Kapitel 10

Sie stammen aus einem kleinen Dorf an der Grenze zwischen der Ukraine und Polen«, sagte Evdokia. »Es heißt Zeleniy Hutir. Seit Urzeiten ist es kein guter Ort zum Leben. Die Grenze dort springt ständig vor und zurück. In einer Generation ist die Gegend polnisch, in der nächsten russisch, dann türkisch, dann wieder irgendetwas anderes. In den Legenden heißt es, dass die Leute vor langer Zeit, als die Ukraine noch von wilden slawischen Stämmen bewohnt wurde, Krieg mit dem chasarischen Reich im Osten führten. Während eines Angriffs wurden alle Männer aus dem Dorf mitgenommen. Damals war die Magie noch in der Welt, obwohl sie bereits schwächer wurde, aber in dieser Region waren die alten Sitten noch mächtig. Die Frauen belegten sich selbst mit einem Zauber, mit der Macht der Betörung, damit alle Menschen den Wunsch verspürten, sie glücklich zu machen. So bekamen sie ihre Männer zurück. Doch der Zauber forderte einen hohen Preis, denn die meisten von ihnen wurden danach unfruchtbar. Aber wenn sie wollten, dass man ihnen sein letztes Hemd gab, mussten sie nur lächeln, damit man es ihnen überließ. Das ist der Ursprung der Macht, die deine Mutter besaß.«

Das alles kam mir verdächtig bekannt vor. »Es gibt eine Frau, die für das Volk arbeitet. Ihr Name ist Rowena.«

Evdokia nickte. »Ich habe sie gesehen. Sie stammt ebenfalls von dort, obwohl ihr Blut verwässert wurde. Ihre Magie fühlt sich wie ein Kamin an. Wenn man ihr sehr nahe ist, spürt man die Wärme. Aber es ist nichts Spektakuläres. Die Magie deiner Mutter war wie ein Scheiterhaufen. Sie wärmte nicht nur, sie konnte verbrennen.«

Das musste eine verdammt große Macht gewesen sein.

»Viele von uns, die alten Familien, die aus Russland und der Ukraine hierherkamen, wissen, dass wir magisch veranlagt sind«, fuhr Evdokia fort. »Selbst als die Technik auf dem Höhepunkt war, kurz vor der Wende, blieb in der Welt ein winziges Rinnsal Magie übrig, das wir spürten und für kleine Dinge benutzten. Die alten Frauen brachten Zahnschmerzen mit einem Zauberspruch zum Verschwinden, fanden die Leichen von Ertrunkenen oder mischten sich in das Liebesleben der Leute ein. Ich hatte eine Freundin, deren Mutter einmal träumte, dass ihr Haus in Flammen stand. Zwei Tage später schüttete ihr seniler Großvater Petroleum in den Ofen, um das Feuer in Gang zu bringen. Fast wäre das Haus niedergebrannt. Es waren immer solche kleinen Dinge.«

Evdokia sah mich an. »Auch deine Großmutter hatte die Macht, aber sie benutzte sie nicht. Sie machte ihren Doktor in Psychologie und wollte nichts mit diesem alten Aberglauben zu tun haben, wie sie es nannte. Sie drängte Kalina in dieselbe Richtung, doch als deine Mutter all ihre Abschlüsse in der Tasche hatte, kehrte die Magie mit voller Wucht zurück, und Kalina entwickelte ihre Fähigkeiten. Sie war sehr gut darin. Sie hielt Vorträge im ganzen Land. An Universitäten, vor dem Militär oder der Polizei. Sie hat sehr viel getan.«

Mir ging ein Licht auf. So schien sie Greg getroffen zu haben, meinen Vormund. »Hat sie für den Orden gearbeitet?«

Evdokia nickte. »Oh, ja. Man hat sich alle Mühe gegeben, sie zu rekrutieren. Dann traf sie deinen Vater, deinen wirklichen Vater, und alles ging den Bach runter. Sie verschwand.«

