »Er erledigt doch nur seine Arbeit. An seiner Stelle würde ich meinen Sohn für schuldig halten. Die Indizien, die die Polizei hat, deuten schließlich auf nichts anderes hin. Dieses Subjekt wurde zweifellos mit Ruperts Halstuch ermordet. Nicht einmal ich könnte dem widersprechen. Das Ding ist unverwechselbar. Wer wüsste das besser als ich? Ich habe es ihm geschenkt. Offensichtlich hat man es vom Hals des elenden Kerls heruntergeschnitten.«
»Hat Rupert die Tat gestanden?«, erkundigte sich Rathbone.
Cardews Wangen färbten sich rot, und er senkte die Lider. Feigheit war eine Sünde, die er weder aufgrund seiner Natur noch seiner Erziehung vergeben konnte. Ein Gentleman versteckte sich nicht hinter Entschuldigungen, er beklagte sich nicht, und vor allem log er nicht, um sich den Folgen seiner Taten zu entziehen.
»Nein, das hat er nicht«, sagte er so leise, dass Rathbone es kaum vernahm.
Rathbone sann über Worte des Trosts nach, den er ihm spenden könnte, doch sie waren samt und sonders unzureichend, abgedroschen oder von genau jener Verlogenheit, die Cardew so sehr verachtete.
»Worum möchten Sie mich bitten?«, fragte er sanft.
Cardew blickte auf. »Wissen Sie, was Parfitt war?«
»Ich weiß zumindest über ein paar Dinge Bescheid.« Mit der Erinnerung stieg Übelkeit in Rathbone hoch. »Ich weiß, was Jericho Phillips war. Ich war bei der Razzia auf seinem Boot zugegen. Ich habe seine Leiche am Execution Dock gesehen, und ich konnte sie mir ohne Bedauern anschauen. Er ist eines grässlichen Todes gestorben, aber ich konnte nichts als Erleichterung darüber empfinden, dass es ihn nicht mehr gibt. Darauf bin ich nicht stolz. Mehr noch, es ist etwas, woran ich mich lieber nicht erinnere.«
»Dann werden Sie verstehen, warum ich kein Mitleid für Mickey Parfitt übrighabe«, erwiderte Cardew. »Gibt es nicht so etwas wie einen Antrag auf mildernde Umstände, den Sie im Namen des Mannes stellen könnten, der ihn getötet hat – und sei es auch nur, um ihn vor dem … dem Galgen zu retten?« Er brachte den letzten Satz nur noch stockend und mit erstickter Stimme zu Ende.
»Ich kann es versuchen«, sagte Rathbone widerstrebend. Wie oft hatte dieser Mann wohl schon andere um Milde für seinen Sohn angefleht, der ihn in solch großen Kummer gestürzt hatte? Wurde er dessen denn nie überdrüssig? Fragte er sich jetzt, ob es nicht besser gewesen wäre, Rupert früher für seine Fehler zahlen zu lassen, und zwar den vollen Preis, als er seine Lektion vielleicht noch hätte lernen und sich die letzte Konsequenz hätte ersparen können? War ihm klar, dass seine Gutmütigkeit immer nur dazu gedient hatte, dem Unvermeidlichen auszuweichen? Und hatte das Unvermeidliche in der Zwischenzeit solche Dimensionen angenommen, dass der Preis sein Leben sein würde?
Cardew beugte sich vor, das Gesicht angespannt, die Augen auf die Rathbones fixiert. »Er sagt mir nicht, was geschehen ist. Und ich habe ihn nur kurz gesehen, ehe er abgeführt wurde. Aber wenn er Parfitt umgebracht hat, könnte das doch vielleicht aus Notwehr geschehen sein? Oder um eine andere Person zu verteidigen? Sind dafür nicht mildernde Umstände im Gesetz vorgesehen?«
»Wenn die Tat begangen wurde, um das Leben einer dritten Person zu retten, die in unmittelbarer Gefahr war, getötet zu werden, dann verdient das mit Sicherheit mehr als mildernde Umstände«, erklärte Rathbone. »Wenn das über jeden vernünftigen Zweifel hinaus bewiesen werden kann, ist es eine Rechtfertigung. Aber ich fürchte, es könnnte extrem schwierig werden, Geschworene heute noch davon zu überzeugen, zumal Rupert bereits verhaftet wurde und ein unschuldiger Beteiligter ihn doch noch am selben Tag entlastet hätte.«
Cardew zuckte zusammen. »Natürlich. Dennoch kann ich einfach nicht glauben, dass er diesen Mann ohne zwingenden Grund töten würde. Er ist ein Hitzkopf, aber er ist nicht dumm.« Cardew schluckte schwer. »Und obwohl er in anderer Hinsicht einen unmoralischen Lebenswandel pflegt, hat er auf seine Weise einen hohen Ehrbegriff. Einen Mann kaltblütig zu töten, selbst einen wie Parfitt, wäre für ihn nicht … akzeptabel. Ein Feigling geht so vor, nicht er.« Unbewusst zog er beim Sprechen die Schultern hoch, als sähe er sich selbst einer Gefahr gegenüber.
Rathbone lächelte leicht, doch ohne jede Vergnügtheit, in sich hinein. »Es bereitet mir einige Schwierigkeiten, für mich selbst zu bestimmen, was ›kaltblütig‹ eigentlich bedeutet.«
In diesem Moment klopfte der Diener an und trat – nach Rathbones Erlaubnis – mit einem Tablett ein, auf dem er Tee in einer silbernen Kanne, ein Sahnekännchen und ein Zuckerschälchen, ebenfalls aus Silber, sowie silberne Gebäckzangen und Löffel balancierte. Das Porzellan war schlicht, zierlich und lediglich mit einer kleinen blauen Krone verziert. Auch wenn Rathbone das kurz zuvor abgelehnt hatte, brachte er darüber hinaus eine Flasche Brandy der Marke Napoleon und stellte sie auf dem Sideboard ab. Nachdem er den Tee eingeschenkt hatte, entschuldigte er sich und zog sich zurück.
»Wie zivilisiert«, bemerkte Cardew mit einem verzweifelten Unterton. »Wie ungemein britisch! Wir sitzen hier bei Tee in deutschen Porzellantassen, französischem Brandy, falls wir sein Feuer brauchen, und sprechen über Mord, Gerechtigkeit und Hängen. Ganz genauso würden wir dasitzen und im selben Ton miteinander sprechen, wenn es ums Wetter ginge.«
»Weil hier unsere Intelligenz gefordert ist, nicht unser Gefühl«, entgegnete Rathbone. »Wenn wir uns emotional gehenlassen, wird das Ihrem Sohn nicht helfen.«
»Sich gehenlassen«, murmelte Cardew mit dem ersten Anflug von Bitterkeit, den Rathbone je bei ihm gehört hatte. »Ruperts Sündenhaftigkeit, die ich nie im Zaum gehalten habe. Ich habe sie bemerkt, ich habe sie ihm durchgehen lassen, als würde er von selbst aus ihr herauswachsen. Wie kommt es, dass wir unsere Söhne immer noch als Kinder betrachten, denen man mit genügend Zeit, Liebe und Geduld alles nachsehen kann, selbst wenn sie schon erwachsene Männer sind und es besser wissen müssten? Die Welt wird keine solchen Entschuldigungen für sie finden, und es ist Täuschung, wenn wir das tun. Das bleibt natürlich unausgesprochen, aber es ist nichtsdestoweniger Täuschung.«
Rathbone nickte. »Weil wir Tag für Tag lieben, und immer bedingungslos. Wir bemerken nicht die Zeit, die vergeht, noch die Gefahren, die wir hätten verhüten oder vor deren Folgen wir zumindest hätten warnen müssen. Aber nichts von alldem wird uns jetzt helfen.« Er blickte Cardew fest ins Gesicht. »Parfitts Name und Ruf sind Ihnen ja offenbar bekannt. Aber wie haben Sie davon erfahren, Sir?«
Cardew zeigte sich im ersten Moment verblüfft, dann peinlich berührt.
