Kapitel 7

Wir brauchten vier Stunden für die Spurensicherung. Wir puder ten die Werkstatt ein, um nach Fingerabdrücken zu suchen, und verbrauchten fast eine komplette Rolle Klebeband für unterschiedlichste Rückstände. Auf Händen und Knien herumzukriechen und nach Beweisen zu suchen und Proben von dem Urinfleck zu nehmen setzte mir ganz schön zu. Mein Knie war ein Magnet für Probleme zuerst hatte meine Tante es aufgerissen, dann hätte der Marathon der tödlichen Kämpfe, die mich als Alphaweibchen des Rudels bestätigt hatten, mir fast den Rest gegeben. Ich war einen Monat lang mit einer Krücke herumgehumpelt, und erschwerend war hinzugekommen, dass ich die Krücke nur in meinen Privatgemächern benutzen konnte, weil es ein Zeichen von Schwäche gewesen wäre, es vor den Augen des Rudels zu tun. Jetzt hatte sich im Knie ein beständiger unangenehmer Schmerz festgesetzt, und ich hatte das absurde Gefühl, dass der Schmerz nur dann verschwinden würde, wenn ich etwas Spitzes hineinrammte.

Als wir mit der Werkstatt fertig waren, gingen wir zum Haus hinüber. Es war eine geräumige Blockhütte aus sauberem, honigfarbenem Holz mit übergroßen Fenstern. Adam hatte hier ein einfaches Leben geführt. Ich fand genügend Kleidung für mehrere Wochen und ein paar Bücher mit Eselsohren, hauptsächlich über Maschinenbau, Physik und theoretische Magie. Andrea katalogisierte die Lebensmittel und meldete, dass große Mengen von Erdnussbutter und Marmelade im Kühlschrank vorhanden waren. Die Unterkunft der Red Guard war mit Kochutensilien und verschiedenen Töpfen und Pfannen ausgestattet, die an Haken in einem Holzrahmen hingen. Die Staubschicht auf den Pfannen verriet mir, dass sie schon seit einiger Zeit nicht mehr angerührt worden waren.

Neben Adams Bett fand ich das Foto einer jungen Blondine. Sie blickte über das Meer, mit ernster Miene, in der ein Hauch von Resignation und Traurigkeit lag. Adams Ehefrau. Ich steckte das Bild ein und brachte es in den Jeep.

Wir nahmen von allen Zeugenaussagen auf, ließen alles von allen unterschreiben und fuhren über die gewundenen Straßen von Sibley zurück zur Johnson Ferry. Der Verkehrsstau an der Brücke hatte sich aufgelöst. Ein Humvee der MSDU, der mit schiefer- und kohlegrauen Flecken bemalt war, stand auf dem Seitenstreifen. Daneben verstaute ein kleiner stämmiger Mann mit dunkelbraunem Haar einen M-Scanner in einen Transporter mit der Aufschrift »PAD«. Hinten auf der Kapuzenjacke des Mannes stand »Hexer bei der Arbeit«.

Ich hielt am Straßenrand.

»Kennst du ihn?«, fragte Andrea.

»Luther Dillon. Vor ein paar Jahren hat er Gelegenheitsarbeiten für die Gilde übernommen. Ich bin gleich zurück.«

Ich stieg aus dem Wagen und lief ein Stück über den Seitenstreifen zurück.

Als Luther mich sah, seufzte er auf dramatische Weise. »Bleib stehen. Halt mindestens einen Meter Abstand.«

»Warum?«

»Der Orden hat dich gefeuert, weil du Mist gebaut hast. Also bist du besudelt. Das könnte auf mich abfärben.«

Wenn Andrea Ted umbringen wollte, würde sie sich in eine lange Schlange einreihen müssen. »Ich wurde nicht gefeuert, ich habe gekündigt. Außerdem habe ich mit einem etwas freundlicheren Empfang gerechnet, nachdem ich euren Troll wieder eingepackt habe.«

Luther verbeugte sich und klatschte. »Bravo! Bravissimo! Zugabe, Zugabe! Hast du etwas in dieser Art erwartet?«

»Das reicht mir fürs Erste.«

Vom Seitenstreifen konnte ich den Fußweg sehen, der von der Straße unter die Brücke zum Trollbunker führte. »Wie ist es gelaufen?«

»Er schläft wie ein Baby.« Luther schlug die Hecktür des Transporters zu und lehnte sich dagegen. »Es hat zwei Stunden unserer ohnehin knapp bemessenen Arbeitszeit beansprucht.«

»Das ist nur recht und billig, nachdem eure Wehre versagt haben.«

Luther stieß sich vom Fahrzeug ab. »Meine Wehre haben nicht versagt. Sie sind weg.« Er ballte eine Faust und schnippte dann mit den Fingern. »Paff! Einfach so. Keine Restenergie, keine Spuren, gar nichts. So etwas habe ich noch nie erlebt. Es ist, als «

»Als wären sie niemals da gewesen«, vervollständigte ich den Satz. Déjà-vu.

Luther konzentrierte sich auf mich wie ein Vorstehhund auf einen Fasan. »Du weißt etwas.«

Wenn man in Schwierigkeiten steckte, sollte man Zeit schinden. »Ich?«

»Du. Sag es mir.«

»Geht nicht.« Zuerst die Wehrzauber rund um Adams Werkstatt. Dann hier. Der schnellste Weg von und nach Sibley führte über die Brücke.

»Kate, hör auf mit dem Scheiß. Wenn jemand in der Stadt herumläuft und macht, dass sich Wehre in Luft auflösen, muss ich alles darüber wissen.«

»Ich kann nichts sagen, Luther. Ich unterliege der Schweigepflicht.«

»Willst du, dass ich dich zu einer Befragung mitschleife?«, fragte Luther. »Denn ich würde es tun. Ich würde es gleich jetzt tun. Nimm dich in Acht. Ich kenne Leute, die dich auf sanfte Weise überzeugen werden, etwas mitteilsamer zu sein.«

Ich sah ihn an. »Du musst unbedingt an deiner Ausstrahlung arbeiten. Im Moment weiß ich nicht, ob du mir drohen oder mich zu einer Tasse Tee einladen willst.«

»Beides schließt sich nicht zwangsläufig aus. Eine Tasse Tee in der Wache, und du wirst dich aus purem Selbsterhaltungstrieb genötigt sehen, mir alles zu erzählen, was du weißt.« Er streckte eine Hand aus und bewegte die Finger vor und zurück. »Raus damit. Sonst «

Andrea stieg aus dem Jeep und lehnte sich gegen die Stoßstange. Anscheinend hatte sie das Gefühl, dass ich Rückendeckung brauchte. Wenn wir Glück hatten, biss sich Grendel nicht durch die Plastiktrennwand, um de Harvens Leiche im Heck von Hector zu verschlingen.