»Glaubst du, dass sie ihn geliebt hat?«

»Ich weiß es nicht«, sagte die alte Hexe. »Wir standen uns nie besonders nahe. Kalina verströmte ständig Magie, selbst wenn sie versuchte, sie einzudämmen, und ich mag es nicht, wenn jemand an mir herumzerrt. Nachdem sie zu Roland gegangen war, habe ich sie noch einmal gesehen, zur Beerdigung ihrer Mutter. Sie wirkte recht glücklich. Gefestigt, wie eine Frau, die gut versorgt ist und geliebt wird und sich keine allzu großen Sorgen um die Zukunft macht.«

Ich konnte meine Verbitterung nicht vor ihr verbergen. »Aber das hat nicht lange angehalten.«

»Nein. Offenbar hat sie sich verzweifelt darum bemüht, dich zu retten.«

»Das hat sie. Schließlich hat sie sich sogar für mich geopfert, weil Roland nicht aufgehört hätte, sie zu jagen, solange sie lebte. Dann hat Voron mich aufgenommen.«

Evdokia verzog das Gesicht. »Das war der entscheidende Punkt. Ich würde alles für mein Kind tun. Das Gleiche galt für Kalina. Jede geistig gesunde Frau würde das tun. Sie war gefangen und schwanger, und sie wusste, dass Roland nach ihr suchen würde, selbst wenn sie sich bis zum Ende der Welt flüchtete. Sie musste jemanden finden, der dich beschützt, jemanden, der stark genug war und wusste, wie Rolands Gehirn funktioniert. Sie fand Voron. Er war stark und rücksichtslos, aber er war Roland treu ergeben.«

Die blauen Augen der Hexe schimmerten voller Bedauern. »Sie hat ihn gebraten, Katenka. Sie hatte genug Zeit dazu, und sie hat ihn so lange weich gekocht, bis er Roland ihretwegen verließ, um die letzten Jahre seines Lebens damit zuzubringen, dich aufzuziehen. Ich hätte es früher erkennen müssen, aber die Liebe ist blind.«

Nein. Nein, sie hatten sich geliebt. Voron hatte meine Mutter geliebt. Ich hatte es in seinem Gesicht gesehen. Wenn er von ihr sprach, veränderte sich seine ganze Haltung. Er wurde zu einem anderen Mann.

Falls Evdokia recht hatte, musste meine Mutter ihn monatelang bearbeitet haben, um sein emotionales Gefüge zurechtzurücken, damit Voron, wenn er mit mir allein war, mich nicht zu Roland brachte oder mich in irgendeinen Graben warf.

In meiner Vorstellung war meine Mutter eine Göttin. Sie war freundlich und wunderbar, schön und herzlich. Sie war all das, was ich mir als Kind von Eltern wünschte. All das, was mir schließlich entrissen worden war. Bedingungslose Liebe. Wärme. Freude. Die einzige Verfehlung meiner Mutter war, dass sie naiv gewesen war und sich in den falschen Mann verliebt hatte. Sie war in eine Falle getappt, und Voron hatte sie gerettet, weil er sie liebte.

Doch niemand war so. Ich wusste, dass es in der Welt ganz anders zuging. Ich war kein Kind mehr, ich hatte den Dreck, die Wildheit und die Grausamkeit gesehen. Ich hatte eine Menge davon eingesteckt und selber ausgeteilt.

Warum also hatte ich nie zuvor an diesem rosafarbenen Bild gezweifelt? Warum glaubte ich, dass meine Mutter eine Prinzessin war und Voron ihr als Ritter in schimmernder Rüstung gedient hatte? Ich hatte dieses Bild nie infrage gestellt. Niemals.

Evdokia redete weiter, aber ich hörte ihr kaum noch zu. Der helle, glänzende Tempel, den ich meiner Mutter erbaut hatte, stürzte in sich zusammen, und der Krach war einfach zu laut.

»… was sie getan hat, ist aus gutem Grund verboten. Es kann einfach nicht gut ausgehen. Kalina war pflichtbewusst. Sie muss gespürt haben, dass es die einzige Möglichkeit war.«

Ich hob eine Hand, und die ältere Frau verstummte.

