KAPITEL 10
Das Hochland, Boll, der Ista-Weyr; der Hochland-Weyr, Burg Fort und Burg Telgar
Ich muss schon sagen, M'shall, Bridgely«, nuschelte Jamson, während er unruhig auf seinem Sessel hin und her rutschte und nervös seine Bekleidung richtete. Im Hochland war es immer kalt, und selbst in Jamsons Arbeitszimmer herrschten ungemütliche Temperaturen. Der Burgherr von Benden war froh, dass er seine Reitmontur aus Pelz trug. Er dachte nicht daran, seine Jacke zu öffnen, und den linken Handschuh behielt er auch an. Den rechten hatte er nur abgestreift, um Jamson zu begrüßen. M'shall traf ebenfalls keine Anstalten, seine Montur abzulegen. »Es fällt mir schwer zu glauben, dass ein Burgherr die Menschen, auf die er letzten Endes angewiesen ist, derart schändlich behandelt. Und sie obendrein mitten im Winter nicht in ihre Heimstätten zurückkehren lässt.«
»Ich hab's mit meinen eigenen Augen gesehen, Lord Jamson«, erwiderte M'shall in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Ein paar der Wachposten habe ich in den Weyr bringen lassen, damit Sie von ihnen erfahren, wie Lord Chalkins Befehle lauteten.«
»Aber in diesem Schreiben beklagt sich Chalkin, Sie hätten ihm den Transportdienst verweigert.« Jamson runzelte die Stirn.
»Wenn Sie Zeuge dieser Untaten geworden wäre, so wie ich, Lord Jamson, dann würden Sie diesem Mann auch keinen Gefallen mehr erweisen«, versicherte M'shall.
»Jamson, stellen Sie sich doch nicht so stur an«, schaltete sich Bridgely ein, der fand, auf Höflichkeiten könne man getrost verzichten. »Verschaffen Sie sich selbst ein Bild von den Vorkommnissen in Bitra. Nerat, Telgar sowie Benden nehmen Flüchtlinge auf. Sprechen Sie mit den Leuten, wenn Sie zusätzliche Beweise für Chalkins Herzlosigkeit wünschen.«
»Ich bin gern bereit, Sie überallhin zu befördern«, erbot sich M'shall.
»Ich verfüge über meinen eigenen Weyr«, beschied ihm Jamson förmlich. »Auf den greife ich zurück, sollte ich Flugdienste benötigen. Doch das derzeit herrschende Wetter verbietet unnötiges Herumreisen von selbst.«
Dies war nur die Wahrheit, denn das Hochland lag unter einem dicken Panzer aus Eis und Schnee.
»Wie Sie wünschen«, entgegnete Bridgely fröstelnd. Er fragte sich, ob Jamson aus Gründen der Sparsamkeit seine Burg nicht ausreichend beheizte, oder ob das Heizungssystem zu veraltet war, um noch richtig funktionieren zu können. »Dann dürfen Sie getrost davon ausgehen, dass ich nur aus einem sehr ernstem Anlass hierher gekommen bin. Ich möchte Sie nämlich dazu bewegen, Ihren Widerstand gegen ein Amtsenthebungsverfahren aufzugeben. Chalkin muss Einhalt geboten werden. Hätten wir nicht eingegriffen, wären letzte Nacht viele Menschen erfroren.«
»Davon steht nichts in seinem Brief«, nörgelte Jamson und schielte auf das Schriftstück auf seinem Tisch.
»Zweifelsohne wird er demnächst eine Nachricht mit entsprechendem Inhalt losschicken«, versetzte Bridgely mit beißender Ironie. »Was ich gestern sah, veranlasste mich zum sofortigen Handeln.«
»Wie Sie wissen, Lord Jamson«, nahm M'shall einen weiteren Anlauf, »sind die Weyr ebenfalls autonom und dürfen ihre Dienste verweigern, wenn sie dies ausreichend begründen können. Ich finde, wir schulden Chalkin nicht die geringste Gefälligkeit. Kommen Sie, Bridgely. Wir verschwenden nur Lord Jamsons kostbare Zeit. Wir wünschen Ihnen noch einen guten Tag.«
Ehe der verdatterte Burgherr des Hochlands etwas erwidern konnte, hatten die beiden Männer den Raum verlassen.
»Eine Frechheit! Und dabei hatte ich M'shall immer für einen vernünftigen Mann gehalten. Zum Glück ist G'don ein zuverlässiger, solider Weyrführer. Man kann doch einen Burgherrn nicht über Nacht von seinem Land vertreiben! Und obendrein kurz vor einem Fädenfall!« Er versteckte seine Hände noch tiefer in die mit Pelz verbrämten Ärmel seines Rocks.
Azury war so schockiert, dass er auf Chalkins Vorwurf, die Weyr würden ihm Flugdienste verweigern, gar nicht erst einging. »Ich hatte ja nicht die geringste Ahnung«, staunte er.
Im krassen Gegensatz zum Hochland herrschte in Süd-Boll eine solche Hitze, dass Bridgely sich wünschte, er hätte ein dünneres Hemd angezogen. Obwohl sie vor der Morgensonne abgeschirmt auf einer Terrasse saßen, umgeben von üppigen Pflanzen, deren rosa Blütendolden einen betörenden Duft verströmten, musste er den Kragen öffnen und die Ärmel hochkrempeln. Azury hatte ihnen Fruchtsaft angeboten, und als das Getränk endlich gebracht wurde, war Bridgelys Kehle staubtrocken.
