KAPITEL 8

Telgar-Weyr

Iantine bat darum, am nächsten sonnigen Tag wieder nach draußen zu dürfen, und aus diesem Grund befand er sich im Weyrkessel, als die reisenden Händler eintrafen. Die gesamte Bewohnerschaft des Weyrs strömte aus den Kavernen, um sie zu begrüßen. Wie ein Besessener zeichnete Iantine die wuchtigen, staubbedeckten Wagen, die von massigen, schwerfälligen Ochsen gezogen wurden, die man eigens zu dem Zweck gezüchtet hatte. Sie stellten die letzten gentechnisch manipulierten Geschöpfe dar, die Windblüte geschaffen hatte, deren Großmutter wiederum als Schöpferin der Drachen von Pern galt.

Seit seiner Kindheit hatte Iantine Händler auf ihren Wanderungen kommen und gehen sehen; gern entsann er sich der seltenen Gelegenheiten, wenn die Karawanen von Benden die abgelegene Schaffarm seiner Eltern aufsuchten. Noch frischer in seinem Gedächtnis hafteten die Erinnerungen an die leckeren gekochten Süßspeisen, die nach den Früchten schmeckten, welche in Nerat so üppig gediehen, und die die Händler freigebig verteilten. Einmal brachten sie frische Zitrusfrüchte mit, eine unübertroffene Köstlichkeit für ihn und seine Geschwister.

Für die Menschen, die in den abgeschiedenen Ansiedlungen lebten, boten vorüberziehende Kaufleute eine beinahe so angenehme Abwechslung wie eine Versammlung. Doch zu Iantines Erstaunen freuten sich die Bewohner des Weyrs genauso sehr. Ungeachtet der Tatsache, dass sie sich eigentlich immer mit einem Drachen irgendwohin transportieren lassen konnten, genossen sie die Ankunft der Händler noch mehr als das Eintreffen der Zehntkarawanen. (Die Zehntwagen waren eine gänzlich andere Geschichte, da jedermann mit anpacken musste, um die Waren, die als Tributleistungen dem Weyr zustanden, in die dafür vorgesehenen Magazine zu schleppen.)

Händler verbreiteten längs ihrer Routen die neuesten Nachrichten aus den Ansiedlungen und Burgen. Iantine bemerkte, dass eine Menge Leute nicht nur an die rasch aufgestellten Stände drängte, um die feilgebotenen Artikel zu begutachten, sondern einfach nur herumstanden und Nachrichten oder Tratsch austauschten. Aus der Küchenkaverne trug man Tische und Stühle herbei; zu den frisch gebackenen Broten und Brötchen servierte man kannenweise Klah.

Leopol, der stets hilfsbereit um Iantine herumscharwenzelte, brachte ihm einen kleinen Imbiss und setzte sich dann in die Hocke, um dem Künstler das Allerneueste zu berichten.

»Längs der Straße hat man überall Schutzräume angelegt«, erzählte er zwischen zwei Bissen von einem süßen Brötchen. »Die Händler stellen ihre Trecks nicht ein, nur weil es Fäden regnet. Aber sie bereiten sich für den Notfall vor. Die Hälfte des Zeugs, das sie in ihren großen Wagen mit sich führen, ist dazu bestimmt, rasch provisorische Unterstände aufzubauen. Natürlich verziehen sie sich in Höhlen, wenn gerade welche in der Nähe sind, doch ein Kampieren im Freien kommt nicht mehr infrage.

Es wird zwar ein bisschen eng werden«, meinte er grinsend, »aber sie gehen auf Nummer Sicher. Schauen Sie!« Ein mit Honig beschmierter Finger zeigte auf ein Grüppchen von Männern und Frauen, die mit den beiden Weyrführern beisammensaßen. Alle beugten sich über Landkarten, die man auf dem Tisch ausgebreitet hatte. »Sie prüfen die Standorte der Bunker, so dass jeder hier Bescheid weiß, wo die Karawane bei einem eventuellen Fädenfall Unterschlupf gefunden hat.«

»Und welche Händler ziehen durch Bitra?«, erkundigte sich Iantine zynisch.