Bruchstücke vergessener Erinnerungen stiegen an die Oberfläche: Evdokias Gesicht, nur viel jünger. Die kleine schwarze Katze. Wie wir zu einer Party mitten im Wald gingen, ich in einem hübschen Kleid. Irgendeine Frau fragte: »Wie alt bist du, mein Schatz?« Meine eigene Stimme, zart und jung: »Ich bin fünf.« Eine kleine Puppe, die mir jemand gab, und Evdokias Stimme: »Das ist dein Baby. Ist es nicht hübsch? Du musst gut auf dein Baby aufpassen.« Voron, der mir die Puppe wegnahm. »Wir müssen jetzt gehen. Das ist überflüssiges Gewicht. Vergiss nicht, nur das mitzunehmen, was du tragen kannst.«

Meine gesamte Kindheit war eine Lüge. Nicht einmal Vorons Rachegelüste waren real. Sie waren ihm eingepflanzt worden, als meine Mutter ihm mit ihrer Magie das Gehirn zerkocht hatte. Gab es überhaupt irgendetwas Reales in meiner Vergangenheit? An diesem Punkt wäre ich schon mit einer Kleinigkeit zufrieden gewesen.

Wie armselig!

Wie oft hatte ich mich bis zur Erschöpfung verausgabt, um Voron zu gefallen? Wie oft hatte ich getan, was mir gesagt wurde? Die Menschen, die ich getötet hatte, alles, worum ich getrauert hatte, all die Scheiße, die ich hatte durchmachen müssen. Nur damit mein Vater und ich, wenn wir schließlich aufeinandertrafen, uns gegenseitig töteten und Voron als Letzter lachen konnte.

Wut explodierte in mir. Ich wollte sein Grab verwüsten, seine Knochen aus der Erde reißen und schütteln und sie anschreien. Ich wollte wissen, ob es stimmte, ob das alles die Wahrheit war.

»Ich habe dich gewarnt«, sagte Evdokia leise.

»Er ist tot«, erwiderte ich. Meine Stimme war völlig tonlos. »Er ist tot, und ich kann ihm nicht mehr wehtun.«

»Sei nicht so«, murmelte Evdokia. »Er war einfach nur ein Mensch, Katenka. Auf seine Weise war er sehr stolz auf dich.«

»Worauf war er stolz? Auf den Kampfhund, den er aus mir gemacht hat? Zeig mir die Richtung, nimm mir den Maulkorb ab und sieh zu, wie ich alles zerfleische, was mir in die Quere kommt, damit ich mir ein winziges Krümelchen Lob verdiene.«

Evdokia beugte sich vor und nahm meine Hand.

Ich war das biologische Abfallprodukt eines Größenwahnsinnigen und einer Frau, die anderen eine magische Gehirnwäsche verpasste, damit sie taten, was sie von ihnen verlangte. Und ich war von einem Mann aufgezogen worden, der in der Gewissheit schwelgte, dass mein biologischer Vater mich eines Tages töten würde. All die Jahre, mein ganzes Leben, meine Leistungen, alle Gefühle, die ich für ihn hatte, alles, was ich war, hätte Voron gegen die Gelegenheit eingetauscht, Rolands Gesichtsausdruck zu sehen, wenn er mir die Kehle aufschlitzte. Und meine Mutter hatte ihn dazu gemacht.

Ich warf mit Magie um mich, entfacht von meiner Wut.

Die Katze auf dem Verandageländer sträubte ihr Fell und machte einen Buckel. Der Boden unter meinen Füßen zitterte.

»Immer mit der Ruhe«, murmelte Evdokia. »Du machst dem Haus Angst.«

Finde dich damit ab. Komm drüber hinweg. Steck’s einfach weg und denk später noch einmal darüber nach.

Die Magie erfüllte mich und drohte hervorzubrechen. Das Haus wankte. Auf dem Tisch klirrten die Tassen. Evdokia umklammerte meine Hand.

Ich musste hier lebend wegkommen. Wenn ich es jetzt rausließ, würde Evdokia mich bekämpfen, um sich zu retten. Ich brauchte einen klaren Kopf.

Steck’s weg.

Ich konnte es schaffen. Ich war stark genug. Dafür konnte ich mich bei Voron bedanken.

Ich zog die Magie zurück. Den ganzen Zorn, den ganzen Schmerz, ich faltete alles zusammen und verstaute es irgendwo tief drinnen. Es tat weh.

Ich löste meine Hand aus Evdokias Fingern und griff nach meiner Tasse. Lauwarmer Tee benetzte meine Lippen. »Er ist kalt. Würdest du mir bitte nachschenken?«

Evdokia sah mich einen Moment lang an. Genau. Kaum menschlich, du hast es kapiert. Ich hatte eine Chance gehabt, als ich fünf gewesen war. Jetzt war es zu spät.

