KAPITEL 15
Das Jahr 258 Nach der Landung; Kollegium, Burg Benden, Telgar-Weyr
Am ersten Werktag des neuen Jahres, 258 nach der Landung, hielt Clisser in Muße Rückblick über die vergangenen vier Tage. Es war recht hektisch zugegangen, trotz sorgfältigster Planung, doch die beiden wichtigsten musikalischen Ereignisse, die Premiere der ›Landungssuite‹ und die Vorstellung der neuen Lehrballaden und Lieder, waren höchst erfolgreich gewesen.
Wenn man bedachte, wie wenig Zeit zum Üben manchen Teilnehmern geblieben war, wunderte sich Clisser über den reibungslosen Ablauf. Einmal hatte Forts Tenor einen Patzer gemacht, der letzte Ton verklang viel zu früh. Sheledon, der bei den Holzbläsern mitwirkte, hatte ihn wütend angefunkelt. Am liebsten hätte er den Part selbst gesungen, doch dafür reichte seine Stimme nicht aus.
Doch die einzigen Soli, an denen Sheledon nichts auszusetzen fand, waren die von Sydra gewesen, die niemals einen Fehler machte. Bethanys Flötenspiel bildete die perfekte Begleitung zu dieser herrlichen, einzigartigen Stimme.
Paulin war vor Begeisterung immer wieder hochgesprungen und hatte den Solisten stehende Ovationen gespendet. Beim Finale wischte er sich verstohlen die Tränen aus den Augenwinkeln. Selbst der miesepetrige S'nan hatte erfreut dreingeschaut.
Clisser war durch und durch zufrieden und hoffte, die Aufführungen würden anderenorts mit demselben Enthusiasmus aufgenommen. Es war in der Tat eine glanzvolle Leistung, vor allen Dingen, wenn man bedachte, dass hier Musiker am Werk waren, die ihre spärlich bemessene Freizeit opferten, um in einer Vorstellung ihr Bestes zu geben.
Die Lehrballaden und Lieder waren bei den Zuhörern ebenfalls gut angekommen. Manche gingen umher und summten die Melodien vor sich hin, und genau das hatten die Komponisten auch beabsichtigt. Zum Glück teilten sich Jemmy und Sheledon die Ehre, eingängige Weisen geschrieben zu haben.
Clisser selbst ertappte sich dabei, wie er den Refrain der Ballade über die Pflichten summte. Dieses Musikstück hatte besonders viel Anklang gefunden. Und sowie die jungen Leute den Text auswendig kannten, brauchte man die Verfassung nicht mehr als Schriftstück zu verteilen; das wäre eine große Zeit- und Kostenersparnis.
Im Übrigen war es höchste Zeit, dass die Ingenieure eine Art von Druckerpresse konstruierten. Kalvis Leute hatten bereits ein paar kleinere Motoren entwickelt, die von Sonnenenergie gespeist wurden; dann musste es ihnen doch auch möglich sein, eine Vorrichtung zum Drucken herzustellen. Doch zum Drucken brauchte man Papier, und während der nächsten fünfzig Jahre konnte wegen des Fädeneinfalls keine vernünftige Holzwirtschaft betrieben werden.
Ein einziger Fädenschauer konnte im Nu ganze Waldungen zerstören, ehe ein Bodenteam es schaffte, an Ort und Stelle zu sein.
Er stieß einen Seufzer aus. Ein Jammer, dass die Maschine zur Plastikerzeugung nicht mehr funktionierte. Doch das Gerät war durch dieselbe Überschwemmung zu Schaden gekommen, die überall viel Unheil angerichtet hatte.
»Man muss aus jeder Situation das Beste machen«, sagte er laut zu sich selbst.
Dennoch fühlte er sich ein wenig deprimiert. Die letzten Tage waren voller schöner Ereignisse gewesen, und es fiel ihm schwer, wieder in den normalen Alltagstrott zu verfallen. Bis zum Abend sollten sich die restlichen Lehrer, die sich noch nicht wieder im Kollegium eingefunden hatten, zum Dienst melden. Dann würde er erfahren, wie die Vorstellungen anderenorts gelaufen waren.
Voller Spannung wartete er auf die Berichte. Bis zum Frühling mussten die aktualisierten Lehrpläne überall in Kraft getreten sein. Sallisha würde schon dafür sorgen, dass nirgendwo geschlampt wurde, dessen war er sich sicher. Denn zu Beginn des Frühjahrs erwartete man die ersten Fädeneinfälle, und dann hätten sie alle Hände voll zu tun, um wirklich akute Probleme zu bewältigen.
Spontan fasste er den Entschluss, die Einsatzpläne für die Bodenmannschaften auszuarbeiten, die sich aus Schülern über fünfzehn Jahren und Lehrern rekrutierten. Er hatte Paulin versprochen, sich um die Pläne zu kümmern, die Arbeit aber immer vor sich her geschoben.
Er zog eine Schublade seines Schreibtisches auf und holte ein sauberes Blatt Papier heraus. Nach kurzem Zögern legte er es ins Fach zurück und nahm sich stattdessen ein Blatt von dem Stapel Papiere, die zur Wiederverwertung bestimmt waren. Eine unbeschriebene Seite war alles, was er brauchte. Jede Form von Verschwendung musste vermieden werden.
Lady Jane führte Iantine in sein Quartier und benahm sich ganz so, wie man es von einer aufmerksamen Gastgeberin erwartet. Sie stellte ihm viele Fragen. Unter anderem wollte sie wissen, wo er das Ende des Planetenumlaufs verbracht hatte, ob er sich bei den Festlichkeiten gut amüsiert hätte, und wie ihm die herrliche neue Musik gefiele. Interessiert erkundigte sie sich, ob er auch ein Instrument spielte. Selbst seine Eltern waren ihr eine Nachfrage wert.
