KAPITEL 14

Das Ende des Planetenumlaufs in Burg Fort und im Telgar-Weyr

Traditionsgemäß trafen sich die Burgherren und die Weyrführer sowie die geladenen Vorsitzenden der verschiedenen Berufsstände am Tag vor dem Ende des Planetenumlaufs – der Wintersonnenwende – im Konklave, um zu beraten, welche Themen bei den Versammlungen anlässlich der Festlichkeiten zur Sprache gebracht werden sollten.

Stand ein Referendum auf der Tagesordnung, würden die Einzelheiten vorher bekanntgegeben. Zusätzlich wurde der Text am Abend vor der Abstimmung in jeder größeren Burg und Ansiedlung verlesen. Am Morgen des ersten Tages eines neuen Planetenumlaufs gab man dann die Stimmen ab; das Ergebnis des Referendums sollte dann in einem zweiten Konklave diskutiert werden.

In diesem Jahr, 258 Planetenumdrehungen nach der Landung der ersten Kolonisten auf Pern, kam dem Konklave eine ganz besondere Bedeutung zu, denn in Bälde erwartete man den berüchtigten Fädeneinfall. Obwohl Vergerin erst seit zwanzig Tagen die Zügel in der Hand hielt, stand bereits fest, dass er Bitra mit Umsicht und Geschick verwaltete. Von seinen Mitarbeitern verlangte er einen hohen Einsatz, doch stets blieb er gerecht. Keiner der jungen Leute beklagte sich, wenn sie von ihren Eltern über die Arbeitsbedingungen ausgefragt wurden.

Vergerin hatte Drachenreiter herumgeschickt, die Chalkins Verbannung verkündeten und jeden einluden, sich zum Ende des Planetenumlaufs in Burg Bitra einzufinden. Für die entstehenden Reisekosten käme Vergerin auf. Er musste auf sein Privatvermögen zurückgreifen, denn bis jetzt hatte man Chalkins Schatzkammer noch nicht entdeckt; fest stand nur, dass er keine Kostbarkeiten mit ins Exil genommen hatte. Nadona behauptete, nichts von gehorteten Schätzen zu wissen und jammerte unentwegt, sie selbst besitze keine einzige Marke.

Das Lehrerkollegium beschloss, zum Ende des Planetenumlaufs in Bitra ein Konzert zu geben. Außerdem brächte man auf Vergerins ausdrücklichen Wunsch hin Kopien der Verfassung mit, die an die Kleinpächter verteilt würden. Dies bedeutete, dass die Anzahl der gedruckten Kopien, die im Kollegium aufbewahrt wurden, auf ein paar Dutzend Exemplare schrumpfte, doch Clisser hielt Vergerins Bitte für gerechtfertigt.

Außerdem plante man Sheledons anspruchsvolle Landungssuite aufzuführen – in der die Verfassung erwähnt wurde – und das Publikum verstünde viel besser, wovon die Rede war, wenn sich jeder selbst über den Inhalt der Charta aufklären konnte. Die Zeiten, in denen die Einwohner von Bitra über ihre verfassungsmäßigen Rechte bewusst im Unklaren gehalten wurden, waren ein für allemal vorbei.

Als das Konklave zusammentrat, wurde Vergerin konsequenterweise als neuer Burgherr von Bitra bestätigt. Man verlangte nicht von ihm, dass er Chalkins Söhne zu seinen Nachfolgern erzog, obwohl der menschliche Anstand gebot, dass er für ihre Erziehung und eine Berufsausbildung sorgte.

Da Erben nicht unbedingt einem legitimen Ehebund entstammen mussten, setzte Vergerin seinen neun Jahre alten Sohn und eine fünf Jahre alte Tochter offiziell als seine Nachkommen ein. Wer die Mutter der Kinder war, wusste niemand. Vergerin erklärte, er wolle sich eine geeignete Gemahlin nehmen, die an seiner Seite als Burgherrin fungieren sollte.

Danach kam Clisser an die Reihe, der über eine eindeutige und unzerstörbare Methode zur Bestimmung des Fädeneinfalls berichtete. Er versprach, an der nach Osten gewandten Fassade eines jeden Weyrs eine derartige Vorrichtung installieren zu lassen. Kalvi, der sehr selbstgefällig dreinschaute, nickte weise, und Paulin fühlte sich beruhigt. Nie wieder sollte jemand vom Schlage Chalkins Gelegenheit bekommen, einen künftigen Fädenfall glattweg abzuleugnen.

Als Nächstes debattierte man über die Errichtung einer neuen Festung mit dem Namen Crom. Hitzige Wortgefechte entbrannten.

»Die Leute haben ein Anrecht auf Landzuteilung«, ergriff Bastom unerwartet Partei für die Antragsteller. »Warum sollen sie diese neue Ansiedlung nicht als Burg bezeichnen?«

»Aber dann verlangen sie gleich Autonomie, und außerdem liegt die geplante Siedlung viel zu abgeschieden in den Bergen«, hielt Azury dagegen.

»Sollen sie doch beweisen, dass sie sich selbst versorgen und verwalten können«, meinte Tashvi. Der Vorschlag kostete einige Überwindung, denn Telgar bewirtschaftete ebenfalls Erzminen.

»Sie müssen dieselben Gesetze befolgen wie alle anderen auch«, bemerkte Azury trocken. »Es stellt sich die Frage, ob wir so kurz vor einem Fädenfall Experimente mit Ungewissem Ausgang erlauben dürfen.«

»Gestehen wir ihnen ganz einfach eine Probezeit zu, und erst danach wird über die endgültige Gründung einer neuen Burg beschlossen«, versetzte Bridgely. Sein Rat fand allgemeine Zustimmung.

Die restlichen Punkte der Tagesordnung wurden besprochen, ohne dass sich nennenswerte Meinungsunterschiede ergaben. In diesem Jahr stand kein Referendum zur Debatte.

»Aber jeder von Ihnen erhält ein vollständiges Protokoll über die Gerichtsverhandlungen und Chalkins Amtsenthebung«, verkündigte Paulin. »Die Wahrheit soll sich herumsprechen, damit nicht noch mehr wilde Gerüchte kursieren.«

»Angeblich soll Chalkin dem Kannibalismus gefrönt haben!« Diese Unterstellung hatte Bridgely über alle Maßen empört. »Er war in der Tat ein Sadist, aber ihm Menschenfresserei vorzuwerfen, geht wirklich zu weit.«

»Wie um alles in der Welt konnte eine so abenteuerliche Spekulation nur aufkommen?«, wunderte sich Paulin. S'nan blickte bestürzt drein und starrte den Burgherrn von Benden fassungslos an.

»Vermutlich, weil von ›Kühlfächern‹ die Rede war, in denen Chalkin missliebige Personen aufbewahrte«, sagte Bridgely angewidert.

»Dieser Ausdruck stammt nicht von uns!«, beschied ihm Azury achselzuckend.

»Nun ja, wir werden versuchen, diesen Tratsch aus der Welt zu schaffen«, entgegnete M'shall ärgerlich. »Die Fakten sind schon haarsträubend genug, wir brauchen uns nicht noch mit Ausgeburten der Phantasie herumzuschlagen.«

»Die Leute müssen wissen, wie mit den Vergewaltigern und Mördern verfahren wurde«, warf Richud ein.