»Du hast nie darüber gesprochen, was du wegen deines Vaters unternehmen willst«, sagte die Hexe.

»Wie gehabt. Er oder ich. Daran hat sich nichts geändert.«

»Du bist nicht stark genug«, sagte Evdokia. »Noch nicht. Aber ich kann dich stärker machen.«

»Zu welchem Preis?«

Sie stieß einen Seufzer aus. »Kein Preis, Katenka. Du bist eine von uns.«

»Wenn ich eine von euch bin, warum hast du dann bis jetzt gewartet? Warum hast du mir nicht geholfen, als meine Tante mich fast umgebracht hätte?« Wo warst du, als Voron starb und ich nicht wusste, wo ich bleiben sollte?

Evdokia schürzte die Lippen.

Ich fixierte sie mit meinem Blick. »Was willst du von mir?«

Die Magie der Hexe flackerte auf. Sie stellte ihre Tasse ab. »Sienna hat einen Turm über Atlanta vorhergesehen.«

Türme waren Rolands Markenzeichen. »Sienna vom Hexenorakel? Weiß das Orakel, wer ich bin?«

Evdokia nickte. »Ja.«

»Wer sonst noch?« Die Liste der Leute, die ich ermorden musste, wurde immer länger.

»Nur wir.« Evdokia hielt meinem Blick stand. Ihre blauen Augen wurden hart. »Und wir haben es für uns behalten.«

»Warum?«

»Weil wir autonom sind. Niemand sagt uns, was wir tun sollen.«

Ich sah sie lächelnd an. Aber es war kein freundliches Lächeln. Die Katze sprang vom Geländer auf Evdokias Schoß und knurrte mit gesträubtem Fell.

»Ich verstehe. Ihr habt Macht, Status, Respekt. Ihr wisst, dass Roland so oder so kommen wird. Und Roland duldet keine Herrschaft neben seiner. Er hat keine Verbündeten oder Freunde. Er hat Diener.«

Evdokia kniff die Augen leicht zusammen. »Das ist richtig. Ich habe mir meinen Platz in dieser Welt verdient, und zwar mit knochenharter Arbeit. Ich gehe vor niemandem mehr in die Knie, vor keiner Regierung, vor keinem Richter und erst recht nicht vor diesem verfluchten Tyrannen.«

Ich stand auf und lehnte mich gegen einen Verandapfosten. »Ich bin eure beste Hoffnung, wenn ihr verhindern wollt, dass Roland die Macht übernimmt.«

»Ja.«

»Jung, lernbegierig «

Evdokia verschränkte die Arme. »Ja.«

»Leicht zu beeinflussen? Emotional geschwächt? Sind das meine besten Eigenschaften?«

Evdokia warf in verzweifelter Geste die Hände in die Luft.

»Ich wüsste gern vorher, wie meine Chancen stehen. Damit ich später keine Enttäuschung erleben muss.«

»Boginja, pomogi mne s rebjonkom.«

»Ich bezweifle, dass die Göttin dir mit diesem Kind helfen wird. Als ich das letzte Mal einer Göttin begegnet bin, beschloss sie, keine haben zu wollen.«

Evdokia schüttelte den Kopf. »Du bist, was du bist, Kate. Du kannst nicht vor dir selbst davonlaufen. Glaubst du, dein Löwe hätte nicht darüber nachgedacht, wer du bist, bevor er dein Herz erobert hat? In all den Jahren hatte er viele Frauen, aber du bist diejenige, die er zu seiner Partnerin gemacht hat. Du bist für ihn viel mehr als nur eine Bettgenossin, das kann ich dir versichern.«

Autsch. »Lass Curran aus dem Spiel.«

»Der Mann ist kein Dummkopf. Und du bist es auch nicht. Jetzt ist die Zeit, Bündnisse zu schmieden und zu lernen, denn wenn dein Papa hier aufkreuzt, ist es dafür zu spät. Ich biete dir Macht. Wissen. Dinge, die du benötigen wirst. Ich kann dir helfen. Dafür verlange ich nicht einmal eine Gegenleistung.«

Ich würde auf dieses Angebot zurückkommen. Ich würde hierher zurückkehren, mich setzen, Tee trinken und Kekse essen. Ich würde Julie mitbringen und zusehen, wie sie mit dem Katzen-Kaninchen-Enten-Mutantenwesen spielte. Aber nicht jetzt. Noch nicht.