Er gab höflich Antwort, derweil er unentwegt Vergleiche zwischen diesem Empfang und seiner Ankunft in Bitra zog. Was für ein Unterschied. Lady Jane war eine sehr sprunghafte, unruhige Frau, ganz und gar nicht der Typ, der seiner Ansicht nach zu Bridgely passte. Doch hinter all dem affektierten Gebaren musste sich eine enorme Tüchtigkeit verbergen, das schloss er aus dem wirklich tadellosen Zustand, in dem sich die Festungsanlage befand.
Hier dachte man nicht im Traum daran, ihn in irgendwelchen Gesindequartieren unterzubringen. Lady Jane wies ihm Räumlichkeiten auf der Wohnebene zu, in der sich die Privatgemächer der Familie befanden. Ständig ermahnte sie die beiden Bediensteten, die Iantines Gepäck schleppten, ja vorsichtig mit den Sachen umzugehen.
Sie schloss die Tür zu seiner Unterkunft auf und gab ihm dann den Schlüssel. Staunend betrat er einen großen Tagesraum, der mindestens zehn Mal größer war als das Loch, das man ihm in Bitra zugestanden hatte. Ein großes, breites Fenster wies nach Nordosten.
Der Raum war sehr ansprechend gestaltet; die zartgrün getünchten Steinwände bildeten einen harmonischen Hintergrund zu der Einrichtung aus poliertem, edel verarbeitetem Holz. Vorhänge und Decken wiesen geometrische Muster in Grün- und Beigetönen auf.
»Ich weiß, dass Künstler Nordlicht bevorzugen, aber ein besseres Quartier steht uns leider nicht zur Verfügung.« Mit den Händen vollführte Lady Jane gekünstelte Gesten. Es waren gepflegte, elegante Hände, und als einzigen Schmuck trug die Burgherrin ihren Ehering. Noch ein krasser Kontrast zu der Unsitte in Bitra, sich mit protzigen Juwelen zu überladen.
»Mit einem so schönen Zimmer hatte ich gar nicht gerechnet, Lady Jane«, entgegnete Iantine aufrichtig.
»Auf jeden Fall sind Sie hier besser untergebracht als in Bitra«, pflichtete sie ihm mit einem verächtlichen Naserümpfen bei. »Ich hab da Sachen gehört … Seien Sie versichert, dass Burg Benden einen Künstler Ihres Ranges niemals bei den Dienstboten einquartieren würde. Mag man in Bitra ruhig darauf pochen, seinen Stammbaum bis zu den ersten Kolonisten zurückverfolgen zu können«, hier nahm ihre Stimme einen skeptischen Unterton an, »aber Manieren haben diese ungehobelten Klötze noch nie an den Tag gelegt.« Sie sah zu, wie er die Standfestigkeit der Staffelei testete. »Die stammt aus Lagerbeständen. Früher hat sie Lesnour gehört. Kennen Sie seine Arbeiten?«
»Aber natürlich. Wer kennt Lesnour nicht?« Iantine nahm seine Hände von der schönen, alten Staffelei. Lesnour war weit über hundert Jahre alt geworden, hatte die Wandgemälde in Burg Bitra entworfen und angefertigt und seine Farbgebung war berühmt. Von ihm stammte ein Buch, in dem er sämtliche einheimischen Pflanzen und Mineralien beschrieb, die man zur Farbenherstellung verwerten konnte. Iantine hatte das Werk gründlich studiert, und das Wissen war ihm in Bitra zugute gekommen.
Lady Jane öffnete die Tür, die ins Schlafgemach führte. Auch diese Räumlichkeit war großzügig bemessen und behaglich eingerichtet. Den Blickfang bildete ein wuchtiges Baldachinbett, dessen Pfosten eine ungewöhnliche Rankenschnitzerei aufwiesen; vermutlich stellte das Muster Pflanzen dar, die auf dem Planeten Erde vorkamen.
Vom Schlafzimmer aus gelangte man in ein Bad. Iantine fiel angenehm auf, wie warm es in der Suite war – noch ein wesentlicher Unterschied zu Bitra. In Benden gab es offenbar gleichfalls all die Annehmlichkeiten und den Luxus, auf den man in Burg Fort zu Recht stolz war.
»Ein so komfortables Quartier wäre gar nicht nötig gewesen, Lady Jane«, meinte Iantine ein wenig verlegen.
»Unsinn. Hier in Benden wissen wir, wie man einen Künstler Ihres Formats behandelt.« Mit den Händen machte sie eine weit ausholende Geste, die die gesamte Suite umfasste. »Nur in einer Umgebung, in der man sich wohl fühlt, kann man sich entspannen und kreativ werden.« Manieriert bewegte sie die Finger und lächelte Iantine an. Er erwiderte das Lächeln und bemühte sich, ihr gespreiztes Gehabe nicht albern zu finden. »Um acht wird in der Großen Halle zu Abend gegessen, und Sie sitzen natürlich mit uns an der Hohen Tafel.« Ihre entschlossene Miene verriet, dass sie keinen Widerspruch duldete. »Möchten Sie, dass Ihnen jemand beim Auspacken zur Hand geht?«
»Nein, danke, das wäre wirklich zu viel des Guten, Lady Jane. Ich bin es gewöhnt, mich um alles selbst zu kümmern.« Ob er Leopol doch hätte mitnehmen sollen? Die Suite war groß genug, um zwei Leute zu beherbergen.
Lady Jane entfernte sich, nachdem er ihr nochmals überschwänglich für ihre Großzügigkeit gedankt hatte.