Rathbone befiel die alptraumhafte Vorstellung, Cardew hätte sich womöglich selbst früher einmal zu solchen Vergnügungen verführen lassen, doch dann tat er das als grotesk und auch abstoßend ab. Gleichwohl hatte er seinem Gegenüber eine Frage gestellt, und er wartete auf eine Antwort.
Erneut wandte Cardew den Blick ab. »Während des größten Teils seines Erwachsenenlebens hat mich Rupert wieder und wieder in gewisse Verlegenheiten gestürzt. Vor etwa fünfzehn Jahren ging das los, als er um die achtzehn Jahre alt war. Ich habe immer gewusst, warum er in Kalamitäten geriet, weil ich … ihm herausgeholfen habe, wenn das nötig wurde.« Mit dieser Antwort wich er der hässlichen Wahrheit aus, und beide Männer waren sich dessen bewusst. Doch sogar jetzt brachte es Cardew nicht über sich, die Dinge beim Namen zu nennen.
Rathbone war jedoch kein begnadeter Schönredner. »Lord Cardew«, sagte er ernst, »ich kann nichts für Ihren Sohn tun, wenn ich nicht weiß, wogegen ich kämpfe. Welche Art von Kalamitäten waren das? Er zahlte für die Dienste Prostituierter – das ist nicht schmeichelhaft, aber auch nicht ungewöhnlich. Und gewiss kein Verbrechen, für das ein Gentleman von den Gerichten bestraft wird, vor allem dann nicht, wenn er unverheiratet ist und daher niemandem sexuelle Treue schuldet. So etwas ist eigentlich gar nicht der Rede wert und viel besser, als eine junge, tugendhafte Frau mit falschem Eheversprechen zu verführen. Es ist ein moralisches Vergehen von einigem Gewicht, aber nicht etwas, das vom Gesetz bestraft werden kann.«
Cardews Gesicht war aschfahl geworden, seine Schultern waren angespannt, doch er sagte immer noch nichts.
»Gewalt wäre etwas anderes«, fuhr Rathbone fort. »Vergewaltigung ist ein Verbrechen, egal, wer das Opfer ist. Allerdings würde sich die Gesellschaft wenig darum scheren, wenn es sich um eine Frau von fragwürdiger Moral handelte. Es sei denn, es war sehr viel Gewalt im Spiel. Ist das der Fall?«
»Rupert ist ein Hitzkopf.« Cardew flüsterte fast, die Stimme brüchig vor emotionaler Anspannung. »Aber soviel mir bekannt ist, hatte er immer nur mit anderen Männern Streitereien.«
»Kam es dabei zu Gewalt?«, setzte Rathbone nach.
Cardew zögerte, ehe er es schließlich zugab. »Ja … manchmal. Ich weiß nicht, worum es ging. Ich wollte es nicht wissen.«
»Aber war sie gerechtfertigt?«
»Gerechtfertigt? Wie kann es gerechtfertigt sein, einen Mann praktisch besinnungslos zu schlagen?«
»Notwehr … oder Verteidigung einer anderen Person, die schwächer, bereits verwundet oder in einer anderen Weise hilflos ist.«
»Ich wünschte, es wäre so entschuldbar gewesen wie das, was Sie angeführt haben.«
»Ist das alles? Nur Schlägereien?«
»Reicht das denn nicht?«, gab Cardew kläglich zurück. »Besuche bei Prostituierten, Trunkenheit, Schlägereien, bis man einem Mann lebenslange Verletzungen zufügt? Gott im Himmel, Rathbone! Rupert wurde zum Gentleman erzogen! Er ist der Erbe von allem, was ich habe, von den Privilegien ebenso wie von den Aufgaben. Wie kann ich ihm je erlauben, eine anständige Frau zu heiraten? Das kann ich der Tochter eines anderen Mannes doch nicht antun!«
Rathbone hatte zahllose Männer in diesem Sessel in seinem Büro sitzen sehen, alle derart von Furcht und Schmerz gequält, dass der ganze Raum davon regelrecht aufgeladen war. Aber bei keinem war der Kummer tiefer gewesen als bei diesem Mann, der vielleicht deshalb umso schlimmer litt, weil es nicht um ihn selbst ging, sondern um jemanden, den er liebte. Hatte Rupert eine Vorstellung davon, welche Qualen er ihm bereitete? Auch wenn er es nur ahnte, war sein Verhalten unverzeihlich.
Rathbone dachte an Arthur Ballinger und an die Liebe seiner Kinder zu ihm, vor allem die Margarets. Dass ihm eine seiner Töchter solche Schmerzen zufügte, war undenkbar.
Wie wertlos Rupert Cardew im Vergleich dazu war! Welcher brutale Egoismus beherrschte diesen Mann?
Dann dachte er an seinen eigenen Vater. Ihre Freundschaft war vielleicht das Wertvollste in seinem Leben, denn sie war der Grundstein, auf dem alles andere beruhte. Er konnte sich an keine Zeit erinnern, in der Henry Rathbone nicht da gewesen wäre, um ihm einen Rat zu geben, sich ein Problem anzuhören, ihn zu ermutigen oder auch zu loben.
Sollten er und Margaret eines Tages Söhne haben, würde er ihnen auch ein so guter Vater sein?
Was hatte Lord Cardew getan oder versäumt, dass es zu dieser Tragödie gekommen war? Hatte er die Liebe seines Sohnes mit einer Nachsicht erkauft, die am Ende alle beide zerstört hatte? Er hatte den Schmerz einer Konfrontation vermeiden wollen, die Einsamkeit nach einer Entfremdung, auch wenn sie nur vorübergehend war. Rathbone konnte das nachvollziehen, andererseits brauchte er nur Cardews gequältes Gesicht zu betrachten, um eine Vorstellung davon zu bekommen.
Lag die Schuld, die Cardew empfand, darin, dass er diese Entwicklung irgendwie hätte verhindern können? Ein Wort, eine Zeit des Schweigens, eine konsequent verfolgte Entscheidung, und alles wäre ganz anders verlaufen?
Jetzt gab es nur noch einen Weg: versuchen zu helfen.