»Ich wusste natürlich, dass auf Chalkin kein Verlass ist«, fuhr Azury fort. »Und bei den von ihm inszenierten Glücksspielen habe ich so viele Marken verloren, dass ich mich ernsthaft fragte, ob er es mit der Ehrlichkeit so genau nimmt. Aber …« – er schüttelte den Kopf – »ein Burgherr verschweigt seinen Pächtern nicht etwas so Schwerwiegendes wie den drohenden Fädeneinfall. Ob er wirklich glaubt, das Ganze sei nur Humbug? Dass alle anderen einfältig oder dumm sind?«
»Er ist derjenige, der kein Hirn hat«, entgegnete Bridgely. »Er muss sich doch vor Augen halten, dass unsere Vorfahren nicht umsonst die Drachen züchteten. Und obendrein ein einzigartiges Gesellschaftssystem gründeten, das nur dazu dient, diese hoch spezialisierte Schutztruppe zu hegen und auszubilden. Das alles deutet doch auf einen ganz bestimmten Zweck hin, nämlich besagte Fäden in der Luft zu bekämpfen.« Er streifte M'shall mit einem vielsagenden Blick. »Außerdem gibt es massenhaft Berichte, in denen geschrieben steht, was diese Fäden sind und woher sie kommen. Das Ganze haben wir uns doch nicht eigens ausgedacht, um Chalkin Unannehmlichkeiten zu bereiten.«
»Bei mir rennen Sie offene Türen ein, Bridge«, versetzte Azury. »Chalkin muss nicht recht bei Trost sein, wenn er sich einbildet, er hätte Recht und alle anderen befänden sich im Irrtum. Er hat den ganzen Planeten gegen sich. Aber …« – er beugte sich in seinem Korbsessel vor, der bei der Bewegung leise knarrte – »man darf auch nicht vergessen, dass Pächter gelegentlich die bizarrsten Geschichten in Umlauf setzen.«
»Das weiß ich natürlich, Azury«, erwiderte Bridgely und rutschte bis an die Kante seines Sessels vor, der ebenfalls knarzende Geräusche von sich gab. »Nur sollten Sie mit den Leuten sprechen, die wir aufgenommen haben. Dann verschaffen Sie sich einen Eindruck von dem, was sie durchmachen mussten. Diese Menschen sind keine Lügner. Und je eher Sie einige von ihnen kennen lernen, umso besser. Sehen Sie selbst, wie Chalkins Schläger sie zugerichtet haben.«
»Recht haben sie!«, räumte Azury ein. »Ich werde die Situation selbst in Augenschein nehmen.« Rasch hob er die Hand. »Das soll nicht heißen, dass ich an Ihren Worten zweifle, aber einen Burgherrn seines Amtes zu entheben … das kann einen schon nervös machen.«
»Sicher, aber eine Burg nicht auf den baldigen Fädenregen vorzubereiten, ist vielleicht noch nervenaufreibender«, hielt Bridgely ihm entgegen.
»In diesem Punkt pflichte ich Ihnen bei«, gab Azury zu. Er blickte über seine Schulter und bat einen der Bediensteten, er möge ihm seine Reitmontur bringen. »Jamson gebärdet sich zögerlich, sagen Sie? Braucht man für eine Amtsenthebung denn nicht ein einstimmiges Urteil?«
»Ja«, bestätigte Bridgely und kniff die Lippen zusammen.
Azury schmunzelte und dankte dem Burschen, der ihm seine Reitkleidung reichte. »Dann sollte ich vielleicht persönlich diesen Zweifler aufsuchen und ein Gespräch mit ihm führen.«
»Glauben Sie, Sie könnten Jamson umstimmen?«
Azury stieg in seine Stiefel. »Er ist zwar ein Dickschädel, aber wir werden ja sehen. Tashvi, Bastom und Franco sind für ein Verfahren, und Paulin schäumt vor Wut auf Chalkin … Wer bleibt da noch übrig? Richud von Ista? Nun, der schließt sich immer der Mehrheit an.« Er stand auf. »Und jetzt lassen Sie uns aufbrechen, ehe ich in meinem eigenen Schweiß ertrinke.«
Azury sprach mit jedem einzelnen der vierzehn Flüchtlinge, die noch im Benden-Weyr untergebracht waren, weil sie aufgrund von Verletzungen oder Entkräftung nicht transportiert werden konnten. Danach knöpfte er sich drei der Wachposten vor.
»Besonders mitteilsam waren sie nicht«, berichtete er hinterher, während in seinen blauen Augen ein gefährlicher Funke glomm. »Aber sie werden noch früh genug erleben, wie Chalkin ihnen ihre Loyalität dankt. Sie behaupten, sie seien von den Pächtern, die sich wie tollwütige Bestien gebärdeten, so bedrängt worden, dass sie die Leute festsetzen und Chalkins weitere Befehle abwarten mussten.« Er grinste humorlos.
»Das widerspricht dem, was die Pächter aussagen«, entgegnete M'shall.
»Zweifellos«, versetzte Azury trocken. »Mich wundert nur, dass die Grenzwächter diesen Ansturm unbeschadet überstanden, während die Pächter zum Teil schwer verletzt wurden. Hier steht wieder einmal Aussage gegen Aussage, doch jeder, der Augen im Kopf hat, kann die Wahrheit erkennen.«
»Gut gesagt«, fand Bridgely »Ich denke, wir sollten uns jetzt mit Richud unterhalten.«
Der Burgherr von Ista war nicht daheim, weil er zum Fischen aufs Meer hinausgefahren war. Die Angelei gehörte zu seinen Lieblingsbeschäftigungen.
Der Hafenmeister konnte nicht sagen, in welcher Richtung sie nach Lord Richud suchen sollten.
»Aber sein Boot wird von Delphinen begleitet … Sie könnten mit den Drachen Kreise ziehen, vielleicht entdecken Sie ihn dann. Er segelt eine kleine Schaluppe mit einem roten Segel, die ständig von Delphinen umgeben ist. Richud behauptet steif und fest, er könne sich mit ihnen verständigen. Vielleicht stimmt das sogar.« Der ältere Mann kratzte sich den Kopf und schmunzelte über diese märchenhafte Vorstellung.
»In den alten Berichten kann man nachlesen, dass die Delphine tatsächlich die Sprache der Menschen beherrschen«, erwiderte Azury. »Meine Fischer halten in den Großen Strömungen ständig nach Delphinen Ausschau.«
»Na ja, wer's glaubt …«, entgegnete der Hafenmeister gleichmütig und kehrte an seine Arbeit zurück, die darin bestand, die Fischkörbe aus Weidengeflecht zu zählen, die man während der vergangenen Siebenspanne am Kai abgeladen hatte.
Craigath flog mit seinen Passagieren in einer spiralförmigen Bahn aufs Meer hinaus. Er war es, der die Schaluppe erspähte und hielt mit gewaltigem Schwingenschlag darauf zu.
