KAPITEL 9

Winteranfang; Burg Fort und die Grenzen von Bitra

Lord Paulins Nachricht an die anderen Burgherren und Weyrführer wurde recht unterschiedlich aufgenommen. Nicht jeder bejahte ein Amtsenthebungsverfahren, trotz der Beweise, die gegen Chalkin vorlagen. Paulin war ziemlich verärgert und frustriert; er hatte mit einem einstimmigen Beschluss gerechnet, so dass man Chalkin hätte absetzen können, ehe seine marode Festung völlig heruntergewirtschaftet war.

Jamson und Azury fanden, die Angelegenheit könne bis zur Versammlung am Ende des nächsten Planetenumlaufs verschoben werden. Jamson war für seine reaktionäre Einstellung bekannt, doch Azurys zögerliche Haltung setzte Paulin in nicht geringes Erstaunen. Indessen verstanden die Bewohner tropischer Regionen oftmals nicht die Probleme, die die Winterzeit mit sich brachte.

Gewiss, mitten im Winter wäre es schwierig, Burg Bitra von Grund auf herzurichten – so lautete jedenfalls Azurys offizielle Stellungnahme; aber man konnte wenigstens damit beginnen, Schutzmaßnahmen gegen den Fädenregen zu treffen. Schon vor zwei Jahren hätte man in Bitra mit den Vorkehrungen anfangen müssen – so wie es in jeder anderen Burg geschehen war.

Konkret hieß das, dass man mehr Äcker bestellte, die überschüssige Ernte einlagerte und sowohl Gebäude als auch kultivierte Landflächen vor den Fädenschauern zu schützen versuchte. Längs der Hauptstraßen mussten Unterstände für Reisende und die Bodencrews errichtet werden. Ganz zu schweigen von den Schulungen, in denen man den Pächtern und Grundbesitzern beibrachte, wie man Fäden bekämpfte, die sich in den Boden eingruben.

Ein zusätzliches Hemmnis für effektives Handeln stellte die Moral von Chalkins Untergebenen dar. Die Leute machten generell einen mutlosen, geduckten Eindruck – was natürlich keineswegs rechtfertigte, sie über die bevorstehende Gefahr im Unklaren zu lassen.

Und dann stellte sich die Frage, wer Chalkins Nachfolge antreten sollte. Diesbezügliche Überlegungen endeten notgedrungen in einem Dilemma.

Von Bastom stammte der brauchbare Vorschlag, unverzüglich einen Stellvertreter oder Regenten einzusetzen, bis einer von Chalkins Söhnen volljährig wurde; Söhne, die man inzwischen konsequent darauf drillen musste, die Verantwortung für die Burg zu übernehmen. Nicht, dass der neue Burgherr unbedingt dem Geschlecht der Chalkins angehören musste, doch indem man die natürliche Erbfolge berücksichtigte, konnte man die Lords, die das Aufkeimen einer umstürzlerischen Gesinnung befürchteten, vielleicht beruhigen. Privat vertrat Paulin die Auffassung, dass in der Frage einer Nachfolge ausschließlich Kompetenz maßgeblich sein sollte, und nicht der Stammbaum der Aspiranten. Denn Tüchtigkeit und organisatorisches Talent, unabdingbare Eigenschaften für einen Burgherrn, wurden nicht immer über die Gene vererbt.

Zum Beispiel zeigte Paulins ältester Neffe ein beachtliches Talent, wenn es um die Leitung eines großen Gemeinwesens ging. Sidny war fleißig, besaß einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit und entpuppte sich oftmals als guter Menschenkenner.

Paulin neigte immer mehr dazu, ihn als den nächsten Burgherrn vorzuschlagen, wenn er selbst bereit war, das Amt abzugeben. Seinem Sohn Mattew gegenüber hegte er indessen arge Bedenken, ob dieser für einen so wichtigen, verantwortungsvollen Posten geeignet wäre. Allerdings legte Paulin an seine eigenen Kinder strengere Maßstäbe an, als es Väter im Allgemeinen taten.

Er war fest entschlossen, Bastoms Vorschlag dem Rat zu unterbreiten. Doch wenn man bedachte, in welch desolatem Zustand sich Burg Bitra befand, würde man ein Team aus mehreren Leuten benötigen, die das Anwesen erst einmal in Schuss brächten. Er erwärmte sich immer stärker für diese Idee, denn dadurch würde man den Nörglern, die Filz- und Vetternwirtschaft argwöhnten, von vornherein den Wind aus den Segeln nehmen.

Als die letzte Antwort eintraf, gab Paulin dem jungen Drachenreiter, der sie überbracht hatte, eine Botschaft an M'shall vom Benden-Weyr mit. In dem Schreiben unterrichtete er ihn über den Ausgang der Befragung. Der Weyrführer wäre sicherlich genauso enttäuscht wie er selbst. Dennoch versuchte sich Paulin einzureden, dass es möglich sein müsse, Burg Bitra rechtzeitig zum Fädenfall mit den notwendigsten Schutzmaßnahmen zu versehen. Aber die Zeit lief ihnen langsam davon. Je eher sie mit der Arbeit anfingen, umso besser.

Er hoffte, M'shall habe mittlerweile jenen schwer auffindbaren Verwandten, Lord Chalkins Onkel, in Bitra ausgemacht, und ein Segen wäre es, wenn sich dieser Mann als fähig erweisen würde, Chalkins Nachfolge anzutreten. Andernfalls musste man sich auf die Suche nach weiteren legitimen Erben machen.

»Verflixt«, knurrte Paulin und seufzte frustriert. Wenn man einen durchgehenden Stammbaum erstellen wollte, konnte man nicht länger auf die schnellen Computerprogramme zurückgreifen. Doch er nahm an, dass Clisser wenigstens dieses eine Programm hatte ausdrucken und kopieren lassen. »Nun, jedenfalls brauchen wir eine komplette Genealogie, ganz gleich, in welcher Form sie verfügbar ist«, sagte er zu sich selbst. Um sich von diesem Problem abzulenken, beschäftigte er sich mit dem Bericht über die neu gegründete Erzmine.