Danach stromerte er durch die Räume, wusch sich die Hände und das Gesicht und freute sich, dass heißes Wasser aus den Hähnen sprudelte. Die Badewanne war eine in den Felsboden eingelassene Vertiefung, groß genug, dass er sich der Länge nach darin ausstrecken konnte. Selbst der Weyr besaß kein so aufwendig gestaltetes Bad.
Er packte seine Sachen aus, hängte das neue grüne Hemd auf einen Bügel, damit sich die Falten glätteten, und richtete sich seinen Arbeitsplatz ein. Hinterher setzte er sich in einen Sessel, legte die Füße auf den dazugehörigen Schemel, lehnte sich zurück und seufzte. An diesen Luxus konnte er sich gewöhnen. Ihm fehlte nur eines – Debera.
Er fragte sich kurz, ob Lady Jane auch dann ihre gezierten Gesten vollführen würde, wenn sie ihm Modell saß. In welcher Pose sollte er sie malen? Ihre gestelzte Art musste er zum Ausdruck bringen, gleichzeitig ihre Anmut und ihren Charme betonen. Welches Musikinstrument mochte sie mit diesen eleganten, weichen Händen wohl spielen? Wenn Debera doch nur nicht so weit weg wäre!
Iantine hätte es gar nicht gefallen, wenn er gewusst hätte, dass die Weyrführer in Telgar just in diesem Augenblick über Debera redeten.
»Nein«, meinte Zulaya und schüttelte zur Bekräftigung den Kopf, »um Morath zu gefährden, ist sie viel zu vernünftig. Und Iantine würde seinen guten Ruf im Weyr nicht aufs Spiel setzen, indem er eine Indiskretion begeht. Von Leopol weiß ich, dass er auf jeden Fall zurückkommen möchte. Über dieses Paar hat Tisha sich keine Sorgen gemacht. Auch wenn sie die ganze Nacht lang nur Augen füreinander hatten, so sonderten sie sich doch nie von den übrigen Gästen ab. Tanzen allein ist nicht anstößig. Dafür mache ich mir umso mehr Gedanken über Jule. Sie und T'red stecken ständig zusammen.«
»Aber sie leben doch getrennt?«, warf K'vin mit scharfer Stimme ein.
»Selbstverständlich.« Lässig winkte Zulaya ab. »T'red ist geduldig. Er weiß, dass er lieber nichts überstürzen sollte.«
K'vin seufzte tief und hakte dieses Thema ab. Ihm lag noch etwas anderes auf dem Herzen. »Wie lange mag es wohl noch dauern, bis die Grünen fliegen können?«
»Tja, mir scheint, Morath ist bald so weit. Wenn sie weiterhin in diesem Tempo wächst, sind ihre Schwingen im Spätfrühling kräftig genug zum Fliegen. Aber das letzte Gelege sollten wir nicht in unsere Kalkulationen einbeziehen, K'vin«, riet sie ihm und deutete auf die Liste, die er gerade erstellte. »Zuerst müssen die Drachen ortskundig werden und genug Muskeln entwickeln, um lange Strecken zurückzulegen. Wir sollten ihre Ausbildung nicht mehr forcieren als unbedingt nötig. Schließlich sollen sie uns die nächsten fünfzig Jahre treu dienen.«
»Eine lange Zeit.« K'vin warf sein Schreibzeug auf das Pult, lehnte sich zurück und blies resigniert den Atem aus.
Zulaya klopfte ihm tröstend auf die Schulter. »Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, K'vin. Es ändert nichts an den Tatsachen. Im Übrigen glaube ich, dass nicht die Weyrlinge uns Probleme bereiten werden, sondern die erwachsenen, älteren Reiter. Sie brennen förmlich darauf, in Kampfeinsätzen mitzufliegen.«
K'vin schloss die Augen, wie um sich vor der Welt abzuschotten. »Ich weiß, ich weiß«, räumte er ein. Ihm war vollauf bewusst, dass er Entscheidungen in dieser Hinsicht nicht auf die lange Bank schieben durfte. »Sie wollen beweisen, dass sie nicht zum alten Eisen gehören, dass sie noch etwas bewirken.«
»Die Drachen brauchen diese Befürchtungen nicht zu haben; deren Reflexe sind noch genauso schnell wie früher«, erwiderte Zulaya. »Sie werden ihre Reiter schützen.«
»Hoffentlich«, unkte K'vin. »Weißt du, dass Z'ran und T'lel gestern beinahe einen Unfall hatten?«
»Sie wollten mit ihren Flugkünsten prahlen«, kommentierte Zulaya. »Meranath hat den beiden Braunen den Marsch geblasen, als seien sie noch Weyrlinge.«
»Während eines Fädenfalls können wir solche Bravourstückchen nicht gebrauchen …« K'vin rieb sich den schmerzenden Nacken. »Ich habe einen Sicherheitsgurt-Check für den gesamten Weyr angeordnet.«
»Kev«, ermahnte Zulaya ihn sanft, »wir hatten erst letzte Woche einen. Schon vergessen?«
»Sicherheitsprüfungen kann es nicht genug geben«, blaffte er sie an und warf ihr gleich darauf einen um Vergebung heischenden Blick zu.