Ich zog das Foto von de Harvens Leiche aus der Tasche und reichte es ihr. Evdokia warf einen Blick darauf, spuckte dann dreimal über ihre linke Schulter und klopfte gegen das Holzgeländer.

»Tschernobogs Wolchw. Grigorii. Das ist sein Werk.«

»Diese Aufnahme wurde in der Werkstatt eines russischen Erfinders gemacht. Sein Name ist Adam Kamen.«

»Ah! Adam Kamenov. Ja, davon habe ich gehört. Kluges Kerlchen, aber ohne gesunden Menschenverstand. Er hat etwas Übles gebaut. Deswegen waren alle älteren Wolchws völlig aus dem Häuschen. Was auch immer es war, sie sagten ihm, dass er es nicht bauen sollte. Ich vermute, dass er es trotzdem getan hat.«

»Er ist spurlos verschwunden.«

»Dann haben sie ihn sich geschnappt«, sagte Evdokia schulterzuckend.

»Die Wolchws haben jemanden geopfert, um ihn zu teleportieren.«

Die alte Hexe zog eine Grimasse. »Das überrascht mich nicht. Es sind Männer. Sie lösen Probleme auf dem direkten Weg. Grigorii brauchte Macht, also nahm er sie sich. Gibt mir einen Zirkel aus dreizehn Hexen, und auch ich hätte ihn teleportieren können, und zwar ohne Blut. Wir würden die Magie in uns kanalisieren, sie aus der Natur durch unsere Körper leiten und auf die Zielperson fokussieren. Grigoriis Methode besteht darin, alles von einem Opfer zu holen. Wir nehmen ein bisschen von jeder Hexe im Kreis, damit sich alle davon erholen können.«

»Ich muss Adam wiederfinden.«

Sie hob ihr Kinn. »Ich werde mich umhören.«

Sie würde nichts tun, was zu einem Konflikt mit den Wolchws führen würde. Sie würde mich unterrichten und mir hin und wieder vielleicht einen Krümel Information zuwerfen, aber sie würde sich niemals an meinen Kämpfen beteiligen. Damit konnte ich gut leben.

Ich ging zur Verandatreppe. »Danke für den Tee.«

»Gern geschehen.«

Das Haus ging in die Hocke, und ich trat auf den Weg. Sobald meine Füße den Boden berührten, fuhr die Veranda wieder in die Höhe.

»Denk darüber nach, was ich gesagt habe, Katenka«, rief Evdokia von oben. »Denk sehr genau darüber nach.«

*

Als ich aus dem Wald trat, stand ein Mann neben meinem Jeep. Er stützte sich auf einen langen unbearbeiteten Holzstab mit verdickter Spitze. Das Ding sah aus, als hätte er vor kurzem einen jungen Baum ausgerissen, wahllos die Äste und Wurzeln abgeschlagen und die Rinde geschält, um sich einen Gehstock daraus zu machen.

Ein schwarzer Umhang reichte von seinen Schultern bis knapp unter die Knie und ließ die Lederstiefel frei. Die weiten Manschetten und der Saum waren mit Silberfäden bestickt. An der Hüfte wurde der Umhang durch einen breiten Ledergürtel zusammengehalten, an dem kleine Flaschen und Zauberwerkzeug an Ketten und Bändern hingen. Eine große Kapuze verbarg sein Gesicht.

Ein Wolchw. Hätte der Stab ihn nicht verraten, hätte man es am Gürtel erkannt. Nach den Stickereien zu urteilen war er kein Leichtgewicht, aber auch keiner der richtig alten Zauberer. Die jüngeren Wolchws konnten sich keine Silberstickereien leisten, und die älteren legten auf so etwas keinen Wert.

»Ich habe ein großes Problem mit Leuten, die Kapuzen tragen«, sagte ich.

»Das ist wirklich schade.« Er hatte eine volle Stimme, tief und selbstsicher. Ja, ein spaßiger und aufregender Sturm aus Magie zog über mir auf. Warum kamen die Technikphasen nie dann, wenn ich sie gerade gebrauchen konnte?

