8
Die Anklage gegen Rupert Cardew wurde zurückgezogen, und er wurde aus der Haft entlassen.
Der Fall war wieder offen.
Monk stand in der Polizeiwache von Wapping, in der Hand den Zettel, den ihm ’Orrie gegeben hatte. Dies war ein zentrales Beweismittel, es fragte sich nur, gegen wen. Der Bleistift war verschmiert, sodass Teile nur schwer zu entziffern waren. Zudem ließen Verschmutzung und Fingerabdrücke keine Identifizierung zu. Die Nachricht hätte praktisch von jedem stammen können, der des Lesens und Schreibens mächtig war.
Monk war sich nicht einmal sicher, dass der Verfasser überhaupt der Mann war, der hinter der Erpressung steckte. Aber zu wem sonst wäre Parfitt noch so spät in der Nacht hinausgefahren? Jeden anderen hätte er doch gewiss aufgefordert, ihn zu einer passenderen Stunde aufzusuchen. Wen, außer jemanden, den er kannte und dem er vertraute, hätte er ganz allein in der Nacht auf dem Boot getroffen?
»Muss wohl so sein«, stimmte Orme ihm zu. »Aber es ist noch zu früh, sich auf einen bestimmten Mann festzulegen. Bewiesen ist doch nur, dass ihn irgendjemand dort hinausgelockt hat. Und wir wissen, dass es vorsätzlicher Mord war, der mit Cardews Halstuch begangen wurde.« Orme nahm den Zettel und drehte ihn in den Händen hin und her. »Haben Sie eine Vorstellung, von wem das stammen könnte?«, fragte er und versuchte, die Nachricht mit halb zusammengekniffenen Augen zu lesen, dann hob er den Blick wieder zu Monk.
»Nein«, antwortete Monk wahrheitsgemäß.
»Ballinger?«, fragte Orme.
»Möglicherweise. Parfitt wusste, von wem die Nachricht kam, sonst wäre er nicht rausgefahren. Offensichtlich kannte er den Mann so gut, dass eine Unterschrift gar nicht nötig war.«
Mit grimmigem Gesicht stand Orme im gelben Schein des Lampenlichts. Draußen frischte der Wind auf, und es begann zu regnen. Ihnen stand eine stürmische Überfahrt auf der Fähre bevor. »Muss der Mann sein, der hinter den Erpressungen steckt«, sagte er leise. »Diesmal müssen wir es einfach schaffen.«
Monk spürte, wie ihm heiß wurde. Soeben war die Erinnerung an eine fürchterliche Blamage zurückgekehrt. Orme hatte nie darauf angespielt, doch es war Tatsache, dass Monks schlampige Recherchen im Fall Jericho Phillips sie beide in größte Schwierigkeiten gestürzt hatten. Er hatte Rathbones Geschick und Glauben an die Prinzipien des Rechtswesens schlichtweg unterschätzt. Nach all den Jahren des Kampfes gegen das Verbrechen war er immer noch so naiv gewesen, seinen Emotionen freien Lauf zu lassen. Diesen Fehler durfte er nicht noch einmal begehen. Rathbone war sein persönlicher Freund, und er würde tiefes Mitleid für ihn empfinden, wenn Ballinger tatsächlich schuldig wäre, doch er selbst durfte nicht für einen Augenblick vergessen, dass Rathbone dann sein Feind wäre und im Kampf für seinen Schwiegervater sein ganzes Wissen und jeden ihm zu Gebote stehenden Trick einsetzen würde. So handelte er bei jedem Mandanten – es war seine Pflicht. Bei Margarets Vater würde er freilich bis an den Rand des Abgrunds gehen, wenn nicht noch weiter. Und würde Monk nicht dasselbe für Hester tun?
Orme schüttelte den Kopf. »Wir haben nichts außer Zufallsindizien«, warnte er. »Lauter Möglichkeiten, die keinen Geschworenen überzeugen. Vielleicht würden sie gar nicht erst für einen Prozess reichen.«
»Ich weiß«, murmelte Monk bedrückt.
»Ballinger ist ein hochangesehener Mann«, fuhr Orme fort. »Einer von ihnen sozusagen. Ein Anwalt. Seine Frau und seine Töchter werden auf der Galerie sitzen. Schön und gepflegt werden sie aussehen, und jeder wird merken: Die stehen hinter ihm und glauben jedes Wort, das er sagt. Und was haben wir? Gesindel aus der Gosse, dem man das auch sofort ansieht. ’Orrible Jones mit seinen Augen, die überall zugleich sind wie bei einem Pferd in Panik. Crumble, der so still und tückisch ist wie eine Schlange. Tosh Wilkin, ein Erzschurke, wie er im Buche steht. Hattie Benson, die eine Prostituierte ist und vor Angst vergeht. Und die den Eindruck erweckt zu lügen, sogar wenn sie die Wahrheit sagt.«
»Ja, gut!«, sagte Monk scharf. »Ich weiß es selbst: Wir haben nicht genug!«
»Wir haben den Fährmann Stanley Willington, aber der bestätigt bloß alles, was Ballinger selbst sagt: Hat ihn in Chiswick an Bord genommen, ans andere Ufer übergesetzt und wieder zurückgebracht. Und natürlich hat Ballinger auch noch Harkness auf seiner Seite, der beschwört, dass er die ganze Zeit bei ihm in Mortlake war. Das ist alles ungemein sauber und schwer zu erschüttern. Von Harkness wissen wir zwar, dass Ballinger ein guter Ruderer ist, aber wird Harkness das im Zeugenstand bestätigen, wenn ihm klar wird, was für Folgen es haben kann?«
»Wahrscheinlich nicht«, räumte Monk ein. Er nahm noch einmal den Zettel in die Hand, den Orme zwischendurch auf den Tisch gelegt hatte. »Wir müssen zusehen, dass das hier einen nachvollziehbaren Sinn ergibt. Der Mann, der Mickey Parfitt ermordet hat, hat das geschrieben, um ihn in den Tod zu locken. Na gut, Mickey hat das weiß Gott verdient.«
»Und ob.« Orme bedachte Monk mit einem entschlossenen Grinsen, und seine Augen verrieten Verständnis und eine Sanftmut, die man bei ihm vielleicht nicht unbedingt erwartet hätte. »Wir müssen den Mann aber trotzdem stellen.«
Wieder einmal fuhr Monk nach Chiswick, wo er mehr über das Boot und dessen Stammgäste erfahren wollte. Es war Ende Oktober und nun schon mehr als einen Monat her, seit man Mickey Parfitts Leiche am Corney Reach gefunden hatte. Es war merklich kälter geworden. Die letzten Echos des Sommers waren restlos verhallt, und das Laub fiel herab. Es hatte aufgehört zu regnen, doch in der Luft hing noch der Geruch nach Feuchtigkeit, und gelegentlich trieb Rauch von Kartoffelfeuern heran. Die späten Herbstblumen leuchteten in reichem Bronze und Lila, das schwerer und dunkler wirkte als das Blau und Gold des Frühlings. Die wenigen Stoppelfelder, an denen Monk vorbeikam, zeugten von eherner, fast barbarischer Schönheit und unverkennbar von Verfall.
Der Herbst war schon immer Monks Lieblingsjahreszeit gewesen. Bisweilen blitzten in ihm Erinnerungen an die wuchtigen, kargen Hügel von Northumberland auf, wo er, wie er wusste, geboren war, und das sich so sehr von der Üppigkeit und Leichtigkeit des Südens unterschied. Dort schien die Erde nur aus Knochen zu bestehen, ganz ohne Fleisch, und der Himmel wirkte schier endlos. Eines Tages würde er zurückkehren und sich ein Bild davon machen, ob das Land immer noch so schön war oder ob es nur die damalige Vertrautheit gewesen war, die ihre eigene Scheinrealität geschaffen hatte.
Jetzt musste er den Spuren des Schmutzes und der Gewalt im Leben von Mickey Parfitt und all jenen folgen, die dieser Mann gekannt, benutzt, betrogen und verraten hatte.
Es war Zeit, sich bis in die kleinsten Einzelheiten all dem zu stellen, was auf dem Boot geschehen war. Er hatte es immer wieder vor sich hergeschoben, vielleicht, weil er sich selbst ebenso wie die Opfer schützen wollte, doch jetzt musste er mit den Jungen persönlich sprechen – sanft und mit Nachdruck, aber auch unbarmherzig. Dazu benötigte er zwar die Leiterin des örtlichen Waisenhauses als Zeugin, damit die ganze Last nicht auf seinen Schultern allein ruhte, doch andererseits konnte er ihr diesmal nicht gestatten einzuschreiten. Erst jetzt begriff er, wie sehr ihm vor diesem Verhör gegraut und warum er beim ersten Mal Orme hingeschickt hatte, statt es selbst zu führen. Damals hatte er sich eingeredet, Orme wäre besser geeignet, weil er selbst Kinder hatte.
Zwei Tage sanften, endlos wiederholten Fragens waren nötig, und sie schmerzten ihn tiefer, als er für möglich gehalten hatte. Die Heimleiterin starrte ihn an, als wäre er der eigentliche Erzschurke, aber sie griff nicht öfter als zwei-, dreimal ein.
Seine Annahmen über Crumble erwiesen sich als zutreffend: Koch, Gefährte, Wäscher, Aufseher bei den Haushaltspflichten und Kerkermeister. Gelegentlich hatte er sich selbst am Missbrauch beteiligt, auch wenn die Jungen den Unterschied kaum erkannten. Ihre blassen, weichen und verängstigten Gesichter spiegelten mehr Elend als Zorn wider. Sie waren zu jung, um zu verstehen, dass ihr Leben dramatisch anders und viel schöner hätte sein können. Sie hätten vielleicht auch ohne Mickey Parfitt Hunger, Kälte und Erschöpfung kennengelernt, doch von dieser Art von Grauen hätten sie nichts gewusst. Sie hätten sicher schlafen können und bei Berührungen nur Zärtlichkeit erfahren oder in Ausnahmefällen eine Züchtigung, die in wohlmeinender erzieherischer Absicht erfolgte. Ihr ganzes Leben lang hätte ihnen nicht nur die Obszönität pervertierter Gelüste erspart bleiben können, sondern auch der Anblick von Männern, die andere verachteten, weil sie sich selbst zutiefst verachteten.