»Selbstverständlich. Tatsachen müssen publik werden, aber Gerüchte sollten wir im Keim ersticken«, bekräftigte Paulin. Er stand auf und klopfte mit seinem Hammer auf den Block. »Hiermit erkläre ich diese Sitzung des Konklaves für beendet. Feiern Sie das Ende des Planetenumlaufs, und im neuen Jahr sehen wir uns wieder.«

Er selbst hatte sich vorgenommen, die Festlichkeiten nach Herzenslust zu genießen, denn schwere Zeiten standen ihnen bevor. An den Mienen der anderen Sitzungsteilnehmer erkannte er, dass auch sie sich auf die Feiern freuten. Besonders der junge Gallian wirkte gelöst und erwartungsfroh. Abgesehen von der Tatsache, dass Gallian in der Angelegenheit mit Chalkin den ausdrücklichen Wunsch seines Vaters missachtet hatte, gab er dem alten Jamson keinen Anlass, an seinen Führungsqualitäten zu zweifeln. Er verwaltete die Hochland-Provinz in vorbildlicher Weise.

Trotzdem fand Paulin, es könne nicht schaden, Jamson das Gerücht über Chalkins vorgeblichen Kannibalismus zuzutragen; vielleicht änderte er dann seine Meinung über dessen Verbannung ins Exil. Derweil machte Theas Genesung nur schleppende Fortschritte, und sie hatte ihren Gemahl dazu überredet, ihren Aufenthalt im milden Klima von Ista bis in den neuen Planetenumlauf hinein zu verlängern. Auf diese Weise konnte allmählich Gras über die Chalkin-Affäre wachsen.

Das Ende des Planetenumlaufs war für jedermann ein Feiertag, bis auf diejenigen, die bei der Aufführung der ›Landungssuite‹ mitwirkten. Clisser hatte alle Hände voll zu tun mit Proben, Änderungen in letzter Minute und den Unterweisungen der zweiten Besetzungen, die für erkrankte Orchester- und Chormitglieder einsprangen.

Zusätzlich befasste er sich mit den präzisen Kalkulationen, die erforderlich waren, wenn man einen Mechanismus zur Vorhersage eines Fädenfalls installieren wollte. Allerdings fungierte er in erster Linie als Koordinator und Beobachter, denn ein Team aus Astronomen, Ingenieuren und Weyrführern erhielt den Auftrag, am östlichen Rand eines jeden der sechs Weyr Geräte zur optischen Überwachung des Himmels aufzustellen.

Clisser, Jemmy und Kalvi wollten die Methode zuerst in Benden ausprobieren, dem ersten Weyr, der das Phänomen mit bloßem Auge beobachten konnte; dann kämen die fünf restlichen Weyr an die Reihe.

Es war wichtig, in Benden mit akribischer Genauigkeit vorzugehen, weil alle anderen Installationen auf diesen Ort Bezug nehmen würden. Clisser hegte nicht den geringsten Zweifel an der Exaktheit der Berechnungen, da Kalvi die Ergebnisse immer und immer wieder überprüfte. Clisser kannte die notwendigen Schritte, die dazu führen sollten, den Roten Stern zu observieren, mittlerweile auswendig.

Am östlichen Kraterrand wollte man ein kreisrundes ›Auge‹ einsetzen, auf das ein so genannter ›Fingerfelsen‹ zeigte. Seit einer Woche waren Kalvis Leute dabei, die beiden Markierungspunkte auszufluchten, damit sich die Bahn des Roten Sterns verfolgen ließ. Zur endgültigen Installation brauchte man nur noch eine absolut sternenklare Nacht.

Kalvi gab sich viel Mühe mit der Konstruktion des ›Augensteins‹, in dessen kreisrunder Aussparung man den Roten Planeten am Morgen der Wintersonnenwende sehen konnte. Das größte Problem bereitete die Ausrichtung des Fingerfelsens, neben dem der Beobachter stehen musste, um die Position des Wanderplaneten zu erkennen.

Der Fingerfelsen musste so beschaffen sein, dass Menschen unterschiedlicher Körpergröße die Vorrichtung benutzen konnten. Zur Veranschaulichung hatte man Pläne von Stonehenge und anderen prähistorischen Steinsetzungen herangezogen. Bethanys Schüler hatten die Bilder aus alten, nie gebrauchten Dokumenten aufgestöbert.

Clisser war froh, dass Sallisha sich nach Nerat begeben hatte, um dort das Ende des Planetenumlaufs zu feiern und gleich im neuen Jahr mit ihrer dortigen Lehrtätigkeit zu beginnen. Mit Sicherheit hätte sie ihm unter die Nase gerieben, wie Recht sie doch mit ihrer Forderung hatte, altes Wissen zu konservieren.

In Gedanken legte er sich bereits Argumente zurecht, mit denen er kontern wollte, falls sie auf die Idee kam, ihm einen Brief zu schreiben. Hauptsächlich konnte er sich darauf berufen, dass es immer irgendjemanden geben würde, der sich mit Vorgeschichte befasste und wusste, wie man Quellenstudium betrieb.

Dann war es soweit, und Clisser stand aufgeregt und frierend auf dem Kraterrand des Benden-Weyrs. Die Teleskope waren ausgerichtet, und Kalvi und Jemmy stellten die selbst angefertigten Gerätschaften auf. Als Zeiger hatte Kalvi einen Kegel aus Stein konstruiert. Jemand, der zu einer bestimmten Stunde sein Kinn auf die Spitze des Konus legte, würde den Roten Stern im Ring des Augensteins sehen, sowie dieser Unheil bringende Planet über dem Horizont von Pern auftauchte.

Sicherheitshalber mussten sie unterschiedlich große Leute als Beobachter auswählen, doch dies war ein rein technisches Problem, das sie sogleich angehen konnten. Clisser war der Größte aus dem Team, Kalvi der Kleinste. M'shall und Jemmy lagen irgendwo dazwischen. Wenn jeder von ihnen den Roten Stern im Augenstein erkennen konnte, war die Vorrichtung korrekt ausgefluchtet.

Ob sich die Maßnahme auch konkret bewähren würde, stünde erst in ungefähr zweihundert Jahren fest, beim dritten Vorbeizug des Roten Sterns.

Clisser genoss den Augenblick. Wenn ihm nur nicht so kalt gewesen wäre. Er schlug sich die Arme gegen den Körper, um sich ein wenig aufzuwärmen. Trotz der dicken Bekleidung fror er erbärmlich. In den Stiefeln konnte er kaum noch die Zehen spüren, und sein Atem gefror in der eisigen Luft, so dass er schon befürchtete, der weiße Schwaden könne die Sicht beeinträchtigen.

»Da kommt er!«, sagte Kalvi mit gepresster Stimme. Clisser strengte die Augen an, vermochte in der frühmorgendlichen Dämmerung indessen nichts zu erkennen. Kalvi spähte durch sein Instrument.

Ein Hauch von Rot erschien am unteren Rand des Auges, ein Fleck, der zu pulsieren schien. Aus den Aufzeichnungen des Kolonistenschiffs Yokohama wussten sie, dass der Rote Stern größenmäßig der Venus entsprach, einem Schwesterplaneten der alten Erde. Und er war genauso unbewohnbar.

Während Clisser mit angehaltenem Atem schaute, kam es ihm vor, als sähe man diesem Planeten an, dass er Tod und Verderben in seinem Gefolge mit sich führte. Hatte man nicht einen anderen Satelliten des Sol-Systems als ›Roten Planeten‹ bezeichnet? Ja, sicher, der astronomische Name lautete Mars. Benannt war er nach einem Kriegsgott.