Trotz des breiten Sicherheitsgurts klammerte sich Azury an Bridgely, der vor ihm saß. Bridgely wiederum befürchtete, er könnte mit seinem eigenen schraubstockartigen Griff dem Drachenreiter blaue Flecken zufügen.
M'shall blickte sich grinsend zu seinen beiden Passagieren um. Die Worte, die er sprach, wurden ihm von dem pfeifenden Wind, der sie während des Sturzflugs umbrauste, von den Lippen gerissen. Bridgely sah, wie das Meer näher und näher kam und lehnte sich leicht nach hinten. Er war oft genug auf einem Drachen geritten, um nicht von deren Kapriolen erschreckt zu werden, doch noch nie war er in einem solchen Tempo und in einem so steilen Winkel nach unten gesaust.
Er hielt sich an dem Sicherheitsgeschirr fest und zwang sich dazu, nicht vor Angst die Augen zu schließen. Als es schien, Craigath würde von dem Schiffsmast aufgespießt werden, bremste der Braune zu einem Schwebeflug ab, sehr zum Entsetzen der beiden Matrosen, die zusahen, wie Richud versuchte, einen offenbar sehr schweren Fisch auszudrillen. Die Angelrute war zu einem Halbkreis durchgebogen, und er kämpfte mit seiner wehrhaften Beute.
»Wir möchten gern mit Ihnen sprechen, Lord Richud«, brüllte M'shall durch die trichterförmig vor den Mund gelegten Hände.
Richud peilte über die Schulter, verlor die Kontrolle über die Angelrute und den Fisch, und die Leine spulte wie wild von der Rolle ab, während sich der Fisch vom Haken losriss.
»Pirscht euch doch nicht so klammheimlich an mich heran! Jetzt hab ich den Fisch verloren. Verflixt und zugenäht! Darf ich denn nicht mal einen Nachmittag frei haben? Was für eine Katastrophe ist denn jetzt schon wieder über uns hereingebrochen? Es muss ja ein regelrechtes Desaster sein, wenn drei von euch so weit nach Süden reisen.«
Er gab die Rute einem von seiner Mannschaft und trat an die Steuerbordseite. Zwischen dem Schiff und seinen Besuchern befand sich immer noch ein beträchtlicher Abstand.
»Ich würde euch ja bitten, an Bord zu kommen, aber wenn der Braune sich auf den Planken niederlässt, saufen wir ab.«
»Wir finden schon einen Weg«, meinte M'shall und sein Blick verschwamm, als er sich mit dem Drachen unterhielt. Kannst du uns ein bisschen näher heranbringen, Craigath?
Craigaths Augen blitzen in einem intensiven Blau und begannen heftig zu kreisen. Vorsichtig setzte er auf dem Wasser auf, legte die Schwingen an und griff mit der linken Vorderkralle nach der Bootsreling. Langsam zog er sich mitsamt seinen Reitern näher an das Schiff heran, das unter der einseitigen Belastung krängte.
Dadurch wurde der Schaluppe der Wind aus den Segeln genommen, der Baum peitschte herum, bis eine Bö wieder in die Leinwand fuhr, den Stoff mit lautem Geknatter blähte und das Boot erneut auf Kurs brachte.
M'shall lachte und klopfte Craigath den Hals, um ihn für das geschickte Manöver zu loben.
»Was hat er getan? Wie hat er das gemacht? Was unter der Sonne geht hier vor?« Verstört starrte Richud der Reihe nach den Drachen, das Schiff und M'shall an.
»Er schwimmt neben der Schaluppe her, damit wir auf gleicher Höhe bleiben«, erklärte der Weyrführer von Benden.
Das macht Spaß. Ich amüsiere mich köstlich, gestand Craigath seinem Reiter.
»Er findet Gefallen dran«, meinte M'shall.
»Hoffentlich zerbricht er mir nicht die Reling«, erwiderte Richud besorgt und betrachtete bangen Blicks die riesige, krallenbewehrte Klaue, die sich in die Metallstreben eingehakt hatte.
Der Drache schüttelte den Kopf. Das Boot ist ziemlich fragil, deshalb passe ich gut auf.
M'shall legte eine kurze Pause ein. »Ein braver Bursche. Er ist sehr vorsichtig, weil ihm das Schiff so fragil vorkommt.«
»Das hat er gesagt?«, staunte Richud. »Er hat wirklich den Ausdruck ›fragil‹ benutzt?«
»Sagte ich doch. Craigath besitzt einen großen Wortschatz. Sie wissen ja, wie gepflegt sich Irene ausdrückt. Er muss doch mit Maruth Schritt halten, oder?«
Der Drache nickte.
»Nun ja, weder Ronelth noch Jemath habe ich jemals um ein Wort verlegen erlebt«, murmelte Richud. »Wieso sollte Craigath da nicht auch über ein umfangreiches Vokabular verfügen?« Lauter setzte er hinzu: »Und in welcher dringenden Angelegenheit seid ihr hier?«
»Chalkin muss so schnell wie möglich abgesetzt werden. Eine Festung hat ihre Autonomie verwirkt, wenn allgemein geltendes Recht dort mit Füßen getreten wird«, antwortete Bridgely und schilderte dem Burgherrn von Ista, für welche Gräueltaten Chalkin verantwortlich zeichnete.
»Ich hätte nie gedacht, dass er seine eigenen Leute vertreiben würde. In Bitra herrscht jetzt tiefster Winter, und ohne Unterkunft kann man leicht erfrieren.«
»Es sind bereits Menschen erfroren, und wären wir nicht eingeschritten, hätte es beträchtlich mehr Opfer gegeben«, erwiderte M'shall.