»Aus welchem Grund hätte er Mickey Parfitt wohl umbringen wollen?«, fragte Rathbone laut. »Irgendeinen Zusammenhang muss es doch geben. In rasender Wut wurde dieses Verbrechen nicht begangen. Mickey bekam einen Schlag auf den Kopf; als er daraufhin zumindest benommen, wenn nicht bewusstlos war, wurde er vorsätzlich mit einem Halstuch erdrosselt, das zuvor, um den Druck auf Kehle, Luftröhre und Halsschlagader zu verstärken, verknotet worden war. Das war kein Impuls aus rasender Wut oder Jähzorn heraus. Und ich sehe nichts, was auf Notwehr hindeuten könnte.« Es fiel ihm schwer, Cardew weiter ins Gesicht zu schauen, doch zumindest das schuldete er diesem Mann, wenn er ihn schon mit solchen Wahrheiten belastete.
Cardew saß regungslos da.
»Niemand findet rein zufällig sein bestes Halstuch in seiner Jackentasche, noch dazu der besseren Wirkung halber verknotet«, fügte Rathbone hinzu. »Dieses Tuch wurde vorsätzlich als Waffe mitgeführt, um jemanden damit umzubringen. Und es ist keine für die Notwehr gedachte Waffe. Als solche könnte man vielleicht noch einen herabgefallenen Ast ansehen, aber wenn er den Mann bereits niedergeschlagen hatte und es ihm darum ging, eine Gefahr abzuwenden, hätte er sich in diesem Moment zurückziehen können. Doch er blieb, nahm sein Halstuch ab, verknotete es und strangulierte dann den bewusstlos zu seinen Füßen liegenden Mann. Und ich habe noch gar nicht erwähnt, dass er ihn danach in den Fluss geworfen hat.«
Cardew zuckte bei jedem neuen Detail zusammen. »Parfitt war eine Ausgeburt der Hölle!«, stieß er voller Abscheu hervor. »Der widerwärtigste Abschaum, der es gar nicht verdiente, aufrecht zu gehen. Er beutete die Schwächen anderer aus, leistete ihren Lastern Vorschub, bis seine Opfer fast genauso verderbt waren wie er, und erpresste sie dann. Und wenn Sie glauben, dass damit die Tiefen ausgelotet wären, in die er gesunken war, dann denken Sie bitte an die Kinder, die er dafür benutzte. Sie waren ohne Schuld, doch sie litten am meisten und hatten keine Möglichkeit zu entkommen. Wer immer ihn getötet hat, hat der Menschheit einen Dienst erwiesen, so wie ein Arzt, der uns von einer üblen Seuche befreit.« Cardew holte tief Luft. »Und sparen Sie sich die Mühe, mir zu sagen, dass so etwas keinen Mord rechtfertigt. Ich bin mir dessen vollkommen bewusst. Ich brauche Hilfe, Sir Oliver, keine Predigt über die Heiligkeit allen menschlichen Lebens.«
Ein düsteres Lächeln huschte über Rathbones Gesicht. »Ich hatte nicht die Absicht, Ihnen eine solche zu halten, Lord Cardew. Im Gegenteil, Sie sprechen mir aus der Seele. Und, glauben Sie mir, wenn ich vor einem Richter und zwölf Geschworenen stehe, um Rupert zu verteidigen, werde ich Mickey Parfitt auf eine Weise darstellen, dass sie ihn als das erkennen werden, was er war. Aber um seinen Tod zu rechtfertigen, werde ich mehr benötigen als seine Verkommenheit. Die Geschworenen werden wissen wollen, warum von all seinen Opfern ausgerechnet Rupert derjenige war, der ihn schließlich tötete. Ich muss es ihnen von seinem Standpunkt aus erklären können, und zwar im Besonderen, nicht im Allgemeinen. Sie müssen sich in seine Lage versetzen können, seine Leidenschaft spüren, seine Angst, seine Empörung, was immer es war, das ihn zu einer solchen Tat getrieben hat. Auch der Strafverfolger wird schlau und wortgewandt sein und Parfitts Recht auf Leben verteidigen, wie er das auch bei jedem von uns tun würde.«
»Selbstverständlich. Das leuchtet mir ein. Wir können es nicht jedem erlauben, sich als selbst ernannter Richter und Henker eines Mitmenschen aufzuspielen. Die schlichte Antwort darauf ist, dass ich nicht weiß, warum Rupert ihn umgebracht hat. Ich hatte keine Möglichkeit, ihn zu fragen. Und um Ihnen die Wahrheit zu sagen, ich bin mir nicht sicher, ob er es mir überhaupt erzählen würde.« Er geriet ins Stocken. Es war ein Ringen um Worte für etwas, das auszusprechen ihm eine schier unerträgliche Qual bedeutete.
Rathbone erlöste ihn aus seiner Not. »Natürlich. Es ist oft leichter, mit jemandem zu sprechen, dessen Meinung nicht die eigenen Emotionen berührt. Das ist bei vielen Menschen so, mit denen ich in meiner Kanzlei zu tun habe. Wenn Sie mich damit beauftragen, werde ich unverzüglich ins Gefängnis gehen und mit Rupert sprechen.« Er erhob sich. »Ich denke, wir sollten das sobald wie möglich in Angriff nehmen. Ich werde mich darum kümmern, dass er vernünftig behandelt wird und alles erhält, was in seiner Situation für sein Wohlbefinden gestattet ist. Ich werde Sie in Kenntnis setzen, sobald ich etwas Berichtenswertes zu sagen habe.« Rathbone reichte Cardew die Hand.
Cardew stand langsam auf. Es schien ihn einige Anstrengung zu kosten, aber als er Rathbones Hand ergriff, drückte er sie mit verblüffender Kraft. Ein Ertrinkender, der inmitten übermächtiger Wellen die Hand nach Hilfe ausstreckte.
Am frühen Nachmittag stand Rathbone im Eingang des Newgate Prison. Die mächtige Eisentür fiel hinter ihm zu, und ein Wärter mit verdrießlicher Miene führte ihn einen engen Korridor hinunter zu einer Zelle, die ihm für Rupert Cardews Vernehmung zugestanden worden war. Seine Schritte donnerten über den Boden, doch der Widerhall erstarb fast sofort, als erstickten ihn die Steinmauern. Dieser Ort war eine sonderbare Mischung aus Leben und Tod. Rathbone war sich eindringlich der emotionalen Schmerzen bewusst, der Angst, der Zerknirschtheit, des in den Abgründen der Seele lauernden Grauens vor der physischen Auslöschung und allem, was jenseits des Lebens liegen mochte. Doch trotz all dieser Gefühle war dieses Gefängnis ein Ort, der das Leben abschnürte. So etwas wie Tatkraft gab es hier nicht, nichts konnte atmen, wachsen oder einen eigenen Willen haben.
Der Wärter ging voraus, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzudrehen, um sich zu vergewissern, ob Rathbone ihm noch folgte. Aber wer hätte auch schon den Wunsch verspürt, allein durch dieses Labyrinth von Korridoren zu wandern, die einander glichen und alle ins Nichts führten?
Schließlich blieb der Mann vor einer Tür stehen, wählte von der an seinem Gürtel baumelnden Schlüsselkette den passenden Schlüssel aus und entriegelte die eiserne Tür. Sie öffnete sich mit einem Ächzen.