Leopol schnaubte durch die Nase. »Dorthin verläuft sich keiner, der nur einen Funken Verstand im Kopf hat. Besonders jetzt macht man einen großen Bogen um diese Provinz. Haben Sie schon gehört, dass Chalkin die Grenzen geschlossen hat, damit ihm die Pächter nicht davonlaufen? Der Kerl will partout nicht glauben, dass ein Fädenfall bevorsteht.« Angesichts eines solchen Frevels riss der Junge die Augen auf. »Und seinen Leuten hat er nicht einmal erzählt, dass man allgemein mit einem Vorbeizug des Roten Sterns rechnet.«

»Das merkt man deutlich, wenn man sich in Bitra aufhält«, bestätigte Iantine. »Nichts deutet darauf hin, dass sich auch nur irgendjemand auf diese Gefahr vorbereitet. Sogar im Institut Domaize lagert man Vorräte ein. In Bitra redet man unentwegt über Wetteinsätze und Gewinnchancen, aber über die Fäden fällt kein Wort.«

»Hat man Sie zu einem Glücksspiel verführt?« Leopols gespannte Miene verriet, dass er auf eine positive Antwort hoffte.

Iantine schüttelte den Kopf und schmunzelte. »Erstens hatte man mich davor gewarnt. Bei jeder Versammlung rät man den Leuten dringend, sich ja nicht mit den bitranischen Glücksspielern einzulassen. Außerdem hätte ich keine Marke für einen Einsatz übrig gehabt.«

»Gut für Sie! Andernfalls hätten Sie Ihr gesamtes Honorar verloren«, murmelte Leopol. Man sah ihm an, wie erleichtert er letztendlich war, dass Iantine dieser Versuchung hatte widerstehen können.

»Chalkin verkalkuliert sich mächtig, wenn er sich einbildet, die Fäden blieben aus, nur weil er sie zu ignorieren gedenkt«, meinte Iantine. »Die Schutzräume für die Karawanen müssen aber gigantisch sein«, stellte er fest und deutete auf die Ungetüme von Ochsen, die zum Tränken ans Seeufer geführt wurden.

Entweder waren die mächtigen Biester an den Anblick von Drachen gewöhnt, oder sie besaßen ein so phlegmatisches Temperament, dass rein gar nichts sie aus der Ruhe bringen konnte. Indes hatten die Jungdrachen noch keine Ochsen gesehen und reagierten verschreckt auf die gewaltigen Zugtiere. Sie stießen derart schrille Schreie aus, dass die Drachen, die droben auf ihren Felssimsen die bleiche Wintersonne genossen, aufwachten und nach den Urhebern des Radaus forschten. Iantine grinste. Rasch hielt er die turbulente Szene in einer Ecke seines Blatts fest. Wenn er in diesem Tempo weiterzeichnete, ging ihm bald das Papier aus.

»Nun ja, die Dächer bestehen alle aus Metallplatten«, erklärte Leopol. »Der Weyr beteiligt sich an den Kosten, da die Liliencamp-Karawane einen Umweg macht, wenn sie unseren Weyr ansteuert.«

Iantine hatte sich vorher nie den Kopf darüber zerbrochen, wie ein Weyr versorgt wurde. Automatisch hatte er angenommen, Drachen und Reiter würden sich von den Tributabgaben ernähren. Mittlerweile wuchs sein Respekt vor der Organisation und Verwaltungsarbeit, die der Erhalt eines so komplexen Systems mit sich brachte. Im krassen Gegensatz zu dem, was er in Bitra erlebt hatte, verrichtete hier jeder frohen Mutes die ihm auferlegten Pflichten und war stolz, zu dieser Gemeinschaft gehören zu dürfen. Jeder half jedem, und alle schienen glücklich zu sein.

Gewiss, erst seit kurzem dämmerte es Iantine, wie sorgenfrei er selbst aufgewachsen war. Auch sein Studium im Kollegium hatte ihm gefallen. Seine Lehrzeit im Institut Domaize wies Höhen und Tiefen auf, während er versuchte, sein Kunstverständnis zu mehren und neue Techniken zu entwickeln.

