KAPITEL 7
Burg Fort
Am selben Tag fand auch auf Burg Fort Unterricht statt. Im Versammlungsraum des Kollegiums hielt Corey als leitende Medizinerin ein Seminar für Heiler aus ganz Pern, die man zu dem dreitägigen Kursus eingeflogen hatte. Unter anderem lernten die Teilnehmer Erste-Hilfe-Maßnahmen bei Menschen sowie bei Drachen.
Coreys Assistent war der Arzt des Weyrs, N'ran, der ursprünglich Tiermedizin studiert hatte, ehe er unabsichtlich eine Bindung mit dem braunen Galath einging. Zur Zeit hielt sich Galath draußen auf und badete in der Sonne, derweil ein grüner Drache, der klein genug war, um in die Halle hineinzupassen, für Demonstrationszwecke benutzt wurde, wie Ormonth im Telgar-Weyr.
»Wir haben die Berichte der Doktores Tomlinson, Marchane und Lao kopiert, die einige verblasste Fotos von Verletzungen enthalten. Bis zum Lunch dauert es noch ein Weilchen – glücklicherweise«, fügte sie mit schiefem Grinsen hinzu. Dann setzte sie wieder einen nüchternen Ausdruck auf. »Die ausführlichen Beschreibungen der Verletzungen sind schlimmer als die Bilder, aber es ist wichtig, dass ein jeder von Ihnen begreift, wie unglaublich schnell …« – sie schnippte mit den Fingern – »und mit welch entsetzlichen Folgen sich die Fäden in alles Organische hineinbrennen.« Sie stieß einen Seufzer aus. »Deshalb müssen wir uns sputen, um das Leiden der Betroffenen nicht unnötig zu verlängern.«
Ein Stimmengemurmel erhob sich, und ihr fiel auf, dass ein paar Zuhörer blass geworden waren. Andere wiederum blickten abwehrend drein.
»Viele Möglichkeiten bleiben uns nicht, sofern wir es mit Verletzungen bei den Boden-Crews zu tun haben. Zu diesem Schluss sind wir – meine Helfer und ich …« – sie deutete auf die Leute, die in der ersten Reihe saßen –, »nach eingehendem Studium gelangt. Denn die Alternative, ins eiskalte Dazwischen zu gehen, steht Menschen nicht offen … Ja?«
»Wieso denn nicht? Man könnte doch …«
»Ich weiß, worauf Sie hinauswollen, aber die Fäden fressen sich mit einer solchen Geschwindigkeit durch sämtliche organische Materie, dass die Zeit für jemanden, der am Boden verletzt wurde, nicht ausreicht, um einen Drachen herbeizurufen, selbst wenn sich ein paar von ihnen in der Nähe bereithielten. Eine ausgewachsene Kuh wird in weniger als zwei Minuten aufgefressen.«
»Aber in der kurzen Zeit kann man ja nicht einmal …«, begann ein Mann und verstummte gleich wieder.
»Genau!«, betonte Corey. »Wenn Arme oder Beine befallen sind, bleibt einem nichts anderes übrig, als an Ort und Stelle zu amputieren, ehe sich der Fremdorganismus in den Körper hineinbrennt.«
»Himmel noch mal! Das geht doch nicht …«, ertönte ein Zwischenruf.
»Wenn man dadurch ein Leben retten kann, ist es sehr wohl machbar.«
»Aber nur, wenn sofort ein Feldscher zur Stelle ist.«
Corey erkannte in dem Zwischenrufer einen Arzt, der in einer großen Siedlung in Nerat praktizierte.
»Richtig. Und viele von uns werden dabei sein, um zu helfen«, bekräftigte Corey resolut. »Wir begleiten die Bodenmannschaften und scheuen nicht die Gefahr. Unsere Aufgabe ist es, helfend einzugreifen, wann immer und wo immer es nötig ist.« Sie brachte ein halbherziges Lächeln zuwege. »Teiche, Flüsse Seen … jedes Gewässer ist günstig, da Fäden ertrinken. Sogar recht schnell, steht in den Berichten. Je nachdem, welche Körperstelle betroffen ist, kann Wasser die Gefräßigkeit der Organismen so effektiv eindämmen, dass die Zeit für eine Amputation ausreicht. Selbst ein Trog oder eine Viehtränke voller Wasser genügen, um den Prozess des Sich-Einbrennens zu verzögern.« Sie warf einen Blick auf ihre Notizen. »Zum Überleben benötigen die Fäden sowohl Sauerstoff als auch organische Materie. Im Wasser ertrinken sie binnen drei Sekunden.«
»Was passiert, wenn sich einzelne Fäden tief ins Fleisch eingraben?«
»Innerhalb eines Körpers sterben sie gleichfalls nach drei Sekunden ab. Muskelfleisch enthält nicht genügend freien Sauerstoff, den sie für die Stoffwechselvorgänge brauchen. Auch Eis kann die Beweglichkeit eindämmen, aber das steht natürlich nicht immer zur Verfügung.«
»Angenommen, wir haben es irgendwie geschafft, den Organismus aufzuhalten, aber der Verletzte hat schwere Verbrennungen erlitten, eventuell mussten wir sogar amputieren. Was am effektivsten hilft, ist Taubkraut und immer wieder Taubkraut. Ein Segen, dass der Planet diese Heilpflanze hervorgebracht hat. Im Falle einer Amputation wird natürlich das Standardverfahren angewendet, einschließlich Kauterisation. Dadurch wird auch ein eventuell vorhandener Rest der Fäden zerstört. Gegen Schock empfehle ich Fellis – falls der Patient noch bei Bewusstsein ist.«
Abermals zog sie ihre Merkblätter zu Rate. »Tomlinson und Marchane unterstreichen, dass bei Verwundungen durch Fäden eine hohe Sterblichkeitsrate infolge von Herzversagen oder Schlaganfall auftritt. Lao, der bis zum Ende des Vorbeizugs des Roten Sterns praktizierte, beschreibt, wie Patienten, die nur leicht verletzt waren und sogar erfolgreich therapiert wurden, an traumatischem Schock starben. Wenn Sie Ihre Bodengruppen vorbereiten, schärfen Sie den Leuten unter allen Umständen ein, dass Verletzungen durch Fäden wirksam behandelt werden können.«
»Sofern wir rasch genug bei dem Verwundeten eintreffen«, ergänzte jemand trocken.