Die Betreiber baten um die Erlaubnis, die Ansiedlung CROM zu nennen, ein Akronym, das sich aus den Initialen der Besitzer zusammensetzte: Chester, Ricard, Otty und Minerva. Paulin hatte nichts dagegen einzuwenden, doch der Form halber – vor allen Dingen in einer so heiklen Situation wie jetzt – sollte man die Bitte zuerst dem versammelten Rat vortragen.

Während des fädenfreien Intervalls hatte man viele Dinge sehr lasch gehandhabt, und diese Nachlässigkeit rächte sich jetzt, wie man am Beispiel von Burg Bitra sah. Chalkin hätte niemals Burgherr werden dürfen. Ein wenig tröstete sich Paulin mit dem Wissen, dass nicht er selbst, sondern sein Vater, der verstorbene Lord Emilin, im Namen von Burg Fort für Chalkin gestimmt hatte. Paulin konnte sich nicht vorwerfen, ein falsches Urteil abgegeben zu haben, doch die Korrektur dieses Fehlers oblag nun ihm.

Es klopfte an seiner Tür, und noch ehe er antworten konnte, ging sie auf. M'shall, der Weyrführer von Benden, kam hereingestürmt, gefolgt von Mattew.

»Wir müssen sofort etwas unternehmen, Paulin«, platzte der Weyrführer heraus. Mit grimmiger Miene entledigte er sich seiner derben Reithandschuhe und öffnete die Jacke.

»Sie haben meine Botschaft erhalten … Bring uns Klah, Matt«, erwiderte Paulin und bedeutete seinem Sohn, er möge sich sputen. M'shalls Gesicht wirkte hart und wie eingefroren – und das nicht nur, weil er die bittere Kälte des Dazwischen passiert hatte.

»Das habe ich in der Tat. Aber das ist noch längst nicht alles. In Bitra herrschen zur Zeit fürchterliche Wetterbedingungen, und die Leute erfrieren, weil man sie an der Grenze festhält. In eine andere Provinz abwandern können sie nicht, weil die Wachen dafür sorgen, dass niemand flüchtet, und der Rückweg ist ihnen gleichfalls versperrt. Chalkin hat angekündigt, dass diese ›Landesverräter‹, wie er sie nennt, ihr Recht auf jedweden Besitz verwirkt haben. Das ist seine Bestrafung für das ›treulose Gesindel‹, obschon er das Leben der Menschen in Gefahr bringt, weil er die Begriffe Fürsorge und Verantwortung seinen Leuten gegenüber gar nicht kennt.«

»Wie viele Bitraner sind von diesen Maßnahmen betroffen?«

M'shall kämmte sich mit den Fingern durch das dichte graue Haar, das vom Reithelm plattgedrückt war. »L'sur meint, dass sich an der Grenze zu Benden über hundert Menschen aufhalten, Frauen, Kinder und alte Leute. An anderen Grenzen haben sich ebenfalls Menschen eingefunden. Es gibt keinerlei Unterkünfte, lediglich die Wachposten haben für ihr eigenes Wohl gesorgt. Die Flüchtlinge hat man in provisorische Pferche eingesperrt. Und das Entsetzlichste ist, dass L'sur gesehen hat, wie man Leute an den Füßen aufhängte und dann mit Pfeilen auf sie schoss. Der Benden-Weyr wird derlei Gräuel nicht dulden, Paulin.«

»Wir von Burg Fort werden auch nicht tatenlos zusehen!« Paulin sprang von seinem Sitz hoch und tigerte im Raum auf und ab. »Wenn Chalkin das unter der Verwaltung einer Provinz versteht, müssen wir ihm Einhalt gebieten.«

»Das finde ich auch«, bekräftigte M'shall und raufte sich schon wieder nervös die Haare. »Noch eine Nacht im Freien, und die Leute sterben an Unterkühlung und Erschöpfung. Bridgely ist auch der Meinung, dass wir noch heute aktiv werden müssen. Für Bitra ist strenger Frost angekündigt. Ich kam zu Ihnen, um das Einverständnis des Rats einzuholen, denn in dieser Angelegenheit sollten wir so korrekt wie möglich vorgehen …«

Er legte eine Pause ein. »Auf eine derartige Situation sind wir nicht vorbereitet. Seine Leute rebellieren ja nicht, sie fürchten nur um ihr Leben und suchen verzweifelt nach einer sicheren Bleibe, die ihnen Bitra offenkundig nicht bieten kann.« Er beugte sich vor. »Es ist doch so, Paulin, wenn wir einfach nur Lebensmittel und Decken an die Menschen verteilen, werden ihnen die Wachposten alles wegnehmen, sowie wir der Grenze den Rücken kehren. Also müssen wir zum Schutz ein paar Drachenreiter dalassen … womit wir Chalkin einen Grund liefern, sich über ungebetene Einmischung eines Weyrs zu beschweren.«

Paulin wurde übel. Was sich derzeit in Bitra abspielte, glich aufs Haar den ungerechten, blutigen Praktiken auf der alten Erde, die die Siedler damals veranlasst hatten, in eine andere Welt auszuwandern. Auf Pern wollten sie eine neue Gesellschaftsordnung entwickeln, die nach humanen Grundprinzipien funktionierte und ausschloss, dass Menschen wie Chalkin zu unangefochtenen Tyrannen heranwuchsen. Dieser Planet wurde in dem Geist kolonisiert, dass es Platz gab für jeden, der gewillt war, das ihm verfassungsmäßig zustehende Fleckchen Land zu bewirtschaften.

»Wenn Ihre Reiter die Grenze zu Bitra nicht überqueren, hat Chalkin kein Recht, sich angegriffen zu fühlen. Außerdem ist der Benden-Weyr verpflichtet, Burg Bitra Schutz zu gewähren.«

»Der Schutz bezieht sich auf den Fädenfall«, stellte M'shall richtig.