Rot war die passende Farbe für einen Planeten, der Unheil brachte. Clisser fragte sich, wie es möglich war, dass die Fäden, ein lebendiger Organismus, sich auf einer Welt entwickeln konnten, die einen so erratischen Orbit besaß wie der ominöse Rote Stern. Seine stark in die Länge gezogene elliptische Umlaufbahn führte ihn die meiste Zeit weg von Rubkats Leben spendender Wärme. Selbstverständlich wusste Clisser, dass seine Raumfahrt betreibenden Ahnen noch viel merkwürdigere Lebensformen im All entdeckt hatten. Die Nathi zum Beispiel, um eine weitere bösartige Spezies zu nennen.

Doch der auf Rubkats Satelliten heimische Mykorrhizoid besaß keinerlei Intelligenz. Dieser Organismus vernichtete anderes Leben, ohne sich dessen bewusst zu sein. Clisser seufzte. In gewissem Sinne fasste er dies als Trost auf. Die Fäden zerstörten jede organische Materie, weil sie gar nicht anders konnten; sie waren genetisch darauf programmiert zu fressen, ohne indessen Böses zu beabsichtigen.

Den Opfern nützte dieses Wissen allerdings nichts, führte Clisser seinen Gedankengang fort. Er erinnerte sich an die Dokumentation eines Fädenfalls, die er auf Video gesehen hatte. Jetzt bedauerte er es, dass er davon nicht hatte Skizzen anfertigen lassen; selbst ein einziges Bild würde genügen, um zu veranschaulichen, welch verheerende Folgen ein Fädenschauer anrichtete.

Iantines Zeichnungen von den Vorgängen in Bitra hatten Clisser ungemein beeindruckt. Obwohl man ein so großes Talent nicht verschwenden sollte, indem man den Künstler hauptsächlich Kopien anfertigen ließ. Nach einer Vorlage zeichnen konnte fast jeder. Doch nur wenigen Begabten war es vergönnt, kreativ zu sein.

Unterdessen kroch der rote Schimmer im Rund des Augensteins immer höher.

»Geschafft!«, brülle Kalvi. Ein letztes Mal drehte er an dem eisernen Ring auf dem Steinsockel. »Die Ausrichtung ist perfekt. Zementiert die Lücke im Felsen rasch zu. Ihr da am Fingerfelsen! Beobachtet das Phänomen. Jetzt müsste jeder von euch den Roten Stern im Augenstein sehen.«

Die Beobachter stellten sich in einer Reihe auf, und nacheinander probierten sie die astronomische Vorrichtung aus.

Kalvi war begeistert. »Das genügt. Ist der Ring auch fest einzementiert? Wunderbar.« Dann wandte sich der Ingenieur an M'shall. »Bei der Liebe zu Ihrem Drachen, lassen Sie ja niemanden an dem eisernen Ring herummanipulieren. Ich habe einen schnell bindenden Zement benutzt, doch die geringste Verschiebung genügt, und es ist aus mit der Präzision!«

»Niemand wird hier heraufkommen«, versprach M'shall und beäugte nervös den Metallkreis auf dem Steinsockel. Das Gerät kam ihm unglaublich zerbrechlich vor, obschon er wusste, dass die Anlage aus Eisen und massivem Fels bestand. Langsam wanderte der Rote Stern über den Horizont. »Aber der Metallkreis wird doch durch ein steinernes Auge ersetzt, oder?«

»Ja, keine Bange. Der Steinkreis wird haargenau dieselbe Position einnehmen wie der Eisenring«, sicherte Kalvi ihm zu. Er rieb sich die Hände und lächelte triumphierend. »Und jetzt müssen wir anderenorts auf die Morgendämmerung warten.«

»Sicher, aber zuvor sollten wir frühstücken.«

»Ha! Das hat Zeit bis später. Doch gegen einen Becher Klah hätte ich jetzt auch nichts einzuwenden.« Kalvi sammelte seine Ausrüstung ein und bedeutete seinen Leuten, sich zu sputen. »Beeilung, Männer, wir müssen noch fünf weitere Augen auf den Roten Stern richten.« Er blickte in die Runde. »Wo sind die Drachen?«

»Hier entlang«, erwiderte M'shall und führte den Trupp über das Felssims zu der Stelle, an der die braunen Drachen mit ihren Reitern warteten.

»Das ist gut. Danke, M'shall.« Kalvi schulterte die klirrenden Eisenringe und eilte im Geschwindschritt zu den Drachen. Seine Männer folgten ihm hinterdrein. Seufzend setzte sich Clisser ebenfalls in Bewegung.

Ihm grauste vor der Kälte im Dazwischen. Um das astronomische Gerät in Igen aufzubauen, blieben ihnen anderthalb Stunden, doch für Ista und Telgar hatten sie jeweils nur eine halbe Stunde Zeit. Danach konnten sie eine Pause einlegen und sich mit einem Imbiss stärken, ehe sie nach Fort weiterflogen. Der Hochland-Weyr war ihre letzte Station, weil dort die Sonne am spätesten aufging - S'nan passte es nicht, am längsten warten zu müssen, doch an Rubkats Bahn ließ sich nun mal nichts ändern. Clisser hatte gehört, dass S'nan sich nicht mit Chalkins Absetzung und Verbannung anfreunden konnte. S'nan galt als der schwierigste aller Weyrführer. Er war unflexibel und autoritär, doch das sollte nicht heißen, dass er nicht befähigt war, seinen Weyr während des Vorbeizugs des Roten Sterns erstklassig zu führen. Clisser war froh, dass er sich mit diesem Problem nicht befassen musste. Weyrangelegenheiten gingen ihn zum Glück nichts an, auf seinen Schultern lastete ohnehin genug Verantwortung.

Er nahm sich vor, sich im Fort-Weyr etwas Ruhe zu gönnen, damit er während der Generalprobe des Konzerts nicht vor Müdigkeit umkippte. Falls Sheledon während seiner Abwesenheit noch irgendwelche Änderungen in letzter Minute eingeführt hatte, würde er ihn nach allen Regeln der Kunst abkanzeln. Mit den vielen Neuerungen kam keiner mehr zurecht. Aber Clisser wusste, dass Sheledon mit seiner Landungssuite ein absolutes Meisterwerk geschaffen hatte.

»Sitzen Sie auf, Meister Clisser«, riss eine angenehme Stimme ihn aus seinen Gedanken. »Dass Sie mir ja nicht in den Abgrund fallen!«

Mit einem Ruck kehrte Clisser in die Wirklichkeit zurück. »Ja, ja, entschuldigen Sie, ich war ein wenig zerstreut.« Er lächelte zu dem braunen Reiter empor, der ihm eine Hand entgegenstreckte.

»Danke«, sagte Clisser zu dem Drachen, der freundlicherweise eine Vordertatze anwinkelte, um ihm das Aufsitzen zu erleichtern.

Und dann saß er rittlings auf dem großen Tier und klammerte sich an den Sicherheitsgurt.

»Ich bin soweit.«

Clisser hielt den Atem an, als sich der Drache in die Finsternis des Kraterkessels hinabstürzte. Dann schien sich sein Magen umzustülpen, weil der Drache die gewaltigen Schwingen entfaltete und der freie Fall gebremst wurde. In Schwindel erregendem Tempo gewannen sie an Höhe.

Sie flogen in Richtung Osten, und die Glut des Roten Sterns verblasste im Licht der aufgehenden Sonne Rubkat. Der rote Fleck, der vorher noch wie ein böses Feuer gefunkelt hatte, verlor sich nun im Glanz des heller werdenden Himmels.

Erstaunlich! dachte Clisser. Darüber möchte ich ein Gedicht schreiben. Doch er wusste, dass er seine Empfindungen nie zu Papier bringen würde. Vielleicht blieb der Perneser Literatur ein weiterer stümperhafter Versuch erspart, sinnierte er ironisch.