»Aus diesem Grund ist es ja so wichtig, dass genug medizinisches Personal die Boden-Crews begleitet. Und dass in jeder Burg, in jeder menschlichen Ansiedlung, Kurse in Erster Hilfe abgehalten werden. Die Anzahl ausgebildeter Mediziner lässt sich nicht quasi über Nacht vermehren. Doch wir können vielen Leuten beibringen, wie sie sich im Ernstfall zu verhalten haben, und dadurch den Schaden eingrenzen.« Nach einer kleinen Pause fuhr sie fort: »Außerdem müssen die Leute begreifen, dass jeder, der nicht gerade an einem aktiven Einsatz beteiligt ist, in einem Schutzraum zu bleiben hat, bis Entwarnung gegeben wird.
Nun kommen wir zu den Verletzungen, die bei Drachen auftreten, denn auch die werden wir behandeln müssen. Die Drachen und ihre Reiter haben den Vorteil, dass sie ins Dazwischen gehen und den angreifenden Organismus erfrieren lassen können. Doch gegen die bereits eingetretenen Verwundungen ist das natürlich wirkungslos.
Die umfangreichsten Blessuren tragen die Drachen an ihren Schwingen davon … Wenn ich dann mal bitten dürfte, Balzith.« Sie wandte sich an den geduldig wartenden grünen Drachen, der gehorsam einen Flügel abspreizte, damit die Ärztin ihre Ausführungen am lebenden Objekt demonstrieren konnte.
Während der Lunchpause, nach der sie andere Probleme wie Hygiene und sanitäre Einrichtungen diskutieren wollten, da die kleinen und mittleren Festungen über keine so umfangreichen Einrichtungen verfügten wie die wirklich großen Niederlassungen, gesellten sich Joanson von Süd-Boll und Frenkal von Burg Tillek, beide erfahrene Mediziner, zu Corey.
»Corey, wie stehen Sie zu … äh … der Anwendung von Euthanasie?«, fragte Joanson in sehr nachdenklichem Ton.
Eine geraume Zeit lang musterte sie prüfend den groß gewachsenen Mann. »Dazu habe ich keine feste Meinung, Joanson. Wie Sie wissen, befinden sich unter den Kursteilnehmern einige Leute, die keine umfassende medizinische Ausbildung genossen haben. Von diesen kann ich keine Maßnahme verlangen, die mir selbst anzuwenden sehr schwer fallen würde. Ich spreche hier von Sterbehilfe.« Dann widmete sie sich Frenkal.
»Wir haben geschworen, Leben zu erhalten. Aber wir sind gleichfalls durch einen Eid verpflichtet, unseren Patienten eine gewisse Lebensqualität zu gewährleisten.« Ihre Lippen zuckten, als sie daran dachte, dass diese beiden Ziele zuweilen miteinander in Konflikt gerieten. »Jeder von uns sollte sich Gedanken darüber machen, wie wir in einer verzweifelten Situation handeln würden. Ich finde, Todesqualen zu verkürzen ist erlaubt und ethisch absolut vertretbar. Ich glaube nicht, dass wir im Ernstfall die Zeit haben, um über Moral, Ethik, Grausamkeit oder Gnade nachzudenken.« Sie holte tief Luft. »Ich habe Bänder gesehen, die in allen Einzelheiten zeigen, wie Tiere bei lebendigem Leib und vollem Bewusstsein von Fäden aufgefressen wurden.« Sie bemerkte, wie Joanson zusammenzuckte. »Jawohl, die erbarmungswürdigen Kreaturen lebten bis zum Schluss, weil die Fäden den Hinterleib zuerst attackierten. Ich glaube, wenn Sie Zeuge werden, wie ein Mensch Opfer einer solchen Tortur wird, werden Sie sich spontan dazu entschließen, dem Leiden ein Ende zu setzen – so rasch wie möglich.«
Da sich noch mehr Leute mit dieser Frage an sie wandten, war sie beinahe froh, als die Lunchpause endete und sie über das emotional weniger belastende Thema Amputation sprechen konnte. Jeder brauchte in dieser Hinsicht einen Auffrischungskurs, besonders, was Notoperationen anging, wenn unter schwierigsten Bedingungen gearbeitet werden musste. Später wollte sie die neuen Knochenschneider – es waren eher Äxte als chirurgische Instrumente – an die Zuhörer verteilen. Kalvi hatte sie mitgebracht.
»Das beste chirurgische Schneidewerkzeug, das wir bis jetzt herstellen konnten, Corey«, hatte er nicht ohne Stolz verkündet. »Ich ließ es im Schlachthof testen. Sie gehen durch Muskeln und Knochen wie durch Käse. Aber man muss sie nach Gebrauch wieder schärfen. Und für die Klingen habe ich Schutzhüllen angefertigt, damit sich nicht jemand aus Versehen die Finger absäbelt.«
Ärzte waren wohl nicht die einzigen mit einem Sinn für makabren Humor, fand Corey.
In der Zwischenzeit demonstrierte Kalvi in der Großen Halle von Burg Fort, wo Lord Paulin in der ersten Reihe saß, den künftigen Boden-Crews den Gebrauch und die Wartung der HNO3-Zylinder. Er führte vor, wie die Einzelteile zusammengesetzt wurden und gab eine Auflistung all der Probleme, die bei der Anwendung auftreten konnten. Jeder Gemeindevorstand, selbst aus den kleinsten Ansiedlungen innerhalb des Verwaltungsbereichs von Fort, war zugegen. Viele hatten ihre älteren Kinder mitgebracht. Ausnahmslos war man über Land angereist, zu Fuß oder zu Pferd. Der Fort-Weyr, wie auch die anderen fünf Drachenhorte, hatte seinen Transportdienst für private Zwecke so gut wie eingestellt. Lord Paulin verstand diese Einschränkung und hielt sie für richtig.
»Wir haben es viel zu leicht gehabt, indem wir die Drachen benutzten wie unsere Vorfahren ihre Luftschlitten und andere flugtaugliche Vehikel«, hatte er einem seiner Pächter erklärt, als dieser monierte, man habe ihm einen Drachenritt verweigert. »Unsere Pferde sind nicht nur dazu da, um dem Galopprennsport zu frönen. Und die Drachenreiter waren viel zu nachgiebig und gefällig. Uns allen wird es gut tun, wenn wir uns wieder auf Fußmärsche besinnen oder uns zur Abwechslung mal in den Sattel schwingen. Ich nehme an, Sie alle haben bereits die Stallungen erweitert, um dem Viehbestand Schutz zu gewähren?«
Dieser Vorschlag war nicht auf viel Gegenliebe gestoßen, und allgemein wurden Klagen laut, die Ingenieure hätten sich eifriger bemühen müssen, um jene praktischen Steinschneider zu replizieren, mit denen die ersten Siedler ihre Höhlenwohnungen in den Felsmassiven nach ihren Vorstellungen vergrößert hatten.
