Kapitel 18
Ich wachte auf unserer Couch auf. Mir tat der ganze Körper weh, bis tief in die Knochen. Schmerz war gut. Schmerz bedeutete, dass ich noch lebte und meine Wunden heilten.
Curran lehnte sich gegen den Fenstersims. Er war eine dunkle Silhouette vor dem Himmel, den der Sonnenaufgang oder -untergang blutrot tränkte. Die Sonne stand im Osten. Also war es Morgen. Ich hatte mehrere Stunden lang geschlafen.
Auf Currans breitem Rücken spannten sich Muskeln. Er wusste, dass ich aufgewacht war.
Ganz gleich, wo ich war oder in welchen Schwierigkeiten ich steckte, er würde kommen und mich herausholen. Er würde die Stadt in Trümmer legen, um mich zu finden. Ich musste gar nicht allein losziehen.
Mehrere Stockwerke tiefer schlief Julie, während ihr Körper daran arbeitete, sie zu hintergehen. Meine Julie. Mein armes Kindchen. Manche Leute erwachten aus ihren Albträumen. Ich war in einem erwacht.
»Irgendwas Neues?«
»Sie schläft immer noch«, sagte Curran.
»Doolittle hat mich betäubt, der alte Drecksack.«
Er drehte sich um. »Nein. Er hat deine Wunden beschworen, sich zu schließen, und darüber bist du eingeschlafen. Ich habe dich heraufgetragen. Tut es jetzt weniger weh?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Woher weißt du, dass es überhaupt wehgetan hat?«
»Du hast den Atem angehalten, wenn du gelaufen bist.«
»Vielleicht war ich einfach nur sauer.«
»Nein.« Er kam auf mich zu. »Ich weiß, wie du bist, wenn du dich ärgerst. Ich sehe es an deiner Körperhaltung und an deinem Blick.«
Er achtete auf meine Körperhaltung. Was sollte ich damit anfangen? »Und Grendel?«
»Er ist in Doolittles Klinik. Nichts Ernsthaftes. Ein paar Abschürfungen und ein Holzsplitter in einer Pfote. Andrea ist in die Festung zurückgekehrt. Sie sagt, sie waren essen. Irgendwann ist er ohne Vorwarnung abgehauen. Er ist durch ein Fenster des Restaurants gesprungen.«
Blöder Pudel. Woher hatte er überhaupt gewusst, dass wir in Schwierigkeiten waren?
Muskeln spielten an Currans Kinn. »Ich ärgere mich, dass wir Leslie nicht gefunden haben. Wir sind ihrer Fährte durch die ganze Stadt gefolgt. In Palmetto war ihre Duftspur weniger als drei Stunden alt. Wenn wir sie gefasst hätten, wäre das alles nicht passiert. Man kann nicht jeden retten. Damit habe ich mich abgefunden. Aber Julie hätten wir retten müssen …«
»Ich liebe dich«, sagte ich zu ihm.
Curran hielt inne und kam zu mir. Ich küsste ihn und ließ mich in seine Arme gleiten. »Ich kann gar nichts sagen«, flüsterte ich. Meine Wangen waren feucht. Mir war klar, dass ich weinte. Meine Stimme zitterte nicht, aber es kamen immer mehr Tränen. Ich hatte meine Mutter und meinen Stiefvater verloren und würde innerhalb von zwei Tagen auch mein Kind verlieren. Es wurde Zeit, die Rechnungen zu begleichen.
Curran küsste mich, seine Lippen versiegelten meine. Seine Zunge glitt in meinen Mund, sein Geschmack war so vertraut, so willkommen. Ich packte seine Schultern, zog ihn näher heran, zog ihm das Hemd aus. Er schlug das Laken zur Seite und löste sich für einen kurzen Moment von mir, um mir das Muskel-Shirt auszuziehen. Ich küsste seinen Mund, strich mit den Fingern durch sein kurzes Haar und sehnte mich nach seiner Stärke. Seine Hände glitten über meine Brüste, die raue Haut kratzte an meinen Warzen. Er hob mich an und setzte mich auf die Knie. Dann leckte er an meiner linken Brust, und die Hitze seines Mundes schoss durch all den Schmerz, der in mir tobte. Ich ließ alles los und verlor mich in ihm, küsste, leckte, streichelte ihn, wollte eins mit ihm sein.
Er erhob sich über mir, ich legte die Beine um ihn, und als er in mich hineinstieß, trat die Welt einen Schritt zurück. Es gab nur noch ihn und mich. Wir verfielen in einen schwingenden, harten Rhythmus, wurden immer schneller, und jeder Stoß trieb mich höher empor, bis sich seine Hitze schließlich in mir entlud und mich in einer Kaskade der Lust ertränkte. Erzitternd entleerte er sich. So verharrten wir einen langen Moment, bis er sich herumdrehte und mich auf sich zog. Dann lagen wir zusammengerollt aneinander, während sich draußen vor dem Fenster der Tag entfaltete.
Ich weigerte mich, Julie aufzugeben. Es musste eine Möglichkeit geben, etwas für sie zu tun. Sie war noch kein Loup, verdammt. Es musste eine Möglichkeit geben.
»Wir werden sie töten«, sagte Curran. In seiner Stimme schwang so viel Aggression mit, dass ich mich fast erschrocken hätte. »Wir werden sie auslöschen.«
Ja. »In einem Jahr wird sich niemand mehr daran erinnern, dass sie überhaupt existiert haben.« Wenn wir mit ihnen fertig waren, würde es keine Leuchtturmwärter mehr geben. Damit würde ich meinem Kind nicht helfen. Aber vielleicht blieben dann andere Julies verschont.
Es klopfte laut an der Tür.
»Was?«, knurrte Curran.
»Jim ist hier, Mylord«, sagte Barabas.
Ich erhob mich vom Kissen.
»Sag ihm, dass er warten soll«, erwiderte Curran. Er sah mich an. Graue Augen blickten in meine. »Ich liebe dich auch.«
Vielleicht tat er es wirklich. »Versprich mir, dass niemand Julie anrührt, bis wir wieder zurück sind.«
In Currans Augen leuchtete Gold auf und erlosch wieder. »Wer überleben will, sollte sich daran halten.«
»Auch kein Alpha irgendeines Clans.« Ich wusste nicht, wie dunkel es in Jennifers Kopf war.