Sein Aufenthalt in Burg Bitra hatte ihm die Augen geöffnet. Auch seine Rekonvaleszenz im Weyr diente dazu, seinen Horizont zu erweitern, allerdings auf eine erquickliche Art und Weise. Erbittert vergegenwärtigte sich Iantine, dass man zuerst die Härten des Lebens erfahren musste, um das Gute schätzen zu lernen. Derweil er seinen Gedanken nachhing, flog seine Hand über das Papier und vollendete das Bild von den Weyrherren, wie sie sich ernst mit den Treck-Führern der Liliencamp-Karawane berieten.

Der Liliencamp-Clan hatte als erster das System der umherziehenden Händler eingeführt; auf diese Weise versorgte man selbst die einsam gelegenen Ortschaften und Festungen mit Waren und weniger dringlichen Nachrichten. Ein Liliencamp hatte auch zu den ersten Siedlern gehört, die Pern kolonisierten. Iantine glaubte sich zu erinnern, dass sein Porträt auf dem großen Wandgemälde in Burg Fort zu finden war, zusammen mit den Konterfeis der anderen Kontraktoren. Ein eher schmächtiger Mann mit schwarzem Haar, hellwachen Augen und einer Art Block oder Tafel an seinem Gürtel. In der Brusttasche steckten verschiedene Schreibutensilien, und einen Stift hatte er sich hinter das Ohr geklemmt. Iantine fand dies so praktisch, dass er die Gewohnheit übernommen hatte.

Er nahm die Treck-Führer näher in Augenschein. Jawohl, einer von ihnen trug einen Stift hinter dem Ohr, und von seinem Gürtel baumelte ein leerer Beutel, das Etui für den Block, der nun vor dem Mann auf dem Tisch lag.

Doch wären die Händler trotz aller Vorsichtsmaßnahmen imstande, die fünfzig gefahrvollen Jahre der Annäherung des Roten Sterns zu überstehen? Zwischen der Planung einer Sache und deren tatsächlicher Durchführung klaffte oft ein Abgrund, wie Iantine erst kürzlich am eigenen Leib hatte erfahren müssen. Es würde schwierig werden, Waren über Land zu transportieren, weil die Drachen, die sonst eine Art Flugdienst ausübten, mit der Bekämpfung der Fäden beschäftigt wären. In der jetzigen Situation konnte man nicht von ihnen verlangen, sich in trivialen Aufgaben zu verzetteln. Schließlich hatte man sie nicht gezüchtet, um Transporte zu übernehmen, sondern sie stellten eine hoch spezialisierte Luftstreitmacht dar. Die regelmäßige Beförderung von Menschen und Sachen war nur während eines fädenfreien Intervalls möglich.

Er fragte sich, ob die Händler auch Zeichenpapier mit sich führten, obwohl er nicht eine Viertel-Marke mehr besaß, mit der er es hätte bezahlen können. Aber vielleicht konnte er ein paar Skizzen gegen Papier eintauschen.

So rasch und akkurat wie möglich füllte er das letzte freie Blatt mit einer Montage: Die Karawane, wie sie sich behäbig in den Weyrkessel wälzte, Leute, die den Wagen entgegenrannten, die ausgestellten Güter, feilschende und handelseinig werdende Menschen. In die Mitte des Bildes setzte er die Szene, wie die Weyrführer mit den Kaufleuten die Köpfe über den Landkarten zusammensteckten. Dann hielt er das Blatt auf Armeslänge von sich weg und musterte es kritisch.

»Wunderschön!«, sagte eine Stimme hinter ihm. Verdutzt drehte er sich um. »Und wie schnell du das Ganze zu Papier gebracht hast.«

Die grüne Reiterin, deren Drache neben ihr herzockelte, lächelte verlegen; in ihren grünen Augen schimmerte so etwas wie Ehrfurcht. Erst neulich hatte Leopol Iantine auf das Mädchen aufmerksam gemacht und von ihrer abenteuerlichen Ankunft an der Brutstätte erzählt.