Mit einem Achselzucken tat Kalvi die Beschwerden ab.
»Wir haben eine Liste von Prioritäten; Steinschneider herzustellen, gehört nicht dazu. Es wäre auch völlig unrealistisch, dies zu versuchen. Im Norden gibt es immer noch zwei Schlitten, aber keine Energiequelle, um sie flugbereit zu machen. Wir haben nie herausgefunden, welche Kraft unsere Ahnen benutzten«, fügte er hinzu. »Jene Energiezellen lassen sich nicht nachbauen, andernfalls hätten unsere Vorfahren es sicher getan. Stattdessen züchteten sie die gentechnisch optimierten Drachen. Erneuerbare Ressourcen sind ohnehin irgendwelchen hoch komplizierten oder exotischen Dingen vorzuziehen.«
Als der Hauptvortrag zu Ende ging, wurde jeder aufgefordert, sich am Nachmittag zu Zielübungen mit dem HNO3-Gerät einzufinden. Die meisten fanden dies wesentlich interessanter als Kalvi zuzuhören, wenn er erklärte, wie man die Düsen der Flammenwerfer einstellte, damit sie entweder eine lange, schmale Feuerzunge ausstießen oder ein kürzeres, breit gestreutes Feuer von sich gaben. Natürlich lernte man auch, wie man die Apparate säuberte.
»Sie haben ungefähr dieselbe Bandbreite an Feuerausstößen wie ein Drache«, erzählte Kalvi, indem er sich den Tank auf den Rücken schnallte. Durch den Gesichtsschutz klang seine Stimme gedämpft. »Sie da hinten! Der Schutzhelm ist nicht nur zur Zierde da. Setzen Sie ihn sofort auf. Und klappen Sie den Gesichtsschirm herunter!«
Unter Kalvis tadelnden Blicken gehorchte der säumige Kursteilnehmer unverzüglich.
»Die Reichweite des Geräts beträgt bei einem schmalen Feuerstrahl sechs Meter; zwei Meter, wenn man die Düse auf breite Streuung einstellt. Näher würden Sie gar nicht an den Organismus herankommen wollen.« Er zückte einen Schraubenzieher und nahm eine kleine Justierung vor. »Denken Sie daran«, verkündete er laut und energisch, indem er die Düse von seinem Körper wegrichtete, »dass die Austrittsöffnung nie auf Sie selbst oder auf jemand in Ihrer unmittelbaren Nähe zeigen darf. Wir verbrennen Fäden, keine Menschen. Schalten Sie die Apparatur niemals ein, ohne dass Sie sich vorher überzeugt haben, in welche Richtung die Düse weist. Man versengt schnell irgendetwas und richtet verheerenden Schaden an. Hab ich Recht, Laland?«, wandte er sich direkt an einen seiner Gesellen.
Der Mann grinste verlegen und trat von einem Fuß auf den anderen, seinen Meister nicht ansehend.
»Und nun geben Sie bitte den Mannschaften da droben das Signal, Paulin«, bat Kalvi. Er verschaffte sich mit den Beinen einen festen Halt und zielte mit der Düse nach oben.
Paulin winkte mit einem roten Tuch, und plötzlich kam ein Gewirr aus irgendetwas die Steilwand heruntergeschossen. Jeder der Zuschauer, außer Kalvi, erschrak. Diejenigen, die einen Flammenwerfer griffbereit hielten, hoben abwehrend das Gerät, andere wiederum glotzten fassungslos, während sich das Knäuel in lange silberne Schnüre auflöste, manche dick, manche fein, die unterschiedlich schnell zu Boden trudelten. Sowie sie sich in Reichweite befanden, aktivierte Kalvi seinen Flammenwerfer.
Einen kurzen Augenblick lang schien das Feuer an den Enden der Strippen Halt zu machen, ehe die Flammen sich das Material entlangfraßen und es vernichteten, so dass nur verkohlte, qualmende Fetzen den Boden erreichten … und natürlich der Gesteinsbrocken, der an einem der zusammengeknüpften Schnüre festgebunden war. Begeisterte Rufe wurden laut, man klatschte Beifall.
»Nicht schlecht«, kommentierte Paulin grinsend, während er sich über den neu entfachten Enthusiasmus der Helfer freute.
»Nun, wir haben auch lange genug daran gearbeitet, um diese Wirkung zu erzielen«, bemerkte Kalvi, beide Tanks zudrehend. »Es gibt genug Berichte, in denen die Art und Weise des Fädenfalls beschrieben wird, und ich finde, diese Simulation kommt der Realität recht nahe.«
Er wandte sich wieder an seine Schüler. »Man muss die Fäden zerstören, ehe sie auf den Boden oder organische Materie treffen. Wie wir wissen, tritt dieser Organismus in zwei Formen auf: eine Abart frisst sich zu Tode – und das ist die harmlosere Variante, obschon sie den größten Teil der Fädenschauer ausmacht und viel Unheil anrichtet. Die zweite Kategorie ist imstande, durch bestimmte chemische Prozesse in das zweite Stadium ihres Lebenszyklus zu mutieren. Leider konnten die ersten Siedler nie herausfinden, wie diese Unterart beschaffen ist. Man wusste lediglich, dass sie existiert. Dass es sie gibt, ist uns auch nur allzu gut bekannt, denn hier bei uns im Norden befinden sich Areale, die selbst jetzt noch, zweihundert Jahre nach dem letzten Fädenfall, steril sind.
Wenn dieser Typus die Nährstoffe erhält, die er braucht, kann er sich fortpflanzen. Aus diesem Grund sind die Bodenmannschaften so wichtig. Wir müssen unbedingt verhindern, dass sich die Fäden in den Boden eingraben, wo wir sie nicht mehr erreichen können. Unsere Vorfahren vermuteten, der Organismus benötige vielleicht irgendwelche Spurenelemente oder Mineralien, die sich im Boden befinden, um zu gedeihen; doch wenn sie nicht herausbekamen, womit sich dieser Fädentyp ernährt, werden wir es wohl auch nie erfahren, was ihn zum Wachstum bringt.« Kalvi stieß einen Seufzer des Bedauerns aus. »Deshalb verbrennen wir sämtliche feindliche Organismen …« – er schwenkte weit ausholend die Arme –, »die den Drachenreitern durch die Maschen geschlüpft sind.«
Er legte eine Pause ein und spähte die Steilwand hoch, wo die Katapult-Crews sich bereithielten.