»Luther, um jemanden mitzuschleifen, brauchst du einen hinreichenden Verdacht, den du nicht hast.«

Hinter dem Transporter war ein leises Scharren zu hören. Ich trat einen Schritt zur Seite und sah einen Mann, der den Pfad vom Fluss heraufkam. Er trug schwarze Hosen, schwarze Stiefel, ein graues Hemd, darüber eine schwarze Schutzweste. Seine Augen lagen hinter einer schwarzen Pilotenbrille. Dazu dunkelblondes, kurz geschorenes Haar und ein sauber rasiertes Kinn insgesamt der typische Agent einer Strafverfolgungsbehörde. Shane Andersen, Ritter des Ordens.

Luther seufzte.

»Er hat sich bestimmt die Worte ›Knallharter Ermittler im Auftrag der Regierung‹ auf die Brust tätowieren lassen«, murmelte ich.

Luthers Mundwinkel zuckten leicht. »Und ›Ich hätte dir gern vorher gesagt, dass ich dich töten muss‹ auf den Arsch.«

Es war nicht leicht, Luther zu verärgern, aber in seinen Worten schwang ein aufrichtiger Hass mit. »Was hat er getan?«

Luther warf mir einen Seitenblick zu. »Er hat mich als ›Unterstützung‹ bezeichnet. Aber ich bin keine Unterstützung, ich habe die verdammte Hauptarbeit geleistet. Ohne mich würden sie immer noch versuchen, den Troll zu Hackfleisch zu verarbeiten.«

Shane stolzierte heldenhaft den Pfad herauf und blieb vor uns stehen. »Hallo, Kate.«

»Hi.«

Er sah Luther an. »Macht sie dir Schwierigkeiten?«

»Nein.«

»Hm.« Shane schob die Sonnenbrille ein Stück den Nasenrücken hinunter und bedachte mich mit seiner Version eines ernsten Blicks.

Ich wandte mich Luther zu, ohne Shane aus den Augen zu lassen. »Ist das jetzt der Moment, wo ich vor Angst in Ohnmacht fallen sollte?«

Luther biss sich auf die Lippe. »Vielleicht begnügt er sich damit, wenn du auf die Knie niedersinkst und demütig die Hände hebst. So kann er dir auch leichter Handschellen anlegen.«

»Ihre Anwesenheit stellt eine Störung unserer Arbeit dar«, sagte Shane, der offensichtlich jedes einzelne Wort genoss. »Sie halten einen Mitarbeiter der PAD von der Erfüllung seiner Pflichten ab. Gehen Sie, Kate. Hier gibt es nichts zu sehen.«

Arschloch! Mal sehen, zwei Fahrzeuge der MSDU, überall Polizisten, von hier bis runter zum Fluss. Zu viele Zeugen. Plötzlich stand mir eine Schlagzeile vor dem geistigen Auge: PARTNERIN DES HERRN DER BESTIEN SCHLÄGT EINEM RITTER DES ORDENS VIER ZÄHNE AUS. Super! Aber nicht heute.

»Tut mir leid, Luther, aber man sagt mir, ich soll verschwinden.« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich hab sowieso noch zu tun. Ich ruf dich an, wenn was ist. Ach ja, Andersen, wenn Sie immer noch Probleme mit dem Stock im Arsch haben, sagen Sie mir Bescheid. Ich kenne einen Kerl, der es schaffen würde, ihn herauszuziehen.«

Ich machte mich auf den Weg zum Jeep. Gerade noch rechtzeitig, denn nun hatte sich auch Andrea in Bewegung gesetzt, den Blick wie ein Raubvogel auf Shane gerichtet. Es wurde Zeit, von hier zu verschwinden.

»Es ist eine Schande, dass man Sie aus dem Orden geworfen hat, Daniels«, rief Shane. »Und dass Sie auf diese Weise Ihr Heim verloren haben. Ich habe Sie immer für sehr fähig gehalten. Ich kenne Leute, die Ihnen hätten helfen können. Wenn Sie einfach zu mir gekommen wären, hätte ich Ihnen vieles leichter machen können. Das Leben ist hart, aber wenigstens müssten Sie sich nicht für diese Kreatur prostituieren.«

»Alter!«, keuchte Luther.

Andrea legte einen Gang zu. Ihre Augen glühten vor Wut. Ich musste sie ganz schnell von hier wegbringen. Sie war ohnehin kaum noch zu einem vernünftigen Gedanken in der Lage. Wenn sie jetzt die Waffe zog, würde sie im Gefängnis landen, und nicht einmal die Anwälte des Rudels konnten sie je wieder rausholen.

»Als Mitglied des Ordens sind Sie nicht unantastbar, Shane«, sagte ich, während ich weiterging.

»Frauen verkaufen sich, weil sie Hunger haben, weil sie ihre Kinder ernähren müssen, weil sie drogensüchtig sind«, sagte Shane. »Ich billige das nicht, aber ich kann es verstehen. Sie haben sich für eine Unterkunft an der Jeremiah Street verkauft. Lohnt es sich, dafür jede Nacht mit einem Tier ins Bett zu gehen?«

Ich stieß mit Andrea zusammen. Sie versuchte sich an mir vorbeizudrängen, aber ich hielt sie zurück. »Nein.«

»Lass mich durch.«

»Nicht jetzt und nicht hier.«

»Hallo, Nash!«, rief Shane. »Möchten Sie, dass ich Ihre Waffen zusammenpacke und zu Ihrer Wohnung schicke? Um Ihnen die Schande zu ersparen, persönlich im Kapitel zu erscheinen?«

Andrea packte meinen Arm.

»Später«, sagte ich zu ihr. »Hier sind zu viele Leute.«

Andrea biss die Zähne zusammen.

