9

Rathbone war wieder einmal bei seinen Schwiegereltern zum Dinner, als der Butler meldete, dass ein gewisser Mr Monk Mr Ballinger sprechen wollte und im Frühstückszimmer auf ihn wartete.

»Was für eine unpassende Zeit für einen Besuch!«, empörte sich Mrs Ballinger steif, die Augen weit aufgerissen. Sie blickte den Butler an. »Sagen Sie ihm, dass er warten soll. Besser noch, sagen Sie ihm, dass er morgen Vormittag noch einmal kommen soll, und zwar zu einer vernünftigen Zeit.« Sie wandte sich an Rathbone. »Es tut mir leid, Oliver. Ich weiß, er ist ein Freund von dir, mehr oder weniger, aber das führt zu weit. Der Mann hat ja überhaupt keine Manieren.«

Der Butler hatte sich nicht gerührt.

»Was ist, Withers?«, fragte Ballinger säuerlich. »Sagen Sie Monk, dass er warten soll, wenn ihm unbedingt danach ist. Ich komme zu ihm, wenn ich mit dem Essen fertig bin. Und wenn der Abend vorbei ist und meine Besucher heimgegangen sind.«

Der Butler, auf das Peinlichste berührt und das Gesicht dunkelrot verfärbt, trat von einem Fuß auf den anderen.

Rathbone stand auf. »Ich sehe nach und bringe in Erfahrung, was er will«, bot er an und ging zur Tür.

»Um Himmels willen, Oliver, lass den Mann doch warten!«, blaffte George. »Du bist nicht sein Lakai, dass du gleich aufspringst und losrennst, nur weil er in der Tür steht.«

Rathbone spürte Margarets Blick im Rücken, als er den Raum verließ, doch er drehte sich nicht um. Als er die Tür schloss und durch die Empfangshalle schritt, merkte er jedoch, dass er Angst hatte. Er kannte Monk zu gut, um sich einzubilden, er wäre zu dieser späten Stunde ohne zwingenden Grund gekommen.

Rathbone hatte den gekränkten Stolz und den Schmerz bei Monk bemerkt, als er ihn vor Gericht in der Sache Jericho Phillips geschlagen hatte, und wollte nicht zulassen, dass sich das wiederholte.

Monk stand vor der Tür zum Frühstückszimmer.

Rathbone trat zu ihm. »Warum sind Sie hier?«

»Es tut mir leid«, entschuldigte sich Monk. »Ich habe mir gedacht, dass es hier besser ist als in seiner Kanzlei. Das erspart es ihm, in aller Öffentlichkeit vorgeführt zu werden, zumindest fürs Erste.«

»Wovon, zum Teufel, sprechen Sie?«, rief Rathbone, obwohl er bereits eine nagende Angst spürte, die ihm nur zu vertraut war.

»Und Sie sind auch hier«, fuhr Monk fort. »Vielleicht ist das ganz gut so.«

»Monk!« Nur mit Mühe dämpfte Rathbone seine Stimme.

Monk nahm Haltung an und straffte die Schultern. »Ich habe neue Beweise, und die sind erdrückend. Ich bin gekommen, um Arthur Ballinger wegen des Mordes an Mickey Parfitt zu verhaften.«

»Machen Sie sich nicht lächerlich!«, fauchte Rathbone. Die Situation erschien ihm immer mehr wie ein außer Kontrolle geratener Alptraum. »Ballinger war im Haus von Bertram Harkness. Das ist Ihnen bekannt. Und falls nicht, mir auf jeden Fall.«

»Das weiß ich«, sagte Monk ruhig. »Doch von dort ist es nicht weit bis zu der Stelle, wo Parfitt ermordet wurde, und die Tatsache, dass der Fundort woanders liegt, lässt sich mit den Strömungen und Gezeiten erklären. Machen Sie mir meine Aufgabe nicht noch schwerer, als sie ohnehin schon ist …«

»Ich werde sie Ihnen so schwer machen, wie ich nur kann!« Rathbone merkte selbst, dass seine Stimme anschwoll und er die Herrschaft über sich verlor. »Sie können doch nicht in das Haus eines Mannes eindringen und ihn beschuldigen, nur weil Sullivan irgendwelche Behauptungen aufgestellt hat. Der Mann war verzweifelt und kurz vor dem Selbstmord. Das wissen Sie genauso gut wie ich.«

»Oliver …«, begann Monk.

Rathbone dachte an Margaret, die in der Stille des Speisezimmers unmittelbar hinter der geschlossenen Tür wartete. Mit großer Willensanstrengung senkte er die Stimme. »Überlegen Sie es sich, Monk. Selbst wenn Sie recht haben und Ballinger eine Beziehung zu Phillips und vielleicht sogar zu Parfitt unterhielt, wozu, um alles in der Welt, sollte er Parfitt töten? Nach allem, was Sullivan gesagt hat, vorausgesetzt, er war zurechnungsfähig und hat nichts durcheinandergebracht – was wir nicht wissen –, hätte Ballinger jeden Grund der Welt gehabt, ihn am Leben zu erhalten! Seine Geschäfte wären eine beträchtliche Einkommensquelle für ihn gewesen.«

Monk machte keine Anstalten, um ihn herum zur Tür zu gehen. Sein Gesichtsausdruck war entschlossen, seine Augen blickten hart und ruhig. Doch sein Gebaren drückte noch etwas anderes aus, das Rathbone als eisig empfand. Obwohl es ein milder Abend war, fröstelte der Anwalt auf einmal.

Rathbone versuchte es noch einmal anders. »Er könnte ja im Namen eines Mandanten tätig gewesen sein. Schließlich ist er Kronanwalt. Vielleicht versuchte er Parfitt davon abzubringen, eine bestimmte Person zu erpressen. Haben Sie schon einmal daran gedacht?«

Kurz flackerte Unsicherheit über Monks Gesicht. »Ja, daran habe ich gedacht«, antwortete er. »Aber wenn es sich so verhält, müsste die Klage auf Mittäterschaft bei Mord lauten oder im günstigsten Fall auf Mithilfe vor und nach der Tat. Er hat Parfitt auf das Boot gelockt und hielt sich zur Tatzeit in der unmittelbaren Nähe auf. Bislang kommt niemand anders dafür infrage, ebenfalls dort gewesen zu sein. Machen Sie bitte keine Szene. Sonst wird es für die Familie nur noch schwerer. Wenn er freiwillig mitkommt, braucht niemand zu erfahren, wie ernst die Angelegenheit ist.«

Rathbone war immer noch bereit zu streiten, doch jetzt ging hinter ihm die Tür auf, und George stürmte in die Vorhalle.

»Was, zum Kuckuck, ist hier los?«, schnaubte er wütend. »Kannst du das nicht in Ordnung bringen, Oliver?«

Rathbone merkte selbst, dass er immer hitziger wurde. Am liebsten hätte er losgebrüllt, und nur mit Mühe hielt er sich zurück. »Es wäre besser, wenn du Schwiegervater bitten würdest herauszukommen.«

George starrte Monk an. »Hören Sie, ich weiß ja nicht, was Sie von uns wollen … Inspektor … oder was immer Sie sind, aber das ist wohl kaum die Zeit, ins Privathaus eines Gentlemans zu platzen, beim Dinner zu stören und sich derart vulgär aufzuführen …«

»Um Himmels willen, George, geh einfach hinein, und hol ihn!«, fauchte Rathbone mit vor Zorn belegter Stimme. »Glaubst du nicht, dass ich nicht schon längst damit fertig wäre, wenn alles so einfach wäre?«

Jetzt explodierte auch George. »Woher, zum Teufel, soll ich wissen, was du tun würdest? Er ist ja ein Freund von dir!«

Die Salontür ging weiter auf, und helles Licht flutete in die Vorhalle. Mit vor Sorge angespanntem Gesicht stand Margaret in der Öffnung. »Was ist, Oliver?«

»Nichts!«, erwiderte George scharf.