»Alles in Ordnung da droben?«, rief er hinauf, die Hände wie einen Trichter vor den Mund haltend. Zur Antwort schwenkte man längs des Steilabsturzes rote Flaggen.
»Na schön, stellen Sie sich in Fünfergruppen auf, so dass Sie die roten Flaggen anpeilen können. Sowie alle hier drunten in Position gegangen sind – und vergessen Sie ja nicht, in welche Richtung die Düse weisen muss! –, gebe ich das Zeichen, und wir wollen doch mal sehen, wie die Übung klappt.«
Die Ergebnisse waren unterschiedlich. Ein paar Leute hatten den Bogen schnell heraus und lernten im Nu, mit dem Flammenwerfer umzugehen; andere wiederum hatten schon Probleme, die beiden Gase im richtigen Mischungsverhältnis austreten zu lassen, damit eine Flamme entstehen konnte.
»So was kann immer mal vorkommen«, meinte Kalvi ergeben. »Zur Strafe sollte man sie mit den unverbrannten Schnüren die Felswand hochklettern lassen.«
»Täte ihnen sicher gut.«
»Nimmt aber zu viel Zeit in Anspruch. Werft die Netze runter!«, schrie Kalvi und grinste Paulin an. »Ich dachte mir schon, dass es nicht bei allen auf Anhieb klappen würde. Wir lassen unsere Übungsfäden hochziehen und beginnen noch mal von vorn.«
»Wie viele dieser Knäuel haben Sie mitgebracht?«
»Genug, um uns ein Weilchen beschäftigt zu halten«, erwiderte Kalvi schmunzelnd.
Ehe der kurze Winternachmittag in den Abend überging, schaffte es ein jeder aus den Bodencrews, Fäden zu versengen, trotz etlicher Pannen und Schwierigkeiten, das anvisierte Ziel zu treffen. Der Vorrat an Schnüren ging aus, ohne dass die Leute den Spaß an der Übung verloren.
»Wenn Sie für sich allein trainieren, sollten Sie aber nicht übertreiben«, riet Paulin ein paar Leuten in seiner Nähe, während sie zur Festung zurückmarschierten. Das Exerzierfeld lag ein gutes Stück von Burg Fort entfernt, wo es weder Viehkoppeln noch Außenposten der Farmer gab, auf die man hätte Rücksicht nehmen müssen. »HNO3 lässt sich relativ leicht herstellen, im Gegensatz zu der Ausrüstung. Strapazieren Sie die Geräte nicht zu sehr, indem Sie zu viel damit üben.«
Während der Übungsstunden hatte man in der Großen Halle das Abendessen aufgetragen, und die Schüler waren durch den eifrigen Drill ausgehungert.
»Morgen säubern wir die Tanks«, verkündete Kalvi, als das Klah serviert wurde. »Ich bringe Ihnen bei, wie man die Geräte auseinander nimmt und wieder zusammensetzt, damit Sie wissen, worauf es ankommt. Wer am schnellsten fertig ist, erhält von Lord Paulin eine Belohnung.«
Hochrufe wurden laut.
»Die Stimmung ist gut«, wandte sich Paulin an Kalvi. Dieser nickte zufrieden; er fand, die ersten Schulungen seien sehr gut verlaufen.
Wenn alle geplanten Kurse so reibungslos vonstatten gingen, konnte er vielleicht noch etwas Zeit erübrigen, um einen Angelausflug nach Ista zu unternehmen. Bei der hektischen Suche nach Informationsmaterial über den bevorstehenden Vorbeizug des Roten Sterns hatte er ein paar Rollen Angelschnur aus starkem Nylonfaden aufgestöbert.
Der Strichcode auf dem Karton war beschädigt, deshalb wusste er nicht, wann die Schnur angefertigt worden war; doch Kalvi brannte darauf, sie an ein paar wirklich großen Fischen zu testen, die sich in den tropischen Gewässern tummelten. Dieses synthetische Material war extrem strapazierfähig und hielt sicherlich das Gewicht der Packfische aus, die zu beachtlicher Größe heranwuchsen.
Eine dritte Gruppe, bestehend aus erfahrenen Lehrern, hatte sich in dem weiträumigen Refektorium des Kollegiums versammelt. Heute wollte man die neuen Balladen lernen, die dazu dienen sollten, die Schüler zu unterweisen. Am darauf folgenden Tag würden die Weyrführer von Fort die Erzieher darüber aufklären, wie man sich am Besten schützte, wenn man auf freiem Feld von einem Fädenschauer überrascht wurde.
Clisser war mit Beschwerden überhäuft worden, weil die Weyr keine Drachen mehr für Transportzwecke zur Verfügung stellten. Früher hatte man diese Dienste wie selbstverständlich in Anspruch nehmen können. Nicht alle Lehrkräfte verstanden es, die robusten Pferde zu reiten, die man eigens für Distanzritte in gebirgigem Terrain gezüchtet hatte. Kopfschmerzen bereitete ihm außerdem die Aufgabe, viele seiner bewährten Instruktoren auf Reisen schicken zu müssen, damit sie das Wissen selbst in die entferntesten Winkel des Kontinents tragen konnten.
Doch im Laufe der nächsten drei Tage standen Musik und die Besprechung des neuen Lehrplans im Vordergrund; das fasste er als eine angenehm Verschnaufpause auf. Was nicht heißen sollte, dass die innovativen Vorschläge bei allen gut ankamen. Langsam rang er sich zu der Erkenntnis durch, dass Bethany Recht hatte, wenn sie meinte, dass die derzeitige Gesellschaft von Pern den gleichen Fehler beging wie die ersten Siedler, indem man sich nämlich zu sehr auf den problemlosen Zugang zu allerhand Informationsquellen verließ. Zu seinem gelinden Erstaunen waren es indessen gerade viele ältere Lehrer, die sich vorbehaltlos für den neuen Lehrstoff aussprachen.