»Sie befanden sich in einem erbarmungswürdigen Zustand, Richud«, ergänzte Azury. »Ich war selbst in Benden und habe mich davon überzeugt. Und die Wachposten …« Er winkte verächtlich ab. »Sie wissen ja, welche Typen Chalkin anheuert …«
»Und ob. Schläger, Rabauken, Halsabschneider und Betrüger. Das beste Beispiel dafür sind die Falschspieler, die er zu jeder Versammlung schickt, damit sie arglosen Leuten die Taschen plündern.« Richud dachte einen Moment lang nach. »Gibt es einen Präzedenzfall, dass so ein Amtsenthebungsverfahren jemals stattgefunden hat?«
»Nein. Diese Klausel wurde lediglich als Vorsichtsmaßnahme in die Verfassung aufgenommen. In Bitra herrschen derzeit Zustände, dass Menschenleben akut gefährdet sind, vor allen Dingen so kurz vor einem Fädenfall.«
»Das mag wohl stimmen. Auf jeden Fall werde ich Sie begleiten. Aber nicht an meinem freien Nachmittag, den ich mit Angeln verbringen wollte!«, setzte er einschränkend hinzu.
Craigath ließ die Reling los, und Drache und Schiff drifteten auseinander. Plötzlich erschauerte der Drache vom Schädel bis zur Schwanzspitze.
Das tut gut. Mach es gleich noch mal!
Mit wem sprichst du, Craigath?, wollte M'shall wissen. Plötzlich schien das Wasser um Craigath zu sprudeln und zu kochen, und M'shall musste die Beine über den Rist des Drachen legen, um nicht nass gespritzt zu werden. Auch seine Passagiere winkelten die Füße an.
An meiner Haut reiben sich Delphine.
Verspielte Tiere, nicht wahr? Aber heb dir das Vergnügenfür später auf, mein Freund. Wir haben noch eine Menge Arbeit zu tun. »Entschuldigung. Aber die Delphine haben Craigath gekitzelt.«
»Sind Drachen kitzlig?«, wunderte sich Bridgely.
»Ihre Bäuche sind sehr empfindlich.«
Nun flitzten Delphine unter dem Drachen dahin, schnellten in die Luft und tauchten mit akrobatischer Behändigkeit wieder ins Wasser ein, um dann hurtig der davonsegelnden Schaluppe nachzuschwimmen.
»Und wie geht es jetzt weiter? Nehmen wir uns noch einmal Jamson vor?«, fragte M'shall, während er liebevoll Craigaths Hals streichelte. Zu seiner Belustigung sah er, dass Richud wieder dabei war, seine Angelrute mit einem Köder zu versehen.
»Das Beste wäre, wir würden Jamson nach Benden mitnehmen, damit er mit eigenen Augen sieht, was los ist. So wie Sie sich auch selbst einen Eindruck verschafft haben, Azury«, erwiderte Bridgely. Ihm grauste davor, in die unerbittliche Kälte des Hochlands zurückzukehren.
Nehmt doch die Bilder mit, schlug Craigath zur Verblüffung seines Reiters vor. Ungefragt mischten sich Drachen so gut wie nie in ein Gespräch ein, aber M'shall hielt Craigath für hoch intelligent.
»Welche Bilder?«, fragte er.
»Bilder?«, wiederholte Bridgely. »Wovon sprechen Sie?«
Maruth sagt, es gäbe Bilder. In Telgar.
»In Telgar?«
»Ach ja, der junge Maler!«, riefen M'shall und Bridgely im Chor.
»Was für ein Maler?«, fragte Azury verwundert.
Bridgely erklärte es ihm.
»Eine ausgezeichnete Idee. Falls Jamson diese Skizzen als Beweis akzeptiert«, meinte der Burgherr von Süd-Boll skeptisch.
Sein Misstrauen war berechtigt.
»Woher wollen Sie wissen, dass der Maler die Realität festgehalten hat?«, zweifelte Jamson, nachdem er Iantines Zeichenblock durchgeblättert hatte. »Ich für meinen Teil glaube, die ganze Angelegenheit wurde maßlos übertrieben.« Er gelangte an das Bild, das die an den Füßen aufgehängten, mit Pfeilen gespickten Männer zeigte.
»Und Ihnen genügt auch nicht mein Wort, Jamson?«, fragte Azury. »Ich habe persönlich mit einigen der Opfer gesprochen.« Er stöberte in dem Block und fand das Bild des Mannes, mit dem er sich ausgiebig unterhalten hatte. »Dieser Pächter zum Beispiel hat mir Auskünfte erteilt, die für mich maßgeblich waren. Ich bin fest davon überzeugt, dass er die Wahrheit sprach. Vier Tage und Nächte lang steckte man ihn, seine Frau und seine alten Eltern in einen Viehpferch, ohne Nahrung und Trinkwasser. Dass sie nicht verdurstet sind, verdanken sie dem Umstand, dass sie den Schnee lutschen konnten, der am Boden lag. Seine Eltern starben an Erschöpfung und Unterkühlung, obwohl wir sie noch lebend in den Weyr brachten. Aber sie waren so entkräftet von den Strapazen und Entbehrungen, dass man dort nichts mehr für sie tun konnte.«
»Azury, wieso kümmern Sie sich nicht um Ihre eigenen Angelegenheiten und lassen Chalkin in Ruhe?«, versetzte Jamson irritiert. »Der Mann hat das Recht, mit seinen Leuten nach Belieben zu verfahren.«
»Er hat keinesfalls das Recht, Menschen zu schikanieren und umbringen zu lassen«, widersprach Azury hitzig.
Jamson maß ihn mit einem kühlen Blick. »Was hat das schon zu bedeuten, wenn ein paar arbeitsscheue Pächter …«
»Ein paar?«, platzte Bridgely heraus, obschon er wusste, dass jeder Versuch, Jamson beeinflussen zu wollen, zwecklos war. »Wir reden hier über mehrere hundert Menschen, Jamson. Da lohnt es sich schon, in Aktion zu treten.«
»Ich jedenfalls halte mich da raus, Bridgely. Das ist mein letztes Wort.« Er verschränkte die Arme über der Brust und funkelte seine Besucher wütend an.