Rathbone widersprach ihm. »Bitte deinen Vater, herauszukommen.«

Margaret zögerte.

Monk trat einen Schritt vor. »Bitte, Lady Rathbone, bitten Sie Ihren Vater, in die Vorhalle zu kommen. Ihre Mutter und Ihre Schwestern werden weniger belastet, wenn wir diese Angelegenheit diskret behandeln können.«

Sie blickte Rathbone an und kehrte auf dessen Nicken hin zu den anderen zurück. Gleich darauf trat Ballinger heraus, ließ aber die Tür weit offen stehen. Schlagartig herrschte Stille. Alle warteten gespannt.

»Was, zum Henker, wollen Sie?«, fuhr Ballinger Monk an. »Hoffentlich haben Sie eine gute Erklärung dafür, dass Sie hier einfach so hereinplatzen.«

Rathbone ging rasch zur Speisezimmertür und schloss sie.

»Die habe ich«, sagte Monk gelassen. »Einen gerichtlichen Haftbefehl. Ihnen wird die Ermordung von Mickey Parfitt zur Last …«

»Was?«, rief Ballinger fassungslos. »Der erbärmliche kleine Zuhälter, der in Chiswick ertrunken ist? Das ist absurd! Sie haben Ihre Kompetenzen überschritten, Mr Monk! Ihre Rachegelüste haben Ihnen wohl vollends den Verstand vernebelt! Das wird Sie Ihre Stelle kosten, dafür werde ich persönlich sorgen.«

»Ich rate dir, jetzt nichts zu sagen«, bedrängte Rathbone ihn in einem verzweifelten Versuch, das Schlimmste zu verhindern.

Prompt lief Ballingers Gesicht puterrot an und verzerrte sich zu einer hässlichen Fratze der Wut. Er wirbelte zu Rathbone herum, schien sich dann aber zu besinnen und zwang sich zur Ruhe. Er ließ die Schultern sinken und den Atem ganz langsam entweichen.

»Das war keine Drohung«, erklärte er Monk. »Sie sind ein inkompetenter Dummkopf, der trotz erwiesener Unfähigkeit befördert worden ist, aber ich will Ihnen nichts Böses. Ich werde mich in allem dem Gesetz gemäß verhalten.«

»Natürlich werden Sie das.« So gut wie nicht wahrnehmbar ließ Monk für den Bruchteil einer Sekunde Humor aufblitzen. »Sie sind zu klug, um Ihre Lage mit der Beleidigung eines Polizeibeamten noch weiter zu verschlechtern.«

»Haben Sie etwa die Absicht, mich in Gewahrsam zu nehmen? Zu dieser späten Stunde?« In Ballingers Stimme klang immer noch Ungläubigkeit mit.

»Ich dachte mir, bei Dunkelheit wäre es Ihnen lieber«, erwiderte Monk. »Aber wenn Sie wollen, kann ich Sie auch morgen in Ihrer Kanzlei abholen. Und sollten Sie nicht da sein, kann ich öffentlich nach Ihnen fahnden lassen.«

»Allmächtiger im Himmel, Mann!«, fluchte Ballinger. »Davon werden Sie sich nie wieder erholen!«

Monk ließ das unbeantwortet. Einen Moment lang blickte er Rathbone an, dann wandte er sich zur Haustür, wo er wartete, bis Ballinger ihm folgte.

Als die Tür hinter ihnen zufiel, drehte sich Rathbone zu Margaret um. Ihr Gesicht war kalkweiß, die Muskeln an ihrem Hals glichen plötzlich Seilen, die bei der geringsten zusätzlichen Belastung zu reißen drohten.

»Du musst dafür sorgen, dass das aufhört, Oliver.« Ihre Stimme bebte. »Heute Nacht noch! Bevor es jemand erfährt. Ich werde Mama und den anderen sagen, dass Monk bei irgendetwas Hilfe brauchte. Und wenn sie mich fragen, wobei, sage ich ganz einfach, dass er es uns nicht verraten hat. Du musst …«

»Margaret.« Er legte ihr die Hände auf die bebenden Schultern. »Monk wäre nicht gekommen, wenn er nicht glauben würde, dass …«

Sie riss sich von ihm los. Ihre Augen glühten. »Soll das etwa heißen, dass er recht hat?«

»Nein, natürlich nicht.« Seine Antwort erfolgte prompt, war aber nicht ganz ehrlich. Er versuchte sich zu sammeln. »Ich meine nur, dass er glauben muss, Beweise zu haben, sonst wäre er nicht mit einer solchen Behauptung hierhergekommen.«

»Dann widerleg ihn. Er hat irgendeinen idiotischen Fehler begangen, nur weil er unbedingt will, dass Rupert Cardew für unschuldig befunden wird.«

»Das ist nicht gerecht. Monk hat sich noch nie …« Er hatte den Satz noch nicht beendet, als ihm klar wurde, dass es ein Fehler gewesen war, Monk zu verteidigen.

Ihre Augenbrauen hoben sich. »Getäuscht?«

»Doch, natürlich hat er sich getäuscht. Ich wollte nur sagen: Er hat sich noch nie bewusst unfair verhalten. Ich werde von ihm persönlich erfahren, was genau er glaubt in den Händen zu haben, und dann einen Weg finden, es ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen.«

»Heute Nacht!«, beharrte sie. »Vater kann unmöglich die Nacht im Gefängnis verbringen. Das ist … das ist entsetzlich! Das weißt du doch ebenso!«

»Margaret, es gibt nichts, was ich heute Nacht unternehmen könnte …«

»Und das ist der Grund, warum er gerade jetzt zugeschlagen hat, nicht wahr? Er hat Vater so spät am Abend verhaftet, um dir jede Möglichkeit zu nehmen, dagegen vorzugehen. Hätte er ihn tagsüber verhaftet, hättest du ihn gleich befreien können! Oliver, du musst ihnen zeigen, dass das nichts als ein persönlicher Rachefeldzug ist! Papa hat gesagt, dass Monk ein sprunghafter und gehässiger Mann ist. Das wollte ich ihm nicht glauben, allein schon, weil ich zu dir halte. Aber Vater hatte recht. Monk wird ihm nie verzeihen können, dass er sich Jericho Phillips’ angenommen und sich um seine Verteidigung gekümmert hat. Du hast dann ihn und Hester vor Gericht schlecht, um nicht zu sagen wie Narren aussehen lassen, und jetzt übt er dafür Rache – an euch beiden!«

»Margaret!« Rathbones Stimme war scharf, gebieterisch. »Hör auf damit! Ja, Monk hat den Prozess gegen Phillips verloren, aber ich bin nicht stolz auf meine Rolle dabei. Ich habe getan, was das Gesetz erfordert, was die Gerechtigkeit verlangt. Monk wusste das und hat es auch verstanden.«

Mit tränenfeuchten Augen entzog sie sich seinem Griff. Es waren Tränen des Zorns und der Angst vor einem Grauen, das sie nicht in Worte fassen konnte. »Oliver?«

»Hör mir zu!«, befahl er. »Monk will diesen widerwärtigen Menschenhandel vom Fluss verbannen. Und diese Machenschaften sind viel schlimmer als alles, wovon du in der Portpool Lane gehört hast. Einige von diesen Kindern sind nicht älter als fünf, sechs Jahre.« Er ignorierte, dass sie erschrocken nach Luft schnappte und ihre Züge sich verzerrten. »Vielleicht ist er ein bisschen übereifrig, aber wir brauchen Leute mit Leidenschaft, um das verbrecherische Geflecht zu zerstören, Leute, deren Anteilnahme so weit geht, dass sie viel riskieren. Diesmal hat er einen Fehler gemacht. Allerdings geht er nur dorthin, wohin ihn die Indizien, wie er glaubt, führen.«