Er merkte, dass auch der braune Reiter sich an dem herrlichen Schauspiel nicht satt sehen konnte. Diesen Ritt würde Clisser ganz gewiss in Erinnerung behalten. Der Drache schlug einen nördlichen Kurs ein, indem er gemächlich eine Linkskurve drehte.

Bald würden die Drachen in wichtigerer Mission unterwegs sein, ging es Clisser durch den Kopf. Wenn es galt, Pern vor dem Fädenfall zu schützen. Vor ihnen erstreckte sich die schneebedeckte Bergkette des Großen Nordgebirges. Rubkats Widerschein tönte die eisgepanzerten Felswände in zarteste Abstufungen von Orange. Was Iantine mit einem solchen Panorama anfangen könnte! Schlagartig wurde das Bild erhabener Schönheit von der abgrundtiefen Schwärze des Dazwischen verschluckt.

»Was passiert, wenn Sie sich die Finger wund zeichnen?«, wollte Leopol von Iantine wissen.

Der Künstler hatte nicht einmal bemerkt, dass der Junge neben ihm stand, aber seine Frage – tatsächlich malte er gerade eine Szene mit den Jungdrachen in einem solchen Tempo, dass sein Ellbogen schmerzte – reizte ihn zum Lachen. Dennoch dachte Iantine nicht daran, eine Pause einzulegen.

»Ich weiß es nicht. Ich habe noch nie gehört, dass so etwas passiert ist, falls dich das beruhigt.«

»Wieso sollte ich mir Sorgen machen?« Keck legte Leopol den Kopf schräg. »Es sind doch Ihre Finger.«

»Weißt du was, ich werde dich sehr vermissen«, erklärte Iantine impulsiv.

»Das will ich doch sehr hoffen. Immerhin war ich während der letzten Monate Ihr ständiger Begleiter«, lautete Leopols Antwort. »Aber Sie können mich doch mitnehmen. Ich werde mich weiterhin um Sie kümmern.« Leopols Miene war ernst, und seine grauen Augen blickten ein wenig bekümmert. »Mittlerweile weiß ich, wie Sie Ihre Farben mischen, die Pinsel säubern und das Holz oder die Leinwand für ein Porträt präparieren.«

Iantine schmunzelte und zauste das dichte schwarze Haar des Jungen. »Und was würde dein Vater dazu sagen?«

»Mein Vater? Er hat alle Hände voll zu tun, um die Schutzmaßnahmen gegen den Fädenfall vorzubereiten.« Von Tisha wusste Iantine, dass ein Bronzereiter, C'lim, Leopols Vater war; seine Mutter war kurz nach der Geburt gestorben. Doch wie jedes andere Kind im Weyr wurde er von vielen Leuten umsorgt und verhätschelt und auch gemaßregelt, falls es erforderlich war. »Ich sehe ihn ja kaum noch.«

Kein Wunder, dachte Iantine. Seit seiner Ankunft im Weyr hatte sich Leopol an ihn gehängt und verfolgte ihn auf Schritt und Tritt wie ein Schatten. »Und Tisha?«

»Ach, Tisha. Die muss sich halt jemand anderen suchen, den sie bemuttern kann.«

»Ich kann ja fragen, aber ich glaube nicht, dass man dir erlauben wird, von hier fortzugehen. Die anderen Reiter rechnen nämlich fest damit, dass du eines Tages von einem Bronzedrachen erwählt wirst.«

Mit einem Achselzucken tat Leopol diese Zukunftsaussichten ab. Für ihn zählte nur die Gegenwart und nicht, was sich in drei, vier Jahren eventuell ereignen mochte. »Müssen Sie denn gehen?«

»Leider ja. Ich habe die Gastfreundschaft des Weyrs schon viel zu lange in Anspruch genommen.«

»Das haben Sie nicht.« Bedeutungsvoll blickte der Junge zum See hin, wo die Weyrlinge ihre Jungdrachen badeten. »Außerdem sind Sie mit Ihrer Galerie noch nicht fertig. Ein paar Reiter fehlen noch.«

»Wie dem auch sei, Leo, demnächst begebe ich mich nach Benden, um dort Porträts des Burgherrn und seiner Gemahlin anzufertigen. Das schulde ich ihnen, seit ich meine Ausbildung im Institut Domaize begann.«

»Werden Sie später hierher zurückkommen? Sie haben Chalkins Gesicht noch nicht übermalt, und es ist ja nicht so, wie wenn Sie jemandem im Weyr einen Schlafplatz wegnehmen würden.« Weinerlich verzog Leopol das Gesicht. »Debera will auch, dass Sie bleiben.«

Iantine bedachte ihn mit einem strengen Blick. »Leopol!«, sagte er in warnendem Ton.

Mit der Stiefelspitze stocherte der Junge im Sand herum. »Jeder weiß, dass Sie in sie verknallt sind, und die Mädchen klatschen, sie hätte ein Auge auf Sie geworfen. Das einzige Problem stellt Morath dar. Doch sowie sie fliegen gelernt hat, bekommt sie einen eigenen Weyr, und Sie und Debera hätten eine Intimsphäre.«

»Intimsphäre?« Iantine wusste, dass Leopol altklug und frühreif war, aber … Leopol unterdrückte ein Grinsen. »In einem Weyr lässt sich nichts vertuschen. Hier gibt's keine Geheimnisse.«

Iantine schwankte zwischen Gereiztheit und einem verdeckten Triumph. Es freute ihn zu hören, dass Debera ihn offenbar als Partner in Betracht zog, gleichzeitig wurmte es ihn, dass man ihm seine Empfindungen ansah. Verliebt zu sein war für ihn eine gänzlich neue Erfahrung. Wenn Debera nicht bei ihm war, fühlte er sich elend, und des Nachts verbrachte er schlaflose Stunden damit, die Gespräche mit ihr immer wieder in Gedanken durchzugehen.

Selbst in einer Kaverne, in der sich die Menschen dicht an dicht drängten, hörte er sofort Deberas Stimme heraus, und wie von selbst zeichneten seine Finger imaginäre Szenen, in denen nur er und das Mädchen vorkamen. Den Skizzenblock hütete er wie seinen Augapfel, damit niemand von seiner Besessenheit erfuhr. Für ihn drehte sich alles nur noch um Debera – und die allgegenwärtige Morath. Zum Glück mochte der Drache ihn gut leiden, das wusste er, weil Morath es ihm gesagt hatte.

Allerdings war dies das erste ermutigende Zeichen gewesen, das man ihm gewährte. Er hatte versucht herauszufinden, wie bedeutungsvoll Moraths Eingeständnis war, und ob sich darin Deberas Meinung über ihn widerspiegelte. Während er einen Reiter skizzierte, hatte er wie beiläufig gefragt, was Debera wohl am meisten am Herzen läge. Anscheinend vermochte ein Drache mit jedem Menschen zu kommunizieren, wenn ihm der Sinn danach stand.

Nicht immer erfuhr der jeweilige Reiter, dass sein Drache mit einem Außenstehenden Kontakt aufnahm. Von den Jungdrachen war Morath der Einzige, der mit ihm sprach, doch ihre Gefühle waren ihm ungeheuer wichtig.

Einmal bat Morath ihn, sich seine Zeichnungen ansehen zu dürfen. Dabei merkte er, dass der Block von jeder einzelnen Facette des Drachenauges reflektiert wurde. Normalerweise schimmerten die Augen eines Drachen in einem strahlenden Grünblau und kreisten sachte in ihren Höhlen.

»Kannst du etwas erkennen?«, fragte Iantine.

