Kapitel 3
Die Minuten vergingen wie langsame, kalte Tropfen. Fünf. Sechs. Acht.
Ein lautes Pochen an der Tür. »Kate?« Es war Andreas Stimme.
»Ja?«
»Ich habe Sanitäter mitgebracht. Lass mich rein.«
Ich entriegelte die Tür und zog sie auf. Vier Sanitäter hasteten herein. Andrea folgte ihnen. Sie war klein und hatte blaue Augen, und aus irgendeinem Grund schimmerten die Spitzen ihres blonden Haars in kaltem Neonblau. Ein Gewehrlauf ragte über die Schulter ihrer Jacke empor. Wie ich sie kannte, trug sie unter der Jacke wahrscheinlich zwei SIG-Sauers, ein Kampfmesser und genügend Kugeln, um die Goldene Horde auszuschalten.
Normalerweise lief Andrea mit einer unbekümmerten Miene herum, die schon so manchen Fremden dazu veranlasst hatte, in ihrer Gegenwart sein Herz auszuschütten. Doch jetzt mussten sie nur einen Blick auf sie werfen, um unverzüglich die Straßenseite zu wechseln. Die Anspannung hatte ihr Gesicht zu einer starren Maske verhärtet, und sie bewegte sich wie ein Soldat auf feindlichem Territorium, als müsste sie jeden Moment damit rechnen, dass ihr Kugeln um die Ohren flogen.
Hinter ihr warteten zwei Polizisten in PAD-Uniformen an der Tür und bedachten mich mit ihren finstersten Polizistenblicken. Seltsamerweise verspürte ich keinerlei Bedürfnis, vor Angst zu zittern.
Andrea kam näher und sprach mit leiser Stimme. »Da lasse ich dich mal acht Wochen allein, und schon musst du dich mit der PAD anlegen.«
»Das ist einfach meine Natur«, erklärte ich.
Emily schrie.
»Entschuldige mich bitte.« Ich ging zu den Sanitätern hinüber, die Emily soeben auf eine Trage gehoben hatten.
Sie griff sofort nach meiner Hand.
»Alles wird gut«, sagte ich zu ihr. »Sie bringen dich ins Krankenhaus. Dort wird man sich um dich kümmern.«
Emily sagte nichts. Sie hielt nur meine Hand fest und ließ sie nicht los, bis man sie in den Krankenwagen verlud. Ghastek wurde auf seiner Trage im zweiten Fahrzeug verstaut. Dann kam die dunkelhaarige Frau heraus, in eine Decke gehüllt und mit zwei Sanitätern. Die Türen der Ambulanz wurden zugeschlagen, und die beiden Fahrzeuge machten sich unter lautem Sirenengeheul auf den Weg.
Als ich ins Büro zurückkehrte, war es leer, abgesehen von Andrea und einer Blutlache auf dem Boden. »Wo sind die Polizisten?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Abgerückt.«
Wir sahen uns gegenseitig an. Sie hatte mir den Arsch gerettet. Allerdings änderte das nichts an der Tatsache, dass sie zwei Monate lang verschwunden war. Und jetzt stimmte etwas nicht.
»Verdammt, was ist los?« Andrea funkelte mich an. »Wie hast du es geschafft, dass drei Navigatoren in deinem Büro liegen und die PAD vor deiner Tür steht? Sie waren bereit, das Gebäude zu stürmen! Bist du völlig durchgedreht?«
»Selber verdammt! Wo bist du gewesen? Hast du vergessen, wie man ein Telefon benutzt?«
Andrea verschränkte die Arme. »Ich habe dir einen Brief geschrieben!«
»Du hast mir eine kurze Notiz geschrieben, bei der sich mir die Nackenhaare gesträubt haben.«
Das Telefon klingelte. Warum ausgerechnet jetzt? Ich ging zu meinem Schreibtisch und hob ab. »Ja?«
Currans Stimme erfüllte den Hörer. »Alles in Ordnung mit dir?«
Es war völlig absurd, aber als ich ihn hörte, ging es mir sogleich viel besser. »Ja.«
»Brauchst du Hilfe?«
Seine Stimme war völlig ruhig. Der Herr der Bestien war nur eine Haaresbreite davon entfernt, loszustürmen und mir zu Hilfe zu eilen.