Sie blinzelte heftig, doch die Tränen flossen weiter über ihre Wangen. »Du wirst dich für Vater einsetzen, du musst. Du wirst …«

»Nur, wenn er das möchte. Die Wahl liegt allein bei ihm. Es könnte sein, dass er jemand anders vorzieht.«

»Das wird er selbstverständlich nicht!« Margaret war empört, doch unter dem Zorn sah Rathbone eine verzweifelte Angst schwelen. »Du musst ihm helfen, Oliver! Oder willst du sagen, dass deine Freunschaft mit Monk dich …«

Er sagte das Einzige, das ihm möglich war. »Er ist dein Vater, Margaret. Natürlich werde ich mich für ihn einsetzen, solange das sein Wunsch ist. Aber sei darauf gefasst, dass er einen anderen Verteidiger vorziehen könnte, weil ich ihm womöglich zu nahestehe.« Was er nicht hinzufügte, war, dass Ballinger ihm wegen seiner Freundschaft mit Monk misstrauen könnte.

Ein Teil ihrer Angst fiel von Margaret ab. »Natürlich«, sagte sie leise. »Es tut mir leid. Ich … es ist so schrecklich ungerecht! Es ist wie ein Albtaum, einer von der Sorte, bei der sich alles, was man liebt, vor den eigenen Augen in etwas anderes verwandelt. Man will etwas in die Hand nehmen, und plötzlich wird es zu etwas ganz Schrecklichem! Eine Tasse Tee wird zu einer Schale voller Maden … Oder ein Mensch, den man sein Leben lang gekannt hat, verwandelt sich in ein Tier, eine abscheuliche Bestie.« Jetzt strömten die Tränen ungehemmt.

Zögernd streckte er die Hand nach ihr aus und berührte sie, ehe er sie zu sich heranzog und an sich drückte. Er war sich nicht sicher, ob sie sich losreißen würde, denn im ersten Augenblick erstarrte sie. Doch dann schmiegte sie sich an ihn und ließ sich von ihm halten.

»Ich muss zu den anderen gehen und ihnen Bescheid sagen«, murmelte er. »Sie werden sich schreckliche Sorgen machen, und wir müssen ihnen versichern, dass wir alles tun werden, was erforderlich ist, um diese Sache so schnell und so diskret wie möglich aus der Welt zu schaffen.«

»Ja.« Widerstrebend löste sie sich aus seinen Armen. »Natürlich.«

Er holte noch einmal tief Luft, dann wandte er sich von ihr ab und trat ins Speisezimmer. Nachdem er die Tür geschlossen hatte, drehte er sich zu den anderen um. Die Frauen saßen wie Statuen am Tisch und starrten ihn an. Die Männer standen allesamt.

»Was, zum Teufel, ist da los, Oliver?«, verlangte George zu wissen. »Wo ist unser Schwiegervater?«

Rathbone wandte sich an Mrs Ballinger. »Es tut mir leid, Schwiegermutter, aber er muss der Polizei bis auf Weiteres zur Verfügung stehen. Morgen früh werde ich aber …«

»Morgen!«, fiel ihm George wütend ins Wort. »Du meinst, du willst einfach nach Hause fahren, dich ins Bett legen und ihn in der Zelle der Polizeiwache versauern lassen? Was, zum …?«

Zunehmend verwirrt blickte Mrs Ballinger mit gerötetem, tief unglücklichem Gesicht von einem zum anderen.

Celia trat einen Schritt auf Rathbone zu, nur um es sich anders zu überlegen und sich neben ihre Mutter zu stellen.

»Sei still!«, herrschte Rathbone George mit lauter, rauer Stimme an. Dann wandte er sich wieder an Mrs Ballinger. »Heute Nacht kann niemand mehr etwas tun. So spät sind keine Richter oder Magistraten erreichbar. Aber er ist unschuldig und darüber hinaus ein Mann von einigem Einfluss. Da wird man ihn vernünftig behandeln. Die Leute wissen genau, dass es sie ein Vermögen kostet, falls sie das vergessen.«

George schnaubte. »Du kannst Gift darauf nehmen, dass Monk diesen Zeitpunkt aus genau diesem Grund ausgesucht hat. Der Mann ist der letzte Abschaum.«

»Wilbert!«, rief Gwen in vorwurfsvollem Ton. »Warum stehst du noch herum wie ein Kleiderschrank? Tu was!«

»Es gibt nichts zu tun!«, verteidigte er sich. »Oliver hat recht. So spät in der Nacht ist niemand mehr in seiner Amtsstube, sodass man bei ihm Beschwerde einlegen könnte.«

»Wie ich gesagt habe«, triumphierte George mit funkelnden Augen. »Typisch Monk!« Er fuhr zu Rathbone herum, als wäre das alles dessen Schuld.

Die Hitze stieg Rathbone ins Gesicht. »Möchtest du lieber, dass er bei Tag kommt und Schwiegervater in seiner Kanzlei verhaftet, vor seinen Angestellten und womöglich auch noch vor Mandanten?«

Georges Gesicht verfärbte sich violett.

»Was willst du morgen unternehmen, Oliver?«, fragte Celia. »Da muss es doch einen Fehler gegeben haben. Was für ein Verbrechen soll er überhaupt begangen haben? Und wo ist Margaret? Sie muss schrecklich aufgeregt sein! Sie war Vater von uns allen ja immer am nächsten.«

»Das stimmt doch nicht«, widersprach Gwen auf der Stelle.

»Ach, halt den Mund!«, schnappte Celia zurück. »Wir dürfen jetzt nicht streiten, sondern sollten uns überlegen, was wir unternehmen. Worum geht es, Oliver?«

Rathbone versuchte, ein zuversichtliches Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern, merkte aber, dass ihm das kläglich misslang. »Die Sache steht in Zusammenhang mit der Ermordung eines äußerst unangenehmen Mannes namens Mickey Parfitt. Er wurde erdrosselt und hinter Chiswick in den Fluss geworfen.«

»Chiswick?«, rief Mrs Ballinger ungläubig. »Wie kann sich Mr Monk einbilden, Arthur hätte irgendetwas damit zu tun? Das ist doch absurd!«

»Er war in der betreffenden Nacht auf dem Fluss unterwegs«, antwortete Rathbone. »Bei Chiswick hat er ihn dann überquert, wenn du dich erinnerst. Er besuchte seinen Freund Bertie Harkness. Davon hat er uns beim Dinner erzählt.«

Erneut mischte George sich ein. »Das Ganze ist eine einzige Farce! Harkness kann der Polizei doch sicher sagen, wo er war! Monk verdient es, für diese Maßnahme bestraft zu werden. Inkompetenz in Reinkultur. Der Mann hat ein persönliches …«

»Ach, sei doch still!«, fuhr ihm Wilbert über den Mund. »Du sprichst hier über die Polizei. Monk ist kein Einfaltspinsel, der durch die Gegend rennt und tut, wozu er gerade Lust hat. Überhaupt, wieso sollte er etwas gegen Schwiegervater haben? Er kennt ihn ja gar nicht.«

Georges dichte Augenbrauen schossen in die Höhe. »Willst du behaupten, hinter dieser Sache stecke etwas Ernstes? Schwiegervater hätte irgendetwas mit dem Mord an diesem widerwärtigen Kerl zu tun?«

»Sei doch nicht albern! Natürlich behaupte ich das nicht. Wahrscheinlich hängt es mit irgendeinem Mandanten zusammen. Er könnte jemanden vertreten, der tatsächlich darin verwickelt ist.«

»Also wirklich!«, protestierte Mrs Ballinger.