»Die Warterei zerrt an deinen Nerven«, stellte Zulaya fest. »Sie macht uns allen zu schaffen.«
K'vin schnaubte durch die Nase. »Sollen wir darum beten, dass die Fäden möglichst früh fallen?«
»Nein. Aber wir könnten einen Ausflug in den Süden unternehmen.«
»Doch nicht schon wieder eine Akki-Expedition?«
»Ganz sicher nicht.« Sie lachte über seinen vehementen Tonfall. »Ich finde, wir sollten mal nachsehen, was aus Tubbermans Würmern geworden ist; wie weit sie gediehen sind. Diese Kontrolle ist ohnehin fällig. Außerdem würde es uns allen gut tun, aus dieser erbärmlichen Kälte herauszukommen und uns in der Sonne zu wärmen. Das hebt die Stimmung. Nach all dem Trubel zum Ende des Planetenumlaufs verfallen viele Leute in eine Depression. Und wer weiß, vielleicht stoßen wir sogar auf diese Ersatzteile, von denen Kalvi unentwegt schwafelt.«
»Ersatzteile?«
»Ja, die Sachen, die während der Zweiten Auswanderung verloren gingen.«
»Von denen kann doch eigentlich nichts mehr übrig sein«, gab K'vin zu bedenken.
»Egal, es liefert einen Vorwand, um in wärmeren Zonen ein Training anzusetzen.« Sie deutete auf den Wust von Papieren, die vor K'vin auf dem Pult lagen. »Wir müssen auch einmal abschalten.«
»Und was genau schlägst du vor?«, erkundigte sich K'vin, der sich immer mehr mit dem Gedanken anfreundete.
»Ich finde, als Erstes sollten wir Calusa einen Besuch abstatten …« Sie holte eine Landkarte aus dem Schrank. Eilig räumte K'vin die Papiere beiseite, so dass sie die Karte ausbreiten konnte. »Dann sehen wir uns an der Küste von Kahrain um, wo die Armada einen längeren Zwischenaufenthalt einlegte, um die im Sturm beschädigten Boote zu reparieren.«
»Die Gegend wurde bereits mehrmals gründlich abgesucht …«
»Ohne Ergebnis. Richtig. Aber es kommt mir nicht darauf an, dass wir etwas finden, sondern dass wir eine Weile von hier fortkommen.«
»Soll der gesamte Weyr an der Exkursion teilnehmen?«
»Die Kampfgeschwader kommen natürlich mit. Die, die noch in der Ausbildung stehen, bleiben hier. Wir übertragen ihnen die Verantwortung für den Weyr … Mal sehen, wie ihnen das gefällt.«
»J'dar erhält das Kommando«, erklärte K'vin und wartete gespannt, ob Zulaya dem zustimmte.
Sie zuckte die Achseln. »J'dar oder O'ney.«
»Nein, J'dar.«
Zu seiner nicht geringen Verblüffung lächelte sie zufrieden. Den Grund dafür konnte er nicht einmal ahnen, denn O'ney, den sie in die engere Wahl gezogen hatte, war einer der ältesten Bronzereiter. Meistens fügte sich K'vin Zulayas Wünschen, doch ihm war aufgefallen, dass O'ney übertrieben pedantisch war.
»Als wir im letzten Winter nachsahen, hatten sich die Würmer bis an diese Stelle verbreitet«, sagte sie und fuhr mit dem Finger den Verlauf des Flusses Rubicon nach.
»Wie sollen die Würmer dieses Hindernis überwinden?«, fragte K'vin und tippte auf die Höhenlinien, die das Steilufer des Stroms anzeigten. Zur anderen Seite fiel das Gelände sanft geböscht zum Asowschen Meer ab.
»Angeblich suchen sie sich einen Weg um den Steilabfall herum oder werden als Larven im Verdauungstrakt der Wherries über den Fluss transportiert. Einige exotische Tiere, die man damals aus reinem Übermut züchtete und freiließ, tragen auch zu ihrer Verbreitung bei. Die Biester sollen sich stark vermehrt haben, wie du vielleicht weißt.«
Jetzt zog sie ihn auf, denn keiner von beiden hatte vergessen, dass Charanth K'vin vor einer riesigen, hungrigen, orange und schwarz gestreiften Raubkatze hatte retten müssen. Damals war Charanth außer sich vor Empörung gewesen, weil diese Kreatur es gewagt hatte, ihn, einen Bronzedrachen, anzugreifen. Der Vorfall hatte sowohl den Drachen als auch seinen Reiter nachhaltig beeindruckt.
»Und ob ich es weiß. So leicht lasse ich mich nicht noch einmal von einer dieser Bestien überraschen.«
»Aber der Pelz dieser Katze hat mir außerordentlich gut gefallen«, stichelte sie ihn mit schelmisch blitzenden Augen.
»Dann fang dir so ein Tier und zieh ihm das Fell ab. Was hältst du davon, andere Weyr zu diesem Ausflug einzuladen? Wir könnten eine gemeinsame Übung veranstalten.«
»Warum?«, konterte sie mit einem Achselzucken. »Es geht doch nur darum, unseren Geschwadern ein bisschen Zerstreuung zu verschaffen. Meranath«, sie wandte sich an die Drachenkönigin, die sich auf ihrer Lagerstatt rekelte und die beiden Weyrführer aufmerksam im Auge behielt, »würdest du bitte die Nachricht verbreiten, dass sich der Weyr auf einen Trainingsausflug begibt? Morgen, beim ersten Tageslicht, brechen wir auf. Ein paar Leute werden einen ziemlichen Schreck bekommen, wenn sie das hören.«
»Zweifelsohne«, erwiderte K'vin und richtete dann selbst das Wort an Meranath. »Und sag J'dar und T'dam Bescheid, sie möchten bitte hier heraufkommen.«
Im Süden scheint die Sonne viel wärmer, äußerte sich Meranath.Darüber wird sich jeder freuen, K'vin.