»Nein, alles bestens.« Aus irgendeinem Grund verkrampften sich meine Eingeweide zu einem schmerzhaften Knoten. Ich wäre beinahe erschossen worden und hätte ihn vielleicht nie wiedergesehen. Das war eine neue und unliebsame Empfindung. Großartig. Nun wusste ich, was Besorgnis war. Wenn ich mir selber eine kräftige Ohrfeige verpasste, kam ich vielleicht wieder zu mir.
Ich musste mich zum Weitersprechen zwingen. Meine Worte klangen angestrengt. »Wer hat gepetzt?«
»Wir haben unsere Leute, die die Funkfrequenzen überwachen. Sie haben Jim vorgewarnt, dass unsere Sicherheit vielleicht die PAD-Zentrale stürmen und dich heraushauen muss. Ich habe es erfahren, als ich Jim gesehen habe, wie er leise vor sich hinkichernd durch den Korridor lief.«
Ich machte mir eine mentale Notiz, dass ich Jim einen Knuff verpassen würde, wenn ich ihn das nächste Mal sah. »Das fand er wohl ziemlich witzig, was?«
»Ich fand es kein bisschen witzig.«
Das konnte ich mir vorstellen. »Mehrere Leute waren in Lebensgefahr, und ich konnte sie retten. Ein Mädchen … Auf jeden Fall bin ich unverletzt. Ich werde zum Abendessen zu Hause sein.«
»Wie du meinst«, sagte er.
Mein Herz machte einen Hüpfer. Ich liebe dich auch.
Seine Stimme entspannte sich. »Bist du dir sicher, dass dein Märchenprinz nicht herbeieilen und dich retten muss?«
Der Knoten in meinem Bauch löste sich auf. Märchenprinz? »Aber klar. Hast du zufällig einen zur Hand?«
»Ach, ich glaube, ich könnte irgendwo einen auftreiben. So oft, wie ich dich retten muss …«
»Ich werde deinen Kopf mit Fußtritten malträtieren, sobald ich zu Hause bin.«
»Du könntest es versuchen. Wahrscheinlich tut dir ein wenig Sport ganz gut, wenn du dir den ganzen Tag lang im Büro den Arsch platt sitzt.«
»Weißt du was? Im Moment gehen mir deine Sprüche am Arsch vorbei.«
»Ganz, wie du wünschst, Baby.«
Jetzt war er es, der an meiner Kette zerrte. Ich knurrte ins Telefon.
»He, bevor du auflegst – ich habe Jackson und Martina losgeschickt, damit sie nach Julie suchen. Heute Abend dürften wir bereits mehr wissen.«
»Danke.«
Ich legte auf. Mich retten? Mistkerl. Meine Fußtritte würden so kräftig sein, dass er sie tatsächlich spürte.
»Wie ich feststelle, hat sich nichts verändert«, sagte Andrea grinsend. Doch das Lächeln wirkte um die Augen herum etwas spröde. »Genießt ihr immer noch eure Flitterwochen? Mit Regenbogen, Lebkuchenherzen und süßen Küssen?«
Ich verschränkte die Arme. »Wo ist mein Hund?«
»In meinem Wagen. Wahrscheinlich frisst er gerade die Polster.«
Wir beide betrachteten das Blut. Wenn wir Grendel hereinließen, würde er versuchen, daran zu lecken.
Ich ging ins Hinterzimmer und holte Lappen, Peroxid und einen Eimer. Andrea stellte ihr Gewehr ab und krempelte die Ärmel hoch.
Wir gingen in die Knie und machten uns daran, das Blut aufzuwischen.
»Mein Gott, das ist aber verdammt viel Blut.« Andrea verzog das Gesicht. »Glaubst du, dass das Mädchen überlebt?«
»Ich weiß es nicht. Sie wurde mehrmals von einer M240B getroffen. Ihr Bein war völlig hinüber.« Ich wrang den blutigen Lappen über dem Eimer aus.
»Wie ist das passiert?«, fragte sie.
Ich hätte sie am liebsten gepackt und geschüttelt, bis sie mir erzählte, wo sie sich die letzten beiden Monate herumgetrieben hatte. Aber wenigstens war sie jetzt da und redete mit mir. Früher oder später würde ich ihr die Geschichte entlocken können.