»Debera?«, fragte er, als ihm ihr Name einfiel. Sie schnappte nach Luft und prallte erschrocken zurück. Sofort ging ihr Drache in Angriffsstellung, und seine Augen rollten drohend in ihren Höhlen. »Entschuldigung, ich wollte dich nicht erschrecken …«

»Schon gut, Morath, er meint es nicht böse«, beruhigte sie den Drachen und blickte lächelnd zu dem großen Geschöpf hinauf. »Ich war nur so überrascht, weil du meinen Namen kennst.«

»Leopol hat ihn mir verraten.« Mit dem Zeichenstift deutete Iantine auf den Jungen, der hingebungsvoll mit einem Händler schacherte, der nicht viel älter war als er. »Während ich mich im Weyr erhole, setzt er mich über so ziemlich alles ins Bild, was sich hier abspielt.«

»Ach ja!« Das Mädchen schien sich zu entspannen und setzte ein strahlendes Lächeln auf. »Ich kenne ihn. Er mischt überall mit. Und er hat ein gutes Herz.« Sie blickte zu Iantine empor. »Von Leopol weiß ich, dass du ebenfalls ein paar Abenteuer erlebt hast.« Dann deutete sie auf die Skizze. »Das Bild ist wunderschön, und wie schnell du es gezeichnet hast. Es ist fast, als könnte man den Leuten beim Feilschen zuhören«, setzte sie hinzu und zeigte auf den Händler, den Iantine mit weit geöffnetem Mund dargestellt hatte.

Inaine musterte sein Werk mit kritischem Blick. »Wenn man wirklich gute Arbeit leisten will, darf die Zeit keine Rolle spielen.« Geschickt fügte er noch eine Falte in das Gewand des Kaufmanns ein, wie wenn sich darunter ein prallvoller Beutel verbarg. »Wir wollen doch mal sehen, ob mein Modell das Bild mag.« Er war selbst überrascht, wie giftig seine Stimme klang. Misstrauisch blickte das Mädchen zu ihm auf.

»Wenn du solche Skizzen im Handumdrehen zu Papier bringst, dann möchte ich gern die Bilder sehen, die du in Muße gemalt hast.«

Er konnte nicht widerstehen und blätterte die Seiten um, bis er an das Blatt kam, wo er Debera beim Einölen ihres Drachen skizziert hatte.

»Ach, ich hatte gar nicht gemerkt, dass du mich gemalt hast …« Sie wollte nach dem Blatt fassen, doch er blätterte weiter zurück bis zu der Zeichnung, die sie und Morath abbildete, wie sie aufmerksam T'dams Unterricht lauschten. Debera hatte einen Arm um Moraths Hals geschlungen, und er fand, er habe das innere Einverständnis herausgearbeitet, das Mensch und Drache verband.

»Meine Güte, ist das schön.« Zu Iantines Verblüffung schimmerten Tränen in Deberas Augen. In einer spontanen Geste klammerte sie sich an seinen Arm, verschlang die Skizze mit den Augen und hinderte ihn daran, die Seite umzublättern. »Ach, wie gern ich …«

»Gefällt es dir?«

»Und wie!« Hastig zog sie die Hände zurück und verschränkte sie hinter ihrem Rücken. »Es gefällt mir sogar ausgezeichnet …« Sie biss sich auf die Unterlippe und wippte auf den Fersen.

»Was ist los?«

Sie lachte verlegen. »Leider besitze ich nicht den Bruchteil einer Marke.«

Er riss die Seite aus dem Block und hielt sie ihr entgegen.

»O nein, das kann ich nicht annehmen.« Sie trat einen Schritt zurück, doch der sehnsüchtige Ausdruck in ihren Augen verriet Iantine, wie sehr sie sich das Bild wünschte.

»Warum denn nicht?« Derweil sie sich sträubte, drängte er ihr das Bild förmlich auf. »Bitte, Debera. Es ist doch nur eine Skizze. Ich habe so viel gezeichnet, weil ich meine halb erfrorenen Finger wieder gelenkig bekommen wollte.«

Nervös blickte sie zu ihm auf. Ihm schien, als lauere noch eine andere Furcht in den Tiefen ihrer wunderschönen grünen Augen.