»In gewisser Weise haben wir es hier mit Schutz vor Fädeneinfall zu tun«, entgegnete Paulin grimmig. »Die Bitraner können sich in diesem Punkt nicht auf ihren Burgherrn verlassen, und an wen sonst sollten sie sich wenden, wenn nicht an den für sie zuständigen Weyr? O nein!« Paulin hieb mit der Faust auf den Tisch. »Sie überschreiten keinesfalls Ihre Befugnisse. Stünden Ihnen denn Reiter zur Verfügung, die sich freiwillig für diese Aufgabe melden?«

»L'sur ist bereits dageblieben, das teilte sein Drache meinem Craigath mit.«

»Aber lassen Sie Ihre Drachen keine Flammen speien«, ermahnte Paulin ihn mit erhobenem Zeigefinger. »So gern ein paar von Ihren Leuten vielleicht Stärke demonstrieren möchten.«

»Oh, in dieser Hinsicht habe ich bereits unmissverständliche Anweisungen erteilt«, entgegnete M'shall, und um seine Lippen zuckte ein grimmiges Lächeln. »Außerdem haben wir in Benden längere Zeit nicht für den Ernstfall trainiert, also ist in den Drachen kein Fünkchen Feuer mehr übrig. Was die Wachposten betrifft, so würde ich sie am liebsten im Dazwischen absetzen, aber …« Er hob beide Hände, um Paulin zu bekunden, dass er diese Drohung nicht ernst meinte.

Mattew kam mit einem Tablett zurück, auf dem sich Becher mit dampfendem Klah, zwei Schalen Suppe und ein Korb voller frisch gebackener Brötchen befanden. Nachdem er die Sachen auf den Schreibtisch gestellt hatte, ging er wieder.

M'shall wartete nicht, bis Paulin ihn zum Zugreifen aufforderte, sondern schnappte sich seine Schale Suppe, blies darauf und fing an zu löffeln, sobald sie ihm nicht mehr so brühheiß erschien. »Das ist genau das, was ich jetzt brauche. Falls Sie einen Kessel Suppe übrig haben, nehme ich ihn mit.« Er leckte sich die Lippen. »Das Zeug ist heiß genug, um einen Sprung durchs Dazwischen zu überstehen.«

»Sie bekommen, was Sie wollen, und den Kessel dürfen Sie behalten. L'sur ist an Ort und Stelle geblieben, sagen Sie?« Versonnen rührte Paulin Süßstoff in sein Klah. M'shall nickte. »Das trifft sich gut. Die Anwesenheit von Drachenreitern dürfte genügen, um weitere Gewalttätigkeiten zu verhindern.« Doch er wusste, dass dies nur eine vorübergehende Lösung des Problems wäre. Zu gern hätte er mehr getan, als die Not leidenden Menschen lediglich mit heißer Suppe zu versorgen, doch er als Ratsvorsitzender musste sich erst einmal zurückhalten und sich vergewissern, wie weit er gehen durfte. »Zumindest der Weyr hat das Recht, in Aktion zu treten, und auch Bridgely darf eingreifen«, stellte er fest. Abermals donnerte seine Faust auf die Tischplatte. »Ich werde Jamson und Azury persönlich aufsuchen. Jetzt, da Chalkin derart drastische Maßnahmen ergreift, dürfen wir nicht länger passiv bleiben. Am liebsten würde ich zögerliche Naturen wie Jamson und Azury an die Grenzen bringen lassen, damit sie mit eigenen Augen sehen, was sich in Bitra abspielt. Wahrscheinlich glauben sie, wir hätten die Situation übertrieben.«

»Wie können sie so etwas annehmen?«, entrüstete sich M'shall.

»Sie selbst würden sich nie in dieser perfiden Art und Weise an ihren Leuten vergehen. Deshalb fällt es ihnen schwer, sich vorzustellen, was Lord Chalkin so treibt.«

»Nun ja«, meinte M'shall, »Beweise gibt es mittlerweile genug.«

Abermals klopfte es an der Tür. Matt öffnete, und herein trat K'vin.

»Ich habe gerade gehört, was an der Grenze zu Bitra los ist, M'shall. Ich dachte mir schon, dass ich Sie hier antreffen würde.«

»Hat Chalkin jetzt etwa auch noch die westliche Grenze blockiert?«

K'vin nickte. »Telgar kann ihm nicht verbieten, seine Grenzen zu schließen, aber er bringt Leute um, indem er sie schutzlos dieser kalten Witterung aussetzt. Ich kann und werde nicht zulassen, dass Menschen so grausam behandelt werden.« Erwartungsvoll blickte er Paulin an.

»M'shall und ich haben gerade über diesen unerträglichen Zustand diskutiert. Die anderen Burgherren hatte ich bereits gebeten, ihre Meinung über Chalkins Verhalten kundzutun und mir ihre Ansicht bezüglich einer Amtsenthebung mitzuteilen. Die Antworten fielen sehr unterschiedlich aus, so dass ich selbst in meiner Eigenschaft als Ratsvorsitzender nur wenig ausrichten kann – jedenfalls offiziell. Doch wie M'shall richtigerweise betont, obliegt es den Weyrn, Menschen zu beschützen. In gewisser Hinsicht könnte man sagen, die Bitraner müssen vor den Fäden in Sicherheit gebracht werden, denn schließlich haben sie eine Festung aufgegeben, die ihnen mangels Vorbereitung keinen Schutz gewährt. Folglich dürfen die Weyr dort eingreifen, wo mir die Hände gebunden sind.«

»Mehr wollte ich gar nicht wissen!« K'vin schlug sich mit den Reithandschuhen gegen den Schenkel, wie um seinen Beifall zu äußern.

Warnend hielt Paulin eine Hand hoch. »Aber Sie müssen sich hüten, Chalkin einen Anlass zu geben, sich wegen Verletzung seiner Autonomie zu beschweren.«

»Die Selbstbestimmung einer Kolonie hört da auf, wo Menschen vorsätzlich misshandelt oder gar zu Tode gebracht werden«, protestierte K'vin.

»Jetzt ist wohl kaum der richtige Zeitpunkt, um die Neutralität der Weyr aufzugeben«, meinte Paulin. »Denn noch hat der Fädenregen nicht eingesetzt.«

»Kommen Sie, Paulin …«, begann M'shall.