»Ich bin froh, dass der Plan deine Billigung findet«, sagte er zu der Königin und deutete eine Verbeugung an. Es gefiel ihm, dass sie seinen Namen in letzter Zeit häufiger benutzte. Ob das bedeutete, dass Zulaya immer öfter an ihn dachte? Doch diese Frage hielt er in einem Winkel seines Gehirns verborgen, auf den selbst Charanth keinen Zugriff hatte.
Er war sich nicht sicher, ob Zulaya ihn als Weyrführer wirklich akzeptierte. In der Öffentlichkeit verhielt sie sich stets freundlich ihm gegenüber, und dafür war er ihr aufrichtig dankbar. Ansonsten ließ sie nie durchblicken, was sie von ihm hielt. Dabei sehnte er sich nach mehr Intimität mit ihr, aber sie blieb nach wie vor distanziert. Ob es ihm je gelänge, sie vorbehaltlos für sich zu gewinnen? Hatte sie vielleicht diese Exkursion vorgeschlagen, weil sie hoffte, sie kämen sich dadurch ein bisschen näher?
»Wann hat man das letzte Mal nach den Würmern gesehen?«, wollte er wissen?
Sie zuckte die Achseln. »Darauf kommt es nicht an. Der ganze Weyr braucht etwas Abwechslung, und die bekommen wir im Süden geboten. Vermutlich ist es ohnehin das Beste, wenn wir während der Zeit des Fädenfalls in die betreffende Gegend fliegen, um uns persönlich davon zu überzeugen, ob die Würmer auch tatsächlich die Funktion erfüllen, für die sie ursprünglich gezüchtet wurden.«
»Vielleicht werden die Drachengeschwader bald arbeitslos, wenn die Würmer wirklich so effektiv sind«, überlegte er.
Zulaya schüttelte den Kopf. »Solange die Fäden vom Himmel fallen, muss es kampfbereite Drachen und deren Reiter geben. Es ist wichtig, dass möglichst wenige dieser Organismen den Boden überhaupt berühren. Die Würmer sind eine zusätzliche Abwehrmaßnahme, ganz sicher keine Patentlösung.«
Die beiden Weyrführer hatten es versäumt, Meranath zu bitten, das Ziel der Exkursion noch geheim zu halten, und so war der bevorstehende Ausflug bald in aller Munde. Ein jeder drängte, mitgenommen zu werden. Selbst Tisha wollte sich nicht ausschließen.
»Einige der Bronzedrachen werden zwei Passagiere befördern müssen«, meinte K'vin, der im Kopf rasch ein paar Zahlen überflog.
»Die Weyrlinge müssen allerdings hier bleiben«, dämpfte Zulaya die euphorischen Erwartungen. »Aber sobald die Jungdrachen flügge sind, kann T'dam mit dem Nachwuchs eine Exkursion in den Süden veranstalten.«
»Das wird erst der Fall sein, nachdem der Fädenregen eingesetzt hat«, hielt K'vin ihr entgegen.
»Sicher, doch da wir vorhersagen können, ob die Schauer im Norden oder im Süden niedergehen, lässt sich ohne weiteres ein Ausflug einrichten. Und einen freien Tag dürften sich die Hilfsmannschaften ruhig gönnen.«
Somit war dieser Punkt ebenfalls geklärt.
Der gesamte Weyr versammelte sich, um Passagiere und Vorräte zu verfrachten. Mittlerweile hatte man die Exkursion für drei Tage angesetzt. K'vin meinte, sie brauchten so viel Zeit, wenn sie nachforschen wollten, inwieweit sich die Würmerpopulation verbreitet hatte. Er nahm Landkarten und Schreibmaterial mit, um gewissenhafte Aufzeichnungen zu machen.
Der Aufbruch gestaltete sich recht turbulent. Um Tisha auf den Rücken des braunen Branuth zu verfrachten, bedurfte es vier kräftiger Männer. T'lel, Branuths Reiter, lachte während der Aktion so herzhaft, dass er einen Schluckauf bekam.
Branuth verrenkte sich den langen Hals um mitzubekommen, was sich hinter ihm tat. Sein langes, schmales Gesicht nahm einen höchst skeptischen Ausdruck an, und in dem Eifer, seine Neugier zu befriedigen, zerrte er sich einen Nackenmuskel und musste von T'lel und Z'ran massiert werden.
»Hör endlich auf damit und lass uns losfliegen, T'lel«, schnauzte Tisha ihn an. Ihre stämmigen Beine standen weit gespreizt vom Sattel ab. »Ich habe das Gefühl, als würde ich entzweigerissen. Wieso habe ich nur darum gebeten, den Ausflug mitmachen zu dürfen! Ich hätte lieber in der Kaverne bleiben sollen! Hier oben sitzt es sich sehr unbequem. Was lachst du so, T'lel? Steig auf und setz den Drachen in Bewegung!«
Tisha auf Branuths Rücken zu hieven hatte so lange gedauert, dass sämtliche anderen Drachen abflugbereit waren, als T'lel sich endlich vor Tisha in den Sattel schwang.
»Nicht nur, dass es mich schier zerreißt, die Kanten dieses verflixten Widerrists sind auch noch messerscharf. Hast du sie mit Absicht so zugeschliffen, T'lel? Kein Wunder, dass ihr Reiter so dünn seid. Anders findet ihr zwischen diesen Knochenwülsten ja keinen Platz. Gibt es denn keine Drachen, die Widerriste für stärker gebaute Leute entwickeln? Charanth ist viel größer als Branuth … Wieso nimmst du mich nicht auf deinem Drachen mit, K'vin?«, zeterte Tisha.
K'vin bemühte sich, nicht lauthals loszuprusten, weil er seine Würde als Weyrführer wahren wollte. Doch er wagte es nicht, zu Tisha hinzusehen. Stattdessen nahm er all die anderen Drachen samt Reitern in Augenschein. Er spähte nach oben zum Felssims, wo weitere Drachen auf den Abflug warteten, in respektvollem Abstand von dem neu errichteten Observatorium, bestehend aus Augenstein und Fingerfelsen. Dann hob er den Arm.