Jetzt war es Monk, der von unerträglichen Träumen verfolgt wurde. In den Nächten wachte er schmerzverkrümmt, schweißgebadet und mit tränenüberströmtem Gesicht auf. Dann lag er in der Dunkelheit da, starrte hinauf zu den schemenhaften Schattenmustern an der Decke, während die Bäume draußen sich im Wind regten. Er wollte Hester wecken, auch wenn er ihr nicht sagen konnte, warum, nur um nicht mit all dem allein zu sein, was ihm durch den Kopf jagte. Selbst wenn er sie nur berührte, ihre Wärme spürte …
Doch sie würde wiederum für ihn Schmerzen leiden. Um ihn zu verstehen, würde sie sich zumindest einen Teil der Alptraumbilder schildern lassen müssen – und wie konnte er ihr das antun? Wenn er dem Grauen Worte verlieh, würde er es in der Realität seines Bewusstseins wiedererstehen lassen: die weißen Gesichter, die verängstigten Augen, die kleinen Körper, die bei der Erinnerung aus Abscheu vor sich selbst und Angst vor neuen Schmerzen zu zittern begannen.
Und sie würde dabei an Scuff denken. Sie würde über all diese armen Kinder grübeln, und es wäre egoistisch von ihm, von ihr zu verlangen, diese Bürde gemeinsam mit ihm zu tragen, nur um den Druck, der auf ihm lastete, etwas zu mindern.
Hätte er ihr das alles überhaupt erzählen können, ohne zu weinen? Vielleicht nicht. Und sie konnte seine Wunde nicht heilen. Also musste er sie in seinem Inneren eingeschlossen halten. Hester würde immer wissen, dass sie existierte, denn auch sie hatte ja Phillips’ Boot gesehen. Sie brauchte wirklich nicht alles noch einmal aus seinem Mund zu hören, durch seine Augen zu sehen. Die Erinnerung war im Leben oft ein wertvolles Werkzeug, doch bisweilen auch ein Fluch.
Selbst wenn er jetzt aufstand, würde er Hester wecken. Er konnte natürlich so tun, als wäre nichts, doch sein Schmerz würde erkennbar sein. Hester würde ihn durchschauen.
Er drehte sich auf die andere Seite. Er würde noch ein wenig schlafen, und wenn er Glück hatte, würde er etwas anderes träumen.
Müde und zerschlagen, mit verkrusteten Augen und Kopfschmerzen wachte er am nächsten Morgen auf. Hester fragte ihn gar nicht erst, wie es ihm ging. Sie blickte ihn nur ernst und mitfühlend an. Worte waren nicht nötig.
Sie stieg aus dem Bett und ging in die Küche, wo sie am Herd die Asche durch den Rost schüttelte und ein neues Feuer entfachte. Damit es schnell warm wurde, schichtete sie gleich mehrere Scheite aufeinander. Dabei versuchte sie, jeden Lärm zu vermeiden, denn es war früh am Morgen, und sie wollte Scuff nicht wecken. Heute war Sonntag. Sie konnten den Tag zusammen daheim verbringen oder wie jede normale Familie in die Kirche gehen. Scuff tat das gern, weil dann jeder sah, dass er dazugehörte.
Hester reichte Monk eine Tasse brühend heißen Tee und frisches Toastbrot mit seiner Lieblingsmarmelade und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. Kein Laut war in der Küche zu hören, und das einzige Licht kam vom Gasleuchter an der Wand, der ein gelbes Glühen verbreitete, während alles außerhalb seines Scheins im Schatten lag.
Als Monk mehrere Minuten lang vor sich hin geschwiegen hatte, eröffnete Hester das Gespräch.
»Willst du wirklich herausfinden, wer Parfitt umgebracht hat?«, fragte sie und schob eine weitere Scheibe Toast zu ihm hinüber.
»Natürlich will ich das«, antwortete er erregt und blickte ihr ins Gesicht. Ihm war klar, dass er ehrlicher zu ihr sein musste. Selbst eine Halbwahrheit würde einer Barriere gleichkommen, mit der er nicht leben konnte. »Na ja, nicht ganz. Parfitt war niederträchtig, und wenn ich eines seiner Opfer wäre, würde ich den Mörder mit der größten Freude laufen lassen. Und wäre er von einem der Jungen oder auch von zweien oder dreien umgebracht worden, weiß ich nicht, ob ich sie verhaften würde. Könnte gut sein, dass ich dann versuchen würde, die Beweise zu unterschlagen.«
Hester schwieg.
Monk nahm die Scheibe Toast und bestrich sie mit Butter.
»Aber wenn es der Mann war, der hinter dem ganzen Treiben und wahrscheinlich auch hinter Phillips steckt, will ich ihn unbedingt stellen und dann auch hängen sehen.«
»Und das wirst du erst wissen, wenn du ihn gefunden hast?«, fragte sie.
Monk angelte die Nachricht aus seiner Innentasche, in der er sie, sorgfältig in einem Umschlag verstaut, bei sich trug. Sie war wie ein Talisman und eine Last, die ihn nach unten zog. Er entfaltete den Zettel und legte ihn in sicherem Abstand zu der Marmelade und der Teekanne auf den Tisch. »Das hier wurde von einem Erwachsenen verfasst, der ziemlich gebildet sein muss. Die Hand ist kräftig und ans Schreiben gewöhnt.«
Sie blickte ihm ins Gesicht, dann senkte sie die Augen auf das aus einem Bogen gerissene Papier. Schließlich nahm sie es in die Hand und las. »Aber du hast keine Vorstellung davon, wer es ist?«
»Nein. Das Papier ist von guter Qualität und der Bleistift ganz gewöhnlich. Der Umschlag ist von mir.«
Hester drehte den Zettel um. Das Schweigen schien sich auszudehnen, bis Monk die Uhr auf dem Kaminsims ticken hören konnte. Hesters Schultern waren ganz steif; ein winziger Muskel an ihrem vorgeschobenen Kinn zuckte.
»Hester?« Seine Stimme war leise, doch sie schien den ganzen Raum zu füllen.
Sie blickte zu ihm auf. »Das ist Lateinisch. Die Namen von Medikamenten. Das hier ist Teil einer Liste von Dingen, die wir regelmäßig für die Klinik bestellen.«
Monk blinzelte überwältigt.
»Du erkennst die Handschrift?«, fragte er.
»Es ist die von Claudine«, sagte Hester. »Aber sie könnte die Liste mehreren Leuten gegeben haben.«
»Margaret vielleicht«, sinnierte Monk. »Ist sie nicht diejenige, die das Geld aufbewahrt und solche Dinge kauft?«
»Ja, aber manchmal erledigt das auch Squeaky Robinson.« Hesters Stimme war gepresst, voller Kummer.
Monk beugte sich vor und legte seine Hand auf die ihre. Er wusste, wovor Hester Angst hatte. Squeaky war noch Betreiber eines Bordells gewesen, als sie zum ersten Mal mit ihm zu tun gehabt hatten. Wenn auch anfangs widerstrebend, schien er seine alten Gewohnheiten abgelegt zu haben, und die Veränderung wirkte durchaus echt. Er fand sogar eine gewisse Freude an seiner neuen Ehrbarkeit. Konnte er ihnen das alles nur vorgespielt haben, um seine dunkle Seite zu verbergen? Hatten sie sich zu sehr von der Hoffnung blenden lassen, um genauer hinzuschauen? Wie viel tiefer sank man, wenn man den Betrieb eines Bordells für Frauen aufgab und stattdessen in Pornografie mit kleinen Jungen investierte?
Monk befiel eine leichte Übelkeit. Er wusste, wie fest Hester von der Gutwilligkeit all der Leute in der Klinik überzeugt war, sie als Freunde und Freundinnen betrachtete, Menschen, die mit ihr eine Leidenschaft teilten und denen sie vertraute.
»Ich muss ihn fragen«, erklärte Monk. »Ich kann nicht …«
»Nein«, unterbrach sie ihn. »Ich mache das. Ich werde mich nicht von ihm übertölpeln lassen, das verspreche ich dir.«
»Hester …«
Sie stand auf. »Ich mache das. Heute noch. Jetzt gleich.«
»Es ist Sonntag.«
»Ich weiß.«
Er musterte ihre hochaufgerichtete Gestalt, beobachtete, wie sie mit steifen Bewegungen das Geschirr abräumte und ins Spülbecken stellte, um es abzuwaschen – enorm konzentriert, als befürchtete sie, in einem Moment der Geistesabwesenheit zu fest zuzupacken und einen Teller zu zerbrechen.
Vielleicht sollte er sie wirklich allein mit Squeaky sprechen lassen. Dann würde sie sich nicht so ohnmächtig, so hilflos fühlen.
»Ich werde vor der Klinik warten«, versprach er ihr.
Sie drehte sich zu ihm um und schenkte ihm einen flüchtigen Blick, etwas, das einem Lächeln glich. »Ich muss noch Brot, Butter und Marmelade für Scuff bereitstellen. Sobald ich ihn geweckt habe, bin ich so weit.«
Squeaky Robinson blickte von seinem Kassenbuch auf, als Hester in sein Zimmer trat und die Tür hinter sich schloss. »Sie sehen aus, als hätten Sie sechs Pence verloren und nich’ wiedergefunden«, bemerkte er griesgrämig. »Macht Ihre Hoheit Schwierigkeiten?«
»Nein, im Moment nicht«, antwortete Hester. Sie fischte den Umschlag aus ihrer Tasche, zog die Liste heraus und legte beides vor ihm auf den Tisch. Allerdings konnte er sie nicht an sich nehmen, denn sie stützte sich mit den Fingern auf dem Zettel ab.