»Danke«, sagte Rathbone knapp und schritt an ihm vorbei. »Ich werde klopfen, wenn ich bereit bin zu gehen.«
Der Mann nahm die Mitteilung mit einem wortlosen Nicken zur Kenntnis und knallte die Tür zu. Das Scheppern des Riegels beim Einrasten war genauso laut, wie es das Dröhnen von Eisen auf Stein gewesen war.
Die Zelle war, abgesehen von zwei Holzstühlen und einem von Schrammen und Einkerbungen übersäten kleinen Tisch, so gut wie leer. Von den Tischbeinen war eines kürzer als die drei anderen, sodass das Möbel bedenklich wackelte, als Rathbone es berührte, und erst nach einer ganzen Weile wieder zur Ruhe kam.
Rupert Cardew stand in der Mitte des kleinen Raumes. Er trug das Hemd und die Hose, in denen man ihn verhaftet haben musste, und war unrasiert. Doch seine Haltung war aufrecht, und er blickte Rathbone in die Augen.
»Ich bin auf Bitten Ihres Vaters gekommen«, begann der Anwalt. Er war es gewöhnt, eines Verbrechens beschuldigte Männer und Frauen unter Umständen wie diesen kennenzulernen, aber in all den Jahren war das nicht leichter geworden. Bei den meisten seiner Mandanten in den größeren Fällen war es der erste Gefängnisaufenthalt, und der Schock versetzte sie entweder in regelrechte Starre oder in eine Panik, die fast schon an Hysterie grenzte. Allzu oft überschattete die Aussicht auf die Henkersschlinge jede Vernunft und Hoffnung. Selbst die Unschuldigen hatten grässliche Angst. Man hatte kein Vertrauen in die Urteilskraft der Justiz, wenn das eigene Leben auf dem Spiel stand.
Rupert nickte. Ihm fiel das Sprechen schwer. Als er schließlich Worte herauspresste, brach seine Stimme immer wieder, und er drohte ständig, die Kontrolle über sich zu verlieren.
»Ich … wusste, dass er … helfen würde. Mir ist nur nicht klar, was Sie tun können. Die Beweise scheinen … erdrü…« Er atmete tief durch. »Wenn ich Monk wäre, würde ich dasselbe glauben wie er. Das Halstuch gehört mir, keine Frage.«
Ruperts Anspannung war fast mit Händen zu greifen. Rathbone zog einen Stuhl näher zu sich heran und deutete auf den anderen. »Setzen Sie sich, Mr Cardew. Sie müssen mir so viel wie möglich erzählen, am besten von Anfang an. Oder ist es leichter für Sie, wenn ich Ihnen Fragen stelle?«
Rupert nahm sich den Stuhl und schien gar nicht zu hören, wie laut dessen Beine über den Boden kratzten. Dann setzte er sich mühsam. Dabei stützte er die Hände auf dem Tisch ab. Sie waren schlank, doch kräftig. Mit Hochachtung registrierte Rathbone, dass sie nicht zitterten.
»Sie zweifeln nicht an, dass es Ihr Halstuch war?«, fragte der Anwalt.
»Nein«, antwortete Rupert mit einem gequälten Grinsen. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es viele von dieser Art gibt. Es ist ein Geschenk meines Vaters. Ohne Zweifel hat er es eigens anfertigen lassen. Sein Schneider dürfte einen Eid darauf leisten.«
»Ich verstehe.« Rathbone war nicht im Geringsten überrascht, obwohl es natürlich von Vorteil gewesen wäre, wenn sich das Indiz hätte anfechten lassen. »Wann haben Sie an dem bewussten Abend Ihr Zuhause verlassen?«
»Ich dachte mir schon, dass Sie mich das fragen würden. Früh. Es war ein herrlicher Abend.« Rupert schnitt eine Grimasse. Ein Lächeln brachte er nicht zuwege. »Ich bin bestimmt eine Stunde über den Fluss gefahren – wenn nicht noch länger. Ich verlor jedes Zeitgefühl …«
Rathbone gebot ihm mit erhobener Hand Schweigen. »Über den Fluss – wohin? Sie leben doch überhaupt nicht in der Nähe von Chiswick.«
»Natürlich nicht. Wer, zum Henker, lebt schon in Chiswick? Ich wohne in Chelsea: Cheyne Walk, um es genau zu sagen. Aber ich hatte keine Lust, am Embankment spazieren zu gehen. Dort wäre ich nur einem halben Dutzend Leute über den Weg gelaufen, die mit mir über Politik oder den neuesten Klatsch hätten reden wollen. Also nahm ich ein Boot stromaufwärts. Seitdem habe ich mir die ganze Zeit das Hirn zermartert, ob mir irgendjemand einfällt, der mich gesehen haben könnte. Aber das ist ja gerade der Reiz, wenn man sich von der Stadt entfernt und weiter ins Landesinnere begibt: Dort trifft man keine Bekannten. Tut mir leid.« Er deutete ein Schulterzucken an.
»Sie haben doch nicht etwa selbst gerudert!«, warf Rathbone dazwischen.
»Doch, das habe ich tatsächlich.«
»Sie haben ein Boot gemietet. Von wem? Darüber gibt es gewiss Aufzeichnungen.«
»Nein. Ich habe ein eigenes. Eigentlich teile ich es mit einem Bekannten. Aber der ist gegenwärtig in Italien. Hilft auch nichts, nicht wahr?«
»Allerdings«, bestätigte Rathbone. »Wohin genau sind Sie gefahren?«
»Chiswick. Ich habe das Boot an einer der Anlegestellen gegenüber der Chiswick Ait vertäut. Dann bin ich die Mall hinuntergelaufen und in einem Pub in der Black Lion Lane auf einen Drink eingekehrt. Dort habe ich mich mit ein paar Männern unterhalten, aber ich bezweifle, dass sie sich daran erinnern würden. Es waren ja nur ein paar alberne Bemerkungen über das Wetter, solche Themen eben.«
»Und dann?«
Rupert blickte auf seine Hände hinab, die immer noch auf dem Tisch lagen. »Dann bin ich gegangen, um eine Bekannte zu besuchen, ein Mädchen.«
»Ist das ein Euphemismus für eine Prostituierte?«, hakte Rathbone nach.
Eine dunkle Röte schoss Rupert in die Wangen. »Ja.«
»Ihr Name?«
»Hattie Benson.«
»Sie kennen sie? In einem anderen Sinne als dem fleischlichen?«
Rupert sah hastig auf. »Ja. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr Wort viel helfen wird. Zu dem Zeitpunkt hatte ich mein Halstuch noch. Ich erinnere mich, dass ich es abgenommen habe, das muss gewesen sein, bevor Parfitt damit ermordet wurde. Es sei denn, jemand hat ihn mit einem anderen Halstuch erdrosselt, das exakt so aussieht wie meines. Das ist wohl ein bisschen weit hergeholt, nicht wahr?« Hoffnung flackerte in seiner Stimme auf, erlosch jedoch sogleich wieder, bevor Rathbone sich gezwungen sehen konnte, sie ihm zu rauben.