Der Wolchw schlug die Kapuze zurück. Große Augen, dunkel wie geschmolzener Teer und von buschigen schwarzen Brauen eingerahmt, blickten mich mit ironischer Belustigung an. Sein Züge waren klar geschnitten: hohe Wangenknochen, kräftiges maskulines Kinn und eine Adlernase, die noch stärker zur Geltung kam, weil das Haar auf beiden Seiten des Kopfes bis über die Ohren abrasiert war. Der Rest seines pechschwarzen Haars fiel ihm wie eine Pferdemähne auf den Rücken. Sein Schnurrbart war ebenfalls schwarz. Außerdem trug er einen sorgfältig gestutzten Kinnbart, der links und rechts vom Mund den Schnurrbart berührte. Seine vollen Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln.

Die Gesamtwirkung seiner Erscheinung war eindeutig schurkisch. Fehlten nur noch ein schwarzes Pferd und eine Horde Barbaren, die er in den Kampf führen konnte. Oder eine Bande von Halsabschneidern, ein Schiff mit blutroten Segeln und irgendeine schwachköpfige Heldin, der er nachstellen konnte. Er würde wunderbar als böser Piratenkapitän in die romantischen Abenteuerromane passen, die Andrea ständig las. Wenn er anfing, sich den Bart zu streichen, würde ich ihn schon aus Prinzip töten müssen.

»Grigorii?« Wahrscheinlich nicht.

»Grigorii gibt sich nicht mit deinesgleichen ab.«

Wie ich erwartet hatte. »Hör mal, ich hatte heute einen ziemlich schlechten Tag. Wie wär’s, wenn du einfach von meinem Jeep weggehst?«

Der Wolchw lächelte noch breiter und ließ die gleichmäßigen weißen Zähne aufblitzen. »Du warst bei der Hexe. Was hat sie dir erzählt?«

»Sie sagte, deine Garderobe ist so was von aus der Mode.«

»Ach, wirklich?« Er legte die Finger an den Kinnbart.

Es reichte! »Ja. Und dann noch dieser Bart und die Pferdemähne! Du siehst aus wie ein drittklassiger Schurke.«

Der Wolchw riss die Augen auf. Er deutete mit einer Hand auf mich. »Nun du siehst nicht besonders weiblich aus mit deinen Hosen.«

»Das ist eine furchtbar schreckliche Beleidigung! Hast du sie dir selber ausgedacht, oder musstest du vorher deinen Gott um Rat fragen?«

Der Wolchw zeigte auf mich. »Jetzt wirst du blasphemisch. Das ist nicht nett. Sag mir, was die Hexe gesagt hat, ja? Na komm schon, du willst es mir doch unbedingt sagen.« Er zwinkerte mir zu. »Na los, lass es raus. Wenn du es mir sagst, werde ich dich nicht auf der Stelle töten, und alle sind zufrieden.«

Ich zog Slayer aus der Rückenscheide.

Der Wolchw blinzelte. »Nein? Du willst es mir nicht sagen?«

»Tritt von meinem Fahrzeug zurück.«

»Ich wollte es nicht tun, aber wenn du meinst « Er hob seinen Stab und schlug damit auf den Boden. Die Verdickung am oberen Ende zerfloss und gestaltete sich um. Ein gefährlicher Schnabel schob sich aus dem Holz, gefolgt von wilden runden Augen.

»Die Waffe ist entsichert«, sagte der Wolchw. »Deine letzte Chance, mir zu verraten, was die Hexe gesagt hat.«

Ich stellte mir vor, wie ich angriff, Slayer schlagbereit erhoben. Doch dann brach mit einem trockenen Knacken mein Knie, mein Bein knickte ein, und ich rollte auf den Asphalt. Im letzten Moment würde ich noch das Ende des Wolchw-Stabes sehen, wie er meine Brust durchbohrte. Großartig! Keine Rennerei. Doolittle hatte ein medizinisches Wunder vollbracht, und das Knie schmerzte nicht mehr, aber ich wollte kein Risiko eingehen. Ich musste mein Bein für den Nahkampf schonen. Ich würde mich auf meine Magie verlassen müssen, bis ich in Reichweite war. Und wenn ich ihn tatsächlich töten konnte, würden sich die Wolchws scharenweise vor meiner Türschwelle versammeln. Sie würden sich darum drängen, mich zu massakrieren. Ich hätte einen Krieg zwischen den Wolchws und dem Rudel vom Zaun gebrochen und gleichzeitig Adam Kamen getötet. Du meine Güte!