Squeakys Gesicht verriet keine Regung. »Der Zettel is’ zerrissen«, sagte er. »So nützt er nix. Sagen Sie Claudine, dass sie die Liste neu schreiben soll.«
Hester ließ den Zettel los. »Ist das Claudines Handschrift?«
»Natürlich! Sind Sie blind geworden, oder was?« Er blinzelte sie an. »Sie sehen ja richtig krank aus. Was ist los?« Er wirkte beunruhigt, ja, ernsthaft um sie besorgt.
Sie drehte das Blatt um. Stirnrunzelnd beugte er sich darüber und überflog die Notiz. »Was, zum Henker, is’ das?«, murmelte er. »Es muss wohl was Ernstes sein, sonst wären Sie nich’ mit einer Miene wie ein geplatzter Stiefel reingeschneit. Wer soll nach …? Oh, Herrgott!« Die letzte Spur von Farbe wich aus seinem ohnehin fahlen Gesicht. »Es hat mit diesem verdammten Mord zu tun, richtig? Sie glauben doch nich’ im Ernst, dass Claudine da die Hände im Spiel hatte. Das is’ doch Unsinn! Sie müssen den Verstand verloren haben, wenn Sie glauben, dass sie über so was überhaupt Bescheid weiß! Halten Sie es wirklich für möglich, dass sie dort war und Mickey Parfitt abgemurkst hat? Mit Cardews Halstuch? Meinen Sie etwa, er hat es hier liegen lassen und sie …«
»Nein, Squeaky, das meine ich nicht. Aber haben Sie es womöglich getan?« In dem Moment, da sie das sagte, fiel ihr Hattie Benson ein, die jetzt in der Waschküche unten sicher untergebracht war und sich in Claudines Obhut befinden sollte, während Squeaky die Aufgabe hatte, jeden Fremden von ihr fernzuhalten.
In seinem Gesicht spiegelten sich widersprüchliche Emotionen: Zorn, Kränkung, Furcht, aber auch Sanftmut. »Nein, ich hab ihn nich’ umgebracht! Na ja, wahrscheinlich hab ich mir einen solchen Verdacht wegen meinem früheren Leben selber zuzuschreiben. Und wenn ich gewusst hätte, was dieser Parfitt für einer war, hätte es mich vielleicht sogar in den Fingern gejuckt. Aber dann wär ich nich’ so blöd gewesen, ihm ’ne Nachricht auf Papier aus diesem Haus zu schreiben!«
»Ist es denn von hier?«, fragte Hester.
Er studierte es noch einmal. »Nein. So viel Geld haben wir nich’ für Papier übrig. Selbst das Kassenbuch is’ nich’ so gut. Aber nur weil es von besserer Qualität is’, heißt das noch lange nich’, dass Claudine was damit zu tun hatte. Sie mag zwar altbacken sein, aber wenn man sie kennenlernt, weiß man, dass man sich auf sie verlassen kann. Sie hat Mut, und sie lügt einen nich’ an. Sie können ihr so was doch nich’ zutrauen. Das is’ einfach falsch!«
»Das habe ich auch nicht für möglich gehalten«, gab Hester zu.
Er zuckte zusammen. »Sie dachten wirklich, dass ich es war.« Das war eine Feststellung. »Hm, ich hätte es wohl tun können. Er hat nix Besseres verdient. Und wer immer die Schlinge zugezogen hat, ich würde Ihnen bestimmt nich’ helfen, ihn zu fangen. Aber ich war’s nich’.«
Sie glaubte ihm.
»Danke«, sagte sie leise. »Morgen werde ich Claudine fragen, ob sie sich daran erinnert, das geschrieben zu haben, und was sie damit gemacht hat.«
»Aber lassen Sie sie bloß nich’ merken, was Sie ihr zugetraut haben!«, warnte Squeaky. »Das würde sie schrecklich verletzen, und das hat sie nich’ verdient.«
Unwillkürlich musste Hester lächeln. Sie konnte sich noch genau erinnern, wie Claudine und Squeaky einander am Anfang abgelehnt hatten. Sie hatte ihn für obszön gehalten, und zwar in physischer wie in charakterlicher Hinsicht. Er wiederum hatte sie als arrogant, nutzlos und kalt empfunden; eine Frau mittleren Alters mit beschränktem geistigen Horizont und zu keiner Leidenschaft fähig. Seine Haltung hatte sich erst geändert, als sie voller Angst und auf eigene Gefahr ihre verrückte Jagd nach Phillips’ pornografischen Fotografien gewagt hatte. Und seit er sie mit einer eines Romans würdigen Rettungsaktion aus den von zwielichtigen Gestalten bevölkerten Gassen des Armenviertels geborgen hatte, waren sie fast so etwas wie Freunde.
»Sie wird nichts dergleichen von mir hören«, versprach Hester.
Am Montagmorgen traf Hester früh in der Klinik ein und wollte gleich zu Claudine, doch eine kurze, geschäftsmäßige Besprechung mit Margaret in der Vorratskammer hielt sie auf.
»Unsere Waschmittel gehen zur Neige«, warnte Margaret. »Ich war gerade in der Waschküche unten und habe den Mädchen ins Gewissen geredet, dass sie sie etwas weniger großzügig verwenden sollen. Wir können es uns nicht leisten, derart oft neue zu kaufen.«
»Danke«, sagte Hester knapp. »Gibt es sonst noch was?«
Margaret zögerte. Etwas schien ihr noch auf der Zunge zu liegen, doch dann überlegte sie es sich anders und ging hinaus. Hester hörte ihre Schritte, forsch und entschlossen, auf dem Holzboden.
Sie traf Claudine im Medikamentenzimmer an, wo sie ihr sogleich das ominöse Papier zeigte, das sie so hielt, dass Claudine nur die Seite mit der Liste sehen konnte.
Claudine studierte die Einträge stirnrunzelnd und blickte schließlich Hester in die Augen. »Was ist denn damit passiert? Das habe ich Margaret gegeben, und sie hat mir alles besorgt. Diese Liste ist schon mehrere Wochen alt.«
Hester fühlte sich plötzlich mutlos und erschöpft. »Wie viele Wochen?«
»Ich weiß nicht. Vier, vielleicht fünf. Warum? Das ist jetzt doch wohl kaum noch von Belang.«
Hester ließ nicht locker. »Sind Sie sicher, dass Sie dieses Papier Margaret gegeben haben?«
»Natürlich bin ich sicher.«
»Und hat sie Ihnen tatsächlich alles besorgen können?«
»Ja. Hätte etwas gefehlt, hätte ich es ihr noch einmal aufgeschrieben. Aber das war nicht nötig. Was soll das, Hester? Vermissen Sie etwas?«
»Nein, überhaupt nicht. Es hat nichts mit der Klinik zu tun.«
»Das verstehe ich nicht.« Claudines Gesicht war ein einziges Fragezeichen.
»Das ist auch besser so«, sagte Hester sanft. »Es ist die Nachricht auf der Rückseite, die wichtig ist, nicht das hier. Was ist denn aus der Liste geworden, als Margaret Ihnen das Bestellte beschafft hatte?«
»Ich habe keine Ahnung. Nachdem ich ihr den Zettel gegeben hatte, sah ich ihn nie wieder. Wozu auch?«
»Sie haben die eingegangenen Waren nicht auf der Liste abgehakt?«, regte Hester an.
»Ich hatte ja die Quittungen des Apothekers. Das war alles, was ich fürs Kassenbuch brauchte.«
»Sind Sie sicher, dass Sie die Liste nie wieder zu Gesicht bekommen haben?«
»Nicht bis heute. Warum?«
»Danke.« Hester schenkte ihr ein winziges Lächeln, das wohl eher einer Grimasse glich, verließ den Raum und schloss leise die Tür.
Vor dem Haus gab sie die Liste Monk zurück.
Er wartete.
»Das war Claudines Einkaufsliste für Margaret«, klärte sie ihn auf. »Die hat sie ihr aber nie zurückgegeben. Claudine hat dann die Preise den Quittungen des Apothekers entnommen.« Sie schluckte schwer. »Ich wünschte, es wäre jemand anders.«
»Ich weiß«, murmelte Monk. »Es tut mir leid. Aber ich kann das nicht auf sich beruhen lassen. Wenn es Ballinger war, muss ich ihn trotz allem überführen, nicht Parfitts wegen, sondern um der Kinder willen.«
Hester nickte. »Und Oliver wird ihn verteidigen. Er kann das nicht ablehnen.« Sie beobachtete Monks Gesicht. »Wir werden unumstößliche Beweise vorlegen müssen.«
Rupert zog die Tür des Frühstückszimmers zu und starrte Monk ins Gesicht. Obwohl er wieder ein freier Mann war, wirkte er immer noch, als hätte er sich noch nicht vollständig von dem Schock über seine Verhaftung erholt. Doch er zeigte sich gefasst und höflich und war wie immer tadellos gekleidet.
»Was kann ich für Sie tun, Monk?«, erkundigte er sich.
Monk kam sich auf einmal tölpelhaft vor, was ihn ins Hintertreffen brachte.