»Es wird höchste Zeit, dass wir mehr Wert auf Wissen legen, das zu unserem aktuellen Leben einen Bezug hat. Was interessiert uns, was man damals brauchte?«, erklärte Layrence von Tillek. »Ich sehe keinen Sinn darin, Studenten mit Daten vollzustopfen, die sie niemals praktisch anwenden können, weil ihnen die Möglichkeit einer fortgeschrittenen Technik verwehrt ist.«
»Aber man muss Traditionen aufrecht halten«, entgegnete Sallisha mit tief gefurchter Stirn. Clisser fiel ein, dass sie für ihre erzkonservative Einstellung bekannt war. »Erst wenn man seine Wurzeln kennt, weiß man die Gegenwart zu schätzen …«
»Ach, Sallisha«, mischte sich Bethany mit dem für sie typischen sanften Lächeln ein. »Die Traditionen werden in unseren Balladen weitergegeben, aber man muss kenntlich machen, welche Überlieferungen für die heutige Generation wichtig sind.«
»Unsere glorreiche Vergangenheit …«, nahm Sallisha einen neuerlichen Anlauf.
»Ist inzwischen Geschichte«, erklärte Sheledon mit Nachdruck und legte genau wie sie die Stirn in Falten. »Die Ära liegt weit zurück, sozusagen in grauer Vorzeit. Warum halten wir krampfhaft an irgendwelchen Verbindungen fest, die unsere Ahnen mit gutem Grund und aus freien Stücken kappten?«
»Aber … aber … die Schüler sollten Bescheid wissen …«, ließ Sallisha nicht locker.
»Wenn sie weitergehende Informationen wünschen, sollten sie sie irgendwo nachlesen«, beschied ihr Sheledon. »Zur Zeit lautet unser vordringlichstes Problem, wie wir dem drohenden Fädenfall begegnen.«
»Und das ist wichtiger, als zu wissen, welche Planeten den Bombardements durch die Nathi widerstanden, und wer im Jahr 2089 Präsident der Weltengemeinschaft war«, stärkte Shulse ihm den Rücken. »Oder wie man eine Bahnparabel um einen Zentralstern berechnet.«
Sallisha funkelte die beiden Mathematikdozenten wütend an.
»Natürlich«, fuhr Shulse fort, »sollten unsere Studenten lernen, wer die Gouverneurin Emily Boll und Flottenadmiral Paul Benden waren. Diese beiden Persönlichkeiten haben die Geschichte Perns geprägt.«
»Aber die jungen Leute müssen ein Gesamtbild bekommen«, widersprach Sallisha hartnäckig.
»Einige Studenten sind sicherlich sehr interessiert, was sich vor der Besiedlung Perns im Universum zutrug«, lenkte Shulse ein. »Gleichwohl bin ich wie Clisser der Ansicht, dass wir den Unterrichtsstoff darauf konzentrieren müssen, was für diese Welt und unsere Zivilisation relevant ist.«
»Zivilisation?«, höhnte Sallisha verächtlich.
»Wie bitte? Finden Sie, was wir hier aufgebaut haben, verdient nicht die Bezeichnung Zivilisation?« Sheledon liebte es, Sallisha aufzuziehen, die immer gleich alles wortwörtlich nahm.
»Verglichen mit der Technik, die unsere Vorväter besaßen, sind wir eine primitive Gesellschaft.«
»Die damalige Technik war für die Menschen nicht nur ein Segen. Mit ihr einher gingen eine hohe Jugendkriminalität und Betrügereien mithilfe von Computern, so dass die Leute ihre Credits in Matratzen versteckten, um auf Nummer Sicher zu gehen.«
»Verschonen Sie mich damit«, wehrte Sallisha ab, »und zählen Sie lieber die Vorteile einer High-Tech-Gesellschaft auf.«
Sheledon gluckste verhalten. »Wissen Sie eigentlich, wie gefährlich damals ein Lehrer lebte?«
»Blödsinn. Lehrkräfte genossen ein hohes Sozialprestige.«
»Aber körperliche Unversehrtheit garantierte man ihnen erst, nachdem sie Disziplinarmaßnahmen ergreifen durften«, ergänzte Sheledon.
»Und man ihnen die Benutzung von Stunnern erlaubte«, fügte Shulse hinzu.
»Dieses Problem gibt es bei uns in der Tat nicht«, räumte Sallisha naserümpfend ein.
»Und dabei soll es auch bleiben«, bekräftigte Clisser. »Vielleicht wird ohnehin eine gewisse Form von Disziplin gewahrt, wenn man den Unterrichtsstoff auf das beschränkt, was die Schüler wirklich interessiert und überflüssigen Ballast ausmerzt.«
»Und wer bestimmt, was überflüssiger Ballast ist?«, herrschte Sallisha Clisser an. »Sie etwa?«
Clisser zeigte auf ein Regal voller Aktenordner, das eine gesamte Wand in der Bibliothek, in der die Unterredung stattfand, einnahm. »Ich verschickte Fragebogen an Lehrer, Burgherren und Kleinpächter und bat um konstruktive Vorschläge. Das Ergebnis dieser Befragung schlug sich hierin nieder.« Er hob eine dicke Schwarte hoch. »Ich habe für Sie alle Kopien anfertigen lassen. Und die Lehrballaden sind Bestandteil des neuen Unterrichtsplans, über den wir während dieser Konferenz abstimmen wollen.«
Schmollend zog sich Sallisha zurück. Clisser fragte sich, ob ihr bewusst war, wie sehr sie einem störrischen Schüler glich, der sich missverstanden fühlte. Trotz allem war sie eine gute Lehrerin und verstand es ausgezeichnet, Wissen zu vermitteln. Aus diesem Grund hatte man ihr auch die Aufsicht über das Schulwesen im Südosten von Pern übertragen. Aber sie pflegte ihre kleinen Marotten – wie die meisten Menschen.
Das Auswendiglernen der Lehrballaden würde das Gedächtnis der Kinder trainieren. Clisser wusste sehr wohl, dass er selbst keine große Merkfähigkeit besaß, weil er sich immer zu sehr auf die Technik verlassen hatte. Dabei waren die ersten Kolonisten nach Pern ausgewandert, um auf diesem Planeten mit seinen begrenzten Ressourcen eine Gemeinschaft zu gründen, die auf eine fortgeschrittene Technik verzichten konnte.
Er hatte von Menschen gelesen, die ihre Wohnstätte niemals verließen und wie Eremiten lebten; Kontakte zu anderen Personen stellten sie auf elektronischem Wege her. Nicht, weil sie sich vor der Welt da draußen fürchteten, sondern eher aus einer anerzogenen Trägheit heraus. Auf Pern faulenzte praktisch niemand, sagte sich Clisser. Er fand, jemand, der nie von zu Hause fortkam, habe sein Leben nutzlos verschwendet. Nun ja, gewisse Ereignisse auf Pern – wie der Fädeneinfall – hatten die Siedler auf eine einfachere Zivilisationsstufe zurückgeworfen, als ihnen lieb sein konnte. Doch die Menschen hatten sich angepasst und versucht, die natürlichen Gegebenheiten ihren Bedürfnissen entsprechend umzuformen. Ein Ergebnis davon waren die Drachen, die eine effektive Verteidigungsmaßnahme gegen die tödliche Gefahr aus dem All darstellten.