Charrie, sie sollen in der Luft ihre Geschwaderposition einnehmen.
Sie wissen Bescheid. Charanth hörte sich ein bisschen gelangweilt an, denn dies war ein Routinedrill. Begütigend tätschelte K'vin seinen Hals, während er den erhobenen Arm niedersausen ließ.
Die Drachen stiegen aus dem Kraterkessel empor, mit ihren gewaltigen Schwingen Staub und Kies hochwirbelnd. Als Nächstes folgten die Drachen auf dem Felssims, um sich ihren jeweiligen Geschwadern zuzuordnen. Über allen anderen Formationen kreisten Zulaya und die übrigen Königinnenreiterinnen.
Das hat ja bestens geklappt. Auf geht's, Charrie.
Mit einem kräftigen Satz stieß sich nun auch der große Bronzedrache vom Boden ab. Ein, zwei Schwingenschläge, und er nahm seine Position vor den Königinnen ein. Köpfe wurden emporgereckt, und Charanth flog einen Bogen gen Osten, damit alle den Weyrführer sehen konnten.
Informiere den Weyr, dass unser Ziel das Asowsche Meer ist.
Längst geschehen!
K'vin gab das Zeichen, ins Dazwischen zu gehen. Das komplette Geschwader verschwand zur selben Zeit vom Himmel.
Drei Sekunden später schlug ihm die heiße Luft über dem Asowschen Meer ins Gesicht, als hätte ihm jemand ein angewärmtes Handtuch über Mund und Nase gehalten. Charanth grummelte vor Wohlbehagen.
K'vin interessierte sich viel mehr dafür, ob die Drachen im Formationsflug eingetroffen waren. Er schmunzelte zufrieden, als er die mustergültige Ordnung sah.
Sag den Geschwaderführern, sie sollen ihre Reiter zu den jeweiligen Zielorten bringen.
Ein Geschwader nach dem anderen drehte ab, mit Ausnahme von T'lels Crew, die am Strand bleiben wollte. Auch die Königinnen glitten zur Wasserlinie hinab, denn sie beförderten die Lebensmittel, aus denen Tisha die abendliche Mahlzeit zubereiten musste.
Lass uns abwarten, bis alle gelandet sind, befahl K'vin Charanth, obwohl er zu gern dabei gewesen wäre, wenn Tisha von Branuth hinuntergehoben wurde. Doch er war nicht wenig besorgt, als er sah, wie ein brauner Drache sich vom Geschwader absonderte und dicht vor der Küste im Wasser niederging. Auch Charanth beobachtete das Schauspiel.
Branuth sagt, sie hätte es so gewollt. Sie wird sich von seinem Rücken ins Wasser fallen lassen und an Land schwimmen, erklärte Charanth. K'vin kicherte.
Das ist ein viel würdevollerer Abgang als zu Lande.
Branuth sagt, das ist auch für ihn viel einfacher. Aber daheim in Telgar wird er es nicht so machen.
Kein Wunder, wenn man bedenkt, wie kalt das Wasser um diese Jahreszeit ist.
Können wir jetzt landen? Branuth sagt, die Sonne scheint warm.
Ich dachte, du wolltest Beute jagen.
Später. Zuerst will ich mich aufwärmen.
Alle Drachen schienen das gleiche zu empfinden wie Charanth, und bald waren sowohl der Kiesstrand wie auch das dahinter liegende Land mit Drachenleibern bedeckt. Der Bereich der Küste war dicht mit Strauchwerk bestanden, das einen angenehmen Duft verströmte, wenn es von den schweren Tierkörpern zerquetscht wurde.
Tisha schickte ein paar Leute los, um Brennholz und große Steine für ein Lagerfeuer zu suchen. Außerdem sollten sie an Früchten einsammeln, was sie finden konnten. Eine andere Gruppe bezog Posten auf weit ins Meer hineinragenden Felsblöcken, um von dort aus zu angeln.
»Ich gehe schwimmen!«, rief Zulaya K'vin zu, als Charanth zur Landung ansetzte. Sie zog sich bereits die Jacke aus. »Meranath möchte auch ins Wasser.« Nachdem sie ihre Kleidung säuberlich zusammengefaltet auf einen Stein gelegt hatte, rannte sie zur Wasserlinie.
»Und was ist mit den Würmern?«
»Die können warten«, rief sie über die Schulter zurück, während sie bereits durch die Dünung watete.
Wir müssen doch nicht gleich aufbrechen, um die Würmer zu suchen, oder?, fragte Charanth in quengelndem Ton. Seine Augen glitzerten gelb vor Anspannung.
»Nein, das hat Zeit«, beruhigte K'vin ihn. »Eigentlich dienten die Würmer nur als Vorwand, um dem Weyr ein paar erholsame Tage in der Sonne zu verschaffen.«
Er entledigte sich seiner Kleidung, und Drache wie Reiter gesellten sich zu den anderen Schwimmern in den lauen Asowschen Gewässern.
In der Tat waren die Würmer das Letzte, woran die Drachenreiter in diesem Augenblick dachten. Stattdessen beschäftigten sie sich mit Schwimmen, Sonnenbaden und dem Beschaffen von Nahrung, derweil einige Drachen zum Jagen losflogen. Wer wollte, fand Zeit und Muße für intimere Vergnügen.
P'tero und M'leng baten V'last, ihren Geschwaderführer, um die Erlaubnis, mit ihren Drachen auf die Jagd zu gehen.