»Schwiegermutter!« Dankbar nahm Rathbone die Gelegenheit wahr, die ihm Wilbert verschafft hatte. »Wenn er sich Jericho Phillips’ Fall annehmen konnte, kann er sich für jeden eingesetzt haben. Morgen früh werde ich gleich als Erstes zur Wasserpolizei fahren und von Monk persönlich erfragen, welche Beweismittel er und seine Leute haben und was sie daraus schließen. Und natürlich werde ich mit Schwiegervater sprechen und hören, ob er sich von mir vertreten lassen möchte. Und dann werden wir alles ins Lot bringen.«

»Mit einer Entschuldigung!«, beharrte George.

Wieder schaute Mrs Ballinger von einem zum anderen. Sie blinzelte, und es kostete sie sichtlich Mühe, ruhig zu bleiben. »Danke, Oliver. Aber jetzt ist es wohl das Beste, wenn wir uns alle zurückziehen. Wie geht es eigentlich Margaret?«

»Sie trägt es so tapfer wie ihr alle«, antwortete Rathbone und hoffte, dass das auch wirklich stimmte. Schon während er geredet hatte, war ihm klar gewesen, dass er mehr versprach, als er sich zutraute halten zu können.

Am nächsten Morgen wartete Rathbone bereits am Ufer vor der Polizeiwache, als Monk die Stufen vom Anlegesteg der Fähre hinaufstieg. Es war noch nicht ganz acht Uhr. Das frühe Oktoberlicht schimmerte kalt und blass auf dem Wasser und raubte ihm jede Farbe. Der Wind trug mit der steigenden Flut einen Geruch nach Salz heran. Kreischend zogen Möwen ihre Kreise über dem Wasser, und gelegentlich tauchten sie ins Kielwasser eines stromaufwärts ziehenden Schoners. Nach Norden und Süden hin ragten Mastenwälder in Kreuzmustern empor, die sich mit dem unruhigen Wasser bewegten. Lange Ketten von Bargen und Leichterbooten wanden sich zwischen den vor Anker liegenden Schiffen hindurch. Sie brachten allesamt Güter weiter ins Landesinnere oder nach Limehouse, zur Isle of Dogs, nach Greenwich oder zum Themsedelta bis hin zur Küste.

Monk erreichte die oberste Stufe und verzog die Lippen zu einem knappen Lächeln, als er Rathbone erkannte. Keiner sagte ein Wort. Vielleicht verstanden sie einander auch so. Rathbone konnte Monk am Gesicht und an den Augen ablesen, welche gemischten, komplexen Gefühle ihn bewegten; es waren die gleichen, die er empfand: Verlegenheit, ein Hin- und Hergerissensein zwischen verschiedenartigen Bindungen. Fast im Gleichschritt gingen sie den Kai zur Wache hinüber und weiter ins Gebäude. Monk wünschte den Männern, die offenbar Nachtdienst gehabt hatten, einen guten Morgen. Und nachdem sie ihm Bericht erstattet und versichert hatten, dass nichts Dringendes vorlag, das seine Aufmerksamkeit erforderte, führte er Rathbone in sein Büro und schloss die Tür.

»Handeln Sie in seinem Namen?«, fragte Monk.

»Noch nicht, weil ich ihn noch nicht gesprochen habe, aber darauf wird es wohl hinauslaufen.«

Vor der nächsten Frage zögerte Monk einen Augenblick lang. »Sind Sie sicher, dass das klug ist?«

»Wenn er mich will, habe ich keine Wahl«, antwortete Rathbone und erschrak mitten im Reden über seinen bitteren Ton. Er fühlte sich gefangen und schämte sich dessen. Wenn er wirklich vorbehaltlos an Ballingers Unschuld glaubte, wenn er ihm so vertraute, wie er sich das wünschte, dann würde er sich doch mit Feuereifer auf seine Verteidigung stürzen.

Monks Augen wichen seinem Blick aus, und für einen Moment schoss es Rathbone in den Sinn, dass er das nur tat, weil er ihm nicht unter die Nase reiben wollte, wie viel er verstand.

»Was haben Sie denn?«, fragte Rathbone laut. »Indizien: einen Brief ohne Datumsangaben, der erst noch auf seine Echtheit und Relevanz überprüft werden muss. Was noch? Wir wissen ja schon, dass Ballinger in der Nähe von Chiswick am Fluss war. Das hat er schließlich selbst gesagt. Und Sie haben zugegeben, dass diese Prostituierte Ihnen erst noch verraten muss, wem sie das Halstuch gegeben hat! Folglich können Sie keine Verbindung zu Ballinger herstellen. Ist es da nicht viel vernünftiger anzunehmen, dass sie es jemandem gegeben hat, den sie kannte? Und warum sollte Ballinger ein verkommenes Subjekt wie Parfitt töten? Sie können keine einzige Person vorweisen, die in der Lage ist aufzuzeigen, dass die zwei sich jemals begegnet sind.« Er verstummte abrupt. Jetzt hatte er die ganze Zeit mit Monk gesprochen, als wäre er neu in seinem Beruf und ohne Selbstvertrauen. Dabei wusste er es besser. Ein guter Anwalt vertrat keine Familienangehörigen, denn da sorgten von Anfang an Gefühle für Verwicklungen.

Nun, Arthur Ballinger war nicht sein Vater. Ganz anders wäre es gewesen, wenn Henry Rathbone verhaftet worden wäre! Bei ihm hätte er die abolute und vorbehaltlose Gewissheit gehabt, dass er unschuldig war.

Aber das hätte natürlich auch Monk gewusst.

»Ich unterstelle keine persönliche Feindschaft«, erwiderte Monk in ruhigem, festem Ton. »Ich habe Ballingers Bestätigung, dass er zur fraglichen Zeit in extremer Nähe des Tatorts war, und dazu eine Mitteilung, die nur er geschrieben haben kann. Darin fordert er Parfitt auf, auf dem Boot auf ihn zu warten, damit sie über ein für Parfitt lukratives Geschäft sprechen können.«

»Und was soll das für ein Geschäft sein?«, konterte Rathbone. »Sie haben für nichts einen Beweis, nicht einmal konkrete Anhaltspunkte.«

»Uns ist bekannt, welcher Natur Parfitts Geschäft war, Oliver. Sie haben Phillips’ Boot mit eigenen Augen gesehen und wissen genau, was dort getrieben wurde. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen Parfitts Boot ebenso detailliert beschreiben und dazu die Kinder, die wir dort entdeckt haben.«

Rathbone merkte, dass ihm die Kontrolle über die Situation entglitt. »Aber Sie haben keinen Beweis, dass Ballinger darin verstrickt war. Absolut nichts, sonst hätten Sie ihn längst angeklagt. Ich weiß, wie verzweifelt Sie darauf aus sind, den Drahtzieher des Ganzen zu stellen.«

»Sie nicht auch?«

»Doch, natürlich! Aber nicht so verzweifelt, dass ich es riskiere, den Falschen zu verfolgen. Nur weil Sullivan Ballinger beschuldigt hat, ist er deswegen doch kein Mörder. Vielleicht hat Ballinger ja versucht, Sullivan vor dessen eigener Dummheit zu bewahren, wenn auch erfolglos. Sullivan hätte allen die Schuld geben können, nur nicht sich selbst. Das haben wir beide ja schon einmal erlebt.«

»Ich weiß nicht, aus welchem Grund Ballinger Parfitt umgebracht haben könnte«, sagte Monk, seine Stimme immer noch fest. »Aber das muss ich auch nicht. Das Einzige, was der Staatsanwalt aufzeigen muss, ist, dass er die Möglichkeit dazu hatte, im Besitz der Mittel gewesen sein könnte und dass er derjenige war, der Parfitt aufforderte, zum fraglichen Zeitpunkt auf dem Boot zu sein, damit sie sich treffen konnten. Wenn Parfitt ihn nicht gekannt und kein Geschäft gewittert hätte, wäre er nicht zum Boot rausgefahren.«

Dagegen fiel Rathbone kein Argument ein, auch wenn er sich sagte, dass mehr dahinterstecken musste, irgendein Beweis, den sie bislang nicht entdeckt hatten, der jedoch das Gesamtbild von Grund auf ändern würde.