»Auch kein Alpha. Julie ist sediert und auf ihrer Liege festgeschnallt. Der Zutritt zu ihrem Zimmer ist beschränkt, und Derek ist bei ihr. Er macht sich Vorwürfe, weil er Ascanio verprügelt hat. Wenn es nicht dazu gekommen wäre, hätte der Bouda-Junge vielleicht einen besseren Kampf geliefert. Jennifer hat nicht die geringste Chance, an ihm vorbeizukommen. Außerdem würde sie es gar nicht versuchen. So ist sie nicht gestrickt.«
Er hob seine Jogginghose vom Boden auf.
Ich zog meine Sachen an. »Ascanio hätte nicht allzu viel ausrichten können. Leslie war ein ausgebildeter Render. Du hättest sie töten können. Oder B. Oder Mahon. Vielleicht Jezebel. Jim …«
»Oder Kate«, sagte Curran. »Und nun weiß es die gesamte Festung.«
Ich hielt inne, einen Stiefel in der Hand. Er war tatsächlich stolz auf mich. Ich hörte es an seinem Tonfall. Oh, Mann!
Er sah mich mit einem Lächeln an wie die Katze, die den Kanarienvogel gefressen hatte.
»Wo habe ich meinen zweiten Stiefel hingetan?«
»Du hältst ihn in der Hand.«
»Ach so.« Ich setzte mich auf die Couch und zog ihn an.
Curran streifte sich sein T-Shirt über und ging zur Tür. Ich folgte ihm. Curran öffnete die Tür. Draußen wartete Jim. Er trug wieder seinen Umhang. Andrea stand neben ihm. Ihre rechte Gesichtshälfte war schwarz und blau, als hätte man ihr einen Schlag mit einem Hammer verpasst. Sie machte den Eindruck, als wäre sie bereit, etwas zu töten.
Jims Miene war grimmig. »Die Wärter haben die Apparatur in Palmetto aktiviert.«
»Wann?«, knurrte Curran.
»Vor einer halben Stunde.«
Curran fluchte.
*
Der Jeep hüpfte über eine Metallplatte in der Straße, flog ein Stück durch die Luft und setzte krachend wieder auf. Jim fuhr so, wie er alles machte – sehr waghalsig, aber niemals unkontrolliert.
Auf dem Vordersitz kurbelte Curran das Seitenfenster herunter und beugte sich hinaus, um das verschmutzte Straßenschild besser lesen zu können. »Noch drei Meilen.« Er schloss das Fenster wieder, damit der Lärm des beschworenen Motors uns nicht taub machte.
Der Roosevelt Highway zog an uns vorbei. Die Bäume waren ein lang gezogener grünlicher Schmierfleck. Neben mir saß Andrea mit ihrer Armbrust. Wir hatten keine Gelegenheit gehabt, miteinander zu reden, aber das mussten wir auch gar nicht. Wir brauchten nur ein Ziel.
»Die Wärter haben die Maschine irgendwann in der Nacht hergeschafft«, sagte Jim. »Diese Woche ist Frühlingsmarkt in der Stadt. Das ist eine wichtige Einnahmequelle für Palmetto. Während der Woche fällt die Schule aus, und alle Gottesdienste werden wegen des Marktes auf acht Uhr verlegt. Die Wärter haben das Ding mitten auf einer geschäftigen Straße aufgebaut und sich dann aus dem Staub gemacht. Auf dem Markt wird jede Menge magischer Krempel angeboten. Niemand hat sich über Kamens Apparat gewundert.«
Die Leute in Palmetto waren an der tickenden Zeitbombe vorbeispaziert und hatten zugesehen, wie sie sich auflud. Dann hatte sie sich aktiviert und sie getötet.
»Warum haben sie nicht während des Marktes zugeschlagen?«, fragte Andrea.
»Weil es genügend Zeugen geben soll«, sagte Jim. »Viele Leute werden zum Markt kommen, die tote Stadt sehen und wieder nach Hause eilen, um Panik zu verbreiten.«
»Also ist es jetzt vorbei?«, fragte ich.
»Ja«, sagte Jim. »Gestern haben unsere Leute die Stadt durchkämmt und nach Leslie gesucht. Heute früh schickte ich jemanden von der Festung zu ihnen, um sie über die Wärter zu informieren und ihnen zu sagen, dass sie sich zurückziehen sollen. Sie waren auf der Straße nach Atlanta, als sie das Licht bemerkten. Aus sicherer Entfernung beobachteten sie, wie ein weißer Schein über der Stadt hing, eine Weile wie ein Polarlicht strahlte und dann wieder verschwand. Das Ganze dauerte etwa zehn Minuten.«
Links von uns brachen vier Hyänen, zwei Wölfe, vier Schakale und ein Wermungo aus dem Unterholz hervor und folgten dem Jeep. Barabas, Jezebel und andere. Der gesamte Bouda-Clan heulte blutrünstig.
»Unser Informant sagt, dass sich der Apparat nicht mit einem Wassermotorfahrzeug befördern lässt«, überschrie Jim den Krach des Motors.
Gute Idee, Saiman nicht namentlich zu erwähnen.
»Angeblich löscht er die Zauberkraft des Wassers aus. Und man kann ihn nicht tragen, weil er zu schwer ist. Sie müssen das Ding mit Pferd und Wagen transportieren. Es gibt vier Straßen, die aus Palmetto herausführen. Früher waren es fünf, aber die Tommy Lee Cook Road ist gesperrt. Darin klafft ein Riss von einer Meile Breite. Ich habe Leute auf jeder Straße postiert. Die Maschine saugt die Magie in einem kreisförmigen Bereich ab, vom Rand zur Mitte. Der Rand der Zone ist deutlich sichtbar. Sie kommen da nicht raus.«
»Können wir die Zone nach der Aktivierung betreten?«, fragte Andrea.
»Unser Informant sagte, er sei durch die tote Zone gelaufen, die der erste Prototyp hinterlassen hat«, antwortete ich. »Es scheint ihn nicht beeinträchtigt zu haben.«
Zwischen den Bäumen ragte eine alte Reklametafel auf und warb für irgendeine Waffenmesse.