»Ghastek rief an. Er sagte, ein Vampir sei außer Kontrolle geraten und auf dem Weg zu mir. Ich ging raus und kettete ihn an einen Baum. Dann war Ghastek nahe genug, um ihn zu übernehmen. Als Nächstes tauchten seine Leute und der Eingreiftrupp der PAD mit der schweren Kanone auf. Es gab einen Wortwechsel, und Ghastek verlor das Bewusstsein.«
Andrea hielt inne, einen blutigen Lappen in den Händen. »Das verstehe ich nicht.«
»Er ist zusammengeklappt. Aus den Latschen gekippt. Wie eine Südstaatenschönheit nach ihrem ersten Kuss in Ohnmacht gefallen.«
»Das klingt unheimlich.«
»Er hat die Augen verdreht und ist zusammengebrochen, als hätte jemand ihn bewusstlos geschlagen.« Ich schüttete ein wenig klares Wasser auf die Bodendielen. »Dann leuchteten die Augen des Vampirs rot auf, und die PAD eröffnete das Feuer. Ghastek hatte drei seiner Leute mitgebracht. Der Mann war schon nach ein oder zwei Sekunden tot. Der Blutsauger stürzte sich sofort auf ihn.«
»Und dann?«
»Und dann habe ich Ghastek und die beiden Frauen ins Büro geschleift und die Tür verbarrikadiert. Den Rest kennst du.«
Andrea seufzte. »Es ist nicht gut, der PAD den Zutritt zu verweigern. So was mögen diese Leute nicht.«
»Erzähl mir etwas, das ich noch nicht weiß.« Zum Beispiel, wo sie in den letzten Wochen gewesen war. Vielleicht war sie in ein Nonnenkloster gegangen. Oder hatte sich der Französischen Fremdenlegion angeschlossen.
»Du hättest im Casino anrufen können. Man hätte sofort eine Horde Anwälte losgeschickt.« Andrea kippte Peroxid auf das feuchte Holz.
Ich richtete mich auf. »Die Eingreiftruppe besteht aus schießwütigen Idioten. Die waren immer noch high, weil sie einen Blutsauger erledigt hatten. Ich musste mir anhören, wie sie fünf Minuten lang Kugeln ins Straßenpflaster jagten. Das war der absolute Overkill. Eine Steigerung wäre höchstens die Chance gewesen, einen weiteren Vampir zu töten. Oder mehrere. Wenn ich im Casino angerufen hätte, hätte das Volk einen Vampir losgeschickt, ganz gleich, was ich gesagt hätte. Das ist ihr Standardprozedere. Die PAD hätte ihn erschossen, und das Volk hätte Vergeltung geübt. Die Sache wäre eskaliert. Aber ich wollte, dass sich alle beruhigen, damit Emily weiteratmen kann.«
»Hat Ghastek dir gesagt, warum ein außer Kontrolle geratener Vampir in der Gegend herumrennt?«
Ich verzog das Gesicht. »Nur irgendwas von einem schwangeren Mädchen, das in Ohnmacht gefallen ist.«
Andrea rümpfte die Nase – die typische verächtliche Geste eines Gestaltwandlers. »Ich wittere Bockmist.«
Sie hatte natürlich recht. Zwei Navigatoren, die zusammenklappten, während sie denselben Vampir zu steuern versuchten? Ghastek, der in Ohnmacht fiel? So etwas passierte einfach nicht.
Ich holte einen trockenen Lappen und wischte das Peroxid auf. Jetzt sah der Fleck nicht mehr allzu schlimm aus. Trotzdem – wenn etwas von Blut besudelt wurde, blieb der Fleck auf ewig zurück, selbst wenn man ihn gar nicht mehr sehen konnte. Mein Büro war mit Emilys Blut getauft worden. Juhu!