»Jamson«, setzte Azury mit betont ruhiger Stimme erneut an und schob Bridgely beiseite. Dann beugte er sich über den Schreibtisch, hinter dem der dick in Pelze vermummte Jamson saß. »Anfangs war ich auch misstrauisch, als Bridgely mit diesen Vorwürfen gegen Chalkin zu mir kam. Ich konnte einfach nicht glauben, dass so etwas möglich ist. Vor allen Dingen behagte mir sein Vorschlag nicht, wie dieses Problem zu lösen sei. So leichtfertig vertreibt man keinen Lord aus seiner Burg, und ich verstand nicht, warum Bridgely das Schicksal von ein paar Pächtern so nahe ging. Außerdem liegt Bitra weit von meiner eigenen Provinz entfernt. Allerdings teilte ich seine Ansicht, dass man nicht zulassen dürfe, dass sich Fäden unkontrolliert in den Boden des Nordkontinents eingraben. Deshalb hielt ich es für meine Pflicht, dem Wahrheitsgehalt dieser Anschuldigungen auf den Grund zu gehen.
Was ich dann mit meinen eigenen Augen sah und mit meinen eigenen Ohren hörte, hat mich überzeugt. Besonders aufschlussreich waren die Verhöre der Wachposten. Wir als verantwortungsbewusste Burgherren und Anführer einer Gemeinde dürfen es nicht dazu kommen lassen, dass ein derart unerträglicher Zustand zur Selbstverständlichkeit wird. Die Situation könnte leicht aus dem Ruder laufen, und dann breiten sich solche infamen Übergriffe auf Pächter auch anderenorts aus. Was Chalkin anrichtet, nagt an den Wurzeln unseres Gesellschaftssystems, schwächt die Verfassung und untergräbt die Prinzipien, auf denen unsere gesamte soziale Ordnung fußt. Das ist längst kein internes Problem irgendeiner unbedeutenden Kolonie mehr. Sie als ehrenhafter Burgherr müssen sich einfach mit der Lage in Bitra beschäftigen. Erst dann dürfen Sie sich ein Urteil erlauben. Fassen Sie sich ein Herz und gehen Sie nach Benden, um sich dort aus erster Hand Informationen einzuholen.«
»Mein Urteil steht bereits unverrückbar fest, bar jeden Zweifels«, erklärte Jamson. »Die Verfassung besagt eindeutig, dass ein Burgherr innerhalb seiner Provinz autonom ist. Was er anstellt, ist seine Sache und geht niemanden etwas an. Ich würde es auch keinem erlauben, sich in meine Amtsführung einzumischen. Deshalb schlage ich vor, dass Sie sich schleunigst wieder auf den Weg machen.«
Er läutete mit einer Glocke, und als sein ältester Sohn die Tür öffnete, sagte er: »Die Herren möchten gehen. Begleite sie hinaus.«
Bridgely holte tief Luft, doch ein heftiger Rippenstoß von Azury trieb ihm den Atem aus der Lunge, so dass er sich widerstandslos von seinen Begleitern aus dem Zimmer bugsieren ließ.
»Egal, was Sie sagen, er hört Ihnen doch nicht zu«, meinte Azury und klopfte Bridgely wie um Vergebung heischend auf den Rücken.
»Ich fürchte, Lord Azury hat Recht«, meinte M'shall.
»Kamen Sie wegen Bitra hierher?«, erkundigte sich der Sohn und lehnte sich mit dem Rücken gegen die massive Tür, um sicher zu gehen, dass sie geschlossen war. »Ich bin Gallian, der älteste Sohn und stellvertretende Verwalter.«
»Sie wissen Bescheid?«
»Hmm, ja. Die Tür war nur angelehnt, und ich konnte mithören, was gesprochen wurde.« Gallian schien es nicht im mindesten peinlich zu sein, dass er gelauscht hatte. »Im Übrigen sieht mein Vater es gern, wenn einer von uns bei wichtigen Besuchern in der Nähe ist. Sein Gedächtnis lässt ihn manchmal im Stich, und er bringt Sachen durcheinander.«
»Besteht die Chance, dass Sie Ihren Vater umstimmen?«
»Dürfte ich vielleicht mal diese Skizzen sehen, von denen immer die Rede war?« Er streckte die Hand aus.
»Aber sicher.« Bridgely reichte ihm den Block.
»Schrecklich«, sagte Gallian nach einer Weile und schüttelte den Kopf. Ein paar Bilder nahm er besonders genau in Augenschein. »Sind die Zeichnungen akkurat?«, wollte er wissen.
»Ja, ich konnte mich selbst davon überzeugen, als ich die Flüchtlinge in Benden sah, Ihr Zustand ist noch genauso Grauen erregend wie auf den Bildern«, antwortete Azury.
Die Glocke bimmelte. Gallian drückte Azury den Block in die Hand.
»Ich werde zusehen, was sich machen lässt. Und ich helfe Ihnen nicht nur, weil ich schon seit langem weiß, was für ein gemeiner Kerl dieser Chalkin ist. Finden Sie selbst hinaus?«
»Natürlich.«
»Was könnte der Junge denn bewirken?«, spekulierte M'shall, als sie die Treppe zum vorderen Portal hinuntereilten und hinaustraten in die erbarmungslose Kälte.
»Man weiß nie, inwieweit ein kluger Kopf jemanden zu manipulieren versteht«, gab Azury zurück. »Verdammt noch mal, hier ist es ja eisiger als im Dazwischen. Bringen Sie mich so rasch wie möglich in mein warmes Klima zurück.«
»Wäre es zu viel verlangt, wenn wir Sie bitten, einen kurzen Zwischenstopp in Burg Fort einzulegen?«, fragte Bridgely und musste grinsen, weil Azurys Zähne heftig klapperten.
»Nein. Ich glaube, es ist einfach notwendig, wenn wir Chalkin das Handwerk legen wollen.«
M'shall nickte zustimmen. Dann schwang er sich auf Craigaths Rücken und half den beiden anderen Männern beim Aufsitzen.
In Burg Fort herrschten zwar keine tropischen Temperaturen, doch verglichen mit der klirrenden Kälte im Hochland war es angenehm warm. Paulin empfing die Männer mit ausgesuchter Herzlichkeit und bestand darauf, dass sie einen heißen, aromatisch duftenden Gewürzwein tranken, derweil sie ihm ihre Abenteuer schilderten.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Jamson seine Meinung ändern wird, besonders jetzt nicht, da er sich offenbar bedrängt fühlt«, kommentierte Paulin, als er und seine Gäste sich an das prasselnde Kaminfeuer in seinem Arbeitszimmer setzten. »Jamson galt schon immer als Querkopf.«
»Dann rechnen Sie also nicht damit, dass sein Sohn ihn beeinflussen kann?«, entgegnete Bridgely. Er fühlte sich niedergeschlagen, weil sie mit ihrer Hartnäckigkeit Jamsons Widerspruchsgeist nur noch mehr provoziert hatten.