»Ja. Ich fürchte, das ist es in der Tat«, erwiderte Rathbone. »Wohin gingen Sie, nachdem Sie Miss Benson verlassen hatten?«
»Das weiß ich nicht. Ich war ziemlich betrunken. Ich schlief irgendwo ein, kann mich aber nicht erinnern, wo. Als ich aufwachte, war es dunkel, und ich fühlte mich gottserbärmlich. Ich ging dann rüber zur Pferdetränke und tauchte den Kopf ins Wasser. Das nüchterte mich einigermaßen aus, und ich ruderte nach Hause.« Er blickte Rathbone in Erwartung einer Verurteilung ins Gesicht.
»Die Strafverfolgung wird das Gericht nur dann von Ihrer Schuld überzeugen können, wenn sie beweist, dass Sie Mickey Parfitt kannten und irgendeinen Grund hatten, sich seinen Tod zu wünschen«, belehrte ihn Rathbone. »Berichten Sie mir von Ihren sämtlichen Kontakten mit ihm, und lügen Sie mich nicht an. Wenn man Sie bei der geringsten Unwahrheit ertappt, wird das genügen, um Ihnen jede Glaubwürdigkeit abzusprechen, die Ihnen die Geschworenen ansonsten vielleicht noch zubilligen würden.«
Rupert starrte ihn gequält an, die Haut über den Wangen straff gespannt, den Mund zu einem dünnen Strich zusammengepresst.
»Es ist zu spät für Diskretion«, beschwor ihn Rathbone. »Ich werde nichts weitererzählen, sofern dies Ihnen nicht schadet. Insbesondere Ihrem Vater werde ich nichts davon sagen. Er wird auch so schon mehr als genug leiden – trotz allem, was ich ausrichten kann.«
Rupert erweckte den Eindruck, als hätte ihn Rathbone zusammengeschlagen und seinem Gesicht tiefere als nur rein äußerliche Wunden zugefügt.
»Ich habe Parfitt nicht ermordet«, erklärte er mit fester Stimme.
Rathbone redete weiter, als hätte sein Gegenüber nichts gesagt. »Worin bestand Ihre Beziehung zu ihm? Wann und wo haben Sie sich kennengelernt? Wenn irgendeine Ihrer Angaben überprüft werden kann, würde ich auch das gern wissen.«
Rupert senkte den Blick auf die vernarbte Tischplatte. »Ich habe ihn vor etwas mehr als zwei Jahren kennengelernt. Damals war ich mit einer Gruppe von Freunden unterwegs, wieder mal im Black Lion. Wir alle waren ziemlich überdreht – und gelangweilt. Einer von uns begann, mit Frauen zu prahlen, die er gehabt hatte, nicht nur in London, sondern auch in Paris. Dann brachte ein anderer Berlin ins Spiel und wieder ein anderer Madrid. Die Geschichten wurden immer wüster; das meiste davon war wohl gelogen.« Er atmete tief ein. »Danach sagte einer, er kenne einen Ort, der in puncto Gewagtheit alles in den Schatten stelle, was bisher erwähnt worden war. Er meinte, Gefahr sei das Einzige, was das Herz wirklich zum Rasen bringe, und das Blut …« Er verstummte. Seine Augen verharrten auf Rathbones edlem Anzug, dem makellosen, steifen Hemd.
»Ich kann es mir vorstellen«, bemerkte der Anwalt trocken. »Sie müssen mir nicht jedes Detail seiner Beschreibung wiedergeben. Das Risiko, ruiniert zu werden, war die höchste Versuchung von allen.«
»Ja«, bestätigte Rupert sehr leise. »Jetzt kann ich es gar nicht mehr glauben, dass ich derart dumm war!«
»Es war ein Boot auf dem Fluss?«
»Sie wissen ja schon, was es damit auf sich hatte.«
»Ich bin trotzdem darauf angewiesen, dass Sie es mir schildern.«
Rupert zuckte zusammen, als hätte Rathbone einen offenen Nerv berührt. »Ich bin hinausgefahren, zusammen mit den anderen. Wir waren ungefähr ein halbes Dutzend. Das Boot lag auf der anderen Seite der Chiswick Ait. Musste mich ganz schön in die Riemen legen. Und weil die Luft schon kühler war, war ich wieder halbwegs nüchtern, als wir dort anlegten. Auf den ersten Blick sah es aus wie ein normales Bordell, nur dass es auf einem Boot war. Wir wurden freundlich empfangen, bekamen einen der besten Brandys, die ich je getrunken hatte … und dann … dann gab es eine Art Aufführung … sehr direkt … Männer und kleine Jungen, die teilweise gerade erst fünf, sechs Jahre alt waren.« Seine Stimme brach, und sein Gesicht färbte sich purpurn.
Rathbone wartete.
»Es … es war eine Art Club. Einer mit … Initiationsriten. Wir mussten … daran teilnehmen und … uns fotografieren lassen. Es war ein Wagnis … die höchste Form des Risikos, bei der man alles verlieren konnte. Jeder von uns hat sich darauf eingelassen.« Seine Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Ich hatte nicht den Mut, mich zu weigern. Danach bin ich zur Gangway hinausgekrochen und habe mich auf der anderen Seite in den Fluss übergeben. Ich wollte nur noch weg, aber es gab keine Möglichkeit, außer ins Wasser zu springen und zu hoffen, dass man nicht versank.« Er schluckte. »Hätte ich auch nur einen Funken Ehre im Leib, hätte ich das auch getan. Schlammbedeckt und bis auf die Knochen nass aus dem Fluss zu waten und durch die Straßen von Chiswick zu taumeln wäre tausendmal besser gewesen als die Hölle, die all dem folgte.«
Rathbone konnte sich das lebhafter ausmalen, als ihm lieb war. In seiner Zeit an der Universität hatte es Tage gegeben, als er, selbst nicht ganz nüchtern, nicht ganz diskret gewesen war. Und noch immer hoffte er, dass sein Vater das nie erfahren würde, auch wenn er es sich vielleicht denken konnte. Seine Exzesse waren nie von einem Ausmaß gewesen, wie er es jetzt von Rupert zu hören bekam, doch die brennende Scham darüber war nicht minder real.
»Bitte fahren Sie fort«, bat er in sanfterem Ton.
»Ich torkelte über die Gangway wieder zurück. Einer von Parfitts Männern war mir gefolgt. Wir prallten zusammen, und ich weiß nur noch, dass ich in die Tiefe stürzte. Dabei prallte ich immer wieder gegen Wände, bis ich unten aufschlug. Ich erinnere mich an Gesichter, die mich benommen anstarrten, und ich fühlte mich entsetzlich. Dann muss ich das Bewusstsein verloren haben, denn das Nächste, was ich weiß, ist, dass ich in einer der Kabinen auf dem Bett lag und Parfitt mich hämisch angrinste. ›Sie sollten nich’ so viel trinken, Mr Cardew‹, sagte er vor Schadenfreude feixend. ›Sie sind die Treppe runtergefallen, und wie! Aber davor hatten Sie ja noch mächtig Spaß.‹ In dem Moment hatte ich die Bühneneinlage mit den kleinen Jungen und der Fotografie ganz vergessen und dachte mir deshalb nicht viel dabei. Er gab mir einen kräftigen Schluck Brandy und half mir auf die Beine. Danach fuhr ich mit meinen Freunden zum Ufer zurück – was für ein verdammt unpassendes Wort für diese Kerle!« Ein bitterer Ausdruck zuckte über sein Gesicht.