Jim trat auf die Bremse und riss das Lenkrad herum. Der Motor stotterte und erstarb. Die Reifen des Jeeps quietschten, und das Fahrzeug scherte nach links aus, bis es zum Stehen kam. Vierzehn Leichen lagen auf der Straße. Männer, Frauen, Kinder, alle in gepflegter Kleidung. Auf der rechten Seite eine Kirche mit offenen Türen. Ein Priester lag auf der Treppe und hatte noch seine Bibel in der Hand. Auf der anderen Straßenseite warteten Autos auf einem großen Platz auf ihre Eigentümer, die nicht mehr kommen würden. Pferde schnaubten und schlugen mit den Schwänzen nach lästigen Fliegen.
»Großer Gott«, flüsterte Andrea.
Offenbar waren es Siebenten-Tags-Baptisten, die sich zu ihrem Gottesdienst am Samstagmorgen getroffen hatten. Ganze Familien. Adam Kamen hatte recht. Wenn man genug Magie hatte, war es ein tödlicher Schock, sie schlagartig zu verlieren.
Warum? Warum in aller Welt taten die Wärter so etwas? Was zum Teufel hofften sie damit zu erreichen?
Ein nackter Mann kam hinter der Kirche hervor und rannte genau auf uns zu. Kurzes braunes Haar, schlanker Körperbau … Carlos, einer der Rattenscouts. Er hielt neben uns an und beugte sich vornüber, um Luft zu schnappen. »Kommt nicht in Halbgestalt rein. Man wird entweder menschlich oder tierisch. Und schwächer.«
Carlos spannte sich an. Auf seinem Rücken wuchs Fell, während sich Knochen verschoben. Kurz darauf stand eine Werratte vor uns. Carlos öffnete die lange Schnauze. »Gott schei Dank! Hab mir schon Schorgen gemacht.«
Fernes Wolfsgeheul hallte durch die Luft.
»Nach Süden.« Curran zog sich aus. Seine Haut spaltete sich. Muskeln wölbten sich, Fell wuchs, mit dunklen Streifen wie Peitschenstriemen, auf seinem Körper, dann ließ er sich auf alle viere nieder. Jim warf sein Hemd ab, und ein Jaguar in Kriegergestalt kauerte neben Curran.
Der monströse Löwenkopf öffnete die Kiefer, und Currans Stimme kam in perfekter Artikulation heraus. »Wir werden querfeldein laufen, am Rand der Zone entlang.«
»Ich nehme den Wagen.«
Jim warf mir die Schlüssel zu, und ich fing sie in der Luft auf.
»Zerstört die Maschine nicht«, sagte ich. »Wenn ihr sie beschädigt, explodiert sie. Dann lernen wir alle fliegen.«
Curran knurrte. »Bis später, mein Schnuckelchen.«
Schnuckelchen! Arschloch. »Gute Jagd, mein Hase.«
Ich sprang auf den Fahrersitz. Andrea zog ein Gewehr unter dem Beifahrersitz hervor und setzte sich neben mich.
Curran rannte los und ließ sich von seinen mächtigen Muskeln über das Land tragen. Die Gestaltwandler folgten ihm wie eine lautlose Flutwelle. Ich drehte den Schlüssel, und der Benzinmotor erwachte schnurrend zum Leben. Keine Magie. Genau.
Ich umfuhr die Leichen in weitem Bogen und trat dann aufs Gas. Das Fahrzeug machte einen Satz und gewann Tempo.
»Mann!« Andrea rieb sich das Gesicht. »Es ist, als hätte man mir eine Plastiktüte über den Kopf gezogen. Ich kann nicht mehr richtig hören. Und ich kann gar nichts mehr riechen.«
»Was ist mit deinem Gesicht passiert?«
»Ich wollte gehen«, stieß Andrea zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Ich sah sie verständnislos an.
»Tante B. musste unbedingt dieses Gespräch mit mir führen. Sie konnte es gar nicht abwarten. Es musste sofort passieren, damit sie mir in aller Ausführlichkeit erklären konnte, wie ich zu einem ihrer Mädchen werden sollte. Ich hätte nicht gehen sollen, aber ich wollte vor den Kindern keinen Streit anfangen. Wir saßen im Mona’s und aßen Kuchen, während der Render die Kids zerfleischte, damit sie ihr Ego befriedigen konnte. Das habe ich ihr gesagt. Weißt du, was sie erwidert hat? Sie sagte, es sei meine Schuld, denn wenn ich wie eine gute kleine Bouda zu ihr gekommen wäre, als sie mich zum ersten Mal dazu aufforderte, hätte es diese Probleme niemals gegeben. Also habe ich sie geschlagen.«
»Was?«
»Als wir die Festung erreichten und ich von Julie hörte, ging ich zu Tante B. und verpasste ihr eine Ohrfeige. Vor allen anderen.«
Heiliger Strohsack! »Hast du den Verstand verloren?«
»Du hättest ihr Gesicht sehen sollen. Allein dafür hat es sich gelohnt.« Andrea warf mir einen trotzigen Seitenblick zu. »Dann rastete sie völlig aus. Das alte Miststück revanchierte sich mit einem Rückhandschlag. Daran kann ich mich gar nicht richtig erinnern. Ich weiß nur noch, wie ich die Stufen hinuntergerollt bin. Ich vermute, sie hat mich vom Treppenabsatz gefegt. Sie ist verdammt kräftig.« In Andreas Augen blitzte ein wahnsinniges Schimmern auf. »Ich würde es jederzeit wieder tun. Ich werde es zu meiner Lebensaufgabe machen, sie fertigzumachen.«
Und da hieß es immer, ich sei verrückt.