»Später.«

Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging zum Jeep zurück. Ich fädelte mich mit Hector in den Verkehr ein.

»Dieser Mistkerl!«, stieß Andrea hervor.

»Er ist ein Großmaul, das gern Scheiße redet. Es gibt kein Gesetz, das es ihm verbietet, ein Arschloch zu sein. Lass ihn hinter seiner Fassade in Deckung gehen. Zu mehr ist er gar nicht in der Lage.«

Andrea ballte eine Hand zur Faust. »Wenn ich noch meinen Ausweis hätte «

»… wärt ihr beiden die dicksten Freunde.«

Sie starrte mich an.

»Wirklich.«

Sie ging nicht darauf ein.

Während der ersten zehn Jahre ihres Lebens war Andrea der Prügelknabe ihres Bouda-Clans gewesen. Die letzten sechzehn Jahre hatte sie dafür gesorgt, dass sie sich nie wieder hilflos fühlte. Sie hatte sich nie ohne den Schutz eines Ordensausweises auf die Straße gewagt. Sie war es gewohnt, zu den Guten zu gehören und für das, was sie tat und was sie war, respektiert oder sogar bewundert zu werden. Sie war nie von jemandem mit Dienstmarke herumgeschubst worden, weil sie selber eine hatte. Aber jede Entscheidung hatte Konsequenzen, und nun bekam sie diese Konsequenzen mit aller Macht zu spüren.

»Wir können überhaupt nichts gegen diesen Wurm machen«, presste sie zwischen den Zähnen hervor.

»Nicht jetzt.«

Sie sah mich an. »Ich glaube nicht, dass ich das schaffe.«

»Du schaffst es«, sagte ich zu ihr. »Du bist eine Überlebenskünstlerin.«

»Du kannst dir nicht vorstellen, wie das ist.«

Ich lachte. Es klang sehr kalt. »Du hast recht, ich habe keine Ahnung, wie es ist, mir einen solchen Mist von Leuten gefallen lassen zu müssen, die ich mit geschlossenen Augen töten könnte.«

Andrea atmete aus. »Okay. Tut mir leid. Es war ziemlich dumm von mir, so etwas zu sagen. Ich habe nur « Sie stöhnte.

»Im Grunde spielt Shane überhaupt keine Rolle«, sagte ich. »Solange du ihm aus dem Weg gehst und ihm keine Gelegenheit gibst, dir wehzutun, kann er nichts machen, außer sich aufzuregen. Aber wenn jemand etwas sehr Dummes tun würde, zum Beispiel des Nachts von einem Dach auf ihn zu schießen, hätten wir ein großes Problem.«

»Ich war Ritterin«, sagte Andrea. »Ich werde nicht plötzlich anfangen, jeden Idioten abzuknallen, der mir Scheiße erzählt.«

»Ich wollte nur sichergehen.«

»Und wenn ich ihn wirklich erschießen würde, kannst du Gift darauf nehmen, dass ich es so machen würde, dass mir niemand etwas nachweisen kann. Ich würde ihn irgendwo draußen in der Wildnis abknallen, sein Kopf würde wie eine Melone explodieren, und seine Leiche würde man niemals finden. Er würde einfach spurlos verschwinden.«

Mir war klar, dass wir noch einen weiten Weg vor uns hatten.

*

Fünfzehn Minuten später hatten wir das Büro erreicht und trafen dort auf Teddy Jo, der auf dem Parkplatz mit dem Kühlschrank wartete. Ich gab ihm die Anzahlung, wir schleppten den Kühlschrank in das Hinterzimmer, und dann verbrachte ich eine Stunde damit, Bannsprüche aufzusagen und Wehre zu beschwören, damit de Harven nicht beschloss, mitten in der Nacht von den Toten aufzuerstehen und eine weitere Ameisenparty zu feiern.

Es war acht Uhr, als ich vom Highway auf die schmale Schotterstraße abbog, die zur Festung führte. Ich war schmutzig und müde, mein Bein tat höllisch weh, und ich hatte den ganzen Tag lang noch nichts gegessen. Man hätte meinen können, dass ich wieder im Dienst des Ordens stand. Nur dass ich jetzt auf eigene Rechnung arbeitete.

Ich konnte nachempfinden, wie es Andrea ging. Auch mein Leben war mit Ordensausweis viel einfacher gewesen. Ich konnte Leute einschüchtern, damit sie meine Fragen beantworteten, ich hatte Zugang zu Strafregistern, und wenn ich mit einer Leiche voller Ameisen dasaß, würde sich der Orden darum kümmern.

Trotzdem hätte ich mein kleines Büro für nichts in der Welt eintauschen wollen.

Wir hatten eine Menge Beweise, aber nichts davon ergab irgendwie Sinn. De Harven hatte die Schlafbombe eingesetzt. So viel stand fest. Das bestätigten die Kava-Reste an seinen Händen. Außerdem hatten wir in einer Ecke der Werkstatt eine Gasmaske gefunden.

Er hatte die Schlafbombe geworfen und war dann in die Werkstatt gegangen. Dort war etwas geschehen, das mit seinem Tod und dem Verschwinden von Kamen und der Apparatur geendet hatte. Vielleicht hatte de Harven versucht, die Maschine zu stehlen oder Adam zu verletzen, worauf Adam sich gerächt und ihn getötet hatte. Nur dass Adam Kamen den Eindruck machte, dass es ihm bereits schwerfallen würde, einen Wurm auf einen Angelhaken zu spießen, während de Harven ein ausgebildeter Killer war.

Aber was, wenn es Adam irgendwie gelungen war, de Harven zu überwältigen? Warum hatte er sich die Zeit genommen, ihn auf diese Weise zu opfern? Außerdem stand in Adams Referenzen ganz groß »theoretische Magie«. Leute wie er bauten komplizierte Apparaturen. Sie urinierten nicht an Wände oder verwandelten den Körper eines Angreifers in einen Sack voller Ameisen, um dann mit einem Gerät, das mindestens dreihundert Pfund wog, in der Nacht zu verschwinden. Wer diese Art von Magie durchzog, musste der Gottheit, der das Opfer dargebracht worden war, voll und ganz ergeben sein. Das bedeutete ständige Verehrung, was wiederum regelmäßige Rituale erforderte. Doch die Wachen hatten Adam nicht einmal beim Beten beobachtet.