Er hoffte … Clisser sog scharf den Atem ein. Jeder auf Pern – mit einer bemerkenswerten Ausnahme – richtete sich darauf ein, sich selbst und alles, was ihm anvertraut war, vor der Attacke zu schützen. Sich vorzubereiten war eine Sache – etwas ganz anderes stellte das Problem dar, fünfzig Jahre lang in einem Zustand ständiger Alarmbereitschaft zu leben.
Ihm fielen die Berichte von den Nathi-Kriegen ein, und besonders denkwürdig fand er die Veröffentlichungen der belagerten Kolonisten auf Sirus III und Wega IV, beides Planeten, die von den Nathi unter Dauerbeschuss genommen wurden.
Tagelang wurden die Bewohner von Trommelfeuer heimgesucht, die heimtückischen Geschosse verwüsteten die Planeten bis zur Unbewohnbarkeit. Mehrere Generationen waren auf Koloniewelten großgeworden, indem sie in tief unter der Oberfläche liegenden Schutzräumen hausten. Clisser schmunzelte. Eigentlich kein Unterschied zu den Pernesern, die gezwungenermaßen in Felsmassiven wohnten, die von Höhlenlabyrinthen durchzogen waren.
Tatsächlich hatten die Perneser von den Erfahrungen auf Sirus und Wega profitiert. Auch sie zapften Magmaströme an, um sich mit Wärme zu versorgen, und Sonnenpaneele dienten der Energieerzeugung. Menschen hatten unter wesentlich ungünstigeren Bedingungen überlebt, als sie sie hier auf Pern vorfanden. Auf diesem Planeten wusste man wenigstens, wann und wo die Fäden niederregnen würden und konnte sich entsprechend darauf einrichten. Dennoch war das Ausmaß dieser Fädenschauer beachtlich, und wenn Gegenmaßnahmen versagten, hatte dies verheerende Folgen.
Aber galt das nicht für jeden Bereich des Lebens, dass ein Versagen fatale Konsequenzen nach sich zog?
Deshalb hoffte Clisser, die Musik, die eigens komponiert worden war, um die Stimmung zu heben, möge den erwünschten Erfolg haben. Sie sollte die Menschen aufmuntern und ihnen frischen Schwung geben. Flüchtig stellte er sich die Frage, was wohl auf der guten alten Erde während der nationalistischen Phase passiert wäre, wenn plötzlich ein die gesamte Menschheit bedrohender extraterrestrischer Feind aufgetaucht wäre, so dass sich die verschiedenen Völker und Rassen notgedrungen hätten zusammenschließen müssen.
Jemmy und Sheledon hatten ein paar mitreißende Musikstücke verfasst. Ein paar der simpleren Melodien gingen einem partout nicht mehr aus dem Kopf. Des Morgens wachte man auf und begann halb unbewusst, das Liedchen zu pfeifen, das man noch vom Abend her im Ohr hatte. Clisser fand, dies sei ein untrügliches Indiz für eine gute Melodie. Die Arrangements waren so gehalten, dass verschiedene Solo-Instrumente oder eine komplette Band die Texte begleiten konnten. Selbst Amateurmusiker in den Burgen und Siedlungen wären imstande, einen Sänger zu begleiten.
Jemmys Rätselsong war ihm besonders geglückt. Selbst Clisser kannte noch nicht alle Auflösungen, und dieses Lied würde sich während eines Fädeneinfalls als nützlich erweisen, indem es die in den Höhlenfestungen verschanzten Bewohner von den Vorgängen draußen ablenkte. Bethanys Klagelied – überhaupt das erste Lied, das sie je komponiert hatte – stand als Nächstes auf dem Programm, und er lehnte sich zurück, um andächtig zu lauschen.
Doch seine Gedanken schweiften immer wieder ab, und er schaffte es nicht, sich auf die Musik zu konzentrieren. Ständig gingen ihm die geplanten Änderungen des Lehrprogramms durch den Kopf. Außerdem fragte er sich zunehmend besorgt, was er bezüglich Burg Bitra unternehmen sollte. Der Lehrer, den er zuletzt dorthin versetzt hatte, hatte sich mit Lord Chalkin überworfen und war sogar vertragsbrüchig geworden. Nicht, dass Clisser Issony daraus einen Vorwurf gemacht hätte; der Mann war gedemütigt worden, und seine Schüler hatten ihn bedroht. Aber jedes Kind brauchte eine Grundausbildung. Man durfte es nicht zulassen, dass eine ganze Provinz ins Analphabetentum absank.
Gewiss, Kinder lernten unterschiedlich schnell. Das war allgemein bekannt, und man musste den Lehrstoff so interessant wie möglich aufbereiten. Dadurch schuf man einen Anreiz für private Weiterbildung. Ziel einer Schulbildung musste sein, einen Menschen dahingehend zu erziehen, dass er selbstständig Probleme lösen konnte. Und vorhandenes Intelligenzpotenzial fördern. Wie er sich widerstrebend eingestand, musste es selbst in Bitra kluge Leute geben.
Vielleicht sollte er Sallisha in dieses Gebiet schicken. Er lachte in sich hinein. Nur, dass sie nicht gehen würde. Sie stand in der Hierarchie des Bildungswesens so weit oben, dass sie jede Versetzung, die ihr nicht passte, glatt ablehnen konnte.
Von Bethanys lieblichen Weisen umschmeichelt, fasste er den Entschluss, das Problem mit Lord Chalkin, dem Burgherrn von Bitra, beim nächsten Konklave auf die Tagesordnung zu setzen. Irgendwie mussten sie diesen Mann zur Räson bringen.
Beim letzten abendlichen Essen, das alle drei Gruppen im Burghof von Fort gemeinsam einnahmen, und für das man drei ganze Ochsen am Spieß briet, schnappte Clisser auf, wie jemand Chalkins Namen aussprach und gesellte sich sofort zu der Clique, die über den Bitraner diskutierte.