Andrea hob eine Hand. »Dies ist die Hand, die Tante B. geschlagen hat.«
»Vielleicht solltest du sie dir vergolden lassen.«
»Hier, du darfst sie berühren, weil du meine beste Freundin bist.«
»Gibt es überhaupt noch eine Verbindung zwischen deiner Hand und deinem Gehirn? Willst du sie immer wieder angreifen, bis sie dich tötet?«
Andrea zuckte mit den Schultern. »Es könnte ja sein, dass ich sie töte.«
»Um die Führung des Bouda-Clans zu übernehmen?«
Sie blinzelte. »Nein.«
»Und was glaubst du, wie Raphael darauf reagieren würde? Ich weiß, dass du ihn immer noch liebst. Meinst du, er wäre glücklich, wenn seine Mutter tot ist?«
Andrea entließ einen lang gezogenen Seufzer. »Hör mal, Raphael und ich …«
»Dein Plan hat so große Löcher, dass ein Laster durchfahren könnte.«
»Nein, du musst …«
Als die Straße uns ins Stadtzentrum führte, wichen die Bäume unvermittelt zurück. Die Worte erstarben auf Andreas Lippen.
Leichen lagen auf den Straßen. Arbeiter. Mütter mit ihren Kindern. Eine Gruppe Männer mit Armbrüsten, die wahrscheinlich nur auf der Durchreise gewesen waren. Eine Polizistin, eine kleine Blondine mit blitzblanker Uniform, lag mit dem Gesicht auf dem Asphalt, zwei Schritte von ihrem Polizeipferd entfernt.
Oh Gott! Wir kurvten durch diese Szenerie des Todes wie auf einer Besichtungstour durch Armageddon.
Rechts von uns wankte ein Mann über die Straße. Sein Gesicht zeigte einen verlorenen Ausdruck. Wahrscheinlich versuchte er, irgendwie mit dem Ende seiner Welt klarzukommen. In der Ferne schrie mit dünner und unsicherer Stimme ein Kind.
Das hier war nicht nur schlimm. Es war nicht nur kriminell oder grausam. Es war so unmenschlich, dass mein Verstand Schwierigkeiten hatte, es zu erfassen. Ich hatte schon Tod und Massenmord gesehen. Ich hatte miterlebt, wie Menschen aus reiner Mordlust abgeschlachtet worden waren, aber hinter alldem steckte keinerlei Emotion. Nur kalte, klinische Berechnung.
Wieder drang Geheul durch die Stille. Diesmal war es näher und kam aus dem Osten. Andrea hob die Karte, die in ihrem Schoß lag. »Vermutlich nehmen sie die Fayetteville Road. Bieg an der nächsten Kreuzung links ab. In die Church Street.«
Ich nahm die Kurve mit quietschenden Reifen. Vor uns versperrte eine zerbröckelnde Straßenüberführung den Weg. Ich lenkte den Jeep auf den Seitenstreifen und auf den bewachsenen Hügel, während ich betete, dass die Reifen nicht platzten. Auf der anderen Seite rollte das Fahrzeug bergab, die Federung der Sitze knarrte, und schließlich landeten wir wieder auf der Straße. Ich trat aufs Gaspedal. Der Jeep gewann Tempo.
Rechts von uns tauchte eine Vorstadtsiedlung auf. Ich starrte geradeaus. Ich hatte bereits genug Tote gesehen. Jetzt wollte ich selber für ein paar weitere Tote sorgen.
Die Straße machte eine Biegung nach links und schnitt durch ein dichtes Waldstück. Ich nahm die Kurve. Dann lag etwas Großes, Schwarzes auf der Straße.
»Pass auf!«, schrie Andrea.
Ich wich aus und bemerkte aus den Augenwinkeln einen riesigen pferdeähnlichen Körper. Ein wahnsinniges gelbes Auge starrte stumpf ins Nichts. Der Kopf wurde von einem einzigen spitzen Horn gekrönt.
Dann war der Wald zu Ende, als würde plötzlich ein grüner Vorhang zur Seite gerissen. Vor uns führte die Straße geradeaus weiter, bis sie in der Ferne erneut in einen Wald eintauchte. Links von uns erhoben sich zwei gewaltige Giebelhäuser mit Blechdach, unter denen die Stände eines Flohmarkts aufgebaut waren. Die Stände waren verlassen. Die meisten Händler waren geflüchtet. Die wenigen, die noch da waren, lagen mit matten, leblosen Augen im Dreck.
Aus dem Wald in der Ferne tauchte eine Reitergruppe auf. Sie trieben ihre Pferde zu einem schnellen Galopp an. Hinter ihnen wurde ein Wagen von zwei Braunen gezogen. Mindestens zehn Personen. Der Wald zu beiden Seiten der Straße war zu dicht für den Wagen. Sie entfernten sich von der Magie und kamen auf uns zu, zurück in die tote Zone.
Ich scherte mit dem Jeep seitlich aus und blockierte die Straße. Andrea nahm das nächststehende Giebelhaus in Augenschein. Dort hätte sie einen guten Aussichtspunkt. Aber sobald sie das Feuer eröffnete, würden sie umkehren. Wir mussten verhindern, dass der Wagen weiterfuhr.
Ich hielt ihr meine offene Handfläche hin. »Gib mir eine Granate.«
Andrea öffnete ihren Rucksack und legte mir eine Granate in die Hand. »Warte, bis sie anfangen, auf den Jeep zu schießen. Zuerst kommt der Knall, dann fliegen die Splitter durch die Gegend. Zähl bis zehn, bevor du hineinrennst. Und spreng die Maschine nicht in die Luft.«
»Ja, Mutter, das ist nicht mein erstes Mal.«
»Das ist der Dank dafür, dass ich mich bemühe, dich am Leben zu erhalten, Euer Hoheit.«
Ich verließ den Jeep und kämpfte mich durch das Unterholz rechts von der Straße. Andrea sprang zwei Meter hoch, bekam den Rand des Blechdachs zu fassen und zog sich hinauf.
Zweige und Äste peitschten mich. Ich lief leichtfüßig weiter. Wenn Curran hier gewesen wäre, hätte er mich zusammengestaucht, weil ich mehr Krach machte als ein betrunkenes Flusspferd im Porzellanladen, aber wegen des Hufgetrappels würden die Reiter mich sowieso nicht hören. Vor mir wurde der Boden ebener, und das Unterholz aus krausen Kiefern war dicht genug, um mir gute Deckung zu bieten, gleichzeitig dünn genug, um sich zügig durchzuschlagen. Ich hatte mich etwa hundert Meter vom Jeep entfernt. Weit genug. Ich ging in die Hocke.