»Ich bin mit Ihnen beiden einer Meinung, aber als Ratsvorsitzender muss ich Sie daran erinnern – ungeachtet meiner privaten Einschätzung –, dass es niemandem zusteht, sich in die Verwaltung eines autonomen Gemeinwesens einzumischen.«

»Sie müssen sich da raushalten, Paulin« widersprach K'vin. »M'shall und ich brauchen keine Zurückhaltung zu üben. Das geltende Recht besagt nämlich auch, dass die Weyr zum Schutz der Menschen gegründet wurden.«

»Die Weyr sollen die Bewohner dieses Planeten vor den Fäden abschirmen …«, hielt Paulin dem jungen Weyrführer entgegen.

»Vor jedweder Gefahr«, beschied ihm K'vin resolut. »Ganz gleich, ob jemand ungeschützt einem Fädenschauer ausgesetzt ist, oder gezwungen wird, in klirrender Kälte im Freien zu nächtigen, so dass er erfrieren kann.«

Paulin nickte verständnisvoll. »Möglicherweise vergesse ich auch, dass Sie beide mich heute aufgesucht haben.« Er schmunzelte. »M'shall, wissen Sie zufällig, wo Chalkins Onkel lebt?«

»Ich habe seinem Besitz sogar einen Besuch abgestattet«, erzählte M'shall. »Haus und Hof waren verwaist, und das auf eine eigentümliche Weise. Letzten Herbst war Vergerin noch wohlauf.«

»Wie meinen Sie das, sein Haus sei auf eine eigentümliche Weise leer gewesen?«, hakte Paulin nach, sich Vergerins Namen notierend.

»Alles wirkte, als hätte jemand bewusst den Eindruck erwecken wollen, in dem Gehöft hätte seit vielen Jahren niemand mehr gewohnt. Dabei sah man noch deutlich, wie rings um die Gebäude Sträucher und Gräser zurückgestutzt worden waren, wie ein jeder kluger Siedler vorgeht, der nicht will, dass sein Anwesen von der Vegetation in Besitz genommen wird. Irgendwer hatte Schutt dort abgeladen, um sämtliche Spuren von Bodenbearbeitung zu verwischen.«

»Ob Chalkin geahnt hat, was wir eventuell planen und uns zuvorgekommen ist?«, grübelte Paulin. Dann blickte er von einem Drachenreiter zum anderen. »Am besten, Sie beide brechen gleich auf und versuchen, so viele Menschen wie möglich zu retten, ehe die Kälte oder Chalkins Schläger sie umbringen. Und von denjenigen, die keine Angst haben, sich öffentlich gegen Chalkin zu stellen, hätte ich gern ein paar Aussagen.« M'shalls Hand lag schon auf dem Türknauf, als Paulin ihnen hinterherrief: »Und keine Feuer speienden Drachen, bitte. Andernfalls könnte die Situation außer Kontrolle geraten.«

K'vin heuchelte Erschrecken ob dieser Unterstellung. M'shall wandte sich ernst an den Herrn von Burg Fort. »Das will ich nicht gehört haben, Paulin«, versetzte er steif.

»Als ob wir …«, brummelte K'vin vor sich hin, während die beiden Weyrführer den Raum verließen.

»Am liebsten würde ich mit einer wahren Flammengarbe über die Wachposten kommen«, gestand M'shall mit gepresster Stimme. »Das ist ja das Problem. Ich kenne diesen Chalkin nämlich ein Weilchen länger als Sie, K'vin.«

Im Hof warteten Craigath und Charanth auf ihre Reiter.

»Übernehmen Sie die westliche und nördliche Grenze, K'vin?«, schlug M'shall vor, ehe sie sich trennten und zu ihren jeweiligen Bronzedrachen gingen. »Haben Sie eine ungefähre Vorstellung davon, wie viele Menschen transportiert werden müssen?«

»Allerdings. Seit Chalkin seine Grenzen dicht machte, ließ ich dort meine Reiter patrouillieren. Zulaya wird Tashvi und Salda Bescheid geben, dass wir anrücken. Zuerst bringen wir alle Bitraner in den Weyr. Wir sind darauf eingestellt, Hilfe zu leisten.«

»Sie sind wirklich außerordentlich tüchtig, K'vin«, lobte M'shall seinen Kameraden. »Dann wollen wir mal!« Der Weyrführer von Benden schwang sich auf die Schulter seines Drachen und ließ sich behände zwischen den Nackenwülsten nieder.

Fliegen wir los um zu helfen?, wandte sich Charanth an K'vin.

Ja, wir greifen ein. Sag Meranath, Zulaya kann mit dergeplanten Operation beginnen. Ich treffe mich mit meinem Geschwader an der Straße nach Falls. Und ich finde, wir sollten Iantine mitnehmen.

Als K'vin in Telgar eintraf, stand die erste Rettungsstaffel bereit, um auf sein Zeichen hin aufzubrechen. Er wartete nur, bis Iantine hinter ihm auf Charanths Rücken Platz genommen hatte.

»Fertigen Sie so viele Schwarzweiß-Skizzen an, wie Sie können, Iantine. Ich will Chalkin durch diese Beweise festnageln.«

Nur zu gern kam Iantine dieser Aufforderung nach. Es war eine Möglichkeit, es dem arroganten Burgherrn heimzuzahlen. Doch sowie Iantine an der Grenze auf dem verschneiten Boden abgesetzt wurde, verwandelte sich seine Schadenfreude in Abscheu und Entsetzen.

Mit sparsamsten Linien zeichnete er den ›Pferch‹ – um Bäume gespannte Taue, hinter denen sich vor Kälte schlotternde Leute drängten, im Stehen, denn zum Sitzen war nicht genug Platz. Er hielt die verhärmten, von Leid geprägten Gesichter fest, die durchfrorenen, zusammengekrümmten Leiber, dicht an dicht geschmiegt, um sich gegenseitig ein bisschen zu wärmen.