Ich warf den Lappen in den Eimer und sah Andrea an. »Ich hatte heute nicht meinen besten Tag.«
»Das habe ich gesehen.«
»Die PAD dürfte versuchen, mich aus dem Verkehr zu ziehen, das Volk wird nach einer Möglichkeit suchen, mir die Schuld an der Hinrichtung des Vampirs zu geben, damit ich eine Entschädigung zahle, und Curran hat erfahren, dass ich mein Leben aufs Spiel gesetzt habe, um einen Herrn der Toten zu retten, was bedeutet, dass ich beim heutigen Abendessen sehr viel erklären muss, weil Curran glaubt, dass ich zerbrechlich wie Porzellan bin. Wenn ich eine Kugel abbekommen und das Rudel erfahren hätte, dass die Partnerin des Herrn der Bestien, sein lieber Hase, verletzt worden wäre, weil das Volk Mist gebaut hat, wäre der Haufen in kollektive Raserei verfallen und hätte das Casino gestürmt.«
»Aha«, sagte Andrea. »Ich werde mal nicht weiter darauf eingehen, dass du dich selber soeben als ›Hase‹ bezeichnet hast. Gibt es auch eine Moral dieser Geschichte?«
»Die Moral lautet, dass meine Geduld erschöpft ist. Du wirst mir jetzt sagen, wo du warst, als du spurlos von der Bildfläche verschwunden warst. Sofort.«
Andrea hob den Kopf, als wollte sie mich zu einem Kinnhaken herausfordern. »Oder?«
Oder was eigentlich? »Oder ich werde dir einen Kinnhaken verpassen.«
Andrea erstarrte. Etwa eine Sekunde lang glaubte ich, sie würde zur Tür hinausstürmen. Doch dann seufzte sie stattdessen. »Kann ich vorher wenigstens einen Kaffee bekommen?«
*
Wir saßen in der Küche am alten, zerschrammten Tisch, und ich goss zwei Stunden alten, verbrannten Kaffee in unsere Becher.
Andrea starrte in ihre Tasse. »Ich war auf der Nordseite der Kluft, als deine Tante sich auf ihren großen Showdown vorbereitet hat. Ich war immer noch sauer wegen … verschiedener Sachen, und deswegen war ich etwas wirr im Kopf. Also suchte ich mir ein nettes Plätzchen auf einem Trümmerhaufen direkt an der Kante der Kluft und hielt mein Gewehr bereit. Zu diesem Zeitpunkt hielt ich das für eine richtig gute Idee. Als deine Tante ihren grandiosen Auftritt hatte, versuchte ich, ihr ins Auge zu schießen. Dummerweise bewegte sie sich, und ich schoss daneben. Daraufhin entfachte sie einen Feuersturm. Das war der Moment, in dem mir meine Verwirrung bewusst wurde. Ich hatte nämlich keine Rückzugsstrategie. Sie grillte mich wie Rippchen auf einem Rost. Als man mich schließlich vom Trümmerhaufen kratzte, hatte ich auf vierzig Prozent meiner Körperoberfläche Verbrennungen dritten Grades. Der Schmerz war nicht auszuhalten. Also verlor ich das Bewusstsein. Offenbar habe ich mich auf dem Krankenhausbett in mein anderes Ich verwandelt.«
Scheiße. Lyc-V, das Gestaltwandler-Virus, klaute Teile der DNS des Wirts und schleppte sie zum nächsten Opfer mit. Die meiste Zeit war es tierische DNS, die von tierischen auf menschliche Wirte übertragen wurde. Das Ergebnis war ein Wertier, ein Mensch, der animalische Gestalt annahm. Gelegentlich kommt es zum umgekehrten Vorgang, und irgendein bedauernswertes Tier endet als Tierwer. Die meisten waren mitleiderregende Geschöpfe, verwirrt, geistig beeinträchtigt und nicht in der Lage, die Regeln des menschlichen Zusammenlebens zu verstehen. Gesetze hatten für sie keine Bedeutung, was sie unberechenbar und gefährlich machte. Reguläre Gestaltwandler töteten sie, sobald sie auf ein solches Wesen trafen.
Doch keine Regel ohne Ausnahme, und Andreas Vater, ein Hyänenwer, war eine solche Ausnahme. Andrea hatte nur sehr wenige Erinnerungen an ihren Vater. Sie sagte einmal, er hätte die geistige Auffassungsgabe eines fünfjährigen Kindes gehabt. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, sich mit Andreas Mutter zu paaren, die eine Werhyäne war, oder eine Bouda, wie sich Werhyänen selbst lieber bezeichneten. Sein Blut machte Andrea zum Tierabkömmling, aber sie gab sich große Mühe, es zu verbergen. Sie trat dem Orden als Mensch bei, unterzog sich einer brutalen Prozedur, um die nötigen Tests zu bestehen, machte ihren Abschluss an der Akademie und wurde zu einer hervorragenden Ritterin. Sie arbeitete sich in Rekordzeit in der Hierarchie des Ordens nach oben, als ein Fall schiefging und sie nach Atlanta versetzt wurde.