»Du solltest dieses Bild haben, als Andenken daran, wie Morath in ihrer Jugend ausgesehen hat.«

Eine Hand stahl sich hinter ihrem Rücken hervor und fasste nach dem Bild. »Du bist sehr lieb, Iantine«, murmelte Debera und hielt das Blatt mit den Fingerspitzen fest, als hätte sie Angst, es zu beschmutzen. »Aber ich kann dir nichts dafür geben …«

»Doch, das kannst du wohl«, erwiderte er, einer plötzlichen Eingebung folgend. Er deutete auf die Gruppe der Händler, die immer noch an dem Tisch saß. »Du könntest dich als zufriedene Kundin vorstellen und versuchen, ob du die Skizze von diesen Männern dort gegen einen neuen Zeichenblock eintauschen kannst.«

»Aber …« Sie streifte die Kaufleute mit einem schüchternen Blick, dann gab sie sich sichtlich einen Ruck und legte die freie Hand wie um Unterstützung heischend an den Kopf ihres Drachen. Morath fasste Debera liebevoll ins Auge, und Deberas Blick richtete sich auf einen imaginären Punkt in der Ferne, wie bei allen Drachenreitern, wenn sie sich auf telepathischem Wege mit ihren Drachen verständigten. Dann blies sie den Atem aus und schaute Iantine entschlossen an. »Ich sollte am besten bei Meister Jol ein gutes Wort für dich einlegen. Er ist nämlich ein Cousin meiner verstorbenen Mutter.«

»Tatsächlich?«, erwiderte Iantine. »Mal sehen, wie nützlich Verwandtschaft beim Handeln sein kann.«

»Natürlich kann ich dir nichts versprechen«, fügte sie ehrlicherweise hinzu, während sie auf die Gruppe zusteuerten, Debera die wild in der Brise flatternde Zeichnung von ihr und Morath in der Hand.

»Roll das Blatt auf«, schlug Iantine vor. »Soll ich das für dich machen?«

»Nein, danke. Ich schaff das schon allein.« Sie drehte das Papier fester zusammen, als der Zeichnung vielleicht gut tat.

Als sie den Tisch erreichten, ging die Konferenz zu Ende, und die Teilnehmer begannen sich zu zerstreuen.

»Meister Jol?«, rief Debera mit dünner, kaum hörbarer Stimme. »Meister Jol!«, wiederholte sie dann in einem energischeren Ton. Iantine fragte sich, ob das Mädchen Angst hatte, der Händler würde sie gar nicht erkennen.

»Bist du nicht Debera?«, antwortete der Mann und spähte auf sie hinunter, als traue er seinen Augen nicht. Dann lächelte er von einem Ohr zum anderen und eilte mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Debera schien ein so überschwänglicher Empfang peinlich zu sein. »Meine Liebe, ich hatte schon gehört, dass du von einem Drachen erwählt wurdest.«

Iantine legte ihr zur Aufmunterung eine Hand zwischen die Schulterblätter und schob sie sachte nach vorn.

»Ja, das ist Morath«, bestätigte sie. Unversehens nahm sie eine stolze, selbstsichere Haltung ein. Drache und Reiterin tauschten einen dieser innigen Blicke, die Iantine immer wieder ans Herz rührten.

»Sei gegrüßt, Morath«, entgegnete Meister Jol und verbeugte sich formvollendet vor dem Jungdrachen, dessen Augen rascher zu kreiseln begannen.

Debera tätschelte Morath wie zur Beruhigung. »Meister Jol ist der Cousin meiner Mutter«, erklärte sie.

»Ich bin stolz, eine Drachenreiterin in der Familie zu haben«, versicherte Jol. »Du kommst ganz auf deine Mutter heraus, Debera.«

Das Mädchen blickte traurig drein, und Iantine verspürte Mitleid.