Manchen hatte man außer ihrer Unterwäsche alle Kleidungsstücke abgenommen. Mit ihren bloßen, bläulich-weißen, erfrorenen Füßen standen sie auf Lumpen oder auf den Stiefeln ihrer Nachbarn. Kinder greinten vor Hunger und Erschöpfung oder kauerten halb bewusstlos zu Füßen der Erwachsenen. Drei ältere Menschen waren bereits erfroren. Die meisten Gesichter trugen Spuren schwerer Misshandlungen.

Die Wachposten hingegen hatten sich in mehrere Schichten warmer Bekleidung gehüllt. Über prasselnden Feuern rösteten sie das Fleisch der Tiere, die die Flüchtlinge mit sich geführt hatten. Etliche Stück Vieh waren an Bäumen festgebunden oder in behelfsmäßigen Einfriedungen untergebracht.

Sämtliche Habseligkeiten, die den eingesperrten Menschen gehörten, lagen aufgetürmt neben einem Wächterhäuschen oder in dahinter aufgereihten Karren. Als Iantine die Wachposten skizzierte, vergaß er nicht, die zahlreichen Schmuckstücke mitzuzeichnen, mit denen sich die Kerle schmückten. Schamlos protzten die Männer mit Armreifen, Fingerringen und sogar Ohrgehängen.

Die Ankunft der Drachenreiter hatte die Wächter in Alarmzustand versetzt, und die meisten zogen sich ein Stück weit hinter die mit Steinen markierte Grenzlinie zurück. Das vereinfachte die Aufgabe, die Gefangenen zu befreien. Viele von ihnen befanden sich in einem so schweren Schockzustand, dass sie sich vor den Drachen und den Reitern genauso fürchteten wie vor Chalkins brutalen Schergen.

Zulaya hatte Weyrangehörige mitgebracht, und deren Anwesenheit wirkte sich beruhigend auf die eingeschüchterten Menschen aus. Als erstes wurden Decken und warme Oberbekleidung verteilt. Die heiße Suppe, die später folgte, war für die meisten Flüchtlinge die erste Mahlzeit, seit sie ihre Höfe verlassen hatten.

Was Iantine nicht zu Papier bringen konnte, waren die Geräusche und die Gerüche dieser schaurigen Szene. Dennoch gelang es ihm in gewisser Weise, seine eigenen Eindrücke dem Betrachter der Skizzen zu vermitteln – durch die aufgesperrten Münder der verängstigten Menschen, durch das blanke Entsetzen, das in ihren Augen stand, indem er die geschundenen Körper zeichnete, die Lumpen, die kaum die Blöße dieser malträtierten Kreaturen zu bedecken vermochten. Getreulich hielt er die Fäkalienhaufen fest, denn die Wächter hatten keine Latrinen anlegen lassen, die armseligen Siebensachen der Geflohenen, die sich nun als Beute neben den Wärterhäuschen stapelten.

Nun, da er echtes Elend gesehen hatte, vergegenwärtigte sich Iantine, dass seine Begegnung mit Chalkin noch glimpflich verlaufen war.

Der Künstler kehrte mit der letzten Gruppe zurück. Nur im Dazwischen ließ er seine Hand ruhen, sogar während des Fluges zeichnete er, P'teros Rücken als Auflage für den Malblock benutzend.

»Sie haben keine Sekunde lang mit Zeichnen aufgehört«, rief P'tero ihm über die Schulter zu. »Hier oben wird noch Ihre Hand abfrieren.«

Iantine wackelte mit den Fingern, um ihm zu beweisen, dass ihm nichts fehlte, und fuhr mit dem Skizzieren fort. Er fügte Details ein, indem er die Bilder der Männer fertigstellte, die man bei den Füßen aufgehängt und dann als Zielscheiben benutzt hatte. Als eine ihrer ersten Handlungen hatten die Retter die zermarterten Leichname von den Stricken abgeschnitten, mit denen sie an den Ästen festgebunden waren. Iantine hatte nur Zeit gefunden, um die Umrisse grob zu skizzieren, doch die Einzelheiten standen ihm noch plastisch vor Augen, trotz der vielen Zeichnungen, die er an diesem Tag angefertigt hatte. Er fand, er müsse jeden Punkt dieser grausigen Szene anschaulich wiedergeben, andernfalls käme er sich vor wie ein Verräter.

Als der junge blaue Reiter ihn vor der unteren Kaverne absetzte, suchte sich der Künstler einen Tisch unweit des Kamins, um seine Finger zu wärmen und noch schneller zeichnen zu können. Der Stift raste nur so über das Blatt Papier. Sowie sich eine Hand auf seine Schulter legte, fuhr er erschrocken von seinem Stuhl hoch.

»Ich bin's, Debera.« Die grüne Reiterin stellte einen Becher Klah und eine Schale mit Eintopf vor ihn hin. »Alle anderen haben schon gegessen, du solltest jetzt auch besser was zu dir nehmen«, meinte sie ernst, indem sie ihm ohne viel Federlesens Zeichenstift und Block wegnahm. »Du siehst schrecklich aus«, fügte sie nach einem prüfenden Blick in sein Gesicht hinzu.

Er wollte ihr den Block wieder entreißen, doch sie schlug leicht auf seine Hand und brachte das Papier aus seiner Reichweite.

»Nein, zuerst wird gegessen. Später wirst du um so besser arbeiten können. Ach du meine Güte!« Sie starrte auf das Bild; bestürzt legte sie eine Hand an ihren Mund, und ihre Augen weiteten sich vor Schreck. »Das gibt's doch gar nicht!«

»Ich habe nur das festgehalten, was ich mit eigenen Augen sah«, erläuterte er und blies erschöpft den Atem aus. Als er die Luft wieder einsog, stieg ihm das verlockende Aroma des Eintopfgerichts in die Nase. Gierig betrachtete er die Schale mit den dicken Fleischstücken und dem lecker aussehenden Gemüse. Hier verstand man sich wirklich darauf, Wherry auf die köstlichsten Arten zuzubereiten.

Er begann zu essen und merkte gleich nach den ersten Bissen, wie ausgehungert er war. Der Magen rebellierte gegen das Essen, und als ihm einfiel, dass Chalkins Gefangene tagelang nichts hatten zu sich nehmen könne, wäre ihm um ein Haar der Appetit vollends vergangen.