Der Leiter des Ordenskapitels von Atlanta, Protektor Ted Moynohan, wusste, dass etwas mit Andrea nicht stimmte, aber er konnte nichts beweisen, sodass er sie für Hilfsdienste einspannte. Ted hatte nur wenig Verständnis für Gestaltwandler. Für ihn waren sie nicht einmal Menschen. Das war einer der Gründe gewesen, warum ich dort gekündigt hatte. Trotz allem bewahrte sich Andrea eine geradezu fanatische Loyalität gegenüber dem Orden. Für sie bedeutete der Orden Ehre und Pflicht und das Gefühl, einer höheren Sache zu dienen. Als sie sich im Krankenhausbett verwandelt hatte, war die Tür zu ihren Privatgemächern weit aufgerissen worden.
Andrea starrte unverwandt in die Tasse. Ihr Gesicht hatte einen angestrengten leeren Ausdruck, ihre Lippen waren zusammengekniffen, als würde sie einen schweren Felsblock einen Berg hinaufwälzen und es unbedingt bis zum Gipfel schaffen wollen.
»Die Sache mit deiner Tante lief nicht besonders gut. Ted hatte von überall Verstärkung angefordert. Zwölf Ritter starben, darunter auch zwei Meister der Waffen und ein Meister des Handwerks. Sieben weitere wurden schwer verletzt. Der Orden beraumte eine Anhörung an. Da meine Tarnung sowieso aufgeflogen war, dachte ich mir, es wäre eine gute Gelegenheit, den Standpunkt zu vertreten, dass auch jemand wie ich für den Orden von großem Nutzen sein kann.«
Allmählich ergab das alles einen Sinn. Sie war auf ihrem persönlichen Kreuzzug. Ich hätte es kommen sehen müssen. Wir hatten darüber gesprochen, kurz bevor ich den Orden verlassen hatte, und Andrea hatte versucht, mich zurückzuhalten. Sie wollte, dass ich blieb und mit ihr darum kämpfte, den Orden von innen heraus zu ändern und zu verbessern. Ich hatte ihr gesagt, dass ich das nicht könnte, selbst wenn ich es versuchen würde. Ich war keine Ritterin. Meine Meinung zählte nicht. Andrea dagegen war eine Ritterin und eine verdiente Veteranin. Sie sah darin ihre Chance, etwas zu bewegen.
Andrea nahm einen kleinen Schluck Kaffee und hustete. »Verdammt, Kate, ich weiß, dass du sauer auf mich bist, aber deswegen musst du mir doch kein Motoröl in den Kaffee tun!«
»Das war der müdeste Witz, den ich jemals von dir gehört habe. Hör auf mit der Verzögerungstaktik. Was ist passiert?«
Sie blickte auf, und ich hätte sie beinahe fassungslos angestarrt. Ihre Augen waren eingefallen und verbittert.
»Ich hatte einen der besten Ordensanwälte im Süden. Er glaubte daran, dass wir etwas bewirken könnten. Im Orden gibt es noch mehr, die wie ich sind. Die nicht ganz menschlich sind. Ich wollte dafür sorgen, dass sie bessere Lebensbedingungen bekommen. Er gab mir den Rat, mich von den Gestaltwandlern abzusetzen. Deshalb habe ich dir den Brief geschrieben. Ich wollte Grendel noch zurückbringen, aber dann mussten wir überstürzt aufbrechen. Also nahm ich ihn einfach mit, als wir nach Wolf Trap gingen.«
Wolf Trap in Virginia. Die Zentrale des Ordens in den Staaten. Wo jeder wusste, dass Andrea ein Tierabkömmling war. Es musste die Hölle gewesen sein.
Andrea rieb mit dem Daumen über den Rand ihrer Tasse, als wollte sie dort irgendeinen Fleck entfernen, den nur sie sehen konnte. Wenn sie noch ein wenig fester rieb, würde sie eine Delle hinterlassen.