»Verzeihen Sie mir. Ich muss Sie um etwas bitten, das extrem unerfreulich ist, aber ich kann es mir nicht leisten, diesen Fall nicht zu verfolgen.«
Rupert zeigte sich überrascht. »Wirklich? Macht es Ihnen so viel aus, dass Parfitt tot ist?«
»Im Gegenteil! Wenn das alles wäre, wäre ich entzückt darüber, meine Zeit wichtigeren Angelegenheiten widmen zu können. Aber ich will den Mann stellen, der hinter den Erpressungen steckt.«
Ein winziges Lächeln flackerte über Ruperts Gesicht, das allerdings nicht Belustigung ausdrückte, sondern Selbstkritik. »Soll das eine Warnung sein, dass ich immer noch angreifbar bin? Ich versichere Ihnen: Dessen bin ich mir bewusst.«
»Davon gehe ich aus, Mr Cardew«, entgegnete Monk. »Und das ist auch nicht der Grund, warum ich gekommen bin.«
»Oh?« Rupert war verblüfft, aber nicht beunruhigt.
»Ich muss sehr viel mehr von Ihnen erfahren, als Sie mir bisher gesagt haben«, erklärte Monk. »Es tut mir leid.« Er meinte seine Entschuldigung aufrichtiger, als Cardew das verstehen oder glauben konnte.
»Aber mehr weiß ich nicht«, erwiderte Rupert schlicht. »Ich habe keine Ahnung, wer Parfitt ermordet hat. Um Himmels willen, Mann, glauben Sie etwa, ich hätte es Ihnen nicht längst gesagt, wenn ich es wüsste?«
»Selbstverständlich – wenn Sie begriffen oder gehofft hätten, dass ich Ihnen glauben würde. Ich denke, dass Arthur Ballinger der Täter ist. Wenn nicht persönlich, dann indirekt, indem er einen von Parfitts eigenen Männern für den Mord benutzte.« Cardew erhob sich vor Überraschung; Monk ging nicht darauf ein. »Doch dafür muss ich einen Beweis erbringen, der über jeden vernünftigen und sogar jeden halbwegs vernünftigen Zweifel erhaben ist. Wenn man Ballinger anklagt, wird Oliver Rathbone ihn verteidigen, und ich habe erlebt, wie Rathbone sogar für Jericho Phillips einen Freispruch herausgeholt hat. Was meinen Sie, wie hart er dann erst für seinen Schwiegervater kämpfen wird?«
Ruperts Lippen strafften sich, und seine Mundwinkel sanken nach unten. »Ich verstehe. Aber ich weiß trotzdem nichts.«
»Sie wissen über das Treiben auf dem Boot Bescheid«, fuhr Monk unerbittlich fort.
Rupert errötete. »Ich weiß nichts über diese Geschäfte.«
»Das habe ich auch gar nicht von Ihnen erwartet. Ich kann mir einiges durchaus selbst zusammenreimen. Aber ich muss wissen, wer seine Kunden waren, wie die Erpressungsgelder gezahlt wurden, um welche Beträge es dabei ging, welcher Natur die Darbietungen genau waren und wer sie sich anschaute.«
Rupert wurde kreidebleich.
Auch das ignorierte Monk. »Und ich muss die Hintergründe des Selbstmords von vor wenigen Monaten erfahren. Wer war es, und was hat dazu geführt?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen!« Rupert stöhnte entsetzt. »Es wäre … Verrat!«
»Ich habe schon geahnt, dass Sie das so sehen würden«, sagte Monk leise. »Sie würden – in einem gewissen Sinne – die anderen Männer verraten, denen der Missbrauch von Kindern zur Unterhaltung diente.«
Er sah, wie Rupert zusammenzuckte und ihm die Schamesröte ins Gesicht stieg. Das überraschte ihn nicht. So etwas tat weh, aber an den Tatsachen änderte das nichts. »Wenn Sie mir andererseits nichts sagen, verraten Sie die Kinder auf dem Boot und all die anderen, die in einer ähnlichen Situation sind. Und vielleicht auch den besseren Teil Ihrer selbst.«
Rupert schüttelte langsam den Kopf. »Sie wissen nicht, was Sie verlangen …«
»Wirklich nicht?« Monk hob die Augenbrauen. »Glauben Sie, Ihre gesellschaftliche Klasse ist die einzige, in der man Loyalität gegenüber seinen Freunden empfindet oder gegenüber Menschen, an die man sich durch geheime Schwüre gebunden hat, um ihre und die eigene Schande zu verbergen? Sie schämen sich dessen doch, nicht wahr?«
Zorn flammte in Ruperts Augen auf. »Natürlich schäme ich mich! Sie …« Er suchte verzweifelt nach Worten, fand aber keine.
»Und Sie glauben, dass Verlegenheit und eine Entschuldigung genügen, um die Dinge wieder ins Lot zu bringen?«
»Nein! Ich werde es bis ans Ende meines Lebens bedauern!« Rupert schrie fast. »Aber ich kann es nicht ungeschehen machen.«
»Gewissensbisse sind sehr gut«, erwiderte Monk gelassen. »Aber sie genügen nicht. Geld ebenso wenig. Wenn Sie so etwas wie Erlösung suchen, müssen Sie mir dabei helfen, auszuschließen, soweit das möglich ist, dass solche Verbrechen wieder begangen werden.«
»Wie oft muss ich es Ihnen denn noch sagen? Ich weiß nicht, wer Parfitt ermordet hat!«, rief Rupert verzweifelt. »Es hätte durchaus Ballinger sein können, aber ich habe keine Ahnung, wie ich Ihnen helfen könnte, es zu beweisen. Ich habe ihn noch nie gesehen und würde ihn auch nicht erkennen, wenn wir uns mal über den Weg gelaufen wären. Ich kann mich nicht einmal erinnern, was an dem bewussten Abend gegen Ende geschehen ist, außer dass es ein Alptraum war. Ihnen die Namen meiner Freunde zu nennen, die dort waren, wird nichts bewirken, höchstens, dass ich sie bloßstelle und mich selbst zum Ausgestoßenen mache.«
»Richtig, das ist der Preis«, erwiderte Monk. »Ist ihre Freundschaft Ihnen derart viel wert?«
»Seien Sie doch kein verdammter Narr!« Ruperts Stimme wurde vor Wut und Angst wieder laut und schrill. »Jeder wird mich verachten, weil ich Freunde ans Messer geliefert habe, nicht nur die betroffenen Männer, sondern auch ihre Angehörigen und Freunde.«
Doch Monks Entschlossenheit wuchs und verhärtete sich zunehmend. Er empfand sie wie einen kalten grauen Stein in seinem Magen. »Dann erzählen Sie mir von den ›Darbietungen‹.« Das letzte Wort hob er besonders hervor. »Wo haben Sie sich getroffen? Fuhren Sie getrennt oder zusammen nach Chiswick? Teilten Sie sich vielleicht einen Hansom? In Ihren eigenen Kutschen sind Sie ja wohl kaum gefahren. Die hätte man schließlich erkennen können, und der Kutscher brauchte diesbezüglich ja auch nicht unbedingt Bescheid zu wissen.«
»Meistens getrennt«, knurrte Rupert. »Aber was hat das mit Ballinger zu tun? Oder sonst irgendwas?«
Monk ging nicht auf die Frage ein. »Wie gelangten Sie vom Ufer zu Parfitts Boot?«
»Jemand hat uns hingerudert. Manchmal dieser widerwärtige kleine Kerl mit den Schielaugen …«
»’Orrible Jones?«
»Wenn Sie es sagen. Oder jemand anders. Warum?«
Auch diese Frage ignorierte Monk. »Gehörte das zu einer Vereinbarung? Woher wussten Sie, dass er kein üblicher Fährmann war? Woher wusste er, wer Sie waren und dass Sie zum Boot wollten und nicht zum anderen Ufer? Woher wusste er, dass Sie einer von Parfitts Kunden waren? Sie hätten ja auch Polizist sein können.«
»Aber es ist ja nicht illegal«, murmelte Rupert kleinlaut.
»Nur unmoralisch?«, fragte Monk sarkastisch. »Ist das der Grund, warum Sie es oben in Chiswick tun, meilenweit von zu Hause entfernt, in der Nacht und auf dem Fluss?«
Rupert blitzte ihn an. »Ich habe nicht gesagt, dass ich stolz darauf bin, nur dass es die Polizei nichts angeht.«
»Eigentlich ist Homosexualität sehr wohl illegal«, belehrte Monk ihn.
»Wir haben niemanden angefasst, weder Jungen noch Mädchen.«
»Sie haben nur anderen Leuten dabei zugeschaut.« Monks Stimme zitterte vor Abscheu, und die Wucht der Emotionen schnürte ihm regelrecht die Kehle zu. »Und Kinder zu foltern und gefangen zu halten ist ebenfalls gegen das Gesetz.«
Ruperts Gesicht war dunkelrot angelaufen, und seine Augen brannten. Vor Zorn und vielleicht auch wegen der Demütigung.
Unbarmherzig fuhr Monk fort: »Einmal abgesehen vom Gesetz, würde es Ihnen gefallen, zur Unterhaltung einer Horde besoffener Lustmolche zum analen Geschlechtsverkehr mit einem anderen Mann gezwungen zu werden? Ist Ihnen das selbst passiert, als Sie fünf, sechs Jahre alt waren? Und haben Sie geschrien und geblutet? Ist das der Grund, warum …?«
»Aufhören!«, brüllte Rupert mit sich überschlagender Stimme. »Na gut! Ich verstehe. Es war bestialisch, und ich werde mit meiner Scham bis ans Ende meines Lebens dafür zahlen!«
»Und außerdem werden Sie mir sagen, wer noch dort war. Jeder Mann, dessen Gesicht Sie erkannten. Ich kann Sie nicht deswegen verhaften, aber ich kann Sie nach weiteren Informationen ausfragen. Ich will den Dreckskerl hinter dem Ganzen hängen sehen, und dafür werde ich jedes perverse Schwein, das ich kriegen kann, benutzen.«
»Werden Sie mit ihnen sprechen?«, flüsterte Rupert entsetzt.