»Sie haben alle was zu essen bekommen«, sagte Debera leise.

Iantine sah sie verblüfft an. Sie tätschelte liebevoll seine Schulter, wie sie es oft bei Morath tat.

»Ich habe dasselbe empfunden, als ich vorhin gegessen habe.« Sie setzte sich ihm gegenüber. »Wir alle haben uns um die Verpflegung der Flüchtlinge gekümmert, bis Tisha uns buchstäblich zwang, selbst etwas zu essen.« Sie begann in seinem Block zu blättern, und bei jeder neuen Szene des Elends wurde ihr Gesichtsausdruck verzweifelter. »Wie kann man nur so grausam sein!«

Iantine fasste hinüber und nahm ihr behutsam den Block ab.

»Er erließ den Befehl …«, setzte Iantine an.

»Im vollen Bewusstsein, welche Gräuel er dadurch entfesseln würde«, beendete sie den Satz für ihn. »Ich bin mal einigen seiner so genannten Wachposten begegnet. Selbst mein Vater, der sonst nicht zimperlich ist, hätte nie einen dieser Schlächter auf seinem Besitz geduldet.« Mit dem Finger tippte sie auf den Zeichenblock. »Diese Beweise kann keiner ignorieren.«

Iantine schnaubte durch die Nase. »Vor allem, wenn Drachenreiter bezeugen, dass es sich wirklich so abgespielt hat.« Er verputzte den Rest seines Eintopfs, streckte die Beine unter dem Tisch aus und rieb sich das Gesicht, das noch von dem Aufenthalt in dem frostklirrenden Grenzgebiet brannte.

»Du solltest jetzt lieber zu Bett gehen, Iantine«, meinte Debera und erhob sich. In der Küchenkaverne hielten sich nur noch wenige Leute auf. »Mittlerweile hat man alle Flüchtlinge untergebracht, und du kannst von Glück sagen, wenn du deine Kammer noch für dich allein hast. Ich lege mich auch schlafen. Diese Morath! Jeden Morgen wacht sie mit einem Heißhunger auf, egal, wie viel Fleisch sie am Abend zuvor verschlungen hat.«

Iantine lächelte, weil Deberas Stimme einen so weichen, mütterlichen Klang angenommen hatte. Als er aufstand, schwankte er leicht. »Du hast Recht. Ich brauche wirklich Ruhe. Gute Nacht, Debera.«

Er sah ihr hinterher, wie sie forschen Schrittes aus der Kaverne marschierte, hoch erhobenen Hauptes, die Schultern durchgedrückt. Seit Morath sie erwählt hatte, war sie wie ausgewechselt. Schmunzelnd packte er seine Malsachen zusammen und machte sich auf den Weg in sein Quartier.

Man hatte keinen der Neuankömmlinge bei ihm untergebracht, doch an einer Wand lag Leopol auf einer Matratze und schlief so fest, dass er nicht einmal aufwachte, als Iantine sich fürs Bett zurechtmachte.

Es gab mehr Flüchtlinge, als zunächst erwartet, und während man die Vorräte der beiden Weyr streckte, schickten die Burgherren prompt Hilfslieferungen und boten ihren Schutz an. Einige der Geretteten befanden sich in einem gesundheitlich bedenklichen Zustand und konnten nicht sofort zu den Festungen Nerat, Benden und Telgar geschickt werden.

Zulaya hatte ein Rettungsteam von Drachenköniginnen und grünen Reitern angeführt. Als sie zurückkam, kochte sie vor Wut.

»Ich wusste, dass er ein raffgieriger Idiot ist, aber für so sadistisch hätte ich ihn doch nicht gehalten. An der Grenze zur Forststraße befanden sich unter den Gefangenen drei schwangere Frauen. Sie wurden von den Wachen vergewaltigt, weil sie später natürlich keine Vaterschaftsklagen vorbringen können.«

»Sind die Frauen ärztlich versorgt worden?«, fragte K'vin, voller Abscheu über diese Brutalität. »Wir erreichten gerade noch rechtzeitig den Nordpass, um drei junge Burschen vor Übergriffen durch die Wachposten zu retten. Wo treibt Chalkin nur solche Bestien auf?«

»Sie rekrutieren sich aus Geächteten, die andere Siedlungen ausgestoßen haben«, erwiderte Zulaya. »Männer, die woanders nicht mehr geduldet werden ob ihrer kriminellen Neigungen oder ihres unsozialen Verhaltens, finden bei Chalkin immer eine Bleibe. Im Übrigen tobt gerade ein Schneesturm an der Grenze. Wir sind gerade noch rechtzeitig gekommen, um Hilfe zu leisten. Andernfalls wären die meisten Gefangenen morgen früh tot gewesen. Man hatte ihnen alles abgenommen, und zum Wärmen durften sie nicht mal ein Feuer anzünden.«

»Ich weiß«, bestätigte er, über die Grausamkeiten genauso empört wie Zulaya. »Wir hätten den Wachen eine Lektion erteilen sollen, was es heißt, schutzlos der bitteren Kälte ausgeliefert zu sein. Ich frage mich, warum wir sie nicht ein bisschen länger als nötig im Dazwischen gelassen haben. Das hätte allerdings ihren sicheren Tod bedeutet.«

»Wir können sie immer noch ins Dazwischen befördern«, meinte Zulaya zynisch. K'vin warf ihr einen verdutzten Blick zu. Sie starrte zurück, die Fäuste auf die Hüften gestemmt. »Sieh mich nicht so an. Ich weiß, dass das nicht geht, aber wünschen darf ich es mir trotzdem, oder? Hattest du Iantine mitgenommen? Mir fiel ein, wie nützlich ein Zeichner wäre, der die schrecklichen Szenen auf Papier festhält.«

»Er kam nur zu gern mit. Und er hat eine Menge Skizzen angefertigt, die er Lord Paulin und der Ratsversammlung vorlegen kann.« K'vin schluckte, als er an die herzzerreißenden Bilder dachte, die den Zeichenblock füllten. Iantines Hand hatte die Realität eingefangen, sie umso beeindruckender dargestellt, weil er auf Überflüssiges verzichtet und nur die Auswüchse mutwilliger Rohheit aufs Papier gebannt hatte.