»Wir haben uns einen Monat lang rund um die Uhr vorbereitet, Dokumente zusammengesucht, meine sämtlichen Akten gesichtet. Bei der Anhörung redete mein Anwalt drei Stunden lang und lieferte ein sehr leidenschaftliches und logisches Plädoyer zu meinen Gunsten. Wir hatten jede Menge Statistiken und Diagramme, wir haben meine Dienstauszeichnungen vorgelegt. Wir hatten alles.«
In meiner Magengrube breitete sich ein kaltes Gefühl aus, das mir sagte, wie die Geschichte ausgegangen war. »Und?«
Andrea straffte die Schultern und öffnete den Mund.
Aber nichts kam heraus. Sie machte ihn wieder zu.
Ich wartete.
Ihr Gesicht wurde blass. Ihr Körper war erstarrt, ihre Lippen bildeten eine schmale Linie. In ihren Augen stand ein leichtes rötliches Glühen – die Hyäne in ihr versuchte an die Oberfläche zu kommen.
Andrea öffnete den Mund. Ihre Stimme klang völlig tonlos, nachdem sie ihre Worte durch das Sieb ihres Willens gepresst und auch den letzten Rest von Emotion herausgefiltert hatte.
»Sie beförderten mich zur Meisterin der Waffen und versetzten mich in den Ruhestand, weil ich mental dienstuntauglich bin. Die offizielle Diagnose lautet Posttraumatische Belastungsstörung. Die Entscheidung ist endgültig und kann nicht von mir angefochten werden. Ich kann ihnen nicht einmal Diskriminierung vorwerfen, weil sie im Urteil gar nicht darauf eingehen, dass ich ein Tierabkömmling bin. Sie haben sich einfach geweigert, diesen Punkt zur Kenntnis zu nehmen, als wäre das gar kein Thema.«
Mistkerle! Sie hatten sie nicht nur rausgeworfen wie ein Stück Dreck, sie hatten ihr auch noch eine klare Botschaft mit auf den Weg gegeben. Wenn du nicht menschlich bist, spielt es keine Rolle, wie gut du bist. Wir wollen dich nicht haben.
»Und …« Andrea holte tief Luft und presste mühsam die Worte heraus. »Ich habe versagt.«
Für Andrea war der Orden viel mehr als nur ein Job. Er war ihr Leben. Sie hatte ihre Kindheit in einem Rudel Gestaltwandler verbracht, die sie verachtet hatten, weil ihr Vater ein Tier und ihre Mutter zu schwach war, um sie zu beschützen. Jeder einzelne Knochen in ihrem Körper war gebrochen worden, bevor sie zehn Jahre alt geworden war. Andrea hatte alles abgelehnt, was mit Gestaltwandlern zu tun hatte. Sie sperrte diesen Teil von ihr irgendwo ganz tief unten ein und widmete ihr Leben der Aufgabe, zu einem vollwertigen Menschen zu werden, um zwischen die Schwachen und die Starken zu treten, und darin war sie verdammt gut. Jetzt hatte der Orden sie zu einem Paria gemacht. Es war ein ungeheuerlicher Verrat.
»Alles ist weg.« Andrea zwang sich zu einem Lächeln. Ihr Gesicht sah aus, als würde es jeden Moment zersplittern. »Mein Job, meine Identität. Hätten sich die Polizisten meinen Ausweis genauer angesehen, wäre ihnen aufgefallen, dass darauf AUSSER DIENST steht. Leute, von denen ich dachte, sie wären meine Freunde, reden nicht mehr mit mir, als wäre ich eine Aussätzige. Als ich nach Atlanta zurückkam, habe ich im Kapitel angerufen, weil ich mit Shane sprechen wollte. Er hat nach meinem Ausscheiden die Waffenkammer übernommen. Ein paar der Waffen sind mein Eigentum. Ich will sie wiederhaben.«
Shane war ein typischer Ritter: keine Familie, die ihn an der Arbeit hinderte, topfit, kompetent, wie aus dem Lehrbuch. Wir beide kamen nicht besonders gut miteinander klar, weil er nicht wusste, wie er mich in die Hierarchie des Ordens einsortieren sollte. Aber zwischen Andrea und ihm lief es bestens. Sie waren gute Kollegen. Sogar gute Kumpel.