Rathbone empfand Mitleid, und zu seinem eigenen Erstaunen glaubte er ihm. »Was ist dann geschehen?«, fragte er, obwohl er es eigentlich schon wusste.
Rupert senkte wieder den Blick. »Etwa eine Woche später hat Parfitt mir einen Brief nach Hause geschickt und mich eingeladen, wieder auf dem Boot mitzufeiern. Ich habe den Brief auf der Stelle verbrannt.«
»Aber er hat wieder geschrieben?«
»Ja. Beim zweiten Mal habe ich ihn einfach ignoriert. Genauer gesagt, ihn verbrannt, ohne ihn zu öffnen. Die dritte Post ging an mich und meinen Vater. Den Brief an meinen Vater habe ich gleich verbrannt, aber den an mich gelesen. Er behauptete, ich hätte einen Vertrag mit ihm geschlossen, und es gäbe eine Fotografie, die das bewiese. Ob ich wieder aufs Boot käme oder nicht, ich würde ihm in jedem Fall Geld schulden.«
»Erpressung.« Rathbone schürzte angewidert die Lippen. Das ganze System war noch raffinierter, als er gedacht hatte, und viel schwerer vor Gericht zu beweisen. Wie konnte er plausibel darstellen, dass es nie einen »Vertrag unter Ehrenmännern« gegeben hatte? Solche Abmachungen wurden selten schriftlich festgehalten, vor allem dann nicht, wenn es um Glücksspiel oder die Dienste einer Prostituierten ging.
Rupert nickte. »Das habe ich erst in diesem Moment begriffen. Mein Gott, war ich dumm!« Er stöhnte.
»Haben Sie gezahlt?«
Ruperts Züge strafften sich. »Angesichts dieser Fotos? Natürlich habe ich gezahlt! Ich hatte die Absicht, mir etwas Zeit zu erkaufen und mir dann zu überlegen, was ich tun könnte. Ich wusste, dass dieser Dreckskerl mich den ganzen Rest meines Lebens zahlen lassen würde, wenn mir nicht irgendetwas einfiel.«
Rathbone maß ihn mit einem forschenden Blick. Was er sah, waren Erinnerung an Verzweiflung, tiefe Beschämung, aber erstaunlicherweise keinerlei Bewusstsein darüber, soeben das perfekte Motiv für einen Mord eingeräumt zu haben. Lag das daran, dass Rupert sich vollkommen im Recht fühlte? Und wenn das so war, konnte Rathbone ihm da widersprechen? Wenn je ein Mann es verdient hatte, beseitigt zu werden, dann Mickey Parfitt. Man konnte fast meinen, Jericho Phillips wäre in ihm von den Toten wiederauferstanden.
»Nun, jetzt sind Sie ihn los«, stieß er mit rauer Stimme hervor.
»Wohl kaum«, entgegnete Rupert bitter. »Er wird mich mit sich ins Grab nehmen. Fast wünschte ich mir, ich hätte ihn selbst umgebracht.«
»Haben Sie es denn nicht getan?«
Ruperts Kopf fuhr ruckartig hoch. Seine Augen glühten. »Nein, ich war es nicht!«
Rathbone war an Leugnen gewöhnt. Fast jeder berief sich auf seine Unschuld. Und wenn die Täterfrage schließlich doch geklärt war, hieß es entweder, es wäre ein Unfall gewesen, oder das Opfer hätte es nicht anders verdient. Und doch neigte er dazu, Rupert Cardew zu glauben, obwohl das wirklich unvernünftig war. Sämtliche Indizien wiesen auf ihn. Sein Verdacht gegen Arthur Ballinger erschien Rathbone jetzt hingegen total lächerlich. Da hatte er doch allzu leichtgläubig dem Wort eines Mannes vertraut, der sich bereits zu Mord und Selbstzerstörung entschlossen hatte. Warum hatte er überhaupt in Betracht gezogen, Sullivans Aussage als etwas anderes zu betrachten denn als Versuch, sich zu rächen für …? Wofür eigentlich? Nun, da bot sich alles Mögliche an: eingebildete Kränkungen, Ballingers Erfolge, während Sullivan gescheitert war, oder schlichtweg die Tatsache, dass Ballinger erkannt hatte, wie tief er gesunken war.
»Wer hat es dann getan?«, fragte Rathbone erbittert. »Mit Ihrem Halstuch?«
»Ich weiß es nicht. Derjenige, der es gefunden hat, nehme ich an.«
Rathbone verdrehte die Augen. »Er stieß rein zufällig auf Ihr Halstuch, wo immer es lag, und sagte sich: ›Ah, ich weiß, was ich damit machen werde, ich binde ein paar Knoten und erwürge dann jemanden damit. Wie wär’s zum Beispiel mit Mickey Parfitt? Wir alle wären ohne ihn doch besser dran.‹«
Rupert erwiderte verärgert: »Ich weiß nicht, wer ihn warum umgebracht hat. Es könnte ein Dutzend Gründe geben und fünfzig Männer mit einem Motiv, das mindestens so gut war wie meines. Ich weiß nur, dass ich es nicht war! Bis auf das eine Mal, das ich Ihnen geschildert habe, war ich noch nie so betrunken, dass ich mich später nicht mehr daran erinnern konnte, was ich getan hatte. Nur die Orte und meine Begleiter gerieten vielleicht mal durcheinander.« Kurz blitzte Schalk in seinen Augen auf.
Rathbones Gedanken überschlugen sich. War es vorstellbar, dass Rupert tatsächlich unschuldig war, zumindest was den Mord betraf? Ein einziger vernünftiger Zweifel würde zwar seine Verurteilung verhindern, aber nichts daran ändern, dass man ihn weiterhin für schuldig hielt. Gewiss, manche würden ihm für seine Tat Beifall spenden, doch der Schandfleck ließe sich nie tilgen. Die einzige gute Antwort bestünde darin, die Schuld eines anderen zu beweisen.
»Was wissen Sie über Parfitt?«, fragte er. »Und zwar über das hinaus, was Sie mir gesagt haben? Woher stammte er? Wer waren seine Partner auf dem Boot? Er selbst hatte ja wohl kaum das Geld, um es allein zu kaufen. Wer half ihm? Wer war an den Profiten beteiligt? Wer sind die anderen Kunden, die er in den Ruin getrieben haben könnte? Forderte er bei seinen Erpressungen nur Geld oder auch bestimmte Gefälligkeiten?«
»Gefälligkeiten?« Rupert blinzelte. »Sie meinen …«
»Politische Gefälligkeiten«, präzisierte Rathbone. »Oder möglicherweise schlimmer noch: Gefälligkeiten bei Gerichtsentscheidungen?«
»Gerichtsent…?«, begann Rupert, um jäh zu verstummen, als er die ganze Tragweite des Verdachts begriff. »Mein Gott, darauf wäre ich nie gekommen. Wäre ihm das wirklich zuzutrauen gewesen?«
»Das weiß ich nicht, aber verstehen Sie jetzt, welche Dimensionen dieser Fall annehmen kann?«
Rupert war leichenblass geworden. Dachte er gerade an seinen Vater und dessen Macht im House of Lords, seinen Einfluss auf Mitglieder, die für Reformen kämpften? Wenn Ruperts Ruf auf dem Spiel stand, wozu konnte man dann erst seinen Vater zwingen?