Der Anführer der Reiter zog an mir vorbei und hielt etwa zehn Meter weiter an. Die übrigen Reiter stellten sich gestaffelt in zwei Reihen entlang der Straße auf, um weniger Zielfläche zu bieten. Der Wagen kam knarrend genau auf meiner Höhe zum Stehen. Mitten auf der Ladefläche erhob sich etwas, das mit einer großen Plane abgedeckt und mit Stricken gesichert war. Holzwände schützten die Apparatur von hinten und von vorn. Perfekt.
»Miss Cray«, sagte der Anführer. »Bitte entfernen Sie das Hindernis.«
Eine Frau kam auf ihrem Pferd nach vorn. »Sir?«
»Reiten Sie zum Fahrzeug, stellen Sie den Hebel auf N und schieben Sie es von der Straße. Burgess, Sie begleiten Miss Cray. Santos, Sie geben den beiden Deckung. Wenn ihnen etwas verdächtig vorkommt, schießen Sie.«
Die drei Reiter machten sich auf den Weg zum Jeep, zwei voraus, einer hinter ihnen, mit schussbereitem Gewehr. Ich wartete, bis sie die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatten, dann zog ich den Sicherungsstift und warf die Granate hinter den Wagen. Das Ding schlug vielleicht sechzig Meter vom Wagen entfernt auf den Asphalt. Weit genug. Köpfe drehten sich. Ich drückte mich tief in den Waldboden.
Die Explosion ließ die Bäume zittern. Pferde wieherten und scheuten. Es gab keine Anzeichen, dass die Apparatur zu explodieren beabsichtigte.
»Schützt die Maschine!«, brüllte der Anführer. »Bildet …« Sein Kopf fuhr herum. Andreas Kugel war von hinten in den Schädel eingedrungen und trat unter den Augen wieder aus. Sie verwandelte sein Gesicht in einen Brei aus Knochen und blutigem Fleisch.
Schüsse prasselten wie Knallfrösche. Die Leute feuerten blind nach vorn und hinten. Ich stürmte zwischen den Kiefern hindurch. Sie standen zu dicht für mein Schwert. Ich zog ein Wurfmesser. Ein weiterer Reiter kippte aus dem Sattel, als Andreas Kugel ihn erwischte.
Vor mir ragte ein Reiter auf. Ich zerrte ihn vom Sattel herunter und stach ihm in die Nieren. Dann zog ich eine Frau vom Pferd und schlitzte ihr die Kehle auf. Der nächste Mann richtete den schwarzen Lauf einer 45er auf mich. Ich sprang nach links. Die Waffe bellte. Hitze streifte meine Schulter. Ich verpasste ihm einen Stich ins Herz.
Der Kutscher nahm die Zügel und wendete den Wagen. Die Pferde wieherten und pflügten durch das Gebüsch. Der Wagen wich dem Krater aus, den die Granate hinterlassen hatte, und kam wieder auf die Straße. Er verließ die tote Zone und kehrte in den Bereich der Magie zurück, fort vom Jeep. Die noch übrigen Reiter folgten ihm. Verdammt!
Ein riesiger grauer Löwe sprang aus dem Wald und versperrte dem Wagen den Weg. Er ragte fast so hoch wie die Pferde auf. Er riss das große Maul auf, und ein ohrenbetäubendes Gebrüll ließ die Bäume zittern. Die Pferde bäumten sich in Panik auf. Der Kutscher richtete sich auf und sackte dann in sich zusammen, als Andreas Gewehr eine rote Wunde in seinem Hinterkopf erblühen ließ.
Der Löwe verwandelte sich, sein Fell schmolz, und Curran packte die losen Zügel mit seinem menschlichen Arm, um die Pferde zu beruhigen.
Gestaltwandler kamen aus dem Wald und kreisten die Reiter ein.
»Lebend!«, brüllte ich. »Wir brauchen mindestens einen von ihnen lebend!«
*
Zwei Männer und eine Frau knieten auf dem Boden, die Hände hinter den Köpfen zusammengelegt. Um uns herum breitete sich ein leeres Feld aus. Die tote Zone war nur ein paar Meter entfernt, gleich hinter dem Streifen des löchrigen Highways.
Die Boudas umzingelten die Gefangenen wie Haie. Sie wollten Blut. Ich wollte Blut.
Curran packte den größeren der beiden Männer an der Kehle und hob ihn auf. Der Mann ließ die Arme schlaff herabhängen. Curran brachte ihn ganz nah an sein Gesicht und starrte ihm in die Augen. Der Mann zitterte.
»Warum?«
»Warum nicht?«, erwiderte der kleinere Mann.
Er sah überhaupt nicht wie ein Monster aus. Er wirkte völlig normal, wie zahllose andere Menschen auf der Straße. Weizenblondes Haar. Klare blaue Augen.
»Ihr habt die gesamte Stadt getötet«, sagte ich. »Tote Kinder liegen überall auf den Straßen.«
Er sah mich an. Sein Gesicht war entspannt, beinahe abgeklärt. »Wir haben lediglich den Spieß umgedreht.«
»Wie haben diese Kinder euch verletzt? Erklär mir das bitte.«
Er hob das Kinn. »Vor der Wende funktionierte unsere Gesellschaft, weil man arbeiten musste, wenn man Macht gewinnen wollte. Erfolg war von dem abhängig, was man tat. Man musste seinen Kopf und seine Hände benutzen, um die Leiter hinaufzusteigen und den amerikanischen Traum zu leben. Hart arbeiten, Geld verdienen, es besser als die Eltern haben. Aber jetzt, in dieser neuen Welt zählen Verstand und Arbeit überhaupt nichts mehr, wenn man nicht über Magie verfügt. Die Zukunft eines Menschen wird allein dadurch bestimmt, wie man zufällig auf die Welt gekommen ist. Wenn man mit magischen Fähigkeiten geboren wurde, kommt man ohne Schwierigkeiten ganz nach oben. Die Sicherungen, die gefährliche und unausgeglichene Personen daran hindern sollen, zu mächtig zu werden, haben versagt. Jeder kann jetzt das Sagen haben. Man muss nicht mehr auf das richtige College gehen, man muss nicht mehr die Regeln lernen, man muss nicht mehr beweisen, dass man gut genug ist, um in den Kreisen der Macht willkommen zu sein. Es reicht völlig aus, wenn man mit Magie geboren wird. Ich habe keine Magie. Nicht das winzigste Tröpfchen. Warum soll ich deswegen benachteiligt werden? Warum muss ich in eurer Welt leiden?« Er lächelte. »Wir wollen niemanden töten. Wir wollen nur die gleichen Chancen haben wie jeder andere auch. Um der Gesellschaft wieder Ordnung und Struktur zu geben. Alle, die in unserer Welt nicht überleben können, sind bedauernswerte Opfer.«
Die Boudas knurrten im Chor.