»Wenn ich muss. Und Sie werden mir Schritt für Schritt beschreiben, was geschehen ist, jeden schmutzigen Akt, jeden Schrei, jede Verletzung und Erniedrigung, jedes verängstigte, weinende Kind, das zu Ihrer Belustigung gefoltert wurde. Auch ich werde Alpträume haben, vielleicht mein Leben lang, aber ich werde Ihren Freunden eine Darstellung von all dem präsentieren, damit sie nicht einen Moment daran zweifeln können, dass ich über alle Geschehnisse im Bilde bin, als wäre ich selbst dabei gewesen.« Er schnappte nach Luft. Erst jetzt merkte er, dass er am ganzen Leib zitterte und schweißbedeckt war. »Und die Geschworenen werden genau erfahren, wofür die ehrenwerten Herren so viel Geld gezahlt haben, um es zu verbergen. Vielleicht werden auch sie schreiend aufwachen. Mit Sicherheit werden sie vom selben leidenschaftlichen Wunsch wie ich beseelt sein, wenigstens ein paar Mitglieder dieses obskuren Gewerbes loszuwerden. Und Sie werden mir dabei helfen, Mr Cardew, ob aus freien Stücken oder nicht. Ich könnte mir vorstellen, dass Sie es wenigstens um Ihres Vaters willen lieber hier und jetzt unter vier Augen tun wollen, solange es noch eine freiwillige Angelegenheit ist und Sie sich so zumindest teilweise reinwaschen können. Glauben Sie mir, wenn Sie an mir zweifeln und ich Sie zwingen muss, vor den Geschworenen auszusagen, wird es noch viel schlimmer.«
Rupert starrte ihn an, in den Augen die Niederlage und ein so abgrundtiefes Elend, dass Monks Entschlossenheit einen Moment lang nachließ. Doch dann dachte er an Scuff, an das Vertrauen, das gerade am Entstehen war, und der Moment des Schwankens war vorbei.
»Jetzt«, forderte er Rupert auf, »in allen Einzelheiten. Geben Sie mir das Gefühl, selbst dabei zu sein.«
Mit gesenktem Kopf begann Rupert stockend zu berichten. Immer noch stand er regungslos in dem Frühstückszimmer mit seinem von der Sonne ausgebleichten Teppich und den vielen alten Büchern. Ruperts Stimme war leise und belegt. Oft unterbrach er sich, sodass Monk ihn auffordern musste weiterzureden. Monk hasste sich selbst für sein Verhalten, kam er sich dabei doch vor, als prügelte er auf ein Tier ein. Er wusste, dass er sich danach befleckt fühlen würde. Doch er ließ nicht locker, bis Rupert ihm das gesamte widerwärtige Gewerbe in allen Details geschildert hatte. Sein Gesicht war aschfahl, fleckig und feucht von Tränen. Vielleicht würde auch er diese Tortur nie vergessen und nicht mehr der sein, der er bis dahin gewesen war.
»Und der Mann, der daran zerbrach?«, fragte Monk. »Derjenige, der sich selbst das Leben nahm, der sich in dem kleinen Boot erschoss?«
»Tadley«, flüsterte Rupert. »Er konnte nicht mehr zahlen. Ich kannte ihn nicht persönlich, aber ich habe davon gehört.«
»Trieb Parfitt ihn absichtlich so weit? Als abschreckendes Beispiel für die anderen, um ihnen zu zeigen, was passiert, wenn man seine Forderungen nicht bedient?«
»Es waren keine Forderungen!«, blaffte Rupert. »Es war Erpressung! Ich habe es Ihnen doch gesagt … Ich erfuhr erst danach davon. Aber auch wenn ich es gewusst hätte, hätte ich nicht für ihn zahlen können.«
»Was war es demnach? Eine Fehleinschätzung seitens Parfitts? Ist Selbstmord gut fürs Geschäft oder schlecht?«
Rupert schoss einen hasserfüllten Blick auf ihn ab. Das traf Monk tiefer, als er erwartet hätte; er staunte darüber, welchen Schmerz es auslöste. Vielleicht lag das daran, dass er genau wusste, wie recht der andere Mann hatte.
»Es ist eine heilsame Erinnerung daran, dass man seine Schulden bezahlen soll, statt sie anwachsen zu lassen«, antwortete Rupert kalt. »Und es ist schlecht für das Geschäft. Andererseits ist Mord noch schlimmer. Ein Kopfschuss auf einem Boot ganz allein mitten in der Nacht lässt sich wohl kaum als Unfall darstellen. Nicht, dass Unfälle gut für die Geschäfte wären.«
»Erzählen Sie mir von Tadley«, forderte Monk ihn auf.
»Ich glaube, er war ein Familienmensch, aber unglücklich, einsam. Ich weiß nicht, ob er eine besondere Vorliebe für Jungen hatte. Ich hatte eher das Gefühl, dass er von der Aufregung naschen wollte, in Gefahr zu sein, um sich mit jeder Faser lebendig zu fühlen. Ich weiß, das klingt …«
»Nein«, unterbrach ihn Monk. »Es klingt wie bei vielen Menschen, deren Leben erstickt wird von Überdruss, Pflichten und dem Versuch, den Erwartungen der anderen gerecht zu werden, bis man darin gefangen ist. Ohne Träume stirbt man.«
Rupert starrte ihn verblüfft an. »Es tut mir leid«, sagte er leise. »Ich habe Sie falsch eingeschätzt. Ich dachte, Sie wären …«
»Ich weiß«, unterbrach ihn Monk mit einem düsteren Lächeln. »Ein Mensch ohne Teufel im Inneren, ohne den Schimmer einer Ahnung davon, was er sein könnte. Aber Sie täuschen sich.«
Ruperte nickte. Fast grinste er dabei.
Monk biss sich auf die Lippe. »Nennen Sie mir nun die Namen der anderen Männer, die zum Boot hinausgefahren sind.«
Rupert fixierte ihn immer noch, doch der Zorn war aus seinem Gesicht gewichen.
»Bitte«, sagte Monk.
Rupert zog eine Liste aus der Innentasche seines Rocks und reichte sie Monk. Dieser übertrug sogleich die darauf stehenden Namen und Adressen in seinen Notizblock.
»Danke.« Monk seufzte, als er fertig war. »Diesmal kriege ich ihn.« Vielleicht war es gefährlich, sich so weit aus dem Fenster zu lehnen, denn er gab ja praktisch ein Versprechen ab, aber er wollte es endlich wagen, sich selbst in die Pflicht zu nehmen. Und er fühlte sich gut dabei!
Monk nahm sich vor, die Spuren zurückzuverfolgen, die Ballinger am Abend vor Parfitts Tod hinterlassen hatte. Dazu musste er die damals herrschenden Bedingungen so genau wie nur möglich nachstellen.
Der erste Teil seiner Reise spielte dabei keine besondere Rolle; worauf es ankam, war die Rückfahrt. Gleichwohl wählte er als Ausgangspunkt die Straße von Ballingers Wohnhaus und brach zu der Uhrzeit auf, zu der Ballinger angeblich das Haus verlassen hatte.
Eines konnte er natürlich nicht mehr nachstellen: das Tageslicht. Im September hatte zu dieser Stunde vermutlich gerade die Abenddämmerung begonnen, und es war wärmer gewesen. Aber das änderte nichts an der Uhrzeit. Die Fahrt musste Ballinger angesichts des schöneren Wetters allerdings leichter und darum schneller vorgekommen sein.
Nach wenigen Minuten Wartezeit stieg Monk in einen Hansom und machte es sich auf dem Sitz für die lange Fahrt nach Chiswick bequem. Damit ihm nicht langweilig wurde, ging er im Geiste noch einmal alles durch, was er bisher in Erfahrung gebracht hatte, nahm sich einzelne Elemente heraus und versuchte, sie in ein Gesamtbild einzufügen, das allen Anfechtungen in Form von logisch begründbaren Argumenten und Zweifeln standhalten würde. Doch trotz seiner Bemühungen blieb dieses Bild allzu blass, voller Widersprüche und möglicher Alternativen, die auf ganz andere Erklärungen hinausliefen.
Durchfroren und verdrießlich, die Beine vom langen Sitzen verkrampft, kam er in Chiswick an. Nachdem er den Kutscher bezahlt hatte, überquerte er die Straße zum Kai. Inzwischen war es stockdunkel, und vom Wasser wehte ein böiger Wind herüber. So tief im Landesinneren roch die Luft nicht mehr nach Salz, sondern vor allem nach Tang und Schlamm. Die Ebbe hatte eingesetzt, und bis zum Tiefststand waren es noch etwa zwei Stunden.
Am Himmel rasten die Wolken vorüber und enthüllten für ein paar Augenblicke den etwa halb vollen Mond, der flüchtig sein Licht aufs Wasser warf. Etwa zwanzig Meter von Monk entfernt näherte sich eine Fähre. An Deck saßen zwei junge Männer. Über die kurze Strecke trieb ihr glückliches und mehr als nur ein bisschen betrunkenes Gelächter zu Monk herüber.
Monk wartete, bis das Boot angelegt hatte, dann ging er zum Steg hinunter und bat den Fährmann, ihn überzusetzen. Am anderen Ufer angekommen bedankte er sich bei ihm, zahlte und lief zur Straße hinauf, um nach einem Hansom Ausschau zu halten. Das erforderte mehr Zeit als erwartet und eine weitere kurze Wegstrecke zu Fuß. Dennoch erreichte er Mortlake ungefähr um die gleiche Zeit, wie sie Ballinger für seine Ankunft bei Harkness genannt hatte.