»Was hat er gesagt?«, fragte ich.
In Andreas Augen blitzte Wut auf. »Er wollte nicht mit mir sprechen. Ich wusste, dass er da war, weil Maxine den Anruf entgegennahm, und du weißt, wie entrückt sie klingt, wenn sie gleichzeitig gedanklich mit jemandem kommuniziert. Offenbar hat sie ihn gefragt, ob er mit mir reden will, und dann hat sie nur eine Nachricht von mir notiert. Shane hat seitdem nicht zurückgerufen.«
»Shane ist ein Arschloch. Einmal kam ich von einem Auftrag zurück, und es regnete so heftig, dass ich kaum etwas sehen konnte. Er lief mir mit seinem Rucksack entgegen. Ich fragte ihn, warum. Er sagte, er hätte seinen freien Tag und würde trainieren, um auf der Fitnessskala glatte dreihundert Punkte zu erzielen. Er hat überhaupt kein eigenes Gehirn – wenn er den Mund aufmacht, kommen nur Ordensvorschriften heraus.«
Bei einem realen Kampf würde ihm seine Punktzahl überhaupt nichts nützen. Ich könnte ihn töten, bevor er sich warm gemacht hätte. Shane fehlte der Raubtierinstinkt, der aus einem guten Sportler einen Killer machte. Er betrachtete jeden Kampf als Turnier, bei dem irgendein Schiedsrichter die Punkte zählte. Trotz seines Eifers hatte das allerdings auch der Orden erkannt. Alle Ritter fingen als Verteidiger an. Dann ließ der Orden einem zehn Jahre Zeit, sich zu profilieren, und wenn man versagte, wurde man anschließend zum Meister, zu einem gewöhnlichen Ritter. Shane wollte offensichtlich höher hinaus, doch er war schon seit neun Jahren im Orden, und Ted ließ keinerlei Neigung erkennen, ihn befördern zu wollen.
Andrea verschränkte die Arme. »Shane spielt überhaupt keine Rolle. Shane geht mir am Arsch vorbei. Er ist nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Wie auch immer. Nach der Anhörung habe ich mich mit Grendel für ein paar Wochen in meiner Wohnung verkrochen, um meine Wunden zu lecken, aber ich kann mich nicht ewig in diesem Loch verstecken. Und irgendwann genügen einem die Gespräche mit dem Pelzgesicht nicht mehr. Außerdem frisst er Sachen, die nicht gut für ihn sind, zum Beispiel Teppiche und Badezimmerarmaturen. Er hat ein Loch in den Fußboden meiner Küche genagt. In eine absolut ebene Fläche.«
»Das überrascht mich nicht.«
Nur sie und der abnorm große, stinkende Pudel, die sich gemeinsam in ihrer Wohnung versteckten. Keine Freunde, keine Besucher, nichts, nur ganz allein in ihrem Elend versunken, zu stolz, um irgendjemanden damit zu belasten. Genau das Gleiche hätte ich auch getan. Nur dass jetzt jemand auf mich wartete, wenn ich nach Hause kam, jemand, der die Stadt auf den Kopf stellen würde, wenn ich mich um mehr als ein paar Stunden verspätete. Andrea jedoch hatte niemanden. Nicht einmal Raphael – schließlich gab sie sich allergrößte Mühe, seinen Namen nicht zu erwähnen.
»Ich habe mir ein Buch über Hundeerziehung besorgt«, sagte Andrea. »Darin heißt es, dass Grendel mental stimuliert werden muss. Also habe ich versucht, ihn zu trainieren, aber ich vermute, dass er geistig zurückgeblieben ist. Ich dachte mir, dass du deinen Hund irgendwann wiedersehen möchtest, also habe ich ihn mitgebracht. Inzwischen hat er wahrscheinlich das komplette Armaturenbrett gefressen.«
Wenn sie Glück hatte. Wenn nicht, hätte er außerdem auf den Boden gekotzt und als Zugabe draufgepinkelt. Ich lehnte mich zurück. »Und was jetzt?«
Andrea zuckte in einer gezwungen wirkenden Bewegung mit den Schultern. Ihre Stimme hatte immer noch den nüchternen monotonen Tonfall. »Ich weiß es nicht. Der Orden hat mir eine Rente angeboten. Ich habe gesagt, dass sie sich das Geld in den Arsch stecken sollen. Versteh mich nicht falsch, ich finde, dass ich es verdient habe, aber ich will es nicht.«
Ich hätte es auch nicht angenommen.