Eine Frau kam aus dem Gebüsch am Straßenrand. Ihr schmutziges Kleid umwehte sie wie eine dreckige Flagge. Sie kam auf uns zu und wischte sich mit einer ebenso schmutzigen Hand die Nase ab. Einer der Wölfe löste sich aus dem Rudel und trat an ihre Seite.
Ich beugte mich vor. »Jemand von euch hat mein Büro angegriffen und versucht, ein Kind zu töten. Das Mädchen hat euch nichts getan. Ist auch sie nur ein bedauernswertes Opfer?«
Der Mann nickte. »Natürlich ist es tragisch. Aber betrachte es einmal aus meiner Perspektive: Dein Kind wird aufwachsen und ein gutes Leben haben, während ich und meine Kinder uns abmühen müssen. Dabei ist sie nicht besser als ich. Warum soll dein Kind mir meinen Platz an der Sonne wegnehmen?«
Was ich auch sagte, nichts davon würde seinen Dickschädel durchdringen. Aber ich konnte mich einfach nicht zurückhalten. »Das klingt nett. Man hat dich ziemlich gut ausgebildet. Aber am Ende bist du Abschaum. Ein normaler Krimineller kann wegen Geld zum Mörder werden, aber du hast aus purem Egoismus Dutzende auf dem Gewissen. Das bessere Leben, das du dir erhoffst, wirst du niemals erreichen, weil du es ansonsten längst hättest, mit oder ohne Magie. Du bist nicht mehr in der Lage, deinen eigenen Kopf zum Denken zu benutzen. Du brauchst eine Ausrede für dein Versagen und hast jemanden gefunden, dem du die Schuld geben kannst. Wenn du überlebst, wirst du immer der Dreck unter den Stiefeln eines anderen sein.«
Der Mann hob den Kopf. »Sag, was du willst. Ich weiß, dass ich mich für eine gerechte Sache einsetze. Ihr habt uns nicht aufgehalten. Ihr habt nur das Unvermeidliche ein wenig hinausgezögert.«
Er hatte es nicht getan, weil seine Religion ihm sagte, dass er andere ermorden sollte. Er hatte es nicht getan, weil er sich nicht beherrschen konnte. Er hatte es nur aus selbstsüchtiger Gier getan, und er hatte deswegen nicht das leiseste schlechte Gewissen. Ich würde mich lieber jeden Tag mit einer Dämonenhorde herumärgern.
Die Frau hatte uns erreicht. Sie war vielleicht fünfunddreißig. Ich blickte ihr in die Augen und sah darin nichts. Eine schmerzhafte Leere. Sie war keine Gefahr. Sie war ein Opfer.
Die Frau blieb stehen und sah uns an. »Sind sie das?«, fragte sie mit heiserer Stimme. »Haben sie das getan?«
»Ja«, antwortete Curran ihr.
Sie schniefte. Ihr Blick fixierte die drei Leute, die im Dreck knieten. »Jetzt bin ich an der Reihe.«
Andrea trat neben sie.
»Diese Leute haben Lance getötet«, sagte sie. »Sie haben meine Babys getötet. Meine gesamte Familie ist tot. Jetzt bin ich an der Reihe.«
Andrea legte eine Hand auf ihren Arm. »Madam …«
»Jetzt will ich!« Ihre Stimme ging in ein Schluchzen über. Sie griff nach Andreas Fingern und versuchte sie von ihrem Arm zu lösen. »Ich habe nichts mehr, hören Sie? Ich habe mein gesamtes Leben verloren. Lassen Sie mich zu diesen Mistkerlen …«
Curran ging zu ihr. Die Frau verstummte.
»Wenn Sie warten«, sagte er, »verspreche ich Ihnen, dass Sie an die Reihe kommen.«
Sie schniefte erneut.
»Kommen Sie«, sagte Andrea zu ihr und führte sie behutsam zur Seite. »Kommen Sie mit.«
»Wohin wolltet ihr die Maschine bringen?«, fragte Jim.
Der kleinere der Männer hob den Kopf. »Wir werden euch gar nichts sagen. Wir haben keine Angst vor dem Tod.«
Curran blickte sich zu den Boudas um. Eine große Tüpfelhyäne trat mit langsamen und bedächtigen Schritten vor. Jezebel. Sie senkte den Kopf und starrte die drei Gefangenen aus intensiven Raubtieraugen an. Sie würde sie töten. Wenn sie jemanden angriff, würden wir anschließend nicht mehr viel mit ihm anfangen können. Sie wollte Joey rächen. Wenn sie mit ihnen fertig war, wäre nichts mehr von ihnen übrig.
Ich hatte das gleiche Bedürfnis. Ich wollte ihnen wehtun. Ich wollte sie in kleine Scheiben schneiden, Stück für Stück, und zusehen, wie sie litten. Aber wenn wir jetzt keine weiteren Informationen aus ihnen herauspressen konnten, würde es bald noch viel mehr Leichen geben.
Nein. Jetzt musste Schluss damit sein. Vielleicht hatten sie wirklich keine Angst vor dem Tod, aber sie hatten große Angst vor Magie, von denen versklavt zu werden, die über sie verfügten. Sie hatten mir genau erklärt, was ihr schlimmster Albtraum war.
Ich sah Curran an. Er hob eine Hand. Jezebel hielt inne. Sie wollte es nicht, aber sie hielt sich zurück.
Ich wandte mich an Jim. »Wer von ihnen ist am entbehrlichsten?«
Er betrachtete den kleineren Mann. »Er scheint am meisten zu wissen.«
Ich trat vor den größeren Mann. »Also fangen wir mit ihm an.« Die Vorahnung des Schreckens war am schwersten zu ertragen. Ich wollte, dass der kleinere Mann noch ein Weilchen von seiner Angst weich gekocht wurde.