»Gallian macht auf mich einen sehr tüchtigen Eindruck«, wog er ab, »aber die Wahrheit ist, dass Jamson langsam senil wird und seine Schrullen pflegt. Gallian hat längst die meisten Verwaltungsaufgaben übernommen.«
»Tatsächlich?«, staunte Bridgely. Obwohl er sich über Jamsons Unnachgiebigkeit ärgerte, schien seine Burg sehr gut geführt zu sein, und der Lord genoss allgemein einen ausgezeichneten Ruf.
»Ja, so ist das nun mal. Jetzt verrate ich Ihnen etwas im Vertrauen, meine Freunde. Vor ungefähr einem Jahr kamen Gallian und seine Mutter zu mir. Sie erzählten, Jamson litte unter Gedächtnisverlust und würde mitunter sogar widersprüchliche Befehle erteilen.«
»Aber falls es zu einem Amtsenthebungsverfahren käme, müsste Jamson doch persönlich anwesend sein, oder?«
Nachdenklich rieb sich Paulin das Kinn.
»Und wir dürfen nicht mehr lange zögern«, fügte Bridgely hinzu. »Wir können nicht warten, bis Gallian seinem Vater einflüstert, er solle gegen Chalkin stimmen.«
»Ein paar Wochen bleiben uns noch … nun, da wir die Flüchtlinge aus Chalkins Machtbereich entfernt haben«, erwiderte Paulin.
Bridgely öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu. Ihm schien es angeraten, seine Gedanken für sich zu behalten, denn Paulin brütete offenbar eigene Pläne aus, die er nicht durchkreuzen wollte.
»Ich möchte mir gern die Bilder anschauen, die Iantine klugerweise gezeichnet hat«, bat der Burgherr, und Azury reichte ihm den Block. Eingehend prüfte Paulin die Beweisstücke. »Der junge Mann besitzt ein beachtliches Talent. Ich staune, mit wie wenigen Strichen er so viel auszudrücken versteht. Man spürt förmlich die Kälte, die Verzweiflung und die bittere Resignation dieser armen Menschen. Dabei fällt mir ein, dass Issony erzählte, Chalkin habe darauf bestanden, dass die Verfassung im Schulunterricht nicht erwähnt werden dürfe.«
»Das ist ja ungeheuerlich!«, rief Azury und blickte von seinem Becher mit dem heißen, gewürzten Wein hoch.
»Es erklärt jedenfalls, wieso die meisten seiner Pächter keinen blassen Schimmer haben, dass so etwas wie ein Gesetz überhaupt existiert«, erklärte M'shall mit gepresster Stimme. »Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass jeder Mensch auf Pern, und sei er noch so arm und von seinem Feudalherrn abhängig, einen Anspruch auf gewisse Grundrechte hat.«
»Clissers neues Unterrichtsprogramm schafft in diesem Punkt Abhilfe«, beschied ihm Paulin und stand auf, um die Becher aus der Karaffe nachzufüllen, die zum Warmhalten neben dem Kamin stand. »Sowie die Kinder singen lernen, erfahren sie, was eine Verfassung ist.«
»Das ist ja großartig«, staunte Bridgely »Angesichts der Tatsache, dass ein Vorbeizug des Roten Sterns erwartet wird, war es unabdingbar, Lehrinhalte zu überdenken und neu zu definieren«, fuhr Paulin fort. »Das Auswendiglernen von Texten sollte bei Kindern so früh wie möglich beginnen, und Liederverse eignen sich hierzu besonders gut. Wir dürfen vor allem nicht vergessen, dass uns keine mechanischen Hilfsmittel wie Computer mehr zur Verfügung stehen und wir uns immer mehr auf unser Gedächtnis stützen müssen.«
Iantine malte gerade Zulaya, als K'vin ihm seinen Skizzenblock zurückbrachte.
»M'shall hat den Block bei mir abgegeben, und ich soll Ihnen ausrichten, dass die Bilder eine enorme Hilfe waren«, erklärte der Weyrführer, doch sein Augenmerk richtete sich auf Zulaya, die für ihr Porträt posierte.
Sie saß auf der Kante von Meranaths steinerner Liege; der schlummernde Drache ruhte in anmutiger Haltung auf seiner Lagerstatt, wobei der edle Kopf der Reiterin zugewandt war. Sehr zu K'vins Freude trug seine Weyrgefährtin das prachtvolle Gewand aus rotem Brokat, die Falten elegant drapiert, so dass das aufwändige Muster voll zur Geltung kam.
Zulaya trug ihr Haar zu einer kunstvollen Frisur geflochten, die von Kämmen gehalten wurde, die er ihr anlässlich der Feier zum Ende des letzten Planetenumlaufs geschenkt hatte. Jedes Mal, wenn sie ihr stolzes Haupt bewegte, funkelten und glitzerten die schwarzen Diamanten. So wie jetzt, als sie sich zu K'vin umdrehte und ihm etwas sagen wollte.
»Halten Sie still … bitte!«, rief Iantine, das letzte Wort betonend, wie wenn er es leid sei, diese Aufforderung ständig zu wiederholen. Zulaya hielt den Mund und nahm ihre Pose wieder ein.
K'vin stellte sich ein Stück entfernt hinter Iantine auf und schaute ihm bei der Arbeit zu. Mit zarten Pinselstrichen vervollkommnete er Zulayas Antlitz. K'vin fand, das Gesicht sei bereits perfekt, doch erst als jedes Detail Iantines Ansprüchen genügte, begann der Künstler, Glanzlichter in Zulayas wundervollem Haar zu verteilen.
Der junge Porträtist hatte das Wesen seiner Weyrgefährtin trefflich eingefangen; ihre Züge wirkten gebieterisch, doch die leicht nach oben gezogenen Mundwinkel verrieten einen Sinn für Humor. K'vin wusste, dass Zulaya es amüsant fand, sich porträtieren zu lassen, und unentwegt zog sie ihn damit auf, welche Bekleidung er tragen sollte, wenn er sich denn von Iantine verewigen ließe.