Der Schnitt in de Harvens Bauch beunruhigte mich. Ein umgekehrter Krähenfuß. Es konnte nur eine Rune sein. Es gab keinen anatomischen Grund, warum ein Körper auf diese Weise aufgeschnitten wurde. Runen standen in Zusammenhang mit neuheidnischen Kulten und wurden häufig in schamanischen Ritualen eingesetzt, was zur Magie passte, die am Tatort zur Anwendung gekommen war. Runen waren Vorläufer des lateinischen Alphabets. Antike germanische und nordische Stämme benutzten sie für alles Mögliche, von der schriftlichen Fixierung ihrer Sagas über die Weissagung der Zukunft bis zur Wiedererweckung der Toten.

Die Runologie war nicht gerade meine Stärke, aber mit dieser speziellen Rune war ich vertraut. Algiz, eine der ältesten Runen, die mit dem Riedgras assoziiert wurde, genauso wie mit Thor und Heimdall und verschiedenen anderen Dingen, je nachdem, wen man fragte und welches Runenalphabet benutzt wurde. Algiz hatte auch die universelle Bedeutung von »Schutz«. Als Wehrzauber war sie ausschließlich reaktiv. Sie diente als Warnung oder zur Abwehr, doch in jedem Fall bewirkte Algiz gar nichts, solange man sich nicht damit anlegte. Es war die verantwortlichste Möglichkeit für einen Runenmagier, um sein Eigentum zu beschützen, weil Algiz niemals von sich aus Schaden anrichtete.

Warum brachte man es an einer Leiche an? Weder brauchte eine Leiche Schutz noch wurde irgendwer vor irgendetwas gewarnt. Deswegen hatte ich mir den Kopf zerbrochen, seit ich es gesehen hatte, ohne auf irgendeine Idee zu kommen. Nichts, null, nada. Und keiner der Götter aus dem nordischen Pantheon stand in besonderer Beziehung zu Ameisen.

Hier ging etwas vor sich, das größer und hässlicher war, als es den Anschein hatte. Die Furcht in Renes Augen beschäftigte mich. Sie hatte als leichte Besorgnis begonnen, um im Verlauf des Tages immer schlimmer zu werden, bis sie sich zu nackter Angst ausgewachsen hatte. Du hast eine Menge Freunde, Kate. Du hast viel zu verlieren.

Vorons Stimme drang aus den Tiefen meiner Erinnerungen an die Oberfläche. »Ich habe es gleich gesagt.«

Ich nahm einen tiefen Atemzug und versuchte meine Sorgen auszuatmen. Jetzt war es zu spät für Warnungen. Ich war Currans Partnerin und das Alphaweibchen des Rudels. Nun war ich für das Wohlergehen von eintausendfünfhundert Gestaltwandlern verantwortlich. Ganz gleich, was für ein Sturm sich in Atlanta zusammenbraute, ich würde ihn lokalisieren und bekämpfen. Wenn das der Preis für die Partnerschaft mit Curran war, würde ich ihn bezahlen.

Er war es mir wert.

Der Jeep rollte über die dicken Wurzeln. Die Straße musste wieder einmal geräumt werden. Die mächtigen Bäume drängten sich darum wie Soldaten, die unerwünschten Eindringlingen den Zutritt verweigern wollten. Die Magie hasste alle technischen Erzeugnisse und nagte an ihren Monumenten. Sie verwandelte Beton und Mörtel in Staub. Wolkenkratzer, hohe Brücken, gewaltige Stadien je größer sie waren, desto schneller stürzten sie ein. Die gleiche Macht, die den Georgia Dome in Trümmer gelegt hatte, gab auch dem Wald Nahrung. Überall sprossen Bäume und wuchsen im Rekordtempo, während die Natur darum kämpfte, die zerbröckelnden Ruinen zurückzuerobern, die einst stolze Errungenschaften der technischen Zivilisation gewesen waren. Unterholz breitete sich aus, Ranken streckten sich, und bevor man sich versah, erhob sich ein fünfzigjähriger Wald, wo es noch vor zehn Jahren ein paar Schösslinge, Straßen und Tankstellen gegeben hatte. Den meisten Menschen machte es das Leben schwer, aber die Gestaltwandler liebten es.

Das bescheidene Domizil des Rudels hatte wirklich einen besseren Namen verdient. »Festung« wurde dem Bauwerk einfach nicht gerecht. Es stand auf einer Lichtung im neuen Wald, nordöstlich der Stadt, und ragte vor den mächtigen Bäumen wie ein unheilvoller grauer Turm der Verdammnis auf. Das Gebäude setzte sich unterirdisch viele Stockwerke tief fort. Doch die Gestaltwandler waren nie zufrieden und bauten ständig weiter an der Festung, fügten Wände, neue Flügel und Türmchen hinzu, um sie in eine vollwertige Zitadelle der Vormachtstellung des Rudels zu verwandeln. Als ich mit dem Jeep darauf zufuhr, fiel mir auf, dass der Bau immer mehr einer Burg ähnelte. Vielleicht brauchten wir bald einen Neonschriftzug, um die Sache ein wenig aufzuhellen: MONSTERSCHLUPFWINKEL PFOTEN ABTRETEN UND ALLES SILBER AN DER TÜR ABGEBEN.

Ich fuhr den Jeep durch das schwere Tor, parkte auf dem Innenhof, trat durch eine kleine Tür ein und lief durch den klaustrophobisch engen Korridor. Die schmalen Wege gehörten zu Currans Schutzmaßnahmen gegen einen Angriff. Wenn man versuchte, die Festung zu stürmen und durch das Tor und die verstärkten Türen brach, würde man sich durch Korridore wie diesen kämpfen müssen, in denen höchstens drei oder vier Mann nebeneinander gehen konnten. Ein einziger Gestaltwandler könnte hier stundenlang eine Armee in Schach halten.

Der Gang führte schließlich zu einer Treppe aus einer Million Stufen. Mein Bein schrie protestierend auf. Ich seufzte und machte mich an den Aufstieg. Ich musste einfach nur aufpassen, dass ich nicht humpelte. Das wäre ein Zeichen von Schwäche, und ich konnte im Moment keine unternehmungslustigen, karrieregeilen Gestaltwandler gebrauchen, die mir meine Stellung streitig machen wollten.