»Denkt daran, was K'vin uns über diese exotischen Raubtiere erzählte, die in der Gegend herumstromern«, warnte V'last alle Reiter, die sich von der Gruppe entfernen wollten.
P'tero und M'leng versprachen, wachsam zu sein, doch sowie sie die Lichtung am Malay-Fluss verließen, die ihrem Geschwader als Lagerplatz diente, lachten sie über die Vorstellung, irgendeine Kreatur könnte ihren Drachen gefährlich werden.
»Es ist wirklich sehr heiß hier«, fand M'leng, einen letzten Blick auf den Fluss werfend.
»Nach der Jagd werden wir sicher noch mehr schwitzen«, prophezeite P'tero übermütig. »Doch wenn die Drachen erst einmal satt sind, haben wir die ganze Zeit bis zum Abendessen für uns.«
»Vor dem Essen sollten wir ohnehin nicht zurückkehren«, meinte M'leng lachend. »Andernfalls spannt man uns doch noch ein, zu angeln oder Beeren zu sammeln.«
»Es sind genug Leute vom Weyr mitgekommen, um diese Aufgaben zu übernehmen. Und sie tun es gern«, erwiderte P'tero ein wenig geringschätzig. »Machen wir, dass wir von hier fortkommen.«
Er nahm einen Anlauf und sprang auf Ormonths Rücken. M'leng schwang sich behände auf seinen grünen Sith.
»Welche Beute jagen wir?«, fragte M'leng.
»Was immer uns zuerst begegnet«, schlug P'tero vor und gab das Signal zum Aufstieg. M'leng mochte es, wenn er das Kommando übernahm.
Es dauerte nicht lange, und sie erspähten riesige Herden von Grasfressern. Diese Tiere waren viel kleiner als die domestizierten Kreaturen, die sie von daheim kannten. Doch als sie sahen, dass noch andere Drachen am Himmel kreisten und sich anschickten, im Gleitflug die Herden anzugreifen, bedeutete P'tero, in südwestlicher Richtung weiterzufliegen.
Schon bald mussten beide ihre Fliegerjacken ausziehen, weil es ihnen zu warm wurde; dann folgten die Hemden, die aus einem derben, dicht gewirkten Stoff bestanden. P'tero bewunderte M'lengs wohlgestalteten Körper. Der grüne Reiter war schlank und dabei ausgesprochen gut proportioniert. Seine drahtige und doch elegante Figur hatte P'tero auf Anhieb gefallen. Der Oberkörper war noch winterlich weiß, und P'tero schmunzelte, weil der Kontrast zu dem gebräunten Hals recht komisch wirkte.
Fasziniert betrachtete der blaue Reiter die tropische Landschaft, die sich selbst von den wärmeren Gefilden des Nordkontinents unterschied. In Nerat wucherten nahezu undurchdringliche Regenwälder, lediglich der Westen wies die Vegetation gemäßigter Klimata auf.
Ista lag in einem stark zerklüfteten Bergland mit schroffen Gipfeln und tief eingeschnittenen Tälern, und auch dort befand sich dichter Dschungel. Hier indessen erstreckte sich in alle Richtungen eine endlose Grassteppe, die in mancher Hinsicht an die Ebenen von Keroon erinnerte. Das flache Land war durchsetzt mit gelben, aus dem Boden ragenden Felsen und gelegentlichen Baumgruppen, die wie Inseln aus einem Gräsermeer auftauchten. Beim Vorbeiflug der Drachen stoben riesige Scharen von Wherries und anderen vogelähnlichen Wesen in die Luft, um mit hektisch klatschenden Schwingen das Weite zu suchen.
Kann ich diese Tiere fressen?, erkundigte sich Ormonth bei seinem Reiter, bereits das Tempo verstärkend, falls die Antwort ›Ja‹ lautete.
Was? Diese zähen kleinen Häppchen?, erwiderte P'tero verächtlich. Dann legte er die Hände wie einen Trichter vor den Mund und brüllte M'leng zu: »Ormonth ist so hungrig, dass er sich schon an Wherries vergreifen möchte!«
»Sith geht es ebenso. Wir sollten zusehen, dass sie bald etwas Futter kriegen«, schrie P'tero zurück. »Da drüben!« Er zeigte auf eine Felsformation. Ein Baum mit weit ausladender Krone hatte dort Halt gefunden und spendete einer schräg geneigten Steinplatte Schatten.
P'tero fand, die Struktur des Felsens gliche einem in die Höhe ragenden Schiffsbug, wobei sich der Rumpf des Bootes tief in den Boden gegraben hatte. Und der Baum sah aus wie ein Mast.
M'leng nickte zustimmend und flog mit Sith eine weite Kurve, so dass sie vor dem Bug aufsetzen konnten. Von Süden blies eine leichte Brise und trocknete den Schweiß auf ihren Körpern.
Als Erstes zogen sich die jungen Männer die dicken Flughosen und die schweren Stiefel aus. Die Socken mussten sie anbehalten, weil der Fels zum Barfußgehen zu heiß war.
M'leng, der ein ausgezeichnetes Sehvermögen besaß, beschattete die Augen mit einer Hand und spähte nach Westen, wo sich ein langer dunkler Streifen längs des Horizonts zu bewegen schien.
»Das ist gut. Eine Tierherde.« Er machte Sith darauf aufmerksam. »Siehst du? Die kannst du fressen. Die sind viel besser als Wherries. Und jetzt ab mit dir!« Aufmunternd klatschte er mit der flachen Hand gegen den Bauch des Drachen.