»Ich wollte dir das Herz nicht schwer machen, Mädel«, fuhr Jol in tröstendem Ton fort. »Aber deine Mutter wäre überglücklich, wenn sie von deinem günstigen Schicksal wüsste. Schade, dass sie dich nicht zusammen mit deinem Drachen sehen kann.« Er räusperte sich, und Iantine spürte, dass er dem Mädchen etwas Nettes sagen wollte.

»Vor allen Dingen stehe ich endlich nicht mehr unter der Fuchtel meines Vaters«, ergänzte Debera. »Hat man Ihnen auch erzählt, was sich bei meiner Ankunft im Weyr abgespielt hat?«

»In der Tat, man hat mich unterrichtet.« Meister Jol schmunzelte, und in seinen Augen glomm ein Fünkchen Schadenfreude. »Offen gestanden, habe ich mich gefreut, als ich diese Geschichte hörte. Kann ich etwas für dich tun, Mädel? Brauchst du vielleicht Kleidung, oder ein Paar feste, gefütterte Stiefel? Wie ich deinen Vater kenne, bist du nur mit dem hier angekommen, was du auf dem Leib trugst.«

Die Unverblümtheit, mit der Meister Jol sprach, verunsicherte Debera, doch wie um ihr Halt zu geben, schmiegte sich Morath an sie.

»Der Weyr hat mich mit allem Notwendigen ausgestattet, Meister Jol«, entgegnete sie würdevoll.

»Meister Jol? Sind wir denn nicht miteinander verwandt, junge Dame?«, zog Jol sie mit gespieltem Ernst auf.

Nun kehrte ihr Lächeln zurück. »Wenn du der Cousin meiner Mutter warst, bist du auch mein Vetter, Jol. Aber ich möchte dich um einen Gefallen bitten.«

»Worum geht es?«

Debera entrollte das Blatt mit der Skizze und zeigte es dem Händler. »Iantine hat dieses Bild von mir gemalt, und er hat auch eine Zeichnung von dir gemacht …« Auf dieses Stichwort hin öffnete Iantine seinen Block und zeigte die Montage. »Jetzt hat Iantine seinen gesamten Papiervorrat verbraucht und kein Geld, um sich neues Zeichenmaterial zu kaufen.«

Meister Jol griff nach dem Block; sofort verriet seine Miene das prüfende Interesse eines Händlers. Doch schon nach dem ersten flüchtigen Blick auf das Bild wandte er sich wieder dem Künstler zu.

»Sie sind Iantine?« Als Iantine zustimmend nickte, umspielte ein verschmitztes Lächeln seinen fein geschwungenen Mund. »Ich habe schon von Ihnen gehört. Sie sind doch der Bursche, der es geschafft hat, sich erfolgreich gegen Chalkin zu wehren.« Jol bot ihm seine freie Hand dar. »Das haben Sie gut gemacht. Ein schönes Abenteuer haben Sie da in Bitra erlebt.« Anerkennend zwinkerte er ihm zu. »Händlern wie uns trägt man allerhand Neuigkeiten zu. Und wir lernen rasch, die Wahrheit von wilden Gerüchten zu unterscheiden«

Danach widmete er sich abermals der Skizze und unterzog sie einer kritischen Musterung. Während er jedes einzelne Detail eingehend betrachtete, nickte er beifällig. Amüsiert zog er die Nase hoch, als er sich selbst erkannte, mit dem Schreibstift hinter dem Ohr.

»Ich finde, ich bin gut getroffen«, lobte er. »Nicht mal der Stift fehlt.« Er fasste sich hinters Ohr, um sich davon zu überzeugen, dass sein Schreibutensil noch an Ort und Stelle saß. »Darf ich?«, fragte er höflich und bekundete den Wunsch, sich auch noch die anderen Blätter ansehen zu dürfen.

»Aber sicher.« Iantine deutete eine höfliche Verbeugung an. Zu seinem nicht geringen Verdruss merkte er, wie er plötzlich taumelte.