Ich marschierte auf den Wolchw zu und vermittelte so viel Bedrohlichkeit, wie ich aufzubringen imstande war. Vielleicht geriet er in Panik und sank mit flehend erhobenen Händen auf die Knie.

Wohl kaum.

Der Wolchw beobachtete mich. »Beeil dich. Gib dir wenigstens ein bisschen Mühe.«

»Für deinesgleichen? Warum sollte ich?«

Der Wolchw wirbelte einmal herum, und sein Stab sauste durch die Luft. Der hölzerne Schnabel öffnete sich knarrend und rülpste einen Schwarm winziger schwarzer Fliegen aus. Wahrscheinlich giftig. Großartig! Dieser Kampf war bereits entschieden.

Ich riss einen Beutel mit Rosmarinpulver vom Gürtel und zog ihn auf, während ich eine Zauberformel murmelte.

Der Schwarm schoss auf mich zu.

Ich warf das Pulver in die Luft. Er wurde von meiner Magie ergriffen und hing bewegungslos da, wie eine gefrorene Wolke. Der Schwarm drang hindurch. Eine halbe Sekunde lang geschah gar nichts, dann regneten die Fliegen und das Rosmarinpulver zu Boden.

Mir stand der Schweiß auf der Stirn. Dazu war eine Menge Magie nötig gewesen. Ich ging weiter.

Der Wolchw steckte den Stab in den Boden und ließ ihn los. Er blieb aufrecht stehen. Er nahm einen Zauberzweig von seinem Gürtel, zerbrach ihn und warf die eine Hälfte auf die Straße, während er die andere in der Faust zurückbehielt. Der Zweig explodierte zu dichtem schwarzem Rauch und fügte sich zu einem Hund in der Größe einer Bulldogge zusammen. Rauchfäden kräuselten sich an seinem zobelbraunen Fell entlang. Weiße Augen starrten mich an, wie zwei Sterne, die aus einer Gewitterwolke lugten.

Ich sandte Magie in mein Schwert. Die Klinge schimmerte leicht und sonderte zischend feinen Rauch ab.

Der Wolchw hob die Augenbrauen. Er knurrte ein einziges Wort. Der Hund riss das Maul auf und entblößte leuchtende Fangzähne. Dann griff das Rauchmonster an.

Es kam auf mich zu. Die schweren Tatzen schlugen auf den Asphalt. Ich trat ihm in den Weg und holte mit dem Schwert aus. Slayers Klinge schnitt durch den Hals des Hundes. Kein Widerstand. Mist!

Der Rauch entlang des Schnitts wirbelte und versiegelte ihn. Der Hund schnappte nach meinem linken Bein, aber ich war bereits in Bewegung. Die leuchtenden Zähne streiften meine Jeans nur leicht knapp über dem Knie. Eine dünne Linie aus Schmerz schnitt wie ein heißer Draht durch meinen Schenkel. Feuchte Wärme tränkte meine Haut Blut. Ich fuhr herum und stieß Slayers Klinge in das glühende Auge des Hundes. Das magische Schwert glitt zur Hälfte hinein. Nichts. Ich zog es zurück und tänzelte zur Seite, als die Zähne des Hundes eine Haaresbreite von meinem Arm entfernt zusammenschlugen.

Hätte ich doch nur einen Fächer bei mir gehabt! Wenn ich stark genug damit herumwedelte, löste sich der Spuk vielleicht auf.

Auf meinem linken Hosenbein bildete sich ein heißer dunkler Fleck. Ich blutete wie ein abgestochenes Schwein.

Der Wolchw bewegte seine Faust. Der Hund wich zurück und bleckte die Zähne. Der Wolchw dirigierte ihn wie eine Marionette mit der anderen Hälfte des Zweiges in seiner Hand.

»Willst du jetzt reden?«, fragte er.

»Vergiss es!«

Der Wolchw stieß die Faust von sich, und der Hund stürmte auf mich zu. Die Pfoten hinterließen kleine Rauchwirbel auf dem Asphalt.