Ja. Formen. Bringst du die Formen mit diesem Ding in deiner Hand auf das Papier?

»So ist es.« Wie viel mochte ein Drache mit seinen hoch komplizierten Sehorganen erfassen? Iantine nahm an, dass diese Art von Auge nützlich war, wenn es galt, Fäden zu bekämpfen, die von allen Richtungen herniederprasselten. Und da ein Drachenauge vorgestülpt aus dem Schädel herausragte, erweiterte sich der Gesichtskreis nach oben und unten.

Gutes Design. Aber die Drachen waren ja gentechnisch beeinflusste, künstlich konstruierte Geschöpfe, denen als Vorlage eine einheimische, viel kleinere Spezies gedient hatte. Heutzutage war die Wissenschaft der Gentechnologie allerdings verloren gegangen. Es war etwas völlig anderes, ob man Tiere für einen bestimmten Zweck auf natürlichem Wege durch Auslese züchtete, oder Zellmaterial so veränderte, dass eine ganz spezifische, den eigenen Wünschen angepasste Rasse entstand. »Gefällt dir das Bild, auf dem Debera dich gerade mit Öl einreibt?« Iantine tippte mit dem Zeichenstift auf die Skizze, die er am Morgen angefertigt hatte.

Ich erkenne Debera. Und so sehe ich aus? Morath klang überrascht. In diesem Augenblick bemerkte Iantine, dass der Drache mit fast genau derselben Stimme sprach wie seine Reiterin. Eine logische Konsequenz, da die beiden schier unzertrennlich waren.

Unzertrennlich! Dieser Umstand bereitete ihm am meisten Kopfzerbrechen. Er wusste, dass er nie aufhören würde, Debera zu lieben. Aber wäre das Mädchen überhaupt imstande, seine Liebe zu erwidern? Oder galten all ihre Emotionen ihrem Drachen, mit dem sie eine ganz besondere – quasi unauflösliche – Beziehung verband? In gewissem Sinne konnte er verstehen, wie es in Debera aussah, denn auch er vermochte voll und ganz in seiner Arbeit aufzugehen. Er war besessen von der Kunst, wie sie vernarrt war in ihren Drachen.

Vielleicht war es ganz gut so, dass er zu Beginn des neuen Planetenumlaufs nach Benden aufbrach, sinnierte Iantine, während er sich den Stift hinter das Ohr klemmte und den Block zuklappte. Möglicherweise würde seine Liebe zu Debera im Laufe der Zeit ein wenig nachlassen, und er fände seinen Seelenfrieden wieder.

»Sind Ihre Festgewänder für das Ende des Planetenumlaufs fertig? Müssen sie vielleicht noch gebügelt werden?«, fragte Leopol in seine Gedanken hinein.

»Du weißt genau, dass meine Kleidung bestens in Schuss ist. Erst gestern hast du doch nachgesehen, ob es irgendetwas zu tun gibt.« Iantine legte den Arm um die schmalen Schultern des Jungen und steuerte mit ihm auf die Küche zu. »Lass uns etwas essen.«

»Eine große Auswahl an Speisen steht aber nicht zur Verfügung«, erwiderte Leopol geringschätzig. »Anstatt zu kochen, bereiten sich alle auf die Feier heute Abend vor.«

»Die Vorbereitungen sind schon seit einer Woche im Gange«, meinte Iantine. »Für die Hungrigen hat man Brot und kalten Bratenaufschnitt auf die Tische gestellt.«

»Hmm.«

Leopol machte sich ein paar Sandwiches, dazu aß er zwei Teller Suppe und zum Nachtisch zwei Äpfel. Auch Iantine verputzte den kalten Imbiss, doch die Düfte, die von den Herden und Backöfen herüberwehten, ließen ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Er hatte vor, den Abend zu genießen.

Plötzlich sprang Leopol aufgeregt von seinem Stuhl hoch. »Schauen Sie, die Musikanten sind gerade eingetroffen!«

Iantine blickte nach draußen und sah, wie sie von einem halben Dutzend Drachen herabkletterten. Lachend und einander durch Zurufe verständigend, ließen sie sich ihre Instrumente und Packsäcke herunterreichen. Tisha rauschte in den Hof, gefolgt von ihren Helfern, und bald darauf füllte sich die Kaverne mit munteren, lebhaften Leuten. Das Mittagessen, das serviert wurde, war ein reichhaltiges Mahl, nicht zu vergleichen mit den Happen, an denen sich Iantine und Leopol gütlich getan hatten.

Leopol hielt sich schadlos, indem er sich ein riesiges Stück Kuchen ergatterte. Iantine suchte sich einen günstigen Platz am Rand der Menge, spitzte seinen Zeichenstift und zückte den Block. Diese Szene musste er unbedingt festhalten. Wenn er jetzt zeichnete, was das Zeug hergab, konnte er vielleicht das abendliche Konzert verfolgen, ohne dass es ihn in den Fingern juckte. Während sein Stift über das Papier flog, vergegenwärtigte er sich, dass die besten Musiker Perns versammelt waren, um eine Vorstellung zu geben. Aus allen Himmelsrichtungen hatte man sie nach Telgar geholt. Er nahm sich vor, bis zum Abend zu zeichnen und dann in Ruhe die Musik zu genießen.

Natürlich hielt er sich nicht daran. Er konnte nicht anders, er stand wie unter einem Zwang, all die aufregenden und interessanten Momente auf Papier zu bannen. Vor allen Dingen wollte er seinen Block nirgendwo liegen lassen, wo jeder hineinschauen konnte. Und beim Zeichnen konnte er gleichzeitig den herrlichen Melodien lauschen. Außerdem waren seine Hände beschäftigt, und er geriet gar nicht erst in Versuchung, einen Arm um Deberas Schulter zu legen oder nach ihrer Hand zu greifen.

Zumal seine Arbeit ihm den Vorwand lieferte, sein Bein wie zufällig an das ihre zu schmiegen – indem er so tat, als sei er sich dessen gar nicht bewusst – oder ihre Schulter zu berühren, wenn er sich vorbeugte, um angeblich irgendetwas besser sehen zu können.

Falls Debera der Körperkontakt unangenehm war, konnte sie ja einfach ein Stück von ihm abrücken. Doch es schien ihr nichts auszumachen, wenn er sie hin und wieder streifte, weil er so emsig mit Zeichnen beschäftigt war, dass er auf andere Dinge nicht mehr achtete.

Aber in Wirklichkeit war er sich ihrer Nähe vollauf bewusst; er sog das Parfüm ein, das nach Blumen duftete und die Ausdünstung ihres Kleides, das noch neu ›roch‹, nicht zu überdecken vermochte. Das helle Grün stand ihr ausgezeichnet; die Farbe erinnerte an sprießende Blätter im Frühling und verlieh ihrem Teint einen sanften Schmelz.

Angie hatte ihm verraten, welche Farbe Deberas neues Gewand haben würde, und er hatte sich eigens ein Hemd aus dunkelgrünem Stoff gekauft, so dass sie ein gut zusammenpassendes Paar abgaben.

Immer wieder warf er bewundernde Blicke auf ihre Frisur; das lange Haar hatte sie zu einer Krone geflochten, in die hellgrüne Bänder eingewirkt waren, deren lange Enden anmutig den Rücken hinunterbaumelten. Selbst ihre Schuhe waren grün. Er hoffte, dass die Musiker auch zum Tanz aufspielen würden, aber eigentlich endete jede Feier zum Ende eines Planetenumlaufs mit einem Tanzvergnügen für alle. Er beugte sich vor, in der Absicht, sie zu bitten, ihm Tänze zu reservieren, doch sie legte ihm einen Finger an den Mund.