K'vin war außerdem bekannt, dass der Künstler von sämtlichen Reitern Miniaturen anzufertigen gedachte. Ein ehrgeiziges Projekt, wenn man berücksichtigte, dass zur Zeit sechshundert Drachenreiter den Weyr bewohnten. Einerseits freute sich K'vin über die zu erwartende einzigartige Galerie, gleichzeitig fürchtete er sich vor dem Augenblick, wenn die Bilder nur noch Erinnerungen an im Kampf gefallene Reiter darstellten.
»Würde es deinen Schmerz verringern, wenn es keine Porträts von den Leuten gäbe?«, hatte Zulaya ihn neulich gefragt, als sie von ihm wissen wollte, was ihn so bedrückte. »Leider besitzen wir nichts, was uns an die ersten Bewohner des Weyrs erinnern könnte. Es ist wirklich schade, denn Andenken irgendwelcher Art verleihen dem Leben Kontinuität.«
K'vin hatte eingesehen, dass sie Recht hatte und versucht, sich eine positivere Einstellung anzueignen.
»Wir wissen zwar nicht, wer nächstes Jahr um diese Zeit hier leben wird«, fuhr Zulaya fort, »aber diejenigen, die hier gearbeitet und gewirkt haben, werden wir nicht vergessen.«
»Wie lange muss ich noch stillsitzen, Iantine?«, nörgelte Zulaya. Ihre Hand, die auf ihrem Schenkel ruhte, zuckte. »Mein linker Fuß und die linke Hand sind schon wie abgestorben.«
Iantine stieß einen übertriebenen Seufzer aus, legte die Palette nieder und säuberte den feinen Pinsel, mit dem er dem Bild den letzten Schliff gab. »Entschuldigen Sie, Zulaya. Von Rechts wegen hätten wir schon längst eine Pause einlegen müssen. Doch das Licht ist nahezu ideal, und ich konnte einfach nicht aufhören.«
»Hilf mir beim Aufstehen, K'vin.« Zulaya streckte die Hand nach ihm aus. »Normalerweise sitze ich nie so lange an einem Fleck.«
K'vin half ihr nur zu gern, und ihre Bewegungen waren so steif, dass sie bei den ersten Schritten schwankte. Doch dann erlangte sie ihre Geschmeidigkeit zurück und begab sich mit der ihr eigenen Anmut zur Staffelei.
»Meine Güte, Sie haben heute ja eine Menge geschafft. Sagen Sie, schiele ich auf dem Bild?«
Iantine lachte. »Nein, treten Sie ein bisschen zur Seite. Und nun kommen Sie wieder zurück. Was ist, scheint der Blick Sie zu verfolgen?«
Zulaya schüttelte sich und riss erstaunt die Augen auf. »Tatsächlich. Womit haben Sie diesen Trick bewirkt? Ich muss schon sagen, es gefällt mir gar nicht, wenn ich mich von meinem eigenen Bildnis beobachtet fühle.«
K'vin schmunzelte. »Dich wird es bald nicht mehr stören, aber wenn dein Porträt in der unteren Kaverne hängt, fühlen sich die etwas phlegmatischeren Leute vielleicht bemüßigt, sich bei der Arbeit zu sputen.«
»Offen gestanden mag ich das genauso wenig, wie wenn jemand mich mit lüsternen Blicken verschlingen würde«, monierte sie. Sie wandte sich dem Tisch zu, der mit Iantines Malwerkzeug fast vollständig bedeckt war. »Ich ließ erst kürzlich Klah bringen«, sagte sie mit vorwurfsvollem Blick auf den Künstler. »Er müsste noch heiß sein.« Sie schraubte den Deckel der Kanne auf, und heißer Dampf quoll heraus. »Glück gehabt. Soll ich für uns alle einschenken?« Ohne eine Antwort abzuwarten goss sie das Klah in drei bereitstehende Becher.
»Jetzt sollte ich wohl lieber gehen«, meinte Iantine, die beiden Weyrführer ins Auge fassend.
»Nein, bleiben Sie«, widersprach Zulaya.
»Ich wollte Ihnen die Skizzen persönlich überbringen, damit sie nicht etwa irgendwo vergessen werden«, erklärte K'vin und setzte sich auf einen Stuhl.
»Haben sie denn ihren Zweck erfüllt?«, fragte Zulaya, während sie Zucker in die Becher löffelte und K'vin sein Getränk reichte. »Kommen Sie, nehmen Sie Platz, Iantine. Sie müssen noch erschöpfter sein als ich. Schließlich habe ich die ganze Zeit über gesessen, während Sie vor der Staffelei standen.«
Iantine lächelte die Weyrherrin viel zu vertraut an, fand K'vin mit einem Anflug von Eifersucht. Nur wenige Weyrbewohner fühlen sich in Zulayas Gegenwart völlig unbefangen, mit Ausnahme von Tisha, die jeden behandelte wie ein unmündiges Kind oder Leopol, der von Respekt grundsätzlich nicht viel hielt.