Einmal hatte ich meinem Wunsch nach einem Fahrstuhl Ausdruck verliehen, worauf Seine Majestät mich gefragt hatte, ob ich gern von einem Schwarm Tauben zu meinen Räumlichkeiten emporgetragen werden möchte, damit meine Füße nicht den Boden berühren müssen. Damals hatten wir uns einen Wettkampf geliefert, und ich hatte mich mit einem Schlag in seine Nieren gerächt.

Acht Uhr abends war für die Gestaltwandler etwa das Gleiche wie zwei Uhr nachmittags. In der Festung wimmelte es von Leuten, die mir im Vorbeigehen zunickten. Die meisten kannte ich überhaupt nicht. Das Rudel bestand aus eintausendfünfhundert Gestaltwandlern. Ich lernte immer mehr Namen, aber es brauchte seine Zeit.

Auf dem zweiten Treppenabsatz knirschte etwas in meinem Knie. Ich musste dieses Problem entweder jetzt lösen, oder ich hatte irgendwann, wenn ich in einen ernsthaften Kampf geriet, ein viel größeres an der Backe. Meine Phantasie beschwor ein reizendes Bild herauf, wie ich mich ins Getümmel warf und mein Bein wie ein Zahnstocher zerbrach. Wunderbar!

Im dritten Stock bog ich ab und machte mich, ohne zu humpeln, auf den Weg zu Doolittles Arztpraxis. Die Frau im Empfangszimmer bedachte mich nur mit einem kurzen Blick und lief nach hinten, um den Doktor zu holen. Ich ließ mich in einen Stuhl fallen und atmete aus. Sitzen tat unglaublich gut.

Die Doppeltür ging auf, und Doolittle tauchte mit besorgter Miene aus den Tiefen der Klinik auf. Er war Mitte fünfzig, dunkelhäutig und hatte kurz geschnittenes Haar. Doolittle strahlte Freundlichkeit und Geduld aus. Selbst wenn man dem Tode nahe war, wusste man in dem Moment, in dem man in seine Augen blickte, dass er sich um einen kümmern und alles gut werden würde. Im letzten Jahr war ich dem Tod mehrere Male recht nahe gewesen, und Doolittle hatte mich jedes Mal wieder zusammengeflickt. Er war ohne Zweifel der beste Heilmagier, dem ich je begegnet war.

Außerdem machte er den Eindruck einer aufgescheuchten Glucke. Unter diesen Voraussetzungen bemühte ich mich normalerweise, einen großen Bogen um ihn zu machen.

Doolittle musterte mich von oben bis unten und schien nach blutenden Verletzungen oder Knochensplittern zu suchen, die mir aus der Haut ragten. »Was ist los?«

»Nichts Großes. Mein Knie tut mir ein bisschen weh.«

Doolittle sah mich aus zusammengekniffenen Augen an. »Die Tatsache, dass du hier bist, kann nur bedeuten, dass du kurz davorstehst, das Bewusstsein zu verlieren.«

»So schlimm ist es eigentlich gar nicht.«

Doolittle betastete mein Knie mit einem Finger. Glühender Schmerz stach durch mein Bein. Ich biss die Zähne zusammen.

»Der Himmel möge mir beistehen.« Der Arzt entließ einen schweren Seufzer. »Was hast du angestellt?«

»Nichts.«

Doolittle nahm meine Hand, drehte die Innenfläche nach oben und schnupperte an meinen Fingern. »Auf allen vieren herumzukriechen ist nicht gut für dich. Und würdelos obendrein.«

Ich beugte mich zu ihm vor. »Ich habe einen Klienten.«

»Meinen herzlichen Glückwunsch. Ich bin zwar nur ein einfacher Doktor aus dem Süden «

Ging das schon wieder los! Hinter ihm verdrehte die Krankenschwester die Augen.

»… aber mir scheint, dass es vernünftiger wäre, über ein gesundes, funktionierendes Bein zu verfügen. Da du jedoch nicht blutest und dir weder eine Prellung noch einen Knochenbruch zugezogen hast, hast du noch mal Glück gehabt.«

Ich hielt den Mund. Sich auf eine Diskussion mit Doolittle einzulassen, wenn er in dieser Stimmung war, würde auf einen stundenlangen Vortrag hinauslaufen.

Der Rudelmediziner flüsterte. Seine Stimme steigerte sich zu einem tiefen Murmeln, während ein wohlüberlegter Zauberspruch über seine Lippen kam. Der Schmerz in meinem Knie zog sich zurück, als er von der Heilmagie gedämpft wurde. Doolittle richtete sich auf. »Ich werde etwas für dich zusammenmischen und es dir in deine Gemächer schicken. Brauchst du eine Trage?«

»Ich werde es schon aus eigener Kraft schaffen.« Ich stemmte mich hoch. »Vielen Dank.«

»Keine Ursache.«

Ich verließ die Klinik und setzte den Aufstieg fort. Das Knie schrie, aber es hielt durch. Schließlich war die Treppe zu Ende und ich erreichte einen schmalen Absatz vor einer großen, verstärkten Tür. Während der Geschäftszeiten, also von elf Uhr morgens bis acht Uhr abends, stand die Tür offen. Ich schritt hindurch und nickte der Wache hinter dem Schreibtisch auf der linken Seite zu.

»Hallo, Seraphine.«

Seraphine riss sich lange genug von ihrer Tüte Popcorn los, um kurz den Kopf zu neigen und ihr Nest aus Zöpfen schaukeln zu lassen. Dann widmete sie sich wieder ihrem Imbiss. Als Werratte hatte sie den Metabolismus einer Spitzmaus. Ratten mussten ständig essen, weil sie sonst das Zittern bekamen.

Derek trat aus dem Nebenbüro und nickte mir zu.

»Dein Nicken wird jedes Mal tiefer und länger.« Es fehlte nicht mehr viel, bis daraus eine Verbeugung geworden war. Wir hatten bereits darüber gesprochen. Das Einzige, was ich noch weniger ausstehen konnte als eine Verbeugung vor mir, war, wenn man mich als Partnerin bezeichnete.

Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht bin ich einfach nur größer geworden.«

Ich musterte ihn. Derek war früher fast unangenehm hübsch gewesen. Vielleicht sogar eine Schönheit. Dann war etwas Schreckliches mit ihm geschehen, und nun würde ihn niemand mehr als hübsch bezeichnen, nicht einmal bei schwacher Beleuchtung. Wer noch halbwegs bei Verstand war, würde es nicht einmal wagen, dieses Thema ihm gegenüber zur Sprache zu bringen. Der einstige Wunderknabe war keineswegs entstellt, obwohl er selber davon überzeugt war und es sich von niemandem ausreden ließ. Sein Gesicht hatte sich verhärtet und die vollkommene Schönheit verloren. Er wirkte gefährlich und gemein, und seine Augen, die früher in einem sanften Braun geschimmert hatten, waren nun fast schwarz und völlig fühllos geworden. Wenn ich ihm in einer dunklen Gasse begegnete, würde ich mir ernsthaft überlegen, ihm aus dem Weg zu gehen. Zum Glück hatte er einst die Rolle des Robin für meinen Batman gespielt, und ich wusste, dass er auf meiner Seite stand, ganz gleich, was geschah.

Wir machten uns auf den Weg durch den Korridor. Derek atmete tief durch, wie es Gestaltwandler immer taten, wenn sie die Luft prüften. »Wie ich bemerke, ist Andrea wieder da.«

»Richtig. Und wie geht es Seiner Pingeligkeit heute?«

Dereks Augen funkelten. »Seine Majestät ist bei schlechter Laune. Es gab Gerüchte, dass seine Partnerin sich um ein Haar hätte erschießen lassen.«

Derek verehrte den Boden, auf dem Curran wandelte, aber er war immer noch ein neunzehn Jahre alter Junge, und gelegentlich kroch er für einen kleinen Scherz aus seinem Panzer hervor. Sein Humor war trocken und tiefgründig. Ich war schon froh, dass er überhaupt überlebt hatte.

»Wo sind meine Boudas?« Bevor ich zur Herrin der Bestien geworden war, hatten Tante B., die Alpha der Boudas, und ich eine Vereinbarung getroffen. Ich würde dem Bouda-Clan helfen, wenn er in Schwierigkeiten geriet in diesem Haufen kam es sehr oft zu Schwierigkeiten , und im Gegenzug überließ Tante B. mir zwei ihrer besten Leute, Barabas und Jezebel. Sie sollten mir dabei helfen, mich im trüben Sumpf der Rudelpolitik zu bewegen. Sie bezeichneten sich als meine Berater. In Wirklichkeit waren sie meine Kindermädchen.

»Barabas schläft im Wachraum, und Jezebel ist nach unten gegangen, um etwas zu essen.«

»Irgendwelche Nachrichten für mich?«

»Der Tempel hat angerufen.«

Das hörte sich interessant an. Ich war im Tempel gewesen und hatte versucht, ein jüdisches Pergament zu rekonstruieren, um das Geheimnis der Identität meiner Tante zu lösen. Daran hatte sie Anstoß genommen, wodurch der Tempel einige Schäden erlitten hatte. Die Rabbis hatten mich vom Tempelgelände gejagt, doch zuvor hatten sie sich die Zeit genommen, meine Wunden zu heilen. Bei dieser Sache hatte ich mich nicht gerade mit Ruhm bekleckert, sodass ich, nachdem sich der Sturm verzogen hatte, das Fragment des Pergaments als Geschenk eingepackt und zum Tempel geschickt hatte, zusammen mit einem Entschuldigungsschreiben.

»Rabbi Peter lässt dich grüßen. Er ist sehr glücklich über das Pergament. Es hat einen gewissen historischen Wert. Man hat dir verziehen und gestattet dir, den Tempel zu besuchen, vorausgesetzt, du meldest dich vierundzwanzig Stunden vorher an.«

Zweifellos, damit sie ihre Kräfte mobilisieren und einen angemessenen Vorrat an Papier und Stiften bereitlegen konnten, um die Schwierigkeiten abzuwehren, die ich heraufbeschwor. Jüdische Mystik war ein schwieriges Studienfach, aber es lohnte sich für jeden, der damit arbeitete. Wenn Rabbis sagten, dass die Feder mächtiger als das Schwert ist, wussten sie, wovon sie sprachen.

Dereks Lippen krümmten sich zu einem vagen Lächeln. »Außerdem wurde Ascanio Ferara erneut verhaftet.«

»Erneut?«

»Ja.«

Ascanio entwickelte sich allmählich zum Fluch meiner Existenz. Er war ein fünfzehn Jahre alter Bouda, und seine einhundertfünfundzwanzig Pfund waren mit völlig durchgeknallten Hormonen ohne einen Funken Verstand getränkt. Der Junge war noch nie auf ein Gesetz gestoßen, das er nicht brechen wollte. Das Rudel wusste ganz genau, dass Außenstehende sie als Monster betrachteten, weswegen man großen Wert darauf legte, jegliche kriminelle Aktivität mit eisernen Klauen zu unterbinden. Der Handel, der mir Barabas und Jezebel beschert hatte, verpflichtete mich außerdem dazu, für Ascanio um Nachsicht zu bitten. Bedauerlicherweise schien Ascanio es sich in den Kopf gesetzt zu haben, zu harter Arbeit verurteilt zu werden.

»Was hat er jetzt wieder angestellt?«

»Man hat ihn beim Gruppensex vor der Tür zur Leichenhalle erwischt.«

Ich blieb stehen und sah ihn an. »Bitte eine genauere Definition von ›Gruppe‹.«

»Zwei Frauen.«

Es hätte schlimmer sein können.

»Ich finde, für einen Fünfzehnjährigen macht er sich ganz prächtig«, sagte Derek, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Solche Kommentare kannst du dir sonst wohin stecken.«

Derek gluckste.

Das war das Problem mit heranwachsenden Gestaltwandlern: Sie hatten kein Verständnis für die Schmerzen anderer Personen.