»Ich habe ein bisschen Geld zurückgelegt, also brauche ich nicht sofort einen neuen Job. Ich könnte versuchen, angeln zu gehen. Wahrscheinlich sollte ich mich irgendwann um Arbeit kümmern, vielleicht bei irgendeiner Polizeibehörde. Aber jetzt noch nicht. Man wird Erkundigungen über mich einziehen, und damit will ich mich im Moment nicht auseinandersetzen.«
»Würdest du gerne hier bei mir arbeiten?«
Andrea starrte mich an.
»Wir haben keine Klienten, und die Bezahlung ist miserabel.«
Sie starrte mich immer noch an. Ich wusste nicht mal genau, ob sie mich verstanden hatte.
»Selbst wenn die Geschäfte super laufen würden, könnte ich es mir nicht leisten, dich angemessen zu bezahlen.« Keine Reaktion. »Aber wenn du kein Problem damit hast, in meinem Büro herumzusitzen, Kaffee mit Motoröl zu trinken und mit mir herumzublödeln …«
Andrea schlug sich die Hände vors Gesicht.
Ach du Scheiße. Was mache ich jetzt? Sage ich was, oder sage ich lieber nichts?
Ich redete weiter, so unbeschwert, wie es mir möglich war. »Ich habe einen zweiten Schreibtisch. Wenn die PAD kommt, um meinen Laden dichtzumachen, könnte ich etwas Schützenhilfe gebrauchen. Schließlich würde ich nicht mal aus drei Metern Entfernung eine Kuh treffen. Wir könnten unsere Schreibtische umkippen und als Deckung benutzen, um Granaten auf sie zu werfen, wenn sie durch die Tür stürmen …«
Andreas Schultern zitterten leicht.
Sie weinte. Verdammt! Ich saß einfach nur da, ohne zu wissen, wie ich damit umgehen sollte.
Andrea zitterte immer noch und war auf unheimliche Weise still.
Ich raffte mich auf und holte ein Taschentuch. Andrea nahm es entgegen und drückte es sich aufs Gesicht.
Mitleid würde es nur noch schlimmer machen. Sie wollte ihren Stolz nicht verlieren – es war das Einzige, das ihr noch geblieben war, und ich musste ihr helfen, ihn zu wahren. Ich tat, als würde ich von meinem Kaffee trinken und in die Tasse starren. Andrea tat, als würde sie gar nicht weinen, während sie ihre Tränen zu trocknen versuchte.
Ein paar Minuten lang saßen wir so da, peinlich berührt und wild entschlossen, so zu tun, als wäre nichts geschehen. Wenn ich meine Tasse noch länger anstarrte, würde sie unter der Intensität meines Blicks in Flammen aufgehen.
Andrea schnäuzte sich. Ihre Stimme klang ein wenig heiser. »Hast du überhaupt etwas da, womit du auf die PAD schießen könntest?«
»Oben habe ich eine Waffenkammer. Das Rudel hat mir ein paar Schusswaffen und Munition gegeben. Sie befindet sich in den Schachteln auf der linken Seite.«
Andrea hielt inne. »In Pappschachteln?«
»Ja.«
Andrea stöhnte.
»He, Waffen sind nicht mein Ding. Hätte man mir Schwerter gegeben, wäre das etwas ganz anderes. Deshalb wärst du die ideale …«
Andrea stand auf und umarmte mich. Die Berührung dauerte nur einen Sekundenbruchteil. Im nächsten Moment war sie auf dem Weg nach oben, das Taschentuch in der Hand.
So eine beste Freundin konnte ganz schön anstrengend sein.
Oben klapperte etwas.
Gut. Ich musste mit irgendwas weitermachen. Ich nahm Andreas Schlüssel vom Tisch und zog los, um Grendel aus dem Wagen zu holen, bevor er ihn in sämtliche Einzelteile zerlegt hatte.