Jetzt musste er über zwei Stunden bis zu der Uhrzeit warten, zu der Ballinger laut Harkness die Heimreise angetreten hatten. Monk verbrachte sie damit, mit einer Laterne am Ufer entlangzuschlendern, die auf Gleitbahnen oder an den Anlegestellen ruhenden Boote zu betrachten und abzuschätzen, wie lange es dauern mochte, eines davon flottzukriegen, und wie nass man dabei wohl wurde. Als er zum Ufer spähte, bemerkte er das mit einem leisen Knarzen sanft im Wind schaukelnde Schild des Bull’s Head. Er beschloss, dort einzukehren und ein Pint Ale sowie ein Sandwich zu genießen.
Im Gasthaus befragte er dann den Wirt beiläufig nach den Bedingungen, wenn man ein Boot mieten wollte, nur um ein bisschen über den Fluss zu rudern, und eigentlich nicht angeln, sondern für sich sein und die Stadt mit ihrer Hektik und ihrem Lärm vergessen wollte. Das schien der Mann einigermaßen merkwürdig zu finden, doch immerhin nannte er Monk ein halbes Dutzend Leute, die ihm gerne helfen würden.
Monk bedankte sich und ging. Tatsächlich trieb er ein leichtes, schnelles Boot auf, das er für zwei Shilling mieten konnte, und versprach, es vor Tagesanbruch zurückzubringen. Wenn die Bootsverleiher ihn für exzentrisch hielten, äußerten sie dies jedenfalls nicht.
Danach lief er wieder zu Harkness’ Haus zurück, wo er kurz vor dem frühest möglichen Zeitpunkt eintraf, zu dem Ballinger die Rückreise angetreten haben konnte. Als Erstes blickte er sich um. Niemand war in Sicht, aber das hatte er erwartet. Ein Zeuge wäre in der Tat unverschämtes Glück gewesen!
Sein nächster Schritt bestand darin, zügig in Richtung Bull’s Head zu marschieren. Der Wind wehte jetzt heftiger von Westen und trug den Geruch nach Regen heran. Monk stellte sich das Marschland und die Felder hinter dem Fluss vor, feuchte Erde, die vom Pflug gewendet wurde; noch weiter dahinter die Wälder, wo das schwere Laub allmählich herabfiel und die Beeren sich rot färbten; er hatte schon fast den scharfen Geruch von Holzrauch in der Nase und die Krähen vor Augen, die hoch droben in den Wipfeln den milden Winter überdauern wollten.
Wie mit dem Verleiher vereinbart, lag das Ruderboot beim Bull’s Head. Nach kurzem Hantieren gelang es ihm, es die Gleitbahn hinunter ins Wasser zu befördern. Er fand die Ruder auf dem Boden des Bootes, steckte sie in die Gabeln, bugsierte das kleine Gefährt fort vom Uferbereich in die Mitte des Flusses und hielt auf den Corney Reach zu.
Allerdings war die Tide heute gegen ihn. Die Gezeiten hatten gewechselt, während er im Bull’s Head gesessen hatte. Später würde er überprüfen müssen, wann in der Nacht von Parfitts Tod die Flut gekommen war. Das würde natürlich einen Unterschied bedeuten, auch wenn dieser nicht notwendigerweise gewaltig sein musste, es sei denn, das Wasser hatte ausgerechnet zum Zeitpunkt des Mordes seinen Höchst- oder Tiefststand erreicht, was er jedoch für unwahrscheinlich hielt. Aber auch solche Überlegungen gehörten zu den winzigen Details, bei denen Monk jeden denkbaren Fehler ausschließen musste, um nicht am Ende eine unangenehme Überraschung zu erleben. Immerhin war es so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit, dass er auf dem Rückweg nach Mortlake mit der Strömung rudern würde.
Es tat gut zu spüren, mit welcher Kraft das Boot, zumal von der Strömung unterstützt, über das Wasser glitt. Es war still hier draußen. Bis auf das Flüstern der Bugwelle und das Knarzen der Rudergabel bei den Bewegungen der Riemen war kein Laut zu hören. Ab und an erhob sich aus den Bäumen längs des Ufers der Ruf eines kleinen Vogels. Einmal bellte in der Ferne ein Hund, ohne dass er sich genau orten ließ.
Unerwartet früh tauchte der dunkle Rumpf von Parfitts Boot vor Monk auf. Er hatte inzwischen jedes Zeitgefühl verloren. Er zog die Ruder ein, und während er das Boot betrachtete, stellte er sich vor, wie es an Bord wäre. Wie lange würde es dauern, an den über die Seiten hängenden Seilen hochzuklettern? Sollte er es schätzen?
Aber Rathbone würde ihm präzise Fragen stellen. Sein Experiment würde jede Aussagekraft verlieren, wenn er zugeben müsste, es nicht durchgeführt zu haben. Verflucht!
So legte er sich wieder in die Riemen und ruderte näher heran. Was, wenn die Seile nicht mehr da waren? Dann müsste er das ganze Experiment wiederholen, sobald Ersatz beschafft worden war!
Inzwischen befand er sich unmittelbar vor dem Boot. Zu sehen war von seiner Warte aus so gut wie nichts. Zwar schimmerte eine Laterne an Deck, doch sie diente nur als Warnlicht, damit andere Boote es nicht rammten. Anscheinend kümmerte sich ’Orrie darum, dass sie ohne Unterbrechung brannte. Sie sorgte für nicht mehr als ein sanftes Glühen und warf nicht das geringste Licht auf die steilen Bordwände.
Monk streckte die Hände aus und ertastete einander überlappende Holzplanken. Vorsichtig zog er sich mitsamt dem heftig unter seinen Füßen schwankenden Ruderboot daran entlang. Nach etwa drei Metern stieß er auf die herabhängenden Seile. Um eines davon band er die Fangleine seines Bootes. Unbeholfen kletterte er dann nach oben und schürfte sich die Haut auf den Knöcheln ab, ehe er sich schließlich aufs Deck schwang.
Mehrere Sekunden lang blieb er stehen und versuchte abzuschätzen, wie lange es dauern würde, jemanden niederzuschlagen, dann das Halstuch um seinen Hals zu schlingen und es so lange zuzuziehen, bis das Opfer erstickt war, um es schließlich über die Seite in ein Boot zu verfrachten oder direkt ins Wasser zu werfen. Zur Veranschaulichung tat er so, als werfe er einen Ast über Bord. Dabei fiel ihm ein, dass es dem Täter deutlich schwerer gefallen wäre, auf das Boot zu klettern, wenn er sich den Ast oder Stock, mit dem er Parfitt niedergeschlagen haben musste, um die Schultern gebunden hatte. Diesen Umstand würde er berücksichtigen müssen.
Da Parfitt aber den Besucher, vielleicht Ballinger, erwartet hatte, hatte er bestimmt eine Strickleiter hinabgelassen. Anders ging es ja gar nicht bei Gästen, die in teuren Anzügen und Schuhen an Bord kamen. Niemand fiel gern ins Wasser, schon gar nicht, wenn man dann einen ganzen Abend lang bis auf die Knochen durchnässt war, fror und nach Flussschlamm stank.
Ferner musste er sicherstellen, dass Ballinger nicht unter einer Verletzung oder Muskelschwäche litt, die ihm das Klettern unmöglich machte. Denn sonst würde Rathbone ihm das genüsslich unter die Nase reiben. Mit einem schiefen Grinsen stellte er sich vor, wie er all seine Anhaltspunkte den Geschworenen schilderte, nur um dann erleben zu müssen, wie Rathbone irgendeinen Arzt aus dem Ärmel zauberte, der schwor, dass Ballinger keinen Arm über Schulterhöhe heben konnte.
Vom anderen Ufer hörte er den Ruf einer Eule, woraufhin ein kleines Tier mit einem kaum vernehmbaren Geräusch ins Wasser glitt.
Es war Zeit für ihn, wieder in sein Boot zu klettern, nach Mortlake zurückzurudern und einen Hansom zur Anlegestelle für die Fähre zu finden. Als er schließlich am Kai auf seine Fähre wartete, stellte er fest, dass er insgesamt fünf Minuten weniger benötigt hatte als Ballinger laut den Angaben seines damaligen Schiffers in der Nacht des Mordes.
Monk empfand eine geradezu kindliche Euphorie über den kleinen Sieg, den das darstellte. Er hatte bewiesen, dass es möglich war, all die Wege zurückzulegen und dazwischen einen Mord zu begehen. Was fehlte, war der Beweis, dass es so gewesen war.
Am nächsten Tag suchte er Winchester auf, den Anwalt, der die Anklage gegen Ballinger führen würde, sollte es zum Prozess kommen.
»Ah! Sie sind also Monk.« Winchester war ein groß gewachsener Mann, zwei, drei Zentimeter größer als Monk, breitschultrig und mit einer Mähne aus glattem, schwarzem Haar, das großzügig mit Grau durchwirkt war. Sein Gesicht hatte mit der langen Nase und den sehr dunklen Augen etwas Falkenartiges. Der vielleicht auffälligste Aspekt an ihm war der bereits in seinen Zügen zu erkennende Humor, der so dicht unter der Oberfläche saß, dass man meinen konnte, dieser Mann würde jeden Moment einen Scherz machen.
»Winchester«, stellte er sich vor. »Nehmen Sie Platz.« Er deutete auf einen durchgesessenen, bequem aussehenden Lederstuhl. Er selbst hockte halb auf der Kante seines Schreibtischs. »Sie haben Beweismittel? Schießen Sie los.«
Monk berichtete ihm akribisch über seine Recherchen, wobei er sich auf das beschränkte, was er belegen konnte.
»Sehr schön«, lobte Winchester am Ende und schürzte die Lippen. »Ich sehe, dass Sie nicht vergessen haben, wie Sie zuletzt Prügel von Oliver Rathbone bezogen.« Er sagte das, ohne sich zu entschuldigen, aber in seinen Augen schimmerte Galgenhumor. »Diesmal müssen wir alles richtig machen.«
»Das habe ich vor«, versicherte Monk ihm. Dann schilderte er Detail für Detail seine Wiederholung von Ballingers Fahrt nach Mortlake, genau so, wie dieser es in seiner Aussage angegeben hatte, einschließlich der freien Zeit, in der er Parfitt hätte töten und wieder zurückfahren können.