»Moment mal, junger Mann. Mir scheint, Sie haben sich von den Strapazen Ihrer Flucht aus Bitra noch nicht ganz erholt«, meinte Jol und stützte ihn. »Wir wollen uns hinsetzen, damit ich mir sämtliche Bilder gründlich ansehen kann.«

Iantines Proteste ignorierend, führte Jol ihn an den Tisch, an dem er gerade noch gesessen hatte und drückte ihn auf einen Schemel. Debera und Morath folgten ihnen, wobei das Mädchen sich über die Fürsorglichkeit ihres Cousins zu freuen schien.

Jol studierte die Zeichnungen fast so intensiv, wie Meister Domaize es getan hätte. Er gab Kommentare ab über Leute, die er kannte, lächelte und nickte immer wieder anerkennend. Er merkte es auch, wenn Iantine irgendeine Pose nicht ganz zu Ende gezeichnet hatte.

»Was genau brauchen Sie, Künstler Iantine?«

»Hauptsächlich neues Papier«, antwortete Iantine.

Jol nickte. »Ich glaube, ich habe einen Block Papier dieser Qualität dabei, nur ein wenig kleiner im Format. Mitunter bringe ich Zeichenmaterial für Waine mit. Natürlich könnte ich größere Blätter besorgen …«

»Aber bis Sie das nächste Mal den Weyr aufsuchen, bin ich vermutlich nicht mehr hier.«

Meister Jol winkte ab. »Ich unterhalte Magazine in Burg Telgar und kann in ein, zwei Tagen hierher befördern lassen, was immer Ihr Herz begehrt.« Er bedachte Iantine mit einem versonnenen Blick. »Obwohl ich nicht glaube, dass Sie den Weyr so rasch verlassen werden.« Mit einer Hand griff er nach dem Stift hinter seinem Ohr, die andere zog einen Notizblock aus dem Beutel an seinem Gürtel. »Mit welchen Artikeln kann ich Ihnen dienen, Künstler Iantine?«

»Äh …«

»Er möchte Skizzen von jedem Reiter und jedem Drachen des Weyrs anfertigen«, beschied ihm Leopol, der unbemerkt näher herangepirscht war, um das Gespräch zu belauschen.

»Dann haben sie also jede Menge Aufträge?«, vergewisserte sich Meister Jol interessiert, derweil sein Stift über dem Block schwebte.

»Nun ja, nicht direkt …«, stotterte Iantine.

»Ich weiß von drei Aufträgen«, schaltete sich Leopol ein. »Sie malen P'tero für M'leng und dann noch die beiden Weyrführer …«

Am liebsten hätte Iantine Leopols Nase abgebissen. »Die Weyrführer sind etwas ganz anderes. Ich male die beiden in Öl, und mit den Skizzen möchte ich mich bei den Weyrleuten bedanken, die so freundlich zu mir waren.«

»Einen gesamten Weyr zu porträtieren ist eine gewaltige Aufgabe«, meinte Meister Jol und kritzelte etwas auf seinen Notizblock. »Sie werden stapelweise Papier und viele Zeichenstifte brauchen. Oder bevorzugen Sie Tusche? Ich habe welche auf Vorrat, erste Qualität. Tropft nicht und bleicht garantiert nicht aus.« Erwartungsvoll blickte er Iantine an.

»Aber ich besitze doch nichts außer dieser Montage, die ich gegen etwas anderes eintauschen kann«, entgegnete Iantine.

»Junger Mann, das Handelshaus Liliencamp gewährt Ihnen Kredit«, antwortete Jol gemächlich; mit seinem Schreibstift stieß er sachte gegen Iantines Schulter. »Ich bin nicht Chalkin. Auf gar keinen Fall möchte ich mit ihm verglichen werden.« Dann prustete er los, und unwillkürlich musste Iantine schmunzeln.