»Psst, Ian, hör lieber zu.« Gerade führte man die Landungssuite auf. »Der Text ist genauso schön wie die Musik.«

Iantine schaute nach vorn und merkte erst jetzt, dass Sänger sich zu dem Orchester gesellt hatten. War er so abgelenkt gewesen, weil er zum ersten Mal neben Debera saß, ohne dass Morath in der Nähe herumlungerte?

Ich bin hier! Ich höre auch zu.

Erschrocken fuhr er hoch, als er unverhofft Moraths Stimme in seinem Kopf vernahm. Er schluckte krampfhaft. War der Drache immer zugegen, immer bereit, sich in seine Gedanken hineinzudrängen?

Im Geist stellte er diese Frage. Keine Antwort. Weil es darauf nichts zu antworten gab? Oder fiel die Antwort so selbstverständlich aus, dass Morath es nicht für nötig erachtete, darauf einzugehen?

Doch Morath schien es nichts auszumachen, dass er so völlig in Deberas Nähe aufging. Der Drache hatte zufrieden geklungen. Iantine wusste, dass Drachen Musik liebten.

Er spähte über die Schulter in den Weyrkessel und entdeckte längs der östlichen Felswand etliche Paare von Drachenaugen, wie blaugrüne Laternen, über den gesamten Kraterwall verteilt. Dort hatten es sich die Drachen bequem gemacht, um dem Konzert zu lausche.

Alsdann konzentrierte er sich auf den gesungenen Text und war fasziniert von der Vorstellung, obwohl er die Geschichte, die in der Suite zum Ausdruck kam, seit seiner Kindheit kannte. Dieser Vers schilderte die Ankunft der gigantischen Kolonistenschiffe im Orbit von Pern und wie die Siedler sie endgültig verließen. Ein Tenor verkündete die Dankbarkeit der Siedler, die Abschied nahmen von den Raumschiffen, die nun auf ewig den Planeten umkreisen würden; die Brücken verlassen, die Korridore verwaist, die einzelnen Stationen ausgeschlachtete Höhlungen, in denen die Stille widerhallte. Die Stimme, die eine ausgefeilte Atemtechnik verriet, verklang allmählich, wie wenn sie sich in der riesigen Entfernung zwischen den Schiffen und dem Planeten verlöre.

Nach einem respektvollen Schweigen ertönte begeisterter Applaus für den Solisten. Mit raschen Strichen zeichnete Iantine den jungen Mann, ehe dieser sich wieder unter die anderen Sänger mischte.

»Das hast du wunderbar hingekriegt, Ian. Es war herrlich, nicht wahr?« Debera reckte den Hals, um ihm zuzusehen. Derweil klatschte sie wie besessen Beifall. »Er wird entzückt sein, wenn du ihm das Bild zeigst.«

Iantine spürte eine Anwandlung von Eifersucht, weil der Sänger Deberas Aufmerksamkeit und Bewunderung auf sich gezogen hatte. Doch er lächelte und strengte sich an, sich nichts anmerken zu lassen.

Sie mag dich, Ian, flüsterte Morath wie aus weiter Ferne, obwohl sie zusammen mit den anderen Jungdrachen, die noch nicht fliegen konnten, auf dem Grund des Kraterkessels hockte.

Ian? Er stutzte. Andere Reiter hatten ihm erzählt, dass sich Drachen zwar mit Menschen unterhielten, die nicht ihre Reiter waren, sich deren Namen indessen nur selten merkten. Morath kennt meinen Namen?

Natürlich, was dachtest du denn? Schließlich höre ich ihn oft genug.Es klang pikiert.

Morath wird wohl nie erfahren, wie viel mir diese Bemerkung bedeutet, dachte Iantine. Dann holte er so tief Luft, dass seine Brust anschwoll. Wenn er Debera doch nur ein einziges Mal allein sprechen könnte … Aber sie wird nie mehr allein sein, jetzt, da sie meine Reiterin ist.

Iantine unterdrückte einen Seufzer, den weder der Drache noch die Reiterin hören sollten und bemühte sich, seinen Gedanken so wenig Intensität wie möglich zu verleihen. Ist es das alles wert, fragte er sich. Für den Rest des Konzerts versuchte er, sich nicht mehr auf Debera zu konzentrieren.

Der zweite und dritte Teil der ›Landungssuite‹ rauschte an ihm vorbei, ohne dass er besonders aufmerksam zugehört hätte. Zum Schluss befasste sich der Text mit der Gegenwart. Halb zynisch, halb erstaunt vermerkte er, dass von Chalkins Absetzung nicht die Rede war. Doch der Vorfall hatte erst vor kurzem stattgefunden, und vielleicht waren weder der Komponist noch der Textdichter so eingehend über die Vorgänge in Bitra informiert, dass sie sie in das Werk hätten einbringen können.

Er fragte sich, ob die Chalkin-Affäre in die Geschichte Perns eingehen würde. Chalkin mochte dies noch als einen letzten persönlichen Triumph auffassen. Womöglich war das der Grund, weshalb man ihn schlichtweg ignorierte; für Menschen wie ihn war es wohl die härteste Strafe, wenn man sie einfach überging.

Nach dem Konzert fand das Abendessen statt, und dazu hatte man die riesige Kaverne passend eingerichtet. In all der Hektik und dem Gedränge wurde er von Debera getrennt. Die Panik, die er darüber empfand, verdeutlichte ihm, wie sehr er an dem Mädchen hing. Als sie sich wiederfanden, fassten sie sich spontan bei den Händen und ließen sich selbst dann nicht los, als sie vor dem Büfett in der Schlange standen.

Nachdem sie sich mit Essen versorgt hatten, setzten sie sich an einen der langen Tische zu den anderen Gästen, die bereits eifrig dabei waren, über die Musik, die Sänger und die gesamte Aufführung zu diskutieren. Allgemein herrschte das Gefühl vor, dass man sich glücklich schätzen dürfe, in einem Weyr zu weilen, der so bevorzugt behandelt wurde. Pern konnte auf eine große musikalische Tradition zurückblicken, die die ersten Siedler ins Leben gerufen hatten und die von sämtlichen Institutionen, ob Burg, Weyr oder Lehrinstitut, wachgehalten wurde.

Von klein auf lernte jeder Perneser, Noten zu lesen und mindestens ein Instrument zu spielen, wenn nicht gar mehrere. Selbst die ärmste Festung verfügte über Gitarrenspieler, Flötisten und Trommler, die mit ihren Weisen die langen Winternächte verkürzten und zu jeder besonderen Gelegenheit musizierten.

Das Essen war ausgezeichnet – obwohl Iantine kaum wusste, was er zu sich nahm. All seine Sinne waren darauf fixiert, dass er neben Debera saß und ihre Schenkel sich berührten. Das Mädchen führte lebhafte Gespräche mit den Tischnachbarn, wobei sie eine profunde Kenntnis über Musik verriet. Ihre Wangen glühten, und ihre Augen blitzten vergnügt. Noch nie hatte er sie so euphorisch gesehen. Doch auch er fühlte sich wie berauscht und freute sich bereits unbändig auf das Tanzen. Dann endlich durfte er Debera in seinen Armen halten, sich noch enger an sie schmiegen, als es jetzt schon der Fall war. Er war ganz kribbelig vor Ungeduld.