»M'shall ist tief enttäuscht. Trotz der offenkundigen Beweise fehlt immer noch eine Stimme, um Chalkin von seinem Amt abzusetzen. Jamson stellt sich quer.«
»Jamson ist nicht immer ganz zurechnungsfähig«, erwiderte Zulaya. »Das weiß ich von Mari aus dem Hochland-Weyr. Und sein Geisteszustand verschlimmert sich zusehends. Thea übernimmt viele seiner Aufgaben, und sein ältester Sohn …«
»Gallian ist in meinem Alter«, fiel K'vin ihr ins Wort. »Könnte er nicht die Initiative ergreifen?«
»Er hat kein Stimmrecht, solange Jamson nicht von seinem Posten als Burgherr zurücktritt. So steht es jedenfalls in der Verfassung.« Sie bedachte K'vin mit einem halb belustigten, halb ernsten Lächeln. »Das habe ich erst neulich dazugelernt. Ich war dabei, als T'lan die Charta vorlas. Das meiste davon hatte ich schon ganz vergessen. Hast du dich in letzter Zeit damit beschäftigt?«
»Das habe ich, in der Tat«, bekräftigte K'vin. »So demokratisch, wie wir immer glaubten, ist sie gar nicht. Ein Burgherr verfügt über mehr Autonomie als …«
»Dem Missbrauch von Autonomie ist Tür und Tor geöffnet«, warf Iantine ein. »Ich habe mir eine Kopie der Verfassung ausgeborgt, die derzeit in den Weyrn herumgereicht wird.«
»Egal, wie weit Chalkin seine Privilegien als Burgherr ausdehnt, er kann nicht leugnen, dass er seinen Pächtern jedes verbriefte Grundrecht streitig gemacht hat. Zum Beispiel hat er sie enteignet, ohne sich auf den Beschluss einer Pächterversammlung zu stützen. Dann durfte er sie nicht einfach bei diesen Wetterbedingungen im Freien festhalten lassen. Schließlich gab es weder eine Verschwörung noch Meuterei, so dass er drastische Maßnahmen hätte ergreifen dürfen. Die Pächter hatten ihm nicht einmal eine Liste mit ihren Beschwerden eingereicht.«
»Sie hatten ja keine Ahnung, dass sie sich beschweren dürfen«, ergänzte Iantine mit grimmiger Miene. »Ich erklärte einigen von ihnen, was man unter Meuterei versteht, und alle beteuerten, dass sie nichts dergleichen im Sinn hatten.«
»Und Jamson will partout nicht nachgeben?«, vergewisserte sich Zulaya.
K'vin schüttelte den Kopf.
»Will er denn nicht mal herkommen und selbst mit den Flüchtlingen sprechen?«
»Er beruft sich darauf, dass es niemandem zusteht, sich in die Befugnisse eines anderen Burgherrn einzumischen«, erwiderte K'vin.
Iantine gab einen knurrenden Laut von sich. »Vermutlich hält er nicht mal die Skizzen für echt.«
K'vin nickte. »Er zweifelt in der Tat an deren Authentizität. Und er war auch dann noch skeptisch, als Azury ihm erklärte, Sie hätten die entsetzlichsten Verletzungen sogar abgemildert.«
»Ganz zu schweigen von den Gräueln, die man den schwangeren Frauen angetan hat«, versetzte Zulaya mit wütend funkelnden Augen.
»Wie geht es ihnen eigentlich?«, erkundigte sich K'vin.
»Eine hat zu früh entbunden, aber das Baby und sie werden überleben. Die anderen … nun ja, Tisha tut für sie, was sie kann … wichtig ist, dass sie sich ihren Schmerz von der Seele reden und nicht in Depressionen verfallen.«
»Die Frauen können gegen ihre Peiniger aussagen«, meinte Iantine.
»Sie haben bereits geschildert, was man ihnen angetan hat«, entgegnete Zulaya. »Die Vergewaltiger befinden sich in unserem Gewahrsam. Sowie sich die Frauen imstande fühlen, öffentlich gegen die Wachposten auszusagen, halten wir hier eine Gerichtsverhandlung ab. M'shall wird die Mörder, die bei ihm unter Arrest stehen, in Benden aburteilen.«
»Dann gibt es zwei unterschiedliche Prozesse?«
»Ja. Einmal wegen Vergewaltigung und einmal wegen Mordes. Nicht gerade unsere übliche Beschäftigung für die Wintermonate, wie?«, fügte Zulaya zynisch hinzu.
»Steht Burg Telgar auf unserer Seite?«, erkundigte sich K'vin, denn die Burg, zu dem der Weyr gehörte, musste bei einer Gerichtsverhandlung vertreten sein. Er hatte sich gewundert, wie detailliert die korrekte Vorgehensweise in der Verfassung beschrieben war. Das meiste des Textes hatte er längst vergessen gehabt, und erst in Anbetracht der jüngsten Vorfälle bekam er Gelegenheit, sein Wissen aufzufrischen.
In diesem speziellen Fall urteilten sie über Männer, die eigentlich der Jurisprudenz von Burg Bitra unterstanden, zumal die Verbrechen, die man ihnen zur Last legte, in der dazu gehörigen Provinz begangen wurden. Kurzerhand äußerte K'vin seine Bedenken. »Sind wir überhaupt berechtigt, ein Urteil über diese Wachposten zu sprechen? Immerhin sind sie Bitraner.«
»Und ob wir uns im Recht befinden«, betonte Zulaya. »Die Gesetze gelten überall, und wenn die Situation es erfordert, darf an jedem beliebigen Ort ein Prozess stattfinden. Da die Opfer der Verbrechen zur Zeit in diesem Weyr wohnen und auch die Angeklagten bei uns festgehalten werden, steht es uns von Rechts wegen zu, hier über sie zu richten. Allerdings sollten wir für alle Fälle Vertreter der anderen Burgen und Weyr einladen, die bezeugen können, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird.«
»Wie können wir es bewerkstelligen, dass auch Jamson hierher kommt?«, fragte K'vin maliziös.
Zulaya lächelte. »Es wäre gut, wenn er der Verhandlung beiwohnen würde. Vielleicht ändert er dann seine Meinung über die Befugnisse eines Burgherrn.«
»Und was machen wir mit Chalkin?«, fragte Iantine mit gespannter Miene.
K'vin grinste. »Wir werden uns etwas einfallen lassen. Seine Anwesenheit allein könnte schon genügen, um selbst Zweifler wie Jamson umzustimmen.«
»Das muss nicht unbedingt sein«, hielt Zulaya ihm entgegen. »Er ist viel zu gerissen, um sich in die Missetaten seiner Subalternen verwickeln zu lassen. Wenn er hört, worüber hier verhandelt werden soll, wird er sich hüten, in Erscheinung zu treten.«
»Man darf ihm keinesfalls verraten, zu welchem Zweck wir ihn einladen«, warnte K'vin.
»Das nützt gar nichts«, widersprach Iantine. »Er hat überall seine Spitzel. Man staunt nur, was er alles in Erfahrung bringt.«
»Dann bleibt das, worüber gerade geredet wurde, streng unter uns«, schlug Zulaya vor. »Kein Wort zu irgendjemandem. Habe ich Recht, Iantine?«
»Absolut«, erwiderte er mit Nachdruck.