Der Gefangene starrte mich an. »Was willst du mit mir machen?«
»Ihr denkt also, dass wir Missgeburten sind.« Ich stach mit der Spitze meines Wurfmessers in meine Handfläche. Ein roter Tropfen quoll hervor. Ich spannte die Hand an, damit der Tropfen größer wurde. »Ich werde dir zeigen, wie grausam die Magie einer Missgeburt sein kann.«
Ich drückte meine Hand auf die Stirn des größeren Mannes. Mein Blut berührte seine Haut, und ich flüsterte ein Machtwort. »Amehe.« Gehorche.
Es schmerzte. Bei den Göttern, es tat höllisch weh, aber das interessierte mich jetzt nicht. Julie lag in einem Krankenhausbett, Ascanio war übel zugerichtet worden, Joey war tot, überall waren Leichen auf den Straßen, Kinder in ihrer besten Kleidung lagen im Dreck und blickten mit toten Augen in den Himmel … Sie würden sich nie mehr erheben. Sie würden nie wieder laufen, nie wieder lachen, nie wieder leben. Die Wut in mir kochte über.
Der Mann erstarrte, als sich die magische Verbindung zwischen uns straffte und mit Macht auflud. Ich hatte mir geschworen, so etwas nie wieder zu tun, aber manche Schwüre musste man irgendwann brechen.
»Steh auf«, sagte ich zu ihm.
Er erhob sich.
»Was hast du mit ihm gemacht?«, rief die Wärterin mit kreischender Stimme.
Curran beobachtete mich. Sein Gesicht war eine unbeschriebene Steintafel.
»Die Stricke.« Ich gab dem Mann einen mentalen Schubs. Mir brach der Schweiß aus. Die Magie entzog mir Kraft. Es fühlte sich an, als würde ich eine Ankerkette herumschleppen.
Langsam ging er zum Wagen, löste die Knoten und nahm die Stricke von der Maschine. Ich zeigte auf den Rädelsführer. »Fessle ihn.«
Jim packte die Handgelenke des Anführers und zog ihn hoch. Der größere Mann wickelte den Strick um seine Unterarme.
»Ihr könnt mir nichts antun«, sagte der Rädelsführer. Die Wärterin beobachtete das Geschehen mit unverhohlenem Entsetzen.
Ich nahm das andere Ende des Stricks und zeigte es dem größeren Mann. »Festhalten.«
Er schloss die Finger darum.
Ich blickte mich zu den Gestaltwandlern um. »Er wird Hilfe brauchen.«
Jezebel warf ihr Fell ab und nahm das Ende des Stricks. Gut. Die Transformation würde sie ermüden. Sie war viel zu angespannt. Sie musste sich ein wenig beruhigen.
»Macht Platz.«
Die Gestaltwandler traten zurück. Der Rädelsführer stand nun allein in der Mitte.
Ich holte tief Luft. »Ahissa.« Flieh.
Der Schock, den das Machtwort mir versetzte, ließ mich beinahe in die Knie gehen.
Der Anführer stieß einen schrillen Schrei aus, der nackte, animalische Angst ausdrückte, und rannte los. Auf der linken Seite stürmte einer der Boudas panisch davon, als er vom magischen Befehl gestreift wurde.
Der Strick straffte sich. Der Mann stürzte und grub die Finger in die Erde. Er strampelte und versuchte durch den festen Boden zu schwimmen. Sein größerer Freund hielt ihn fest. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos. Der Rädelsführer wühlte den Untergrund auf, um zu entkommen, während er in hysterischem Wahnsinn heulte. Die Gestaltwandler beobachteten ihn mit steinernen Mienen.
»Wie lange wird es dauern?«, fragte Curran.
»Vielleicht noch fünfzehn Sekunden.«
Eine Weile ging es so weiter, dann hörte der Mann auf zu wühlen. Seine Schreie ebbten zu einem ungestümen Schluchzen ab. Hinter mir weinte die Frau, wie ein Echo seiner Qualen. Seine Finger waren blutige Stummel mit abgerissenen Nägeln. Ich ging zu ihm und beugte mich zu ihm herab. Er blickte auf, ganz langsam, und in seinen Augen glühte die Panik nach.
»Ich wette, auch die Bewohner von Palmetto hätten geschrien, wenn ihr ihnen die Chance dazu gegeben hättet«, sagte ich leise. »Was meinst du? Wollen wir es noch einmal machen? Ich kann mir vorstellen, dass dein Haar bis Mittag grau geworden ist.«
Der Mann wich vor mir zurück und sprang auf die Beine. Er kam etwa drei Meter weit, dann riss der Strick ihn wieder zu Boden. Jezebel zog und schleifte ihn durch die aufgewühlte Erde.
»Nein!«, wimmerte der Mann. »Ich werde euch alles sagen! Alles!«
Es war gar nicht so schwer gewesen. Ich wappnete mich und sprach ein weiteres Machtwort aus. »Dair.« Loslassen.
Der größere Mann sackte zusammen, als sein Geist plötzlich frei war. Einen Moment lang saß er einfach nur da, mit einem traurigen, verlorenen Gesichtsausdruck, dann brach er zusammen. Er rollte sich ein und heulte wie ein verängstigtes Kind.
»Sie gehören dir«, sagte ich zu Jim und zwang mich, zum Jeep hinüberzugehen. Jeder Schritt kostete mich große Mühe. Jemand hatte meine Stiefel mit Blei ausgegossen, als ich einen Moment lang nicht aufgepasst hatte.
Wir hatten gewonnen. Hunderte von Menschen waren gestorben, aber wir hatten gewonnen. Wir hatten die Maschine. Wir würden die Wärter vernichten. Und vielleicht hatte ich am Ende Glück, und Julie überlebte.
»Wir werden eine neue bauen!«, rief der Mann hinter mir schluchzend.
Meine Nackenhaare sträubten sich. Ich drehte mich langsam um.