»Und das ist noch längst nicht alles«, fuhr M'shall mit gerunzelter Stirn fort. »Entlang der Grenzen hat er Wachtposten aufgestellt, und jeder, der die Provinz verlassen will, darf nur seine persönliche Bekleidung mitnehmen. Selbst das Vieh, das die Bauern für den Eigenbedarf gezüchtet haben, müssen sie zurücklassen.«
Clisser hatte die Ankunft des Weyrführers von Benden nicht bemerkt, doch M'shalls Anwesenheit kam ihm sehr gelegen.
»Sie reden über Chalkin?«, vergewisserte er sich, als die anderen zur Seite rückten und ihm Platz in ihrer Runde verschafften.
M'shall gab ein verächtliches Lachen von sich. »Wer sonst würde zu einer Zeit wie dieser Menschen von ihrem Land verjagen?«
»Einer meiner Lehrer, Issony, hat gerade Burg Bitra den Rücken gekehrt. Es hat dort viel böses Blut gegeben, und keine zehn Pferde kriegen ihn mehr dorthin. Das Problem ist, dass selbst in Bitra die Kinder etwas lernen müssen.«
»Ha!« M'shalls spöttischer Ausruf wurde mit beifälligem Nicken bedacht.
»In Bitra betrachtet man Schulstunden als glatte Zeitverschwendung. Warum sollen die Kinder der Vasallen mit Wissen traktiert werden, wenn man sie dadurch von einer Arbeit abhält, die den Reichtum ihres Feudalherrn mehrt? Was hat man diesem Issony dort angetan?«
»Fragen Sie ihn selbst, dann sprudelt es nur so aus ihm heraus. Es würde ihm sogar gut tun, wenn er sich alles frei weg von der Leber reden dürfte. Wie ich hörte, hat einer Ihrer Reiter ihn gerettet?«
»Wir retten eine Menge Leute, die aus Bitra regelrecht flüchten«, erwiderte M'shall ohne jede Genugtuung. »Aber nur Fremde, keine Einheimischen«, fügte er bedeutsam hinzu.
»Hören Sie«, fiel Bridgely ihm ins Wort, »ich kann nicht alle Flüchtlinge von Bitra bei mir aufnehmen. Und ich werde nicht den kleinen Finger rühren, um Chalkin zu helfen, wenn sein Besitztum von Fäden überschüttet wird.«
»Aha!«, entgegnete M'shall und hob den Zeigefinger. »Aber anscheinend glaubt er nicht, dass die Fäden kommen.«
»Kämen wir uns nicht ziemlich blöd vor, wenn es sich herausstellen sollte, dass er Recht hat?«, bemerkte Farley, ein Kleinpächter von Fort. »'Tschuldigung, ich hab wohl was Falsches gesagt«, setzte er hastig hinzu, als man seine Bemerkung mit kalten, abweisenden Blicken quittierte.
»Chalkin war schon immer ein Quertreiber«, meinte Clisser. »Doch so stur wie jetzt hat er sich noch nie angestellt.«
»Seine Haltung lässt sich wirklich nicht mehr überbieten«, pflichtete Bridgely ihm bei. »Ist Ihr Lehrer, Issony, heute zugegen? Wenn ja, dann soll er zu uns in die Burg kommen. Wir planen, endgültig gegen Chalkin vorzugehen.«
»Aber das hat doch wohl noch ein bisschen Zeit, oder?« Clisser kam nicht umhin, in die Richtung der brutzelnden Ochsen zu schauen, bei deren Anblick ihm das Wasser im Mund zusammenlief.
»Ich hatte auch die Absicht, etwas zu essen«, räumte Bridgely ein.
»Ich habe gerade in Benden einen Imbiss zu mir genommen«, erzählte M'shall, doch seine Nüstern zuckten, als ihm eine Brise die köstlichen Aromen zufächelte. »Nun ja, aus Geselligkeit könnte ich noch einen Happen mit euch essen.«
»Sie sind auch gerade rechtzeitig zur Mahlzeit hier eingetroffen«, spottete Farley. »Eine Frage – kann man denn etwas gegen einen verantwortungslosen Burgherrn unternehmen?«
»Lesen Sie Ihre Kopie der Verfassung, Farley«, riet Clisser.
»Und wie lange schon wird die Grenze von Bitra bewacht?«, erkundigte sich Paulin. Nach dem Essen hatte er eine Konferenz in seinem Arbeitszimmer in der Burg anberaumt. Issony hielt sich bereit, falls man seine Aussage benötigte.
»Seit ungefähr sieben Tagen«, antwortete M'shall. »Wie Sie wissen, haben wir uns überall in Bitra erkundigt, ob Lord Chalkin seine Leute über den drohenden Fädenfall informiert hat.«
»Aber bei einer der Zusammenkünfte müssen die Bitraner doch auf die Gefahr hingewiesen worden sein«, sagte Paulin.
»Ha!«, trompetete Bridgely. »Nur sehr wenige Bitraner erfahren, wann und wo Versammlungen stattfinden, und dass sie an einer teilnehmen, ist die absolute Ausnahme.«
»Das ist ein Skandal!«, meine Paulin kopfschüttelnd.
»Offen gesagt, Paulin, ich finde, die Zinslast, die Chalkin seinen Abhängigen auferlegt, ist unverhältnismäßig hoch. Wenn die Bitraner nach Benden kommen, um dort Waren zu verkaufen, scheint keiner von ihnen auch nur eine Marke für eigene Bedürfnisse übrig zu haben. Allein aus Geldmangel gelangen die Leute nirgendwohin.«
»Und gewiss werden sie nicht dazu ermutigt, zu Versammlungen zu reisen«, sinnierte Paulin.
»Nein, denn Chalkin hat Angst, dass sie anfangen, Vergleiche zu ziehen, wenn sie sehen, wie es anderenorts zugeht. Und er mag es ganz und gar nicht, wenn ein Bitraner seine Marken jenseits der Landesgrenzen ausgibt.«
»Dafür zieht er allen Leuten das Geld aus der Tasche, die dumm genug sind, sich mit seinen Berufsspielern einzulassen«, ergänzte M'shall.
»Ich muss gestehen, ich hatte je keine Ahnung, wie sehr er seine Pächter einengt«, meldete sich Paulin in grüblerischem Ton.
»Woher sollten Sie es auch wissen?«, warf Bridgely ein. »Sie gehören zur Westküste. Wir kennen uns da schon eher aus, denn hin und wieder verläuft sich ein Bitraner zu einer Versammlung an der Ostküste. Dafür sind seine Glücksspieler überall anzutreffen …«
»Hmm, ja, sie lassen kein Treffen aus«, knurrte Paulin.