Winchester lachte nicht, doch seine Augen verrieten, wie sehr ihn das amüsierte.
»In seiner Jugend war Ballinger ein hervorragender Ruderer«, fuhr Monk fort. »Aber natürlich werden Sie Beweise dafür finden müssen, dass er auch heute noch dazu in der Lage ist, längere Strecken zu rudern und auf einer Strickleiter an Bord von Parfitts Boot zu klettern.«
»Danke«, sagte Winchester verschmitzt, »daran hätte ich gar nicht gedacht.«
Monk entschuldigte sich nicht. »Darüber hinaus habe ich jede Menge Material über die genaue Natur von Parfitts Geschäften gesammelt.« Und dann beschrieb er, was auf dem Boot alles geschehen war, obwohl er jedes einzelne Wort und mehr noch die Bilder, die er heraufbeschwor, hasste wie die Pest.
Jetzt war alles Heitere aus Winchesters Gesicht gewichen, und er sah regelrecht zerschlagen aus. In ihm schien ein förmlich mit Händen zu greifender Zorn aufzusteigen. »Ich werde jeden als Zeugen laden, von dessen Aussage ich mir etwas verspreche«, stieß er entschlossen hervor. »Ich kann niemandem Schonung versprechen. Hoffentlich haben Sie keine Garantien abgegeben, denn ich werde sie nicht halten.«
»Das habe ich nicht.«
»Auch nicht Ihrer Frau gegenüber? Oder Margaret Rathbone?«
»Niemandem.«
»Cardew? Sind Sie bereit, Cardew zu kreuzigen, wenn es sich nicht vermeiden lässt?«
Wortlos reichte ihm Monk eine Abschrift der Namensliste, die ihm Rupert gegeben hatte. Darauf stand auch Tadley mitsamt einer Notiz über seinen Selbstmord.
Winchester überflog sie mit zusammengepressten und vor Abscheu verzogenen Lippen. »Danke. Das wird nicht leicht gewesen sein.«
»Auch ich habe nicht vor, irgendjemanden zu schonen«, versprach Monk.
»Passen Sie um der Liebe des Himmels willen gut auf Hattie Benson auf!«, beschwor Winchester ihn. »Sie ist das Einzige, was die Kerle daran hindert, alle Schuld auf Cardew zu schieben. Nur noch eine Frage: Sind Sie wirklich sicher, dass es Ballinger war? Könnte es nicht ein Rivale gewesen sein? Pure Gier seitens Tosh Wilkins zum Beispiel? Der Kerl ist ja ein besonders widerwärtiges Exemplar.«
Monk merkte, dass Winchester ihn mit Adleraugen beobachtete. Wieder fiel ihm siedend heiß seine Niederlage im Prozess gegen Jericho Phillips ein und wie sehr er sich geschämt, wie nackt er sich gefühlt hatte, als der ganze Gerichtssaal ihn anstarrte und sein Versagen, seine Fehler für alle offen lagen.
»Nein, sicher bin ich mir nicht«, gestand Monk. »Ich glaube, dass es Ballinger war, weil Sullivan ihn unmittelbar vor seinem Tod beschuldigte. Es muss jemand von Ballingers gesellschaftlichem Rang sein, um die Schwäche von Männern wie Sullivan erkennen, sie befriedigen und noch weiter anstacheln zu können, bis alles außer Kontrolle geriet und er sie deswegen erpresste. Tosh Wilkin hat nicht die Fantasie oder die nötigen Verbindungen, um so etwas zu erreichen. Und selbst wenn er derjenige war, der die Erpressungsgelder kassierte, bezweifle ich, dass er die nötige Selbstdisziplin hätte, sie nicht gleich für sich auszugeben. Und das ist nicht geschehen.«
»Aber er hätte doch Parfitt in Ballingers Auftrag ermorden können«, beharrte Winchester.
»Das wäre möglich. Ich glaube aber nicht, dass Ballinger, ein Meister der Erpressung, sich der Macht eines Menschen wie Tosh ausliefern würde, der garantiert Gebrauch davon machen würde.«
Winchester legte seine langen Finger auf die Liste, die Monk ihm gegeben hatte. »Und einer dieser Männer? Parfitts Tod muss ihnen doch sehr zupassgekommen sein. Die Aussicht auf das Ende einer Erpressung ist schon für so manchen Mord das Motiv gewesen. Begründete Zweifel – mehr als begründet.«
»Man beißt nicht die Hand, die die eigene Sucht füttert«, entgegnete Monk. »Dann müsste man sich ja einen neuen Lieferanten suchen, und wo würde man das tun?«
Winchester nickte bedächtig. »Hoffentlich haben Sie recht, Monk. Und glauben Sie bloß nicht, dass Ballinger Sie nicht auf jede erdenkliche Weise angreifen wird. Kampflos wird er nicht untergehen. Rathbone wird mit Zähnen und Klauen für ihn streiten, und ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass er ungemein raffiniert ist und viel unbarmherziger, als man das bei seiner charmanten Art vermuten würde.«
»Ich weiß.«
»Und ob Sie das wissen! Sehen Sie zu, dass Sie das nie vergessen, nur weil Sie von Ballingers Schuld überzeugt sind und deshalb glauben, für eine gerechte Sache zu kämpfen.«
Monk blickte in das eigenartige Gesicht mit der langen Nase und fragte sich, ob Ballinger bereits zu kämpfen begonnen hatte und Winchester das wusste.
»Man wird Sie persönlich angreifen«, warnte Winchester. »Ihr Ruf – vielleicht auch der Ihrer Frau – wird auf dem Spiel stehen.«
Monk spürte, wie seine Muskeln verkrampften. »Ich weiß.«
»Sind Sie darauf vorbereitet? Er wird Ihre Frau in den Zeugenstand rufen und einen Bezug zu Rupert Cardew herstellen.«
»Ja. Diesmal wird sie vorbereitet sein.«
Winchester reichte ihm die Hand. »Dann kriegen wir ihn, Mr Monk – deo volente.«
Monk erhob sich. »Ja – so Gott will«, wiederholte er und ergriff Winchesters ausgestreckte Hand.
Winchesters Erwähnung von Hattie Benson veranlasste Monk, unverzüglich zur Klinik in der Portpool Lane zu eilen, um sich zu vergewissern, dass sie immer noch gesund und in Sicherheit war und ihre Tapferkeit nicht nachgelassen hatte.
Ein missmutiger Squeaky Robinson empfing Monk.
»Sie is’ nich’ da«, sagte Squeaky tonlos.
Monks Magen sackte nach unten, und plötzlich hatte er Mühe zu atmen. »Was ist passiert? Wo ist sie?«
»Sie müssen mich ja nich’ gleich anschauen, als ob ich sie geschlagen hätte!«, beschwerte sich Squeaky. »Sie is’ bloß kurz weggegangen, um Zeug für Operationen zu kaufen. Keine Ahnung, wohin genau. Sie hat gesagt, dass sie suchen muss. Hatte von ’nem Arzt gehört, der alte Sachen verkauft.«
»Ich suche nicht Hester!« Monk atmete erleichtert auf. »Ich brauche die junge Frau, die ich vor ungefähr einer Woche hierhergebracht habe. Wo ist sie?«
Squeaky musterte Monk von oben bis unten, seine glänzenden Lederstiefel, seinen eleganten Mantel, der an den Schultern nass war, und seufzte schließlich. »In der Waschküche unten. Reinigt die Bettwäsche, wie es ihre Aufgabe is’. Aber ich hol sie nich’ rauf. Da müssen Sie schon selber runtergehen und zusehen, dass Sie sie finden!« Damit wandte er sich wieder seinen Zahlen zu, und Monk war vergessen.
Monk dankte ihm, vielleicht eine Spur zu sarkastisch, und eilte durch den schmalen Durchgang und dann zwei Treppen hinunter zur Küche und weiter zum Waschraum. Dort rührte eine magere junge Frau mit einem Holzstab Betttücher in einem gewaltigen Kupferkessel herum. Aus der Lauge stiegen Dampfwolken empor, die die Luft im Raum heiß und stickig machten.
»Wo ist Hattie?«, fragte Monk.
»Weiß nich’«, antwortete die Frau, ohne sich zu ihm umzudrehen.
Monk trat einen Schritt näher. Sein Ton wurde scharf. »Das genügt nicht! Wenn Sie hierbleiben und versorgt werden wollen, sagen Sie mir auf der Stelle, wo sie ist!«
Die Frau hörte auf, in der Lauge zu rühren, und ließ den langen Stab auf den Boden fallen. Empört drehte sie sich um und starrte ihn an. Ihr strähniges Haar war feucht und ihre Haut gerötet. »Ich weiß nich’, wo sie is’. Da können Sie mich nennen, was Sie wollen, ich weiß es trotzdem nich’. Sie hätte hier sein sollen, weil sie an der Reihe war mit der Arbeit, aber sie is’ einfach nich’ aufgekreuzt! Wenn Sie sie brauchen, dann müssen Sie sie, verdammt noch mal, suchen!«
Monk wirbelte auf dem Absatz herum, ließ sie stehen und lief den Korridor hinunter. In der Spülküche traf er auf eine junge Frau mit rotem Gesicht, die gerade Kartoffeln schälte. Der beißende Geruch von rohen Zwiebeln stieg ihm in die Nase, und tatsächlich hingen ganze Ketten davon von den Deckenbalken.
»Haben Sie Hattie Benson gesehen?«, fragte Monk die Frau.