Ich legte meine Hand auf die Beinverletzung. Sie war mit klebrigem Rot besudelt. Die Magie meines Blutes kribbelte auf meiner Haut.

Mir blieb nur ein Sekundenbruchteil, um es durchzuziehen.

Der Hund sprang. Ich wich nach rechts aus und stieß meine Hand tief in die Rauchwirbel seiner Flanke. Magie löste sich pulsierend von meiner Hand und verwandelte mein Blut in zahlreiche scharfe Nadeln. Sie schlitzten den Körper des Hundes auf. Auf der anderen Straßenseite schrie der Wolchw und hielt sich mit der anderen Hand die Faust. Der Zweig entglitt seinen Fingern. Der Rauch zog sich zusammen und konzentrierte sich schließlich zu einem kleinen Zweig, der auf dem Boden lag. Ich trat darauf und zerbrach ihn in winzige Stücke.

Die Stacheln schrumpften zu schwarzem Staub und fielen mir von den Fingern. Meine Hand fühlte sich an, als hätte ich sie in kochendes Wasser gesteckt.

»Scheiße, das tut weh!« Der Wolchw zeigte mir die gebleckten Zähne.

Etwas mehr als fünf Meter trennten uns. Ich rannte los.

Er schwenkte seinen Stab und skandierte Zaubersprüche.

Drei Meter. Ich drehte Slayer herum.

Zwei.

Der Wolchw zielte mit dem Stab auf meine linke Seite. Ich blockierte den Hieb mit dem Schwert, packte mit meiner Linken sein rechtes Handgelenk. Ich drückte den Stab weg und schlug mit der flachen Klinge gegen seine rechte Seite. Rippen knackten. Der nächste Hieb traf seinen rechten Arm, wieder mit der flachen Klinge. Der Wolchw ließ den Stab fallen. Ich ließ Slayer los, ging in die Hocke, legte die Arme an und richtete mich wieder auf. Gleichzeitig riss ich die Fäuste hoch und rammte sie in die weiche Unterseite seines Kinns. Sein Kopf wurde zurückgeworfen. Dann verpasste ich ihm einen Schlag in den Solarplexus. Mit einem schmerzhaften Keuchen entwich sämtliche Luft aus seinen Lungen. Der Wolchw klappte zusammen, und ich packte seinen linken Arm. Ich stieß ihn nach vorn und holte mit dem rechten Arm weit aus, um ihm meine geballte Faust ins Genick zu rammen. Der Wolchw verdrehte die Augen und ging zu Boden.

Ich sprang tänzelnd zurück und blieb bereit, falls er beschließen sollte, sich noch einmal zu erheben.

Der Wolchw lag reglos da. Sein Stab schnappte nach mir, ohne mich jedoch zu erreichen.

Es war vorbei. Ich hatte immer noch eine Menge Wut in mir, die ich gern rausgelassen hätte, aber es war vorbei. Verdammt!

Ich hörte auf zu tänzeln und fühlte seinen Puls. Er lebte. Er schlief wie ein Baby, nur dass Babys normalerweise nicht unter furchtbaren Schmerzen aufwachten.

Ich wischte Slayer am Asphalt ab. »Tut mir leid.«

Falls das Schwert beleidigt war, weil ich es als Schlagstock missbraucht hatte, verzichtete es auf eine entsprechende Bemerkung.

Die Magie verließ die Welt. Das Monstrum am Stab des Wolchw verwandelte sich in gewöhnliches Holz zurück.

Ich hob die Arme und starrte in den Himmel. »Ist das dein Ernst? Ausgerechnet jetzt? Wäre es wirklich so schlimm gewesen, wenn du dich nur fünfzehn Minuten früher zurückgezogen hättest?«

Das Universum machte sich mit einem leisen Kichern über mich lustig.

Ich seufzte und ging zum Jeep, um den Erste-Hilfe-Koffer, einen Strick und Benzin zu holen. Die ganze Straße war voll mit meinem Blut und buchstabierte meinen Namen in leuchtender Neonschrift, sodass jeder ihn lesen konnte, der zufällig einen Blick in diese Richtung warf. Ich musste es ganz schnell mit Feuer auslöschen.