»Wenn er also seine Grenzen dichtmacht, kann es sein, dass einige von seinen Leuten in Panik gerieten, sowie sie vom Fädenfall erfuhren.«
»Das wäre gut möglich«, stimmte Bridgely mit grimmiger Miene zu. »Als eine Delegation die Stirn besaß, ihn aufzusuchen, ließ er die Männer aus seiner Burg hinausprügeln. Ich habe die Peitschenstriemen selbst gesehen, deshalb weiß ich, das sie nicht lügen. Die Abgeordneten erzählten, sie hätten ihn noch nie so aufgebracht erlebt. Er behauptete ganz frech, die Drachenreiter würden nur versuchen, sich zu bereichern, indem sie diese falschen Gerüchte verbreiteten. Außerdem protestierte er gegen die neue Mine, die oberhalb von Ruatha erschlossen wird. Stattdessen könnten Bitraner doch lieber in den Schächten des Steng-Tals schuften.«
»Will er den Menschen in seinem Einflussbereich weismachen, ganz Pern habe sich gegen die Bitraner verschworen?«, spottete Paulin.
»Sie haben es erfasst!«, betonte M'shall mit ernster Miene.
»Chalkin untersagte außerdem die Lieferung von HNO3-Tanks …«, erzählte Kalvi.
»Er wollte nicht dafür bezahlen!«, stellte M'shall richtig. »Das versichern jedenfalls die Telgar-Reiter.«
»Auf jeden Fall wird es keine Bodenmannschaften zur Fädenbekämpfung geben. Ich finde, das reicht aus, um ein Amtsenthebungsverfahren einzuleiten«, erklärte Paulin bedächtig. »Als Burgherr ist es seine Pflicht, seine Leute über den drohenden Vorbeizug des Roten Sterns aufzuklären und entsprechende Schutzmaßnahmen einzuleiten. Deshalb hat man das Feudalsystem ja überhaupt eingeführt. Es soll dazu dienen, den Menschen einen starken Anführer zu geben, der in Krisenzeiten bestimmt, was zu tun ist und für den Aufbau einer Verteidigungsstrategie sorgt.
Indem Chalkin seine Grenzen schloss, hat er außerdem gegen einen Grundsatz unserer Verfassung verstoßen, der das Recht auf Freizügigkeit garantiert. Dadurch verkommt Autonomie zu Despotismus. Ich werde an alle Burgherren und Obleute detaillierte Angaben über Chalkins Versäumnisse und Pflichtverletzungen schicken … Ach ja …« – resigniert blickte er Clisser an –, »wir können ja keine automatischen Kopien mehr herstellen, oder?«
»Ein Drachenreiter kann sämtliche Burgherren informieren«, schlug M'shall vor. »Man könnte auch zwei Boten losschicken, einen für das Terrain entlang unserer Küste, den anderen in die entgegengesetzte Richtung. Dann benötigen wir lediglich zwei Kopien Ihrer Anklageschriften.«
»Ich fordere einen Reiter von S'nan an«, erklärte Paulin und langte nach seinem Schreibblock.
»Darüber wird S'nan sich sehr freuen«, meinte M'shall. »Er hat sich sehr über Chalkins trotzige Haltung aufgeregt. ›So geht das aber nicht‹«, ahmte M'shall S'nans näselnden Tonfall nach und grinste.
»Wir müssen sofort Maßnahmen gegen Chalkin ergreifen«, legte Paulin dar, »denn bis zum nächsten offiziellen Konklave am Ende des Planetenumlaufs zu warten, wäre zu spät. Die Zeit wird langsam knapp.« Danach wandte sich Paulin an Clisser. »Da fällt mir etwas ein. Clisser, haben Sie einen Weg gefunden, um die genaue Ankunft der Fädenschauer zu bestimmen?«
Clisser gab sich einen Ruck, damit er wieder hellwach wurde. »Es gibt mehrere Möglichkeiten«, antwortete er, bemüht, zuversichtlicher zu klingen, als er sich in Wahrheit fühlte. »Aber ohne funktionierende Computer dauert es länger, das vorhandene Informationsmaterial zu sichten.«
»Nun, bleiben Sie dran …« Paulin legte seine Hand auf Clissers Schulter und lächelte. »Sie machen Ihre Sache sehr gut. Und die Lehrballaden haben mir ausgezeichnet gefallen.« Er steckte sich einen Finger ins Ohr und drehte ihn vielsagend um, während sich sein Lächeln in die Breite zog. »Die Kinder singen sie unentwegt, nicht nur während des Unterrichts.«
»Genau das hatten wir beabsichtigt«, erwiderte Clisser genüsslich. »Soll ich die Anklageschrift für Sie aufsetzen?«
»Das ist nicht nötig, mein Freund, aber vielen Dank für das Angebot. Es wird mir ein Vergnügen sein, die Aufzählung von Chalkins Missetaten festzuhalten. Und eine Kopie fertige ich für das Archiv an. Übrigens, gab es früher nicht eine Methode, Duplikate herzustellen, indem man das, was man gerade schrieb, automatisch auf ein untergelegtes Blatt Papier übertrug?«
Nachdenklich senkte Clisser den Kopf. »Ich glaube, Sie meinen das Herstellen von Durchschriften mittels Kohlepapier. So etwas haben wir nicht, aber vielleicht fällt Lady Salda eine praktische Lösung ein. Wir müssen uns ohnehin Gedanken machen, wie wir Kopien anfertigen, ohne stundenlang Texte abzuschreiben.« Er stieß einen Seufzer des Bedauerns aus.
»Das überlasse ich Ihnen, Clisser«, erklärte Paulin. »Und ich danke Ihnen allen. Doch nun ab mit euch!« Lächelnd fasste er die Anführer von Benden sowie Kalvi ins Auge, »und genießt den Rest des Abends, während ich mich an das Formulieren der Anklageschrift mache, wobei ich ganz offen gestehe, dass es mir eine gewisse Genugtuung bereiten wird, Chalkin endlich zur Rechenschaft zu ziehen.« Er nahm einen Schreibstift in die Hand und beäugte prüfend dessen Spitze.
Alsdann verließen die Gesprächsteilnehmer den Raum. Clisser gewann den Eindruck, Issony sei enttäuscht, weil er keine Gelegenheit erhalten hatte, seine Beschwerden gegen Chalkin vorzutragen. Also sorgte er dafür, dass Issony so viel von dem guten Wein zu trinken bekam, wie er nur wollte.