Doch er musste warten. Eiscreme wurde serviert, die traditionelle Nachspeise, und niemand wollte darauf verzichten. Dieses Jahr schmeckte das Eis nach Früchten und Sahne und enthielt kleine Obststückchen. Iantine wusste nicht, ob er das Vergnügen langsam auskosten und riskieren sollte, dass das Eis schmolz – denn in der Kaverne war es sehr warm – oder ob es besser war, es herunterzuschlingen, damit er die angenehme Kühle auf der Zunge spürte. Als er bemerkte, dass Debera das Eis in Windeseile verputzte, tat er es ihr gleich.

Nach dem Essen wurde eine Tanzfläche freigeräumt. Wieder stimmten die Musiker ihre Instrumente.

Als es dann soweit war, führte K'vin Zulaya, die in dem wundervollen roten Brokatkleid eine prächtige Figur abgab, in die Mitte, um der Sitte gemäß den Tanz zu eröffnen. Am liebsten hätte Iantine das attraktive Paar gemalt, doch er hatte seinen Zeichenblock unter den aufeinander getürmten Tischen versteckt und musste sich damit begnügen, sich die Einzelheiten des Bildes zu merken, um es später vielleicht aus dem Gedächtnis zu zeichnen.

Noch nie zuvor hatte er gesehen, dass Zulaya mit dem Weyrführer flirtete, und K'vin erwiderte galant ihre Koketterie. Iantine fiel auf, dass ein paar Reiter die Köpfe zusammensteckten und miteinander tuschelten, derweil sie das tanzende Paar mit ihren Blicken verfolgten. Doch was gesprochen wurde, konnte er nicht verstehen, und vielleicht bildete er es sich nur ein, wenn er fand, nicht alle Blicke seien freundlich.

Als Nächstes führten die Geschwaderführer ihre Partnerinnen zum Tanz, gefolgt von den Geschwaderzweiten. Dann wirbelten Tisha und Maranis über die Fläche. Nach dem ersten Tanz durfte jeder mitmachen. Das nächste Stück war ein flotter Twostep.

»Möchtest du mit mir tanzen, Debera?«, fragte Iantine mit einer artigen Verbeugung.

Debera antwortete mit einem tiefen Knicks. Ihre Augen strahlten, sie hielt den Kopf hoch erhoben und lächelte beseligt. »Ich hatte gehofft, dass du mich zum Tanz aufforderst, Iantine!«

»Der nächste Tanz ist für mich reserviert!«, rief Leopol dazwischen und schlängelte sich geschickt an Debera heran. Seine Augen leuchteten in einem auffallenden Glanz.

»Hast du vielleicht an dem Wein genippt, Leopol?«, erkundigte sich Iantine misstrauisch.

»Wer würde mir schon welchen einschenken?«, erwiderte Leopol verdrießlich.

»Du findest immer Mittel und Wege, um dir einen Schluck Wein zu schnorren, Leo«, versetzte Debera. »Aber einen Tanz gewähre ich dir. Später.«

Geschwind entführte Iantine seine Dame auf die Tanzfläche und fort von dem dreisten Leopol.

»Selbst für einen Weyrburschen ist er frühreif«, bemerkte Debera und schmiegte sich in Iantines Arme.

»Das stimmt«, pflichtete Iantine ihr bei, doch er hatte jetzt keine Lust, über Leopol zu sprechen. Viel lieber schwenkte er Deberas geschmeidigen Körper über die Fläche, bis sie sich an der gegenüberliegenden Seite der Kaverne befanden.

»Er wird sich mir an die Fersen heften, bis ich einmal mit ihm getanzt habe«, prophezeite Debera und lächelte zu ihm empor.

»Das werden wir ja sehen.« In einer besitzergreifenden Geste legte er den Arm fester um Deberas schmale, biegsame Taille.

Werde ich auch tanzen, wenn ich älter bin?, hörte Iantine Morath fragen.

Erschrocken blickte er Debera an. Ihrem schelmischen Ausdruck entnahm er, dass der Drache zu ihnen beiden gesprochen hatte.

»Drachen tanzen nicht«, erwiderte Debera in dem liebevollen Ton, den sie sich eigens für Morath vorbehielt.

»Aber sie singen!«, mischte sich Iantine ein. Er fragte sich, wie er Morath wenigstens so lange aus ihrer Konversation heraushalten konnte, bis er das Thema auf sich und Debera gebracht hätte.

Sie wartet nur darauf, dass du damit anfängst, erklang Moraths Stimme, die so sehr der von Debera glich, in seinem Kopf.

Iantine zog eine Grimasse und überlegte, wie er es anstellen konnte, ein privates Gespräch mit seiner Liebsten zu führen.

Sprich nur. Ich höre einfach nicht zu. Morath brachte es fertig, zerknirscht zu klingen.

»Was glaubst du, wie lange du in Benden bleiben wirst, Ian?«, erkundigte sich Debera.

Es widerstrebte ihm, über seine Abreise zu sprechen. Deberas wegen wäre er am liebsten für immer in Telgar geblieben.

»Ach«, erwiderte er dann so beiläufig wie möglich, »ich werde mein Bestes geben, um Lord Bridgely und seine Gemahlin zu porträtieren. Sie waren meine Gönner, musst du wissen, und ich verdanke ihnen eine ganze Menge.«

»Kennst du sie gut?«

»Ich? Nein, das kann man nicht sagen. Ich stamme aus einer Kleinpächterfamilie.«

»So wie ich. Aber ich unterhalte mich nur ungern über meine Angehörigen.«

»Ich finde, wir sollten endlich einmal über uns beide sprechen«, versetzte er.

Deberas Miene umwölkte sich.

»Habe ich etwas Falsches gesagt?« Tröstend legte er seine Arme enger um sie.

Irgendetwas bedrückt sie, seit Tisha gestern mit den Weyrlingen ein ernstes Gespräch führte. Eigentlich wollte ich mich ja nicht einmischen, aber mitunter ist es doch erforderlich.

»Nein«, antwortete Debera. »Du hast nichts Verkehrtes gesagt.«

»Aber du hast doch etwas auf dem Herzen.«

Dieses Mal blieb sie ihm die Antwort schuldig; ihre Hand, die in der seinen lag, umschloss ganz fest seine Finger.

»Komm, Deb«, drängte er. »Sag mir bitte, was dir Kummer bereitet. Wenn du traurig bist, bin ich es auch.«

Sie bedachte ihn mit einem merkwürdigen Blick. »Das ist es ja.«

»Ich verstehe dich nicht.«

»Du nimmst sehr viel Anteil an allem, was mich betrifft. Du tanzt ausschließlich mit mir, möchtest ein privates Gespräch über uns beide führen …«

»Aha!« Plötzlich ahnte Iantine, was los war. »Hat Tisha euch ermahnt, ihr sollt während der Feiern zum Ende des Planetenumlaufs nichts tun, was ihr später bereuen könntet?« Sie warf ihm einen erstaunten Blick zu. Er lächelte. »Ich kenne diese Predigten. Mir wurden sie oft genug gehalten.«

»Aber du musst auch bedenken, dass Drachenreiter von gewissen Dingen weit mehr betroffen sind als andere Leute. Besonders schwierig ist es bei Reiterinnen, die auf einen noch unreifen grünen Drachen geprägt sind.«

Er zog sie dicht an sich heran und schmunzelte. Er hatte genug über grüne Drachen und deren Reiterinnen gehört um zu wissen, worauf sie anspielte.

»Ich weiß Bescheid«, half er ihr aus der Klemme. »Grüne Drachen sind extrem aufgeschlossen, freundlich und sehr, sehr liebebedürftig …«

Sie errötete bis unter die Haarwurzeln; ihre Augen blitzten zornig, und sie geriet aus dem Tanzrhythmus. Sie bewegten sich auf eine Türöffnung zu, von der aus man in die hinteren Lagerräume des Weyrs gelangte. Trotz ihres Sträubens führte er sie in diese Richtung, unentwegt in eindringlichem Ton auf sie einsprechend.