»Es tut mir leid«, schloss Monk, »aber ich werde diese Spur weiterverfolgen, allerdings größtenteils, um die Verbindungen zwischen Ballinger und den anderen aufzuspüren und den organisierten Missbrauch der Kinder zu beenden. Ich wünschte, sie hätte mich nicht zu Ballinger geführt, aber so ist es nun einmal. Wenn Sie ihn dazu bewegen könnten, ein Geständnis abzulegen, würde das der Familie die Schande wenigstens teilweise ersparen.«

Rathbone fühlte sich benommen, ja, zerschmettert, als hätte ihn ein schwerer Faustschlag getroffen. »Es muss eine andere Antwort geben.«

»Das hoffe ich auch«, erwiderte Monk mit einem düsteren Lächeln. »Es wäre schön, glauben zu können, es wäre jemand gewesen, der uns beiden völlig egal ist. Aber wünschen kann man sich vieles.«

Darauf konnte Rathbone beim besten Willen nichts entgegnen. Er dankte Monk und verabschiedete sich.

Er befand sich noch im Vorraum und wollte gerade zurück zum Anlegesteg, als er beinahe gegen einen großen, schlanken Mann mit Backenbart und intensiven blauen Augen prallte, der einen vorzüglich geschnittenen, teuren Anzug trug. Rathbone kannte ihn vom Sehen, und wenn er gekonnt hätte, wäre er ihm lieber aus dem Weg gegangen.

»Morgen, Commander Birkenshaw«, sagte Rathbone knapp und eilte weiter. Doch Birkenshaw folgte Rathbone kurzerhand in die frische, kühle Luft nach draußen.

»Dachte mir schon, dass Sie hier ganz früh aufkreuzen würden«, sagte Birkenshaw und glich seine Schritte denen Rathbones an. »Schreckliche Angelegenheit. Ich hatte gehofft, wir könnten das alles entwirren, bevor was Schlimmes dabei herauskommt. Sie kennen Monk doch schon seit vielen Jahren, nicht wahr?«

»Ja. Acht oder neun, denke ich«, antwortete Rathbone widerstrebend.

Birkenshaw war Monks Vorgesetzter, und er war sichtlich nicht glücklich. Sein Gesicht war vor Sorgen verkniffen, und er sprach mit gedämpfter Stimme, obwohl an diesem grellen Morgen niemand in Hörweite war. Abgesehen davon war es bei den lauten Geräuschen von Wind und Wasser extrem unwahrscheinlich, dass jemand lauschte.

»Würden Sie sagen, dass Sie ihn gut kennen?«

Eine Antwort ließ sich nicht vermeiden. »Ja. Wir haben bei vielen Fällen zusammengearbeitet.«

»Schlau ist er ja«, räumte Birkenshaw ein. »Aber zuverlässig? Ich wusste, dass Durban große Stücke auf ihn hielt. Er empfahl ihn für diesen Posten, als ihm klar war, dass er sterben würde. Aber er hatte Monk nicht wirklich lange gekannt; nur von diesem einen Fall. Seitdem habe ich von anderen gehört, dass Monk etwas sprunghaft ist. Farnham, mein Vorgänger, war sich nicht sicher, was seine persönliche Integrität betrifft, falls es zu einer schwierigen Entscheidung käme und Monk persönlich von jemandes Schuld überzeugt wäre.«

»Dann ist es ja ganz gut, dass jetzt Sie das Kommando führen und nicht Farnham«, bemerkte Rathbone spitz, nur um das sofort zu bedauern. Erst spiegelte Birkenshaws Gesicht Überraschung wider und dann Verärgerung. Eindeutig hatte er nicht die gewünschte Antwort gehört.

»Ich glaube nicht, dass Sie die Schwere der Situation vollständig zu würdigen wissen, Sir Oliver«, sagte Birkenshaw ruhig. »Eine Klage auf Mord ist eine extrem gravierende Angelegenheit, und Monk hat sie gegen einen Mann in einer hohen Position und von makellosem Ruf vorgebracht …«

»Ich weiß. Er ist mein Schwiegervater.«

»Das tut mir leid. Natürlich. Es muss schrecklich für Sie sein und unsäglich für Ihre Frau. Umso dringender werden Sie sich davon überzeugen wollen, dass wir nicht überstürzt handeln. Falls Monk einen Fehler begangen hat, so lauter seine Absichten auch gewesen sein mögen, werden wir den Ruf eines unschuldigen Mannes beschädigt und seiner Familie ohne Not Schmerzen zugefügt haben.«

»Es ist freundlich von Ihnen, dass Sie sich so besorgt …«

»Verdammt noch mal, Mann!«, explodierte Birkenshaw. »Meine Sorge gilt der Ehre der Wasserpolizei und deren Fähigkeit, ihre Aufgabe zu verrichten! Wenn wir einen Mann von hohem Ansehen verfolgen und es sich herausstellt, dass die Anklage von Anfang an fehlerhaft war und noch dazu von einem Menschen betrieben wurde, der von Rachegefühlen zerfressen und überdies auf ein bestimmtes Verbrechen fixiert war, dann ist unser Ruf geschädigt, und wir sind als Gesetzeshüter gelähmt. Es liegt in meiner Verantwortung, dafür zu sorgen, dass das nicht geschieht.«

Obwohl es Rathbone gegen den Strich ging, leuchtete ihm ein, dass Birkenshaw in diesem Punkt recht hatte. Sah er aber auch, dass Monk den Respekt und die Loyalität seiner Männer verlieren und zum Rücktritt gezwungen sein würde, wenn er dessen Entscheidung aufhob? Auch das war ungerecht, und an so etwas konnte sich Rathbone unmöglich beteiligen.

»Natürlich tragen Sie die Verantwortung dafür«, sagte er so gelassen er konnte. »Und wenn Sie Beweise haben, dass Monk aus persönlichen Motiven und ohne gerechtfertigten Grund handelte, dann müssen Sie ein Machtwort sprechen und die Klage mit einer Bitte um Entschuldigung zurückziehen. In diesem Fall bleibt Ihnen freilich nichts anderes übrig, als Monk aus dem Polizeidienst zu entlassen.«

»Ich …« Birkenshaw schüttelte den Kopf, als versuchte er, diese Vorstellung wie ein lästiges, vielleicht sogar gefährliches Insekt zu vertreiben. »Das ist viel zu … extrem.«

»Das ist es gewiss nicht«, widersprach Rathbone. »Sie werden dann Ihren Mangel an Vertrauen öffentlich gemacht haben, und daraufhin werden auch seine Männer an ihm zweifeln. Weiter ist es gut möglich, dass Ballinger Schadenersatz fordern wird. Dabei könnte ich ihn nicht vertreten, aber er hätte keine Schwierigkeiten, jemanden zu finden, der bereit wäre, insbesondere jemanden mit ehemaligen Mandanten, die in der Vergangenheit von Monk verfolgt wurden. Wenn Sie alle Möglichkeiten sorgfältig abwägen, Commander Birkenshaw, werden Sie feststellen, dass den größten Schaden die Wasserpolizei erleiden wird. Darum werden Sie es auf den Prozess ankommen lassen müssen. Arthur Ballinger wird dann entweder freigesprochen – oder gehängt.«

»Rathbone …«, begann Birkenshaw.