»Wie sind Sie darauf gekommen?«, fragte Rupert. »Wissen Sie etwas?« Seine Stimme verriet seine Angst. Vom Zorn war nichts mehr übrig.
»Nein«, antwortete Rathbone wahrheitsgemäß. »Aber das ist genau das, was Jericho Phillips getan hat. Insofern ist es das Naheliegendste.«
»Phillips?«
»Ja.«
»Dann ist das auch Parfitt zuzutrauen. Er hat alles von Phillips gelernt. Er arbeitete ja am Anfang für ihn. Unterhalb von Chiswick, näher bei Westminster.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja.«
»Dann kennen Sie ihn besser als nur von dem einen Besuch, den Sie mir geschildert haben.«
Rupert kniff schmerzhaft berührt die Augen zusammen. »Hören Sie … Ich war dreimal dort und schäme mich dafür. Beim ersten Mal war es noch nicht so schlimm. Keine Kinder, was mich betrifft. Auch das zweite Mal ging wohl gerade noch. Junge Männer, aber wir alle wissen ja, wie das so läuft. Man treibt ein bisschen Glücksspiel und trinkt höllisch viel. Wenn ich nur ein wenig Verstand gehabt hätte, hätte ich gewusst, dass das noch längst nicht alles war, aber ich dachte eben nicht nach. Ich … ich wollte mit meinen Freunden, mit denen ich dort war, zusammenbleiben. Nach dem dritten Mal bin ich aber nie mehr zurückgekehrt.«
Entgegen all seinen Erfahrungen mit verängstigten Beschuldigten glaubte ihm Rathbone. Doch gleichzeitig raubte ihm dieses Geständnis eine Verteidigungsstrategie, von der er sich durchaus Erfolgsaussichten versprochen hätte oder zumindest die Hoffnung, die Strafe so weit abzumildern, dass der Strick vermieden werden konnte. Fürs Erste schreckte er freilich davor zurück, Rupert damit zu konfrontieren. Er konnte nicht mit ihm zusammenarbeiten, wenn dieser vor Angst gelähmt war. Er musste von der Wahrheit so viel wie nur möglich erfahren, um den Beweismitteln vorzubeugen, die der Staatsanwalt gegen ihn vorlegen konnte. Mickey Parfitts Tod war keine cause célèbre, aber ein Rupert Cardew auf der Anklagebank wäre das ganz gewiss.
»Wissen Sie, wer noch dort draußen war?«, fragte Rathbone laut.
Rupert prallte erschrocken zurück. »Ich kann Ihnen unmöglich die Namen meiner Freunde verraten, die auf dem Boot waren! Um Himmels willen, das wäre ja zutiefst verachtenswert!«
»Selbst wenn einer von ihnen Mickey Parfitt ermordet hat?«
»Sie alle verraten, weil einer von ihnen sein Mörder sein könnte? Würden Sie sich für so etwas hergeben, Sir Oliver?« Es war ein scharfer Gegenangriff aus heiterem Himmel, eine persönliche Herausforderung.
Rathbone bewunderte ihn dafür. »Wollen Sie, dass ich wahrheitsgemäß antworte?«, fragte er.
»Allerdings. Würden Sie das tun?«
»Nein, Mr Cardew. Andererseits suchen meine Freunde solche Orte nicht auf, jedenfalls nicht, soweit ich weiß. Und mehr kann ich nicht darüber wissen, weil ich mich von so etwas strikt fernhalte. Ich habe jedoch gesehen, was Männer wie Phillips und Parfitt Kindern angetan haben, und wäre glücklich, wenn das Gesetz es uns ermöglichte, sie ein für alle Mal auszumerzen. Wenn wir andererseits Menschen gestatten, selbst darüber zu entscheiden, wer leben darf und wer sterben soll, wäre das ein Freibrief für willkürliches Morden. Wir können immer Ausreden finden, wenn wir welche brauchen. Aber das wissen Sie genauso gut wie ich.«
»Trotzdem kann ich Ihnen die Namen derer nicht verraten, die mit mir zu diesem Boot hinausgefahren sind.«
»Noch nicht. Wenn Sie mehr über das erfahren, was Parfitt getan und wie er seine Macht eingesetzt hat, werden Sie es sich vielleicht noch anders überlegen.« Damit schob Rathbone den Stuhl auf dem Steinboden zurück und erhob sich.
»Werden Sie mich vertreten?«, fragte Rupert und stand nun ebenfalls auf. Seine Knöchel waren weiß, so fest ballte er die Hände zusammen, und es kostete ihn gewaltige Anstrengung, nicht am ganzen Körper zu zittern.
»Ja«, antwortete Rathbone, ohne zu zögern, und war selbst überrascht, wie klar seine Entscheidung war und dass ihm eine andere gar nicht erst in den Sinn gekommen war.
All das Margaret zu erklären war jedoch gar nicht so leicht, als sie am Abend bei gedämpftem Gaslicht in der Stille ihres Esszimmers beisammensaßen, wo die im Kamin glühenden Apfelbaumscheite ein dezentes Aroma verbreiteten.
»Rupert Cardew?«, fragte sie verblüfft. »Wie schrecklich für seinen Vater! Der arme Mann muss am Boden zerstört sein.« Ihr Gesicht hatte sich vor Mitleid verdüstert.
»Ja. Ich wünschte nur, ich könnte ihm mehr Hoffnung machen.«
Sie saßen am Esstisch. Die Luft draußen war warm, die langen Vorhänge waren noch nicht zugezogen, sodass die Düfte der Erde und der Blätter des langsam abblühenden Gartens hereinwehen konnten. Jetzt standen die goldenen Chrysanthemen und lila Astern in voller Pracht, die Sommerblumen waren schon geschnitten, aber noch war es nicht an der Zeit, dass die Blätter die Farbe wechselten. Und auch die Holz- und Kartoffelfeuer mussten noch warten.
»Es gibt nichts, was du tun kannst, Oliver«, ermunterte Margaret ihn liebevoll. »Geh ihm nur nicht aus dem Weg, wenn er wieder in die Gesellschaft zurückkehrt. So viele Menschen tun genau das, weil sie nicht wissen, was sie sagen sollen, und weil es leichter ist, nichts zu sagen, als sich mit dem Schmerz anderer auseinanderzusetzen.«
»Wenn sie ihn für schuldig befinden, wird Rupert gehängt«, erklärte Rathbone. »Dann wird es keine ›Rückkehr‹ geben.«
Ihre Augen weiteten sich vor Überraschung. »Gott bewahre, ich meinte Lord Cardew, nicht Rupert! Natürlich werden sie ihn hängen. Eine andere Antwort ist ja nicht möglich!«
Er musterte sie unverwandt und vermochte keine Spur von Zögern in ihrem Gesicht zu erkennen, nur einen Rest des Mitleids für Lord Cardew, aber keine Gefühle, die Rupert ausgelöst hatte.