Er vollführte seine Mischung aus Nicken und Verbeugung, kehrte um, hielt aber noch mal kurz inne. »Kate?«

»Ja?«

»Du hast einmal gesagt, du würdest niemals die Aufgabe einer Leibwächterin übernehmen wollen. Warum?«

Worauf wollte er hinaus? »Aus zwei Gründen. Erstens, ganz gleich, wie gut man ist, man hat bestenfalls einen Einfluss von etwa fünfzig Prozent auf die Erfolgschancen. Die restlichen fünfzig hängen vom Träger des Leibes ab, den man bewacht. Ich habe erlebt, wie hervorragende Leibwächter gescheitert sind, weil das zu bewachende Subjekt nicht in der Lage war, einer simplen Anweisung wie ›Bleiben Sie hier stehen und rühren Sie sich nicht von der Stelle‹ zu folgen.«

»Und zweitens?«

»Ein Leibwächter arbeitet definitionsgemäß reaktiv. Es gibt einige Leute, die in diesem Punkt anderer Meinung sind, aber letztlich befindet man sich die meiste Zeit im Verteidigungsmodus. Es ist einfach nicht meine Art, ausschließlich in Abwehrstellung zu bleiben. Ich suche den Kampf, ich werde aggressiv, und ich konzentriere mich lieber darauf, einen Feind zu töten, als nur zu versuchen, das Leben meines Klienten zu schützen. Ich mag nicht herumsitzen und abwarten. Ich kann es, weil ich dazu ausgebildet wurde, aber es widerspricht zu sehr meiner Natur.«

Derek bedachte mich mit einem eigenartigen Blick. »Das heißt also, so etwas würde dich langweilen.«

»Ja. So könnte man es auf den Punkt bringen. Warum fragst du?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ohne besonderen Grund.«

»Aha.« Wir hatten uns schon einmal mit diesem Thema beschäftigt, und am Ende hatte man ihm geschmolzenes Metall ins Gesicht gegossen. »Lass dich auf nichts ein, womit du nicht klarkommst.«

Er grinste, ein kurzes Aufblitzen seiner Zähne. »Keine Sorge.«

»Ich meine es ernst.«

»Pfadfinderehre.«

»Du bist kein Pfadfinder, jedenfalls nicht so einer.«

Das Grinsen wurde noch breiter. »Du machst dir zu viele Sorgen.«

»Komm nicht heulend zu mir gerannt, wenn du dich töten lässt.«

Derek lachte und kehrte ins Wachbüro zurück.

Er führte irgendetwas im Schilde. Wenn ich ihm jetzt einen Strich durch die Rechnung machte, würde er es mir niemals verzeihen, dass ich ihn wie ein Kind behandelt hatte. Wenn ich nichts unternahm, wurde ihm vielleicht noch einmal das Gesicht verunstaltet. Ich konnte es nur verkehrt machen.

Wenn man Freunde hatte, wurde das Leben viel zu kompliziert.

Ich ging weiter, ohne darauf zu achten, ob ich humpelte. Hier würde mich niemand sehen.

Auf der rechten Seite kam die schwarze Tür zu Julies Zimmer in Sicht. Mitten darauf prangte ein Dolch das hatte sich Julie vom Orden abgeguckt. Über dem Dolch schimmerte in Leuchtfarben ein Totenschädel mit gekreuzten Knochen. Darunter warnten verschiedenste Symbole: DRAUSSEN BLEIBEN, BETRETEN AUF EIGENE GEFAHR, ACHTUNG, MEIN ZIMMER IST NICHT DEIN ZIMMER, LASST, DIE IHR EINTRETET, ALLE HOFFNUNG FAHREN, VORSICHT, ZUTRITT VERBOTEN, VOR DEM EINTRETEN ANKLOPFEN!

Es wäre das Beste für sie gewesen, wenn sie auf dieser Schule geblieben wäre, aber sie fehlte mir trotzdem. In der Festung war sie glücklich. Und hier hatte sie Maddie als Freundin, was gut war, weil Maddie vernünftig war. Normalerweise konnte man die Begriffe »Julie« und »vernünftig« nicht im selben Satz verwenden. Sie hatte ihren Willen bekommen und kam zurück. Nur dass es nach meinen Bedingungen geschehen würde, was ihr nicht unbedingt gefallen musste.

*

Ich hatte mir die letzten Kleidungsreste vom Körper gestreift, als Curran durch die Tür zu unserem Gemach trat. Manche Männer sahen gut aus. Manche waren mächtig. Curran war gefährlich. Er war muskulös und durchtrainiert, und er bewegte sich mit einer lässigen, selbstsicheren Eleganz, die völlig ausgewogen war. Man musste nur einen Blick auf ihn werfen, um zu erkennen, dass er stark und schnell war. Er konnte sich wie ein hungriger Tiger völlig lautlos anschleichen. Ich hatte mein ganzes Leben damit zugebracht, auf das leiseste Anzeichen von Gefahr zu reagieren, und er schaffte es immer wieder, mich zu überraschen, nur weil er es witzig fand, mir einen Schrecken einzujagen. Aber es war nicht nur seine körperliche Kraft, die ihn zu etwas Besonderem machte. Viele Männer waren stark und schnell und konnten sich leise bewegen.

Es war nichts Körperliches, das Curran von allen anderen abhob. Es waren seine Augen. Wenn man hineinblickte, sah man eine beherrschte Gewalt, die die Zähne fletschte und die Krallen ausfuhr, und man erkannte instinktiv, dass man es nicht überleben würde, sollte er diese Bestie jemals von der Kette lassen. Auf einer tiefen, ursprünglichen Ebene war er furchterregend, und er benutzte diese Eigenschaft als Waffe, um Angst zu schüren oder Vertrauen zu wecken. Wenn er in einen Raum trat, machte er den Eindruck, er würde ihm gehören. Früher hatte ich ihn für arrogant gehalten, und heute wusste ich, dass er arrogant war Seine Überheblichkeit hatte stets eine sehr hohe Meinung von sich selbst. Doch seine Selbstgefälligkeit hatte daran nur einen kleinen Anteil. Curran strahlte absolutes Selbstvertrauen aus. Er würde jedes Problem effizient und mit Entschlossenheit lösen, und er hegte nicht den Ansatz eines Zweifels, dass er jeden zur Seite fegen konnte, der sich ihm in den Weg stellen wollte. Das spürten die Leute und scharten sich lieber hinter ihn. Er konnte in einen Raum voller hysterischer Fremder treten, nach wenigen Sekunden hatten sich alle beruhigt und warteten auf seine Anweisungen.