»Ich habe alles gesagt, was ich dazu sagen kann«, entgegnete Rathbone, drehte sich mit einem knappen Nicken um und entfernte sich schnell in Richtung High Street. Mit etwas Glück würde er dort einen Hansom finden, der ihn in seine Kanzlei im westlich gelegenen Lincoln’s Inn bringen würde.

Doch obwohl Rathbone außerordentliches Glück hatte und binnen fünf Minuten in eine Droschke steigen konnte, fühlte er sich hundeelend, während die Kutsche zügig auf die vertraute Gegend zuratterte. Er war Monk und auch seinem eigenen Gewissen treu geblieben, aber hatte er womöglich Margaret auf irgendeine Weise verraten? Er konnte ihr unmöglich von diesem Gespräch erzählen, auch wenn es keineswegs streng vertraulich war. Allein schon dieser Umstand war Antwort auf seine Zweifel. Noch bevor er sich überhaupt Gedanken darüber machte, war ihm klar, dass sie ihm vorwerfen würde, er hätte nicht im besten Interesse ihres Vaters gehandelt. Und vielleicht stimmte das ja auch.

Er würde sich selbstverständlich darauf berufen, dass Ballinger eindeutig unschuldig war und seine Chance bekommen sollte, das vor Gericht zu beweisen, damit später niemand auf die Idee käme, dass irgendwo Druck ausgeübt worden war, die Klage zurückzuziehen. Alles andere als ein Unschuldsbeweis würde auf einen »Freispruch mangels Beweisen« hinauslaufen, und der wäre eben nur ein Freispruch minderer Güte, vor allem dann, wenn kein anderer Tatverdächtiger erfolgreich vor Gericht gestellt werden konnte und Parfitts Ermordung ungesühnt blieb.

Ginge es um seinen eigenen Vater, wie würde sich Rathbone dann entscheiden? Es konnte gut sein, dass er alles daransetzen würde, seine Unschuld zu beweisen. Dann wiederum hätte er Angst, dass irgendeine Lüge, ein falsch interpretiertes Indiz oder irgendeine Laune des Justizsystems einer himmelschreienden Ungerechtigkeit Tür und Tor öffnete. Zwischen Schuldspruch und Strick lagen nur drei Wochen, eine Zeitspanne, die viel zu kurz war, um ein Urteil aufzuheben oder Zweifel anzumelden, die massiv genug waren, um den Aufschub einer Hinrichtung zu erreichen.

Und jetzt musste er sich darauf vorbereiten, Ballinger gegenüberzutreten. Davor graute ihm. Jäh wurde ihm bewusst, wie wenig er diesen Mann im Grunde kannte. Er wusste nicht einmal, ob er Angst zeigen, ob er zornig, demütig oder vorwurfsvoll vor ihn treten würde oder ob er vielleicht in eine Schockstarre verfallen war.

Rathbone beugte sich zur Seite und spähte auf die Straße hinaus, um sich zu orientieren. Er erkannte den St. Margaret’s Arch, und gerade bogen sie in die East Cheap ab. Wahrscheinlich ging es weiter die King William Street hinauf und dann links durch Poultry und Cheapside nach Newgate. Vielleicht waren die Straßen verstopft, was ihm ein bisschen Zeit verschaffen würde, sich zu sammeln und zu überlegen, was er sagen konnte.

Zehn Minuten später gab es einen Ruck, und sie hielten an. Rathbone stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, doch sie währte nur wenige Momente. Schon ging es weiter, und allzu bald stand er auf dem Straßenpflaster in der Sonne, überquerte die Straße und erreichte die Stufen zum Newgate-Gefängnis. Seine Gedanken wirbelten immer noch durcheinander und waren alles andere als klar.

Ohne Wartezeit wurde ihm Zugang zu Ballinger gewährt, obwohl er für eine Verzögerung mehr als dankbar gewesen wäre. So trafen sie sich in einer kleinen Zelle mit Steinboden und primitiven Holzmöbeln, die gerade genügten, um reichlich unbequem zu sitzen, zwischen ihnen ein ramponierter Holztisch, auf dem man bei Bedarf Bücher oder Dokumente ablegen konnte. Es war nicht derselbe Raum wie derjenige, in dem Rathbone Rupert Cardew getroffen hatte, aber die Unterschiede waren unerheblich.

Ballinger wirkte zerknittert und zornig, aber keineswegs unbeherrscht, wie das bei manchen Inhaftierten der Fall war, wenn ihnen unversehens entsetzliches Unglück drohte. Er war glatt rasiert und ordentlich gekämmt. Nichts an seinem Gesicht wies auf Hysterie hin, und seine Augen waren zwar etwas verquollen, was aber bei einem Mann, der eine Nacht lang wenig oder gar nicht geschlafen hatte, völlig normal war.

»Guten Morgen, Oliver«, begrüßte er seinen Schwiegersohn und legte sogleich ohne Umschweife los. »Bevor du Zeit damit verschwendest: Ich werde hier anständig behandelt und genieße jeden Komfort, der mir zusteht. Margaret hat meinen Kammerdiener mit allem, was ich benötige, zu mir geschickt. Du wirst gar nicht mehr aufhören können, wenn du anfängst, dich für diese wunderbare Frau zu bedanken. Wenn du eines Tages mit Töchtern wie ihr gesegnet bist, kannst du dich wahrlich glücklich schätzen. Nun zu uns: Bist du bereit, mich in dieser … Farce zu vertreten? Ich will, dass die Einzelheiten sobald wie möglich geklärt und erörtert werden, bevor die halbe Welt davon Wind bekommt.« Er verzog das Gesicht zu einem grimmigen Lächeln, das nur ein entferntes Echo von Humor darstellte. »Vielleicht hilft mir das ja, die Ängste meiner Mandanten in Zukunft besser zu verstehen.«

»Natürlich werde ich mich für dich einsetzen, wenn du dir sicher bist, dass du das wirklich willst«, antwortete Rathbone. »Aber hast du dir auch überlegt, ob es der Weisheit letzter Schluss ist, ein Familienmitglied mit einer solchen Aufgabe zu betrauen? Es gibt …«

Ballinger wischte den Einwand mit einer Geste beiseite. »Du bist der beste Anwalt in ganz London, wenn nicht sogar in England, Oliver. Und ich habe nicht den geringsten Zweifel daran, dass du härter für mich kämpfen wirst, als jeder andere das könnte. Du bist mein Schwiegersohn, Teil meiner Familie. Ich bin mir zwar sehr wohl dessen bewusst, dass man keines seiner Kinder bevorzugen soll, aber Margaret ist mein besonderer Liebling. Das war sie schon immer. Sie ist von einer Loyalität und Sanftmut wie keine andere meiner Töchter. Du wirst alles für mich tun, was einem Menschen nur möglich ist.« Er schüttelte den Kopf. »Nicht, dass das nötig sein dürfte. Die ganze Anklage ist ein Konstrukt aus aufeinandergetürmten Zufällen, weil Monk keinen Begriff von der Verantwortung eines Anwalts für seine Mandanten hat. Außerdem ist er auf einer persönlichen Ebene emotional darin verwickelt. Das liegt an seiner Frau und dem kleinen Lumpensammler, den sie in ihr Herz geschlossen hat, weil die Arme anscheinend keine eigenen Kinder bekommen kann.«

In diesem Moment spürte Rathbone seine Gewissensbisse so intensiv, dass sie ihm wie ein Stich ins Herz erschienen. Im Prozess gegen Jericho Phillips hatte er Hester der Lächerlichkeit preisgegeben. Während ihrer Aussage hatte er sie als kinderlose Frau dargestellt, die einen kleinen Jungen aus der Gosse an Kindes statt aufgenommen hatte, um ihre Einsamkeit und innere Leere auszugleichen, und sich davon ihre Urteilsfähigkeit hatte trüben lassen. Die Geschworenen hatten ihm geglaubt und Hesters Aussage verworfen. Seitdem hatte er nicht mehr mit ihr darüber gesprochen und wusste darum auch nicht, ob sie ihm diesen Verrat jemals wirklich verziehen hatte. Er selbst hatte das jedenfalls nicht gekonnt.