Sie fuhr erschrocken zu ihm herum. Mit einem Fremden hatte sie nicht gerechnet. »Nein, ich hab sie seit … ich weiß nich’ … gestern nich’ mehr gesehen. Haben Sie’s schon in der Waschküche probiert? Dort is’ sie normalerweise.«
»Habe ich. Wo noch?« Nur mit Mühe bezähmte er die in ihm hochsteigende Angst. Sein Herz hämmerte, sein Atem ging stoßweise. Seine Sorge war doch wirklich lächerlich! Wahrscheinlich machte sie gerade die Betten, wickelte Verbände auf oder verrichtete irgendeine andere von den Aufgaben, die sie hier in der Klinik erledigen konnte.
Die Frau zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.«
Nutzlos, sie weiter zu bedrängen. Er suchte Hattie in dem Medikamentenlager, bei den Wäscheschränken und danach in sämtlichen Schlafzimmern, einem nach dem anderen. Dabei arbeitete er sich vom hinteren Ende der drei Häuser, die durch ein Labyrinth von Gängen und Durchgangszimmern miteinander verbunden waren, bis nach vorne durch. Nirgends traf er Hattie Benson an oder irgendeine Frau, die sie in den letzten drei, dreieinhalb und am Ende fast vier Stunden gesehen hatte. Er war inzwischen der Panik nahe.
Hester war nicht im Haus, Margaret ebenso wenig. Allerdings war er sich bei Margaret nicht sicher, ob er sie gefragt hätte, selbst wenn sie erreichbar gewesen wäre. Er tat das Nächstbeste und suchte Claudine.
Er fand sie im Medikamentenzimmer. Sie wurde als Pflegekraft immer tüchtiger. Hester hatte sie schon immer als intelligent und – wichtiger noch – als an ihrer Aufgabe überaus interessiert bezeichnet. Ihre lange unglückliche Ehe hatte an ihrem Glauben an sich selbst bis zur seelischen Verkrüppelung genagt. Ihre Befreiung davon verdankte sie erstaunlicherweise ausgerechnet ihrem nächtlichen Abenteuer in den Gassen der Innenstadt, wo sie Arthur Ballinger beim Verkauf pornografischer Fotografien beobachtet und wo Squeaky sie zu guter Letzt gerettet hatte.
Bei Monks Eintreten maß sie gerade sorgfältig nach, wie viel in den jeweiligen Gläsern und Flaschen noch vorhanden war, und trug das Ergebnis in ein Notizbuch ein. Kerzengerade stand sie da, ein Lächeln im Gesicht. Als sie Monks Schritte hörte, drehte sie sich um. Nur ein kurzer Blick auf sein Gesicht war nötig, um zu erkennen, dass er bestürzt war.
»Was ist passiert?«, fragte Claudine sofort, stellte die Flasche, die sie in der Hand hielt, beiseite und klappte das Notizbuch zu. »Was ist los?«
»Hattie Benson ist verschwunden. Ich bin von einem Ende des Gebäudes zum anderen gelaufen und habe alle gefragt. Seit heute früh um neun hat sie niemand mehr gesehen.«
Mehrere Sekunden lang gab Claudine keine Antwort. Nicht, dass es ihr die Sprache verschlagen hätte! Vielmehr überlegte sie fieberhaft, was der nächste Schritt sein sollte.
»Wir müssen logisch analysieren«, sagte sie laut. »Sie wusste genau, dass sie nicht rausgehen darf. Sie hätte nie und nimmer Botengänge für andere erledigt, selbst wenn es nur um die Ecke gewesen wäre. Sie war klug genug, um Angst zu haben. Es führen keine Türen nach draußen, durch die Fremde unbemerkt hätten hereinkommen können. Haben Sie mit Squeaky gesprochen?«
»Ja«, antwortete Monk. »Er hat sie nicht weggehen sehen, und er ist den ganzen Vormittag vorn beim Eingang gewesen, zumindest, seit sie zuletzt gesehen wurde. Ich habe …«
»Ich weiß«, bestätigte sie mit beruhigender Stimme.
Er blickte in ihr freundliches Gesicht. Schön war es gewiss nicht, aber voller Kraft und – in diesem Moment – stillem Mut.
»Sie muss die Klinik durch den Hintereingang verlassen haben«, sagte Monk. »Das bedeutet, sie hat es geplant. Sie hat den anderen etwas vorgegaukelt, damit sie sie allein lassen. Warum? Was, um alles in der Welt, hat sie dazu veranlasst? Hat jemand sie bedroht? Wen haben Sie seit ihrer Ankunft aufgenommen?«
»Eine alte Frau mit hohem Fieber«, antwortete Claudine. »Sie deliriert und liegt wohl im Sterben. Und noch eine junge Frau mit Stichwunde und gebrochenem Schlüsselbein. Alle anderen sind gekommen und gegangen.«
Monk starrte sie an.
Claudine begriff. »Etwa eine von uns?«, ächzte sie. Einen Moment lang sah es so aus, als wollte sie etwas hinzufügen, doch dann überlegte sie es sich anders.
Monk sah ihr an, dass sie an Margaret dachte und gleichzeitig versuchte, das vor sich selbst zu leugnen. Er dachte genau dasselbe. Es musste irgendeine komplexere Erklärung geben, aber in diesem Augenblick würde auch diese nicht weiterhelfen.
»Ich versuche, sie möglichst schnell zu finden«, sagte er, auch wenn ihm ein Rätsel war, wo er anfangen sollte. Sollte er Hester informieren? Aber sie konnte auch nichts tun, außer sich selbst in Gefahr zu begeben.
»Wo wollen Sie suchen?«, fragte Claudine.
»Das weiß ich nicht. Wenn sie allein war oder der Person entwischt ist, mit der sie die Klinik verlassen hat, wird sie wahrscheinlich dorthin zurückkehren, wo sie sich auskennt. Das Einzige, was ich tun kann, ist herumfragen.«
»Kann ich helfen?«
»Nein … danke. Sagen Sie nur bitte Hester … noch nicht Bescheid.«
»Das wird gar nicht nötig sein«, erwiderte Claudine düster. »Sie wird es so oder so wissen.«
Monk verließ die Klinik, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Kaum war er im Freien, marschierte er los, so schnell er konnte. Dass es regnete, nahm er gar nicht wahr. Am liebsten wäre er gerannt, doch das hätte ihn nur erschöpft. Er musste seine Kräfte klug einteilen und durfte nicht nachlassen, bis er Hattie gefunden hatte.
Auf den Straßen befragte er Hausierer, zwei Frauen, die Streichhölzer und Schnürsenkel feilboten, und einen Straßenhändler, der heiße Schokolade und Sandwiches verkaufte. Letzterer hatte kurz vor halb zehn eine junge Frau mit blasser Haut und sehr blondem Haar in Begleitung einer etwas älteren braunhaarigen Frau die Leather Lane in Richtung Holborn hinuntergehen sehen. Sie waren zu Fuß unterwegs gewesen und hatten es eilig gehabt.
Die Situation war verwirrend. War das Hattie gewesen oder doch eine andere? Zusammen mit einer Frau? Wem? Er stand inmitten des Verkehrs, Passanten hasteten vorbei, das Rattern von Rädern und Klappern von Hufen dröhnte ihm in den Ohren, aus der Rinne aufspritzendes Schmutzwasser durchnässte ihm die Hosenbeine, und er fühlte sich erschlagen von der Nutzlosigkeit seines Unterfangens. Die Frau konnte genauso gut eine andere gewesen sein. Und sie hätte überallhin gehen können.
Eine bessere Spur gab es jedoch im Moment nicht, und es hatte keinen Zweck, hier zu warten. Er konnte genauso gut ermitteln, ob noch jemand sie gesehen hatte. Überlegen konnte er auch beim Laufen. Vielleicht wurde ihm dann etwas klar, das ihm bisher entgangen war.
Doch er wurde kein bisschen schlauer, und als am Spätnachmittag die Dämmerung anbrach, hatte er ein halbes Dutzend Zeugen aufgetrieben, die Hattie vielleicht gesehen hatten, vielleicht aber auch irgendeine andere junge Frau mit hellblondem Haar. Zu guter Letzt beschloss er, mit einem Hansom nach Chiswick zu fahren. Dort kannte man sie wenigstens und konnte ihm konkrete Auskunft geben. Es war gut möglich, dass sie Heimweh bekommen hatte und zu dem einzigen Ort zurückgekehrt war, wo sie Freunde hatte. Vielleicht fühlte sie sich dort sicherer, obwohl sie es in Wahrheit keineswegs war.
Die Fahrt kam ihm endlos vor. Jede dunkle Straße glich der vorhergehenden. Die ersten Lampen wurden angezündet, glühende Augen in der Düsternis. Alles war hier voller Schatten. Die Kutschenlampen schimmerten gelb, und die Räder rollten zischend über das Pflaster, das immer noch nass war, obwohl es aufgehört hatte zu regnen.
Endlich erreichte Monk die Chiswick Mall am Flussufer gegenüber der Insel Ait. Er sprang aus dem Hansom, bezahlte den Fahrer und entdeckte dann die Lichter, die sich über dem Schlamm und den Steinen des Uferbereichs bewegten. Ohne lange zu überlegen, rannte er darauf zu. Aus der Ferne konnte er Stimmen hören. Wenn es Polizisten waren, würde er sie um Hilfe bitten.
Sein Herz hämmerte zum Zerspringen, der Atem blieb ihm schier in der Brust stecken, und seine Kehle schmerzte, als er die Stufen erreichte.
Da einer der Männer seine Laterne höher hielt, konnte Monk erkennen, dass sie zu viert waren, durchnässt, die Knöchel und Hosenbeine mit Flussschlamm bedeckt. Auf den Steinen lag eine Frauenleiche, und das gelbe Licht schien auf ihr von hellblondem, fast silbernem Haar umrahmtes Gesicht. Noch bevor er nahe genug herangetreten war, um ihre Züge sehen zu können, wusste Monk bereits, dass es Hattie war.