Die Weyrführer fingen an, sich mit den Flüchtlingen bekanntzumachen und befragten zunächst ein älteres Ehepaar.

»Der Großvater meines Großvaters kam mit dem damaligen Burgherrn nach Bitra«, erzählte der Mann, während seine ängstlichen Blicke zwischen den Weyrführern hin und her huschten. Unentwegt beugte und streckte er seine bandagierten Finger, obschon N'ran ihm versichert hatte, Fellis und Taubkraut würden die Beschwerden rasch lindern. »Ich heiße Brookie, und das ist meine Frau, Ferina. Wir sind Bauern. Wir haben uns noch nie beklagt, obwohl unser Burgherr ständig den Pachtzins erhöht, und die Ernten vergrößern sich nicht automatisch, indem die Abgabenlast steigt. Aber er verkörpert nun mal das Recht!«

»Trotzdem hätte er uns nicht die Muttersau wegnehmen dürfen«, protestierte seine Gefährtin mit rebellischer Miene. »Die brauchten wir doch, um Ferkel zu züchten, denn nur dann wären wir imstande gewesen, den uns auferlegten Tribut zu entrichten. Unsere Tochter haben sie uns auch einfach weggeschleppt, damit sie in der Burg schuftet und wir keine Gelegenheit bekamen, das ihr zustehende Stück Land zu beanspruchen. Er sagte, wir könnten nicht mal die Äcker, die wir bereits besäßen, entsprechend bewirtschaften, deshalb brauchten wir nicht noch zusätzlichen Grund und Boden.« Wie auch ihr Mann, sprach sie niemals Chalkins Namen aus.

»Das hat er Ihnen angetan?«, fragte Zulaya mit trügerischer Ruhe und warf K'vin einen bedeutungsvollen Blick zu. »Das ist ja interessant, Pächterin Ferina.«

K'vin beneidete Zulaya um ihr Namensgedächtnis.

Du kannst mich jederzeit fragen, sagte Charanth in seine Gedanken hinein.

Hast du gelauscht?

Natürlich. Die Leute brauchten die Hilfe der Drachen. Wir alle hören mit.

Wenn sich sogar die Drachen einmischen, haben wir das absolut Richtige getan, fand K'vin. Jetzt kann uns die Ratsversammlung bestimmt nicht mehr Überschreitung unserer Befugnisse vorwerfen. Er durfte nicht vergessen, Zulaya seinen kurzen Wortwechsel mit Charanth mitzuteilen.

»Er sagt, wir hätten keine Rechte, und bei uns gibt es keinen Lehrer, den wir fragen können«, erzählte der Mann. »Das ist auch eine seiner Gemeinheiten – unsere Kinder können nichts lernen, weil es keine Lehrer zum Unterrichten gibt.«

»Jeder Mensch muss zumindest so viel Bildung bekommen, dass er die Verfassung lesen und sich über seine verbrieften Rechte informieren kann«, stellte Zulaya fest. »Gleich zeige ich Ihnen eine Kopie der Verfassung, damit Sie selbst nachlesen können, was Ihnen als Pächter zusteht.«

Das Ehepaar tauschte einen verlegenen Blick.

»Natürlich kann Ihnen auch jemand den Text vorlesen«, fuhr Zulaya taktvoll fort, »denn mit Ihren bandagierten Händen würde es Ihnen schwer fallen, die Seiten umzublättern, Brookie. Und Sie scheinen mir auch ziemlich entkräftet zu sein, Ferina.«

Ferina lächelte nervös. »Der Vorschlag gefällt mir gut, Weyrherrin. Es stimmt also, dass wir Rechte haben, die obendrein noch einzusehen sind? Und das nennt man die Verfassung?«

»Ihre legitimen Ansprüche als Pächter sind in diesem Gesetzeswerk festgelegt«, bekräftigte Zulaya, während sie K'vin mit einem verzweifelten Blick streifte. »In allen Einzelheiten und klar verständlich.« Jählings sprang sie auf die Füße. »Setzen Sie sich doch drüben in die Sonne«, schlug sie dem Ehepaar vor und deutete auf die Ostwand, wo sich bereits einige ältere Mitglieder des Weyrs eingefunden hatten, um die Wärme der im Westen stehenden Sonne zu genießen. »Wir sorgen dafür, dass Ihre Wünsche baldmöglichst erfüllt werden, und wenn Sie irgendwelche Fragen haben, wenden Sie sich ohne Scheu an uns.«

Sie half den beiden beim Aufstehen und brachte sie auf den Weg, der durch den Weyrkessel führte, als K'vin auch schon Leopol herbeiwinkte.

»Hol doch bitte mal rasch die Kopie der Verfassung, Junge.«

»Soll ich sie den beiden auch vorlesen?«, wollte der Bursche wissen. Seine Augen funkelten erwartungsvoll, denn er liebte es, den Sinn und Zweck irgendwelcher Besorgungen zu erraten.

»Du hast ein helles Köpfchen«, lobte K'vin den aufgeweckten Knaben. »Aber das Vorlesen sollte wohl lieber T'lan übernehmen.« Er zeigte auf den älteren, weißhaarigen Reiter eines braunen Drachen, der den Flüchtlingen Klah servierte. »Lauf jetzt und hol den Text. Ich werde T'lan bitten, damit zu Brookie und Ferina zu gehen.«

Leopol sprintete los, und K'vin sprach mit dem braunen Reiter. T'lan würde genau den richtigen Ton finden, um mit den eingeschüchterten Pächtern zu reden.

Bridgely traf im Benden-Weyr ein, das Gesicht hochrot, in halb zorniger, halb belustigter Stimmung.

»Der Mann hat Nerven!«, rief er und warf die Botschaft, die er überbringen sollte, auf den Tisch.

Das Schreiben landete näher bei Irene als bei M'shall, deshalb griff sie als Erste danach.