»Wir müssen auf gewisse Indizien Antworten finden.« Nur mit Mühe beherrschte Rathbone seine Gefühle. Er schuldete Ballinger seine Treue, da dieser nun sein Mandant war und um sein Leben kämpfen würde, falls der Prozess tatsächlich zustande kam. Und natürlich auch deshalb, weil er Margarets Vater und damit auch ein Teil von Rathbones Leben war, des Teils, von dem er sich nie würde abwenden können.

»Selbstverständlich«, stimmte Ballinger ihm zu. »Was sind das für Beweise, die er zu haben glaubt? Ich kann mir nichts darunter vorstellen.«

»Eine von dir geschriebene Nachricht für Parfitt mit der Aufforderung, dich auf seinem Boot zu treffen, die ihm ein, zwei Stunden vor seinem Tod vor Zeugen überbracht wurde. Als er sie gelesen hatte, schickte er sofort nach ’Orrie Jones, damit er ihn hinausruderte.«

Ballinger wurde aschfahl. Einen Moment lang schien es, als hätte er die Sprache verloren. Das mochte am Schock liegen, doch Rathbone beschlich die quälende Furcht, dass es Schuldgefühle waren.

»Das ist … unmöglich!«, brachte Ballinger schließlich hervor. »Wer sagt das? Monk?«

»Ja. Und er muss im Besitz eines solchen Briefes sein, sonst würde er sich nicht so weit aus der Deckung wagen, selbst wenn du ihn für unmoralisch genug hältst, es einfach darauf ankommen zu lassen.«

»Dann ist das eine Fälschung«, sagte Ballinger wie aus der Pistole geschossen. »Herrgott, Oliver, was, um alles in der Welt, könnte ich mit einem Subjekt wie Parfitt zu schaffen haben?«

»Ihn im Namen eines Mandanten kaufen«, meinte Rathbone und spürte, wie er immer tiefer in einem Morast versank, doch merkwürdigerweise funktionierte sein Verstand völlig normal, als wäre er von ihm losgelöst wie bei einem Zuschauer, der interessiert diese verzweifelte, doch hochzivilisierte Aussprache über Mord und Verrat verfolgte.

Ballinger zögerte; offenbar erwog er seine Antwort sorgfältig.

Rathbone beobachtete ihn dabei, während ihm am ganzen Körper der Schweiß herunterrann, so sehr sorgte er sich, der Mann würde gleich zugeben, dass es tatsächlich um seine eigene Erpressung ging. Aufgrund seiner jahrelangen Erfahrung als Strafverfolger und Verteidiger hätte Rathbone eigentlich gegen Überraschungen gefeit sein müssen, doch er konnte einfach nicht glauben, dass Arthur Ballinger sich in Parfitts grausame Geschäfte hatte verwickeln lassen.

Bloß – warum eigentlich nicht? Schätzte er Ballinger als so moralisch ein? Als so überaus glücklich in seinem gegenwärtigen Leben? Und was hielt dieser Mann eigentlich von ihm – nicht als seinem Schwiegersohn, als Mann seiner Lieblingstochter, sondern als seinem Anwalt, der die Pflicht hatte, die ganze Wahrheit zu sehen, weil er ihn nur dann nach seinen besten Möglichkeiten verteidigen konnte?

In aller Eindringlichkeit wurde Rathbone bewusst, wie wenig er über diesen Mann außer in seiner Rolle als Ehemann und Familienvater wusste. Wie war er, wenn er allein war? Was waren seine Träume, seine Ängste, seine Freuden? Wer war er ohne die Maske? Rathbone hatte nicht den Schimmer einer Ahnung.

Ballinger starrte ihn an, immer noch unschlüssig, welche Antwort er geben sollte.

»Bist du im Auftrag eines Mandanten aufgetreten?«, wiederholte Rathbone.

Endlich schien Ballinger eine Entscheidung getroffen zu haben. »Nein. Ich habe den Abend bei Bertie Harkness verbracht, dann bin ich auf dieselbe Weise heimgefahren, wie ich gekommen war, also mit der Fähre zurück nach Chiswick. Es kann sein, dass ich an Parfitts widerwärtigem Boot vorbeigekommen bin, aber wie dir der Fährmann bestätigen wird, war es eine Überfahrt ohne besondere Ereignisse. Ich habe nichts gesehen oder gehört, das irgendwie unrechtmäßig gewesen wäre. Für alle Uhrzeiten gibt es Zeugen. Und wenn ich Parfitt im Namen irgendeines Mandanten ausgezahlt hätte, dann hätte ich doch genug Verstand besessen, um es nicht heimlich und allein zu tun.« Er atmete tief ein. »Um Himmels willen, Oliver, überleg doch! Würdest du in der Nacht allein um Boote herumschleichen, um für einen Mandanten ein völlig legales Geschäft abzuwickeln, egal wie verzweifelt oder leichtsinnig der Mandant sonst gewesen sein mag?«

»Nein«, antwortete Rathbone, ohne zu zögern. Dennoch war er nicht überzeugt. Das alles klang vernünftig, reichte aber nicht für eine Verteidigung. »Aber wir brauchen mehr als bloßes Leugnen.«

Ballinger brachte ein angestrengtes, düsteres Lächeln zuwege. »Sie müssen beweisen, dass ich dort war, dass ich im Besitz von Rupert Cardews Halstuch war und dass ich einen zwingenden Grund hatte, Parfitt zu töten. Aber nichts davon wird ihnen gelingen, weil nichts davon wahr ist. Ja, ich war auf dem Heimweg am Fluss, aber nur, um ihn von Süden nach Norden zu überqueren. Ich befand mich auf einer Fähre, und dafür wird der Schiffer bürgen. Am Nordufer nahm ich einen Hansom direkt nach Hause. Niemand kann etwas anderes beweisen, weil das die Wahrheit ist.«

»Bist du sicher, dass du keine Beziehungen mit Parfitt unterhalten hast?«, drängte Rathbone.

»Menschenskind, was für Beziehungen sollen das gewesen sein?«, protestierte Ballinger. »Nach allem, was ich von dir höre, ist der Mann unsäglich!«

»Immerhin warst du bereit, dich für Jericho Phillips einzusetzen. Und für Sullivan, der an diesen widerwärtigen Machenschaften teilhatte und ihm Erpressungsgelder zahlte. Dem Strafverfolger dürfte es nicht schwerfallen, dir zu unterstellen, du hättest dasselbe für Parfitt getan oder für eines seiner Opfer.«

Ballinger schluckte. Sein Gesicht war immer noch aschfahl; seine Körperhaltung die eines in die Enge getriebenen Mannes. »Ich habe mich für Sullivan eingesetzt, weil der Mann verzweifelt war.«

Die nächste Frage konnte Rathbone nicht länger hinausschieben, ohne vorsätzlich zu lügen, sowohl vor Ballinger als auch vor sich selbst. Bisher hatte er so getan, als bräuchte er keine Antwort, doch das rächte sich jetzt: Nichts zu wissen wirkte sich aus wie ein schleichendes Gift.