»Du bist die Reiterin eines grünen Drachen, der noch viel zu jung ist, um sexuell erregt zu werden. Doch ich glaube nicht, dass ein Kuss viel Schaden anrichten kann, und ehe ich nach Benden abreise, muss ich dich wenigstens einmal geküsst haben.«

Was er dann auch tat. In dem Augenblick, als ihre Lippen sich berührten, war es trotz Deberas anfänglicher Schüchternheit, als durchführe sie ein elektrischer Strom. Debera konnte sich nicht mehr gegen ihre Gefühle wehren, auch wenn sie dadurch Moraths Unschuld gefährdete.

Als sie sich endlich – mit weichen Knien und völlig außer Atem – voneinander trennten, musste Iantine sich mit dem Rücken gegen die Wand stützen, so schwer lehnte sich Debera gegen ihn.

Das war sehr schön, wisst ihr?

»Morath!« Debera fuhr hoch, jedoch ohne Iantine loszulassen. Ihre Arme hielt sie fest um seinen Hals geschlungen. »Ach du meine Güte … Was habe ich getan!«

»Auf keinen Fall etwas Schlechtes«, beruhigte Iantine sie. »Sie klingt gar nicht aufgeregt.«

Debera rückte ein Stück von ihm ab, um ihm in die Augen zu schauen. Er fand, seine Liebste habe noch nie so wunderbar, so voller Leben ausgesehen.

»Du hast Morath gehört?«

»Hmm, ja.«

»Und das war nicht das erste Mal?« Sie wirkte unglaublich verblüfft.

»Nein. Sie kennt sogar meinen Namen.« Er wusste, dass diese Information sie erschrecken konnte, doch er wollte aufrichtig sein.

Debera riss die Augen auf und wurde blass. Ermattet lehnte sie sich gegen ihn.

»Was mache ich nur?«

Er streichelte ihr Haar, froh, dass sie nicht einfach davongelaufen war und all seine Hoffnungen zunichte gemacht hatte.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir Morath mit diesem harmlosen Kuss Schaden zugefügt haben.«

»Das nennst du einen harmlosen Kuss?«, empörte sie sich. »So leidenschaftlich bin ich in meinem Leben noch nicht geküsst worden.«

Iantine lachte. »Ich auch nicht. Obwohl du mir zuerst einen Korb geben wolltest.« Er schloss sie fest in die Arme und wusste, dass der kritische Moment vorüber war. »Ich kann nicht anders, ich muss es dir sagen, Debera. Ich liebe dich. Immerzu muss ich an dich denken. Dein Bild geistert ständig durch meinen Sinn. Wenn ich fort bin, werde ich schrecklich unter der Trennung leiden. So wie du leiden würdest, wenn man dir Morath wegnähme.«

Ihr stockte der Atem angesichts der bloßen Vorstellung, dass es jemals dazu käme.

»Iantine, was soll ich dir antworten? Ich bin eine Drachenreiterin. Du weißt, dass Morath bei mir immer an erster Stelle kommt«, erwiderte sie sanft, während sie sein Gesicht streichelte.

Er nickte. »So muss es auch sein«, entgegnete er, obwohl er sich insgeheim wünschte, er würde in ihrem Leben die Hauptrolle spielen.

»Ich bin froh, dass du das einsiehst. Aber, Iantine, ich bin mir nicht sicher, was ich für dich empfinde, außer, dass dein Kuss mir gefallen hat.« Schüchtern blickte sie zu Boden. »Im Grunde hatte ich nur darauf gewartet, dass du mich küsst. Ich wollte immer wissen, wie es ist, wenn …« Verlegen brach sie ab.

»Dann darf ich dich noch einmal küssen?«

Sie legte eine Hand gegen seine Brust. »Nicht so schnell, Iantine! Wir wollen lieber nichts überstürzen. Das ist besser für mich und besser für Morath. Weil ich …« Sie fasste sich ein Herz und sprudelte die nächsten Sätze heraus. »Weil ich weiß, dass ich dich beinahe so sehr vermissen werde, wie ich Morath vermissen würde. Ich hätte nie gedacht, dass ein Drachenreiter so starke Gefühle für einen anderen Menschen entwickeln kann. Aber …« Sie verstärkte den Druck ihrer Hand auf seiner Brust, als sie merkte, dass er sie von neuem küssen wollte. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob es mein eigener freier Wille ist, oder ob ich dich so sehr mag, weil Morath dich liebt und ihre Empfindungen mich beeinflussen.«

Ich beeinflusse dich nicht!, versicherte Morath. Es klang entschieden und ein wenig verärgert.

»Sie sagt …«, begann Debera, doch Iantine schnitt ihr das Wort ab. »Ich hab's auch gehört.«

Beide lachten, und die sinnliche Spannung, die sich zwischen ihnen aufgebaut hatte, verflog. Dennoch nutzte er die Gelegenheit, um ihr einen sanften Kuss zu geben, nur um ihr zu zeigen, das er sich zu beherrschen vermochte und ihre Sorgen wegen Morath verstand.

Zuvor hatte er so diskret wie möglich Erkundigungen über das Privatleben der Drachenreiter eingezogen. Was er erfuhr, stimmte ihn zuversichtlich und bedenklich zugleich. Es gab Vereinigungen zwischen Reitern und Nicht-Reitern, doch meistens verliefen diese nicht ohne Komplikationen. Besonders die grünen Drachen waren so triebhaft veranlagt und sexuell derart leicht zu stimulieren, dass Schwierigkeiten ohnehin vorprogrammiert waren.

»Ich kann mich glücklich schätzen, dass Morath überhaupt mit mir spricht«, meinte Iantine. »Debera, ich habe dir offenbart, was mir seit langem auf der Seele lag. Moraths Einstellung kenne ich, und fürs Erste sollten wir es dabei belassen. Wir haben Zeit. Demnächst gehe ich für eine Weile nach Benden, und derweil kann Morath in aller Ruhe heranreifen.« Sanft zog er Debera enger an sich. »Wenn du mich dann noch im Weyr willkommen heißt, kehre ich zurück. Was glaubst du, sind deine Gefühle für mich von Dauer?«

»Ja, davon bin ich fest überzeugt«, erwiderte Debera, und Morath bestätigte ihre Antwort.

»Nun, wenn das so ist …« Abermals küsste er sie ausgiebig und löste seine Lippen von den ihren, ehe die Liebkosung zu leidenschaftlich wurde. »Und nun lass uns die ganze Nacht hindurch tanzen, Liebste. Das dürfte doch keine Probleme bereiten, oder?«

Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, da wusste er schon, dass Deberas Nähe seine Selbstbeherrschung auf eine harte Probe stellen würde.

Hand in Hand gingen sie in die große Kaverne zurück. Dort fasste er sie um die Taille, und sie drehten noch ein paar Runden auf der Tanzfläche, ehe das Stück endete. Auf Leopols Drängeln hin überließ er ihm Debera für einen Tanz, da er wusste, dass der Junge ihnen nicht eher Ruhe geben würde. Danach tanzten Debera und Iantine bis in die frühen Morgenstunden und festigten das Band, das heute zwischen ihnen geknüpft worden war.

Ihm grauste vor der bevorstehenden Trennung, sogar noch mehr als früher, weil es mittlerweile zwischen ihnen zu einer Art Verständigung gekommen war. Doch an der Situation ließ sich nichts ändern. In Burg Benden musste er seine Pflicht erfüllen.