»Und nun geben Sie mir bitte eine Aufstellung der Dinge, die Sie brauchen. Aber wenn es Sie ein wenig beruhigt, dann füllen Sie dieses Bild«, er tippte auf die Montage, »mit Wasserfarben aus, und ich zahle Ihnen zwei Marken dafür. Ach ja, und die Skizze, die T'dam im Kreise seiner Schüler zeigt, hätte ich auch gern«, fügte er hinzu, das entsprechende Blatt im Skizzenblock aufschlagend. »Anhand dieser Zeichnung kann man manchen Leuten gut erklären, dass die Drachenreiter weit mehr leisten, als lediglich am Firmament ihre Kreise zu ziehen. Dafür gebe ich Ihnen anderthalb Marken.«

»Aber … aber …« stammelte Iantine, derweil er versuchte, seine Gedanken sowie seine Wünsche zu ordnen. Debera lächelte zufrieden, und auch ihr Drache schien guter Dinge zu sein. »Ich habe keine Wasserfarben bei mir …«, begann er. »Wie soll ich da die Montage kolorieren?«

»Ach, zufällig befinden sich Aquarellfarben in meinem Wagen«, erklärte Jol und strahlte über das ganze Gesicht. »Deshalb kam ich ja auf den Gedanken, die Montage bunt zu malen. Ich muss schon sagen, dass ich mir von unserer Bekanntschaft viel verspreche«, fügte er hinzu, sich an Debera wendend. »Ich werde die farbig ausgemalte Montage unter Glas setzen und in meinen Bürowagen hängen. Quasi als Aushängeschild oder Reklame, wie unsere Vorfahren gesagt hätten.«

»Meister Jol?«, rief jemand von den Händlerwagen her. »Haben Sie einen Moment Zeit?«

»Bin gleich wieder zurück, Künstler Iantine«, entschuldigte sich Jol. »Bleiben Sie bitte hier. Du auch, Debera, unser Gespräch ist noch nicht beendet.«

Während Iantine und Debera erstaunte Blicke tauschten, trottete Meister Jol davon, um nachzusehen, was man von ihm wollte. Im Laufen schob er den Schreibstift wieder hinter die Ohrmuschel und klappte sein Notizbuch zusammen.

»Ich kann das immer noch nicht fassen«, murmelte Iantine und schüttelte den Kopf. Er fühlte sich schwach und außer Atem.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Debera besorgt.

»Ich bin wie vom Donner gerührt«, erklärte Iantine, sich an einen Lieblingsausdruck seines Vaters erinnernd.

Debera grinste verstehend. »Mir geht es genauso. Nie hätte ich damit gerechnet …«

»Und ich erst recht nicht.«

»Was habt ihr eigentlich? Traut ihr aus Prinzip keinem Händler?«, fragte Leopol ein bisschen pikiert.

Iantine lachte leise. »Selbstverständlich gibt es ehrliche Kaufleute. Aber solche Großzügigkeit ist eher selten.«

»Wie lange warst du eigentlich in Bitra?«, erkundigte sich Debera spitz.

»Lange genug«, versetzte Iantine und schnitt eine Grimasse, »um zu begreifen, wie unterschiedlich man den Begriff ›zufrieden stellend‹ auslegen kann.«

Debera zog die Stirn kraus.

»Schon gut«, winkte er ab. »Vielen Dank noch, dass du mich deinem Cousin vorgestellt hast.«

»Sowie er deine Skizzen sah, brauchtest du mich als Vermittlerin gar nicht mehr«, stellte sie richtig.

»Ich glaube, Sie haben das hier bestellt«, ertönte eine Stimme. Verdutzt blickten Debera und Iantine auf und sahen, wie ein schwer bepackter Händler auf sie zusteuerte. Vorsichtig legte der Mann seine Waren auf dem Tisch ab: Zwei Blöcke Zeichenpapier von unterschiedlicher Größe, ein hübsches Kästchen mit einer Flasche Tusche darin, ein Etui mit Federkielen und eine Schachtel voller Bleistifte. »Sonderlieferung.« Schmunzelnd machte er auf dem Absatz kehrt und marschierte davon.

»Meister Jol rühmt sich für seine prompte Bedienung«, kommentierte Leopol breit grinsend.

»Siehst du, jetzt hast du alles, was du brauchst!«, freute sich Debera.

»Recht hast du!«, bekräftigte Iantine mit einer Inbrunst, als spräche er ein Gebet.