»Hinterher, Ormonth!«, forderte P'tero seinen Drachen auf. »Wir schauen euch von hier aus zu.«
Ormonth ließ seinen mächtigen Hals hin und her pendeln und traf keine Anstalten, aufzusteigen. Seine gelb leuchtenden, rasch kreisenden Augen bedeuteten, dass er sich vor irgendetwas fürchtete.
»Was ist los mit dir?«, fragte P'tero. Er wollte, dass sich beide Drachen entfernten, damit er mit M'leng ungestörte Zweisamkeit genießen konnte. Solange die Tiere mit Jagen und Fressen beschäftigt waren, zollten sie dem Tun und Treiben ihrer Reiter keine Aufmerksamkeit.
Ich rieche etwas.
»M'leng, hat Sith vielleicht auch eine ungewöhnliche Witterung aufgenommen?« P'tero zügelte seine Ungeduld, denn die Belange eines Drachen gingen vor.
»Mir scheint, hier duftet alles anders als bei uns im Norden«, erwiderte M'leng achselzuckend. Seine gespannte Miene verriet, dass er sich genauso nach einem Schäferstündchen sehnte wie P'tero.
»Ich gebe gut Obacht«, versprach P'tero Ormonth und befahl ihm, sich auf den Weg zu machen.
Die beiden Drachen sprangen gleichzeitig hoch, und stolz beobachtete P'tero die eleganten Bewegungen seines Reittiers, das sich spiralig in die Höhe schraubte, um dann im Sturzflug auf seine Beute herabzustoßen.
M'leng legte sich P'teros Arm um die Schultern. »Meine Güte, fühlt deine Haut sich aber heiß an. Wir müssen aufpassen, dass wir uns keinen Sonnenbrand holen.«
»Wenn wir uns bewegen, verbrennen wir nicht so leicht.«
»Und in Bewegung bleiben wollen wir ja, oder?«
Sie gingen so sehr in ihren Zärtlichkeiten auf, dass sie nicht bemerkten, wie sich die Windrichtung änderte. Ein lindes Lüftchen fächelte ihnen immer noch Kühlung zu und trocknete die Schweißperlen auf ihren erhitzten Körpern. Sie merkten nicht, was rings um sie her passierte, und erst Ormonths wütender Schrei riss sie aus ihrer Versunkenheit. Gleichzeitig wurde P'tero heftig gegen M'leng geschleudert, und etwas Scharfes, Spitzes bohrte sich in seinen Rücken.
»Ormonth!«, gellte er.
M'lengs schlaffer Körper lag reglos unter ihm, während er versuchte, sich gegen seine Angreifer zu wehren.
Hilfe!, schrie er in Gedanken. Verzweifelt kämpfte er darum, sich aus dem Zugriff der reißenden Fänge zu befreien.
Ein Schatten senkte sich hernieder, und die Luft darunter wurde zusammengepresst. Das Tier, das ihn angefallen hatte, ließ ein grausiges Gebrüll ertönen, und sein heißer, nach fauligem Fleisch stinkender Atem stieg ihm in die Nase. Die Krallen, die sich in seinen Rücken gegraben hatten, wurden herausgerissen, und die unsäglichen Schmerzen entlockten ihm abermals ein schrilles Geheul.
Etwas Schweres, Pelziges wirbelte in hohem Bogen durch die Luft. Er erhaschte einen Blick auf einen blauen und einen grünen Rumpf, dazwischen ein großes, braunes Etwas, das wie aus dem Nichts zu kommen schien.
Endlich kringelte sich beschützend ein blauer Drachenschwanz um seinen gemarterten Körper. Ormonths Gebrüll vermischte sich mit ohrenbetäubenden Schmerzensschreien. Die ganze Zeit über drängten Bilder von Rache und Aggression auf seinen Geist ein, die von Ormonth ausgingen und ganz untypisch für einen Drachen waren.
Während er gegen die Agonie ankämpfte, die ihn in Wellen überfiel, vergegenwärtigte er sich, dass Ormonth und Sith das Raubtier in Stücke rissen; warmes Blut und Fleischstücke prasselten auf ihn nieder. Er merkte erst, dass M'leng immer noch unter ihm lag, als dieser jählings fortgezerrt wurde.
Zu seinem Entsetzen gewahrte er eine riesige braune Pranke, deren gelbe Krallen sich in einer Schulter seines Geliebten verankert hatten. Blut quoll aus den Wunden. Trotz seiner unerträglichen Schmerzen warf er sich schützend über M'leng und schlug auf die Tatze ein, bestrebt, das Untier zum Loslassen zu bewegen.
Plötzlich entfernten sich die Drachen ein Stück, und er konnte wieder frei durchatmen. Er hob den Kopf und sah, dass Ormonth und Sith ein Rudel von gelbbraunen, mageren Kreaturen in die Flucht trieben, die die Felsformation umzingelten. Die Drachen packten sie bei den Schwänzen oder Hinterläufen und schleuderten die fauchenden und sich krümmenden Bestien durch die Luft. Ein Untier behauptete die Stellung und hieb mit der Pranke nach Siths Kopf.
»M'leng, M'leng, so antworte mir doch!«, schrie P'tero und versuchte, seinen Geliebten aus der Ohnmacht zu schütteln.
Dann fiel P'teros Blick auf ein Paar Stiefel, die neben M'lengs Kopf auftauchten.
»Hilfe, Hilfe!«, ächzte er, nach den Stiefeln greifend. »So helft mir doch, ich sterbe!« Vor Schmerzen wurde er fast wahnsinnig.
»Wo bleibt der Fellis-Saft? Her mit dem Taubkraut!«
Während P'tero langsam das Bewusstsein verlor, fragte er sich flüchtig, wie um alles unter der Sonne Zulaya hierher kam, und ob seine letzte Stunde geschlagen hätte.