Er wand sich am Boden. Curran beugte sich über ihn. Sein Gesicht immer noch ausdruckslos, sein Tonfall fast ungezwungen. »Sag das noch mal.«
»Wir hatten jemanden eingeschleust.« Seine Worte kamen viel zu schnell, seine Stimme überschlug sich. »Er hat die Pläne des Erfinders kopiert. Wir haben wochenlang an dem Apparat gebaut. Wir brauchten nur einen funktionierenden Prototyp, um die Feineinstellung vorzunehmen. Er ist dreimal so groß wie dieser.«
Hölle und Verdammnis!
»Reichweite?«, fragte Curran.
»Fünf Meilen«, stammelte der Mann.
Genug Energie, um alles auszulöschen, vom Stadtzentrum bis nach Druid Hills. Dazu brauchten sie nur eine starke magische Welle.
Curran zeigte auf Jim. »Sag diesem Mann alles, was du weißt. Ort, Zeit, Namen, alles.«
Jim packte den Mann an der Kehle. Seine Lippen teilten sich zu einem wilden Grinsen. »Behalte nichts für dich.«
»Barabas!«, brüllte Curran.
Der Wermungo trat aus dem Rudel vor, einhundert Pfund schwer, in rötliches Fell gehüllt. Barabas öffnete den Mund, der voller scharfer Zähne war, und leckte sich die Fangzähne. Die schmalen horizontalen Pupillen teilten seine korallenrote Iris in zwei Hälften, was ihm ein dämonisches Aussehen verlieh.
»Ich brauche dich in menschlicher Gestalt«, ordnete Curran an.
Fell teilte sich und schmolz. Kurz darauf stand Barabas vor Curran, nackt, immer noch mit einem wahnsinnigen Glühen in den Augen. »Mylord?«
»Ruf das Konklave zusammen.«
Das Konklave hatte als vierteljährliches Treffen zwischen dem Rudel und dem Volk begonnen. Die Leitung übernahm eine neutrale dritte Partei, normalerweise jemand von der Magierakademie, und es fand im Bernard’s statt, einem exklusiven Restaurant im Norden der Stadt. Dort hatten das Rudel und das Volk die Gelegenheit, Probleme zu lösen, bevor sie zu einem ausgewachsenen Konflikt eskalieren konnten. Die letzten beiden Male hatten auch Vertreter anderer Interessengruppen teilgenommen, um ihre eigenen Themen zur Sprache zu bringen. Ich war erst einmal dabei gewesen, weil das Treffen in den Weihnachtsferien im gegenseitigen Einvernehmen abgesagt worden war.
»Soll es im Bernard’s stattfinden?«, fragte Barabas.
»Nein. Dort.« Curran zeigte auf ein einsames Steakhaus von Western Sizzlin auf einem niedrigen Hügel. Das Gebäude bestand nur aus Glas und Stein. Durch die hohen Fenster hatte man einen guten Ausblick auf die Stadt. Um das Restaurant zu erreichen, mussten die Anführer der verschiedenen Fraktionen nur den Friedhof von Palmetto durchqueren.
»Wann?«
»Um vier. Um sechs geht die Sonne unter. Ich will, dass sie die Stadt sehen. Lade die Magier ein, die Druiden, die Hexen, die Gilde, die Vertreter der Amerikanischen Ureinwohner und des Nordischen Kulturerbes. Lade alle ein.«
»Nur nicht den Orden«, fügte ich hinzu. »Er könnte von den Wärtern unterwandert sein.«
Curran nickte.
»Und wenn die Polizei die Wege zur Stadt absperrt?«, fragte Barabas.
In Currans Augen schimmerte Gold. »Dann kauf hier alles auf. Man kann uns nicht den Zugang zu unserem eigenen Land verweigern. Jetzt geh.«
Barabas rannte los.
»Die Wolchws haben den Erfinder«, sagte ich. »Wir müssen Verbindung aufnehmen. Ich muss ein paar Leute anrufen.«
»Ich werde dich mitnehmen«, sagte Curran.
Wir liefen zum Wagen. Ich war so müde, dass ich mich kaum noch bewegen konnte.
»Curran?«
»Ja?«
Heute war offenbar der Tag, an dem sich herausstellen sollte, was eine Partnerschaft mit mir tatsächlich bedeutete. Ich deutete mit einem Nicken auf die Männer. »Einer von ihnen hat mein Blut an der Stirn. Es muss vernichtet werden, weil es mich sonst verraten würde, wenn jemand einen Scan macht.«
Curran bedachte mich mit einem Blick, als hätte er es mit einer geistig minderbemittelten Person zu tun. »Dazu müsste man zuerst ihre Leichen finden.«
Hinter ihm hallte der Lärm der wütenden Boudas durch die Stille, gefolgt von chaotischem Geschrei.
»In diesem Fall solltest du ihm den Kopf abschneiden«, sagte ich.
Wieder sah Curran mich an, als hätte ich den Verstand verloren.
»Mein Vater hat die verdammten Vampire erschaffen. Ich weiß nicht, was mein Blut mit einer Leiche anstellen würde. Schneidet dem Kerl den Kopf ab, bevor ihr ihn begrabt.«
»Soll ich ihm auch noch Knoblauch in den Mund stopfen?«
»Curran!«
»Gut«, sagte er. »Ich kümmere mich darum.«
Ich stieg in den Wagen und ließ mich auf dem Sitz zusammensacken. Ich war total erschöpft. Ich hing nur noch an einem Faden und klammerte mich daran, während ich verzweifelt wach zu bleiben versuchte. Ich hatte mich aufgeputscht, aber drei Machtwörter hintereinander bedeuteten, dass ich eine Menge Magie in viel zu kurzer Zeit verbraucht hatte.
Sie schrien immer noch, aber ich fühlte mich zu schwach, um mir mein Stück vom Kuchen der Rache zu holen. Ich saß einfach nur da und horchte auf ihr Geschrei. Schließlich erstarb es. Curran kam zum Wagen und warf sich auf den Fahrersitz. »Erledigt.«
Die Frau im schmutzigen Kleid kam in unser Blickfeld getaumelt. Ihre Hände waren blutig. Sie wankte, wischte sich die rote Feuchtigkeit am Kleid ab, lief durch das vertrocknete Unkraut bis zur Straße und setzte ihren Weg fort, zurück zur Stadt.
»Sie ist an die Reihe gekommen«, sagte Curran.