»Parfitt hat ihn erpresst«, fuhr er fort und griff geistesabwesend nach dem Salz, nur um zu merken, dass er es bereits benutzt hatte; er stellte es wieder ab. »Es wäre endlos so weitergegangen.«
»Natürlich wäre es das, bis sein Vater sich geweigert hätte zu zahlen«, entgegnete sie trocken und widmete ihre Aufmerksamkeit wieder dem Essen. Sie hatten eine hervorragende Köchin, sowohl was Einfallsreichtum als auch Geschick betraf, doch heute Abend hatte Rathbone keinen Sinn dafür.
»Du hast mich gar nicht gefragt, ob ich glaube, dass er es war«, hielt er ihr vor und merkte erst danach, wie kritisch er klang.
Sie legte ihre Gabel auf den Tisch. »Zweifelst du daran?«
»Es muss immer Raum für Zweifel geben …«
»Sei nicht pedantisch, Oliver«, fiel sie ihm ins Wort. »Das weiß ich doch, so steht es ja im Gesetz. Ich meine, hast du persönlich noch Zweifel?«
»Allerdings. Er leugnet es, und ich glaube, dass er die Wahrheit sagen könnte. Er ist wohl kaum der Einzige, der sich Parfitts Tod gewünscht hat.«
»Es ist ein himmelweiter Unterschied, ob man sich den Tod eines Menschen wünscht oder ob man ihn tatsächlich herbeiführt«, erwiderte sie mit einiger Logik. »Wie groß ist der Unterschied zwischen einem Mann, der andere dafür bezahlt, dass sie kleine Jungen quälen und missbrauchen, und einem, der den Anbieter solcher Gräuel umbringt, statt weiter dafür zu zahlen?«
Rathbone hörte den Zorn und den Abscheu in ihrer Stimme. Weniger hätte er auch nicht erwartet. Ihm erging es nicht anders. Und doch verstand er auch Ruperts Entsetzen, als er begriffen hatte, wozu ihn seine Blindheit und Dummheit geführt hatten. War es dumm von ihm zu glauben, dass Rupert tatsächlich des Mordes an Parfitt unschuldig sein könnte? Handelte er aufgrund derselben irrationalen emotionalen Treue, die er in Margarets Familie bemerkt hatte? Lord Cardew erinnerte ihn an seinen eigenen Vater, und er hatte auf Anhieb instinktiv Mitleid empfunden.
»Ich habe mich zu seiner Verteidigung bereit erklärt«, sagte er laut.
Margaret erstarrte.
Jetzt war er gezwungen, sich zu rechtfertigen. »Jeder verdient eine Verteidigung, Margaret. Der Grundsatz Im Zweifel für den Angeklagten muss immer gelten, bis seine Schuld bewiesen ist. Je schwerer das Verbrechen, desto dringlicher das Gebot absoluter Gerechtigkeit.«
»Natürlich verdient er es, verteidigt zu werden!«, rief sie mit zornblitzenden Augen. »Aber doch nicht von dir! Du bist der beste Anwalt von London, vielleicht sogar im ganzen Land. Allein schon deine Teilnahme wird die Aufmerksamkeit auf den Prozess lenken und die Leute glauben lassen, es gäbe etwas Gutes über dieses abstoßende Geschäft zu sagen. Wie immer du dich auch auf die Feinheiten der Gesetze berufen magst, die überwältigende Mehrheit der Öffentlichkeit wird glauben, du würdest es wegen seines Titels und seines Geldes tun und nicht aufgrund eines echten Glaubens an seine Unschuld.«
»Niemand, der mich kennt, wird das annehmen«, erwiderte Rathbone mit einem eisigen Unterton. Margarets Anschuldigung verletzte ihn. Es überraschte ihn, dass sie so dachte.
»Aber die meisten kennen dich nicht«, konterte sie; in der Mitte ihrer Stirn hatte sich eine steile Falte gebildet. »Sie werden einfach die leichteste Schlussfolgerung ziehen.«
»Und ihnen soll ich nach dem Mund reden?«, fragte er.
»Jetzt übertreibst du aber«, erwiderte sie kühl. »Ich habe nicht gesagt, dass du jeder Laune der öffentlichen Meinung folgen sollst, sondern nur, dass du es nicht nötig hast, jeden Verbrecher zu verteidigen, bloß um zu beweisen, dass die Gesetze geachtet werden müssen. Lass doch jemand anders Rupert Cardew vertreten.«
»Du meinst, wir können ihn ruhig hängen und dann heimgehen und trotzdem gut schlafen?«
»Ja, das meine ich allerdings!« Sie führten jetzt ein regelrechtes Gefecht mit Angriffen und Vergeltungsschlägen. »Und wenn jemand gehängt werden soll, dann hat Rupert Cardew das verdient. Der Missbrauch von Kindern für Prostitution und Pornografie ist bestialisch.« Sie beugte sich weit über ihren Teller. Das Essen war völlig in Vergessenheit geraten. »Und sag mir nicht, er hätte nicht aktiv daran teilgenommen. Das ist irrelevant, Oliver, und das weißt du auch. Er wusste Bescheid, und er hat nichts dagegen getan. Er hätte die Polizei holen und das Ganze öffentlich machen können, aber nein, stattdessen hat er es vorgezogen, Parfitt zu ermorden, um sich die eigene Bloßstellung und die seiner Freunde, die genauso schlimm sind wie er, zu ersparen. Du kannst ihn nicht verteidigen, weil es da nichts zu verteidigen gibt.«
Benommen verfiel er in Schweigen.
»Ich nehme an, Lord Cardew hat dich darum gebeten«, fuhr sie fort. »Und du warst zu weichherzig, um ihm das abzuschlagen. Natürlich glaubt der arme Mann an die Unschuld seines Sohnes. Könnte er es denn ertragen, etwas anderes zu glauben?«
»Vielleicht hat er ja recht«, sagte Rathbone leise und legte sein Besteck auf den Teller. Er hatte seine Portion nur zur Hälfte gegessen, der Appetit war ihm vergangen.
»Unsinn«, knurrte Margaret. »Und die Köchin wird gekränkt sein, wenn du nicht mehr als einen Anstandshappen isst.«
»Sag ihr, dass ich krank bin. Nein, weißt du, was – ich sag’s ihr selbst.« Er erhob sich. Der Gedanke daran, weiter in bitterem Schweigen am Tisch sitzen zu bleiben, war so unerfreulich, dass er sich lieber zu seiner Arbeit rettete. Dafür war ihm jede Ausrede recht. »Wie du mir erklärt hast, wird es extrem schwierig sein, eine glaubwürdige Verteidigung aufzubauen. Und wenn ich nichts Vernünftiges zustande bringe, lasse ich nicht nur Rupert Cardew und seinen Vater im Stich, sondern schädige darüber hinaus meinen eigenen Ruf. Und das kann ich mir nicht leisten.« In der Tür drehte er sich noch einmal um. »Du brauchst nicht auf mich zu warten. Es wird wahrscheinlich eine lange Nacht.«
Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, überlegte es sich dann aber anders. So sollte er nie erfahren, ob es eine Entschuldigung gewesen wäre oder nicht. Er zog es vor, Ersteres zu glauben. Gleichwohl schienen das Lachen und die Vertrautheit des letzten Abends eine Ewigkeit zurückzuliegen und ließen sich nicht einmal in dem Teil des Gedächtnisses zurückrufen, in dem die Schätze aufbewahrt werden.