»Sullivan sagte mir, dass du derjenige warst, der ihm die Pornografie nahebrachte, und dass du als Finanzier hinter Phillips standest.«

Ballinger starrte ihn entsetzt an.

Die Sekunden verstrichen.

Ballinger schluckte heftig. »Das hat er dir gesagt?«, fragte er ungläubig.

»Ja.«

»Und du hast … bis heute geschwiegen?«

»Ich zog es vor zu glauben, das sei eine hysterische Beschuldigung, ausgestoßen von einem Mann, den die Verzweiflung seiner Sinne beraubt hatte und der unmittelbar davorstand, Selbstmord zu begehen.«

»Genauso war es auch.« Ballinger sog sich die Lungen mit Luft voll, und obwohl es in der Zelle kalt war, rannen Schweißperlen über sein Gesicht. »Mein Gott, jetzt wird mir Monks geisteskrankes Verhalten klar! Du hast mit ihm gesprochen, richtig!« Das war keine Frage, sondern eine Feststellung, eine, die fast wie ein Vorwurf klang.

Das brachte Rathbone aus dem Konzept, als wäre er derjenige, der sich ins Unrecht gesetzt hatte. Er war nahe daran, sich zu rechtfertigen.

»Willst du mir sagen, dass du mit Sullivans Verhalten nichts zu tun hattest?«, fragte er, jedes Wort betonend.

Arthur Ballinger zögerte. Er schaute auf seine mächtigen Hände, dann stellte er sich wieder Rathbones Blick. »Sullivan hat mich dazu erpresst, seine Interessen zu vertreten«, sagte er leise. »Nicht mit irgendetwas, das ich getan habe, sondern mit Cardew. Ihm zu helfen war der Preis, den er dafür verlangte, dass er Cardew aus der Sache heraushielt.«

Rathbone verschlug es die Sprache.

Ballinger starrte ihn weiter an. Er wartete.

»Cardew?«, ächzte Rathbone schließlich. »Du warst bereit, dich auf diesen Schmutz einzulassen, um Cardew zu retten?«

Ballingers Züge wurden weicher, seine angespannten Schultern lockerten sich, und er brachte fast ein Lächeln zustande. »Ich bewundere ihn aus tiefstem Herzen, und das schon seit Langem.«

»Er hatte sich mit Phillips eingelassen, und du hast ihn bewundert?«, rief Rathbone mit vor Abscheu und Fassungslosigkeit bebender Stimme.

»Menschenskind, Rupert steckte mit Phillips unter einer Decke!«, entgegnete Ballinger in schneidendem Ton. »Es ist sein Vater, den ich bewunderte! Und er tat mir entsetzlich leid. Du hast noch keine Kinder, Oliver. Da hast du noch keinen Begriff davon, wie tief die Liebe zum eigenen Kind sein kann, egal, wie es sich verhält, egal, was für schlimme Sachen es anstellt. Man liebt immer noch, man vergibt immer noch, man kann es einfach nicht fallenlassen oder die Hoffnung aufgeben, dass es sich irgendwie ändert und wenigstens ein bisschen zu dem wird, was man sich wünscht.«

Rathbone war restlos verwirrt. War das wirklich möglich?

Ballinger beugte sich über den Tisch. »Ich habe mein Möglichstes getan, um Sullivan zu retten, allein schon um seiner selbst willen. Eigentlich hätte es mich nicht wundern sollen, dass er sich das Leben genommen hat, aber leider muss ich zugeben, dass ich es nicht kommen sah, sonst hätte ich das vielleicht noch verhindern können. Oder vielleicht auch nicht. Er hatte alles verloren. Da war der Tod der einzige Ausweg. Gott sei Dank hat er wenigstens die Beweise mitgenommen, die sonst auch noch Rupert Cardew ruiniert hätten.«

»Mitgenommen?«, wiederholte Rathbone betäubt.

»Mit ins Vergessen«, erklärte Ballinger. »Ich glaube nicht, dass er sie buchstäblich … in der Tasche hatte. Es war seine einzige halbwegs anständige Tat. Armer Teufel.«

»Aber er hat dich beschuldigt.«

»Das ist richtig. Halbwegs anständig, aber nicht durch und durch.« Ballinger ergriff Rathbones Hand. »Aber vor Gricht werde ich das nicht wiederholen, Oliver. Es muss mir gelingen, meinen guten Ruf wiederherzustellen, ohne Cardew zu zerstören. Rupert kann vielleicht keiner retten, aber bitte halte seinen Vater da raus.«

»Inwieweit ist sein Vater denn darin verwickelt?« Es fiel Rathbone schwer, die Worte auszusprechen. Dieses Gespräch hatte ihn einiger Illusionen beraubt, und das war schmerzhafter, als er erwartet hatte. Lord Cardew kannte er nur dem Ruf nach, den er sich für seinen Kreuzzug gegen industrielle Verschmutzung erworben hatte. Offenbar hatte er einen Weg gefunden, Lord Justice Garslake, einen der höchsten Richter des Landes, dazu zu bewegen, seine Haltung zu ändern. Wie ihm das gelungen war, das wusste allein der Himmel! Rathbone selbst hatte nur diese eine hochemotionale Begegnung mit ihm gehabt, als sie über die drohende Gefahr für Rupert gesprochen hatten. Dass der Lord irgendetwas mit Parfitt oder Phillips zu tun gehabt haben sollte, konnte er sich schlicht nicht vorstellen, es sei denn, er wäre durch Betrug in diese Sache hineingeraten. Dann hätte Monk gewiss kein Interesse daran, gegen ihn zu ermitteln.

»Du brauchst das nicht zu wissen«, sagte Ballinger leise. »Lass dem Mann ein bisschen Würde, Oliver. Und wenn möglich, halte seinen Namen aus dem Gerichtsverfahren heraus. Du kannst mich gegen diese Beschuldigungen verteidigen, ohne Phillips, Sullivan oder irgendeinen von denjenigen zu erwähnen, die von Sullivan in den Abgrund mitgerissen wurden. Ich habe Parfitt nicht umgebracht, noch weiß ich, wer es gewesen sein könnte oder aus welchem Grund. Dieser Mann war die Verkörperung des Abschaums und muss Dutzende von Feinden gehabt haben. Wenn du den Schuldigen nicht finden kannst, dann führ den Geschworenen wenigstens vor Augen, was für eine Persönlichkeit er war. Aber ruiniere dabei nicht Cardew … bitte.«

Rathbone fühlte sich, als wäre alle Gewissheit unter seinen Händen zerbröselt. Jetzt hatte er ein Dutzend Bruchstücke, die nicht zueinanderpassten und sich einfach nicht zu einem sinnvollen Ganzen zusammensetzen ließen.

»Vielleicht erreichst du das, ohne andere zu zerstören«, fuhr Ballinger fort. »Aber wenn du Monk nicht vor sich selbst bewahren kannst, musst du eben dem Gesetz und deinem eigenen Sinn für Gerechtigkeit folgen. Dann hast nicht du ihm Schaden zugefügt, sondern er allein sich selbst.«

»Ich werde tun, was ich kann«, versprach Rathbone feierlich. »Wie die Dinge im Moment stehen, werde ich in der Lage sein, den Staatsanwalt in praktisch jedem Punkt infrage zu stellen. Aber natürlich werde ich nicht ruhen, bis die Klage verworfen ist.«

Ballinger lächelte. »Danke. Ich wusste, dass du das für mich tun würdest.«