»Von Chalkin?«, fragte sie, zu Bridgely hinaufschauend.

»Lesen Sie es … und schenken Sie mir bitte ein Glas Wein ein, M'shall«, sagte der Burgherr, sich auf einen Stuhl niederlassend. »Ich weiß ja, wie dreist dieser Mensch ist, aber was er sich jetzt geleistet hat, ist der Gipfel an Unverschämtheit …«

»Schhh!«, zischte Irene, deren Augen beim Lesen immer größer wurden. »Das ist doch nicht zu fassen! Hör dir das an, M'shall. ›Meine Burg hat das Anrecht auf die Dienste der Drachenreiter. Das gehisste rot gestreifte Banner wurde indessen geflissentlich übersehen, obwohl meine Wachen mir berichteten, dass Drachenreiter sich ganz in der Nähe aufhielten. Sie müssen notgedrungen mitbekommen haben, dass ich eine dringende Botschaft abliefern möchte. Aus diesem triftigen Grund protestiere ich hiermit offiziell …‹«

Mit leicht zusammengekniffenen Augen spähte sie auf das Blatt. »Seine Handschrift ist schauderhaft … Aha! Er schreibt, dass er gegen die Pflichtverletzung seitens der Drachenreiter protestiert. Ausgerechnet dieser Tyrann wagt es, diesen Vorwurf gegen andere zu erheben. Außerdem beschwert er sich noch über dies und jenes, was man ihm vorgeblich angetan hat. Es ist kaum zu glauben. ›Die Drachenreiter mischen sich nicht nur in ungebührlicher Weise in die Angelegenheiten meiner Burg ein, sondern sie verbreiten unter meinen Pächtern auch die absonderlichsten Lügen. Ich verlange, dass diese Reiter sofort bestraft werden. Die Stümper sind nicht einmal dazu in der Lage, Pflichten nachzukommen, die selbst sie mit ihren begrenzten Fähigkeiten zu erfüllen imstande wären.‹ Begrenzte Fähigkeiten?« Irene wurde blass vor Wut. »Dem werde ich zeigen, über welche Fähigkeiten wir verfügen!«

»Wenn man bedenkt, wie er seine Pächter behandelt …«, schaltete sich M'shall ein. Noch nie zuvor hatte er so grimmig ausgesehen. »Moment mal. Welches Datum trägt dieser Brief?«

»Er wurde vor fünf Tagen geschrieben«, antwortete Bridgely mit süffisantem Lächeln. »Er ließ ihn durch einen berittenen Boten überbringen. Der Bursche erzählte mir, Chalkin hätte auch Briefe nach Nerat und Telgar geschickt. Im letzten Absatz steht«, fuhr Bridgely fort und tippte mit dem Finger auf die betreffende Stelle, »ich solle dieses Schreiben durch einen zuverlässigen Boten an Lord Paulin weiterleiten, damit seine Beschwerde vor der Ratsversammlung verhandelt wird. Vermutlich schickt er gleich einen Brief hinterher, sowie er von der gestrigen Rettungsaktion erfährt.«

»Dieser Halunke …« Irene rang nach den passenden Worten. »Wenn ich nur daran denke, was er sich hat zuschulden kommen lassen …«

»Das Schlimmste ist, dass er alles auf seine Wachposten schieben wird, sollte er zur Rechenschaft gezogen werden«, mutmaßte Bridgely achselzuckend. »Er wird behaupten, sie hätten ihre Befugnisse überschritten, worauf er sie bis auf den letzten Mann aus seinen Diensten entlassen hätte.«

»Alle nicht!«, stellte M'shall grinsend richtig. Er kratzte sich den Kopf. »Im Übrigen wollten sie wissen, wieso sie nicht mit einem Drachen transportiert würden, wie das elende Pack, das sie bewacht hatten.«

»M'shall, hast du sie etwa unterwegs abgesetzt?«, fragte Irene mit hoffnungsvoll blitzenden Augen.

»Nicht direkt«, erwiderte M'shall. »Allerdings hielt ich es für ratsam, einige von ihnen sozusagen in Isolationshaft zu bringen, damit sie später dem Rat Rede und Antwort stehen können, welche Order sie genau von ihrem Herrn erhalten hätten.«

»Ach so«, äußerte M'shall nachdenklich.

»Ich habe mir meine Gefangenen sehr gut ausgesucht«, erklärte M'shall. »Ich stellte fest, wer von den Männern an den Ermordungen beteiligt war und suchte zuverlässige Augenzeugen. Selbst auf Befehl ihres Burgherrn hin sind Wachposten nicht befugt, Menschen ohne gültiges Gerichtsurteil zu exekutieren.«

»Sie haben sehr umsichtig gehandelt«, meinte Bridgely anerkennend. »Wir müssen die Sache vor ein ordentliches Gericht bringen und sollten keinesfalls bis zum Ende des Planetenumlaufs warten. Genau das werde ich Jamson und Azury unterbreiten.«

»Ich selbst werde Sie zu Azury und Jamson bringen und bei dieser Gelegenheit für den Weyr sprechen«, beschied ihm M'shall. »Und das hier …«, der Weyrführer griff nach Chalkins Beschwerdebrief, »können Sie den beiden Herren zur Einsicht gleich mitnehmen.«

»Sie denken auch an alles, Weyrführer«, lobte Bridgely mit einer eleganten Geste und blickte dabei äußerst zufrieden drein.

»Es ist mir ein Vergnügen, Burgherr«, erwiderte M'shall mit einer ähnlich kavalierhaften Geste.

»Wann hätten Sie denn Zeit für einen kleinen Ausflug, Weyrführer?«

»Am liebsten würde ich sofort aufbrechen. Mir scheint, ein Besuch der westlichen Hälfte des Kontinents wäre ganz angebracht …«

»Hört endlich auf mit diesem Blödsinn und macht euch auf den Weg!«, rief Irene mit gespielter Empörung. Aber das Wortgeplänkel hatte dazu beigetragen, dass sich die aufgeladene Atmosphäre im Weyr ein wenig entspannte.