Er war gefährlich. Und schwierig. Und er gehörte mir.

Manchmal am frühen Morgen, wenn er ein Stockwerk tiefer im Fitnessraum trainierte, stand ich ein paar Minuten lang vor der Glaswand, bevor ich hereinkam, um mich mit ihm zu messen. Dann beobachtete ich, wie er Hanteln stemmte oder mit Gewichten am Gürtel Barrenstützen machte, wie sich die kräftigen Muskeln in kontrollierter Anstrengung spannten und entspannten, während die Barren unter ihm knarrten und die Haut mit dem kurzen blonden Haar vor Schweiß schimmerte. Wenn ich ihn beobachtete, spürte ich jedes Mal eine sich langsam aufbauende, eindringliche Hitze.

Doch jetzt trainierte er nicht. Er stand in Jogginghosen und einem blauen T-Shirt da und hielt eine Art Flasche in der Hand. Und ich war bereit, ihn zu bespringen. Ich stellte mir vor, wie er im Bett über mir lag.

Wenigstens zeigte es sich nicht an meinem Gesichtsausdruck. In mir war also doch noch ein Funken Würde übrig geblieben.

Ich hatte ihn so sehr vermisst, dass es fast schmerzte. Es hatte in dem Moment angefangen, als ich die Festung verlassen hatte, und es hatte mir den ganzen Tag lang zugesetzt. Jeden Tag musste ich mit mir kämpfen, um mir keinen idiotischen Grund auszudenken, in der Festung anzurufen, nur damit ich seine Stimme hören konnte. Mein einziger Trost war, dass Curran mit dieser Beziehungskiste genauso überfordert war. Gestern hatte er mich im Büro angerufen und mir gesagt, dass er seine Socken nicht finden konnte. Wir hatten zwei Stunden lang miteinander gesprochen.

In meinem Leben hatte ich mich schon mit vielen Dingen herumgeschlagen. Aber diese Gefühle machten mir eine Heidenangst. Ich hatte keine Ahnung, wie ich damit umgehen sollte.

Curran lächelte mich an. »Mir wurde mitgeteilt, dass du in der Festung bist und Doolittle aufgesucht hast.«

Im Rudel gab es keine Geheimnisse.

»Also habe ich dort vorbeigeschaut und mich nach der Diagnose erkundigt.« Curran hob die Flasche. »Du sollst ein heißes Bad mit diesem Zeug hier nehmen. Und ich soll dich aus allernächster Nähe beobachten, um aufzupassen, dass dein Knie nicht abfällt.«

Aha. Doolittle hatte zweifellos genau das gesagt, vor allem das mit der Beobachtung aus allernächster Nähe. »Möchtest du gern ebenfalls in der Wanne mit dieser üblen Medizin sitzen?« Warum kamen mir diese seltsamen Worte über die Lippen?

Currans Augen blitzten. »Ja, das würde ich sehr gern tun.«

Ich zog eine Augenbraue hoch. »Bist du vertrauenswürdig genug, um dich in die Wanne zu lassen?«

Er grinste. »Lassen?«

»Lassen.«

»Mir gehört die Wanne.« Curran beugte sich zu mir vor. »Ich weiß nicht, ob du es mitbekommen hast, aber ich bin hier so etwas wie der Chef vom Ganzen. Ich bin nicht nur absolut vertrauenswürdig, mein Verhalten ist außerdem über jeden Zweifel erhaben.«

Ich konnte nicht mehr. Ich ging ins Bad und musste leise vor mich hinlachen.

Mit dem Herrn der Bestien zu kuscheln hatte seine Vorteile. Einer davon war die riesige Badewanne und eine geräumige Dusche, und das Wasser war jederzeit heiß, ob die Magie oder die Technik die Oberhand hatte. Die meisten Dinge in Currans Räumlichkeiten waren übergroß. Seine Wanne war die tiefste, die ich je gesehen hatte, auf seinem Sofa fanden acht Personen Platz, und sein skandalös weiches Bett, extrabreit und für seine Bestiengestalt maßgeschneidert, erhob sich anderthalb Meter über den Boden. Im Herzen war Curran eine Katze. Er liebte weiche Dinge, erhöhte Stellen und genügend Platz, um sich ausstrecken zu können.

Ich nahm eine schnelle Dusche, um mir den größten Teil des Bluts und Drecks abzuspülen, und stieg dann in die Wanne. Als ich im fast kochend heißen Wasser versank, das nach Kräutern und Essig roch, tat es einen Sekundenbruchteil lang weh. Doch dann ließ das Brennen in meinem Knie schnell nach.

Curran kam aus der Küche zurück. Er stellte zwei Bierflaschen auf den Wannenrand und streifte sich die Kleidung vom muskulösen Oberkörper. Ich beobachtete, wie der Stoff über Currans Rücken glitt. Alles meins.

Oh, Mann!

Er stieg in die Wanne und setzte sich mir gegenüber, um mir den Anblick des besten männlichen Brustkorbs der Welt zu gönnen.

Ihn in der Wanne zu verführen, die nach Essig roch, kam nicht infrage. Es musste Grenzen geben.

Curran beugte sich vor und reichte mir ein Bier. Ich griff danach, und dann lag sein Arm um meinen Oberkörper. Sein Gesicht war mir viel zu nahe. Er hatte mir eine Falle gestellt, und ich war ahnungslos hineingetappt. Er neigte den Kopf und küsste mich.

Andererseits konnten wir es doch auch in der Wanne treiben. Warum eigentlich nicht?

Currans graue Augen blickten in meine. »Die Pupillen scheinen nicht erweitert zu sein. Du bist nicht high, du bist nicht betrunken. Was zum Henker ist in dich gefahren, dass du aus deinem netten sicheren Büro gerannt bist, um dich in eine wilde Schießerei zu stürzen?«

Damit hatte er seine Chance auf Sex in den Orbit geschossen. »Ich habe dir doch gesagt, dass da dieses Mädchen war. Die PAD eröffnete das Feuer und hat ihr fast das Bein weggeschossen. Sie war höchstens zwanzig. Sie wäre um ein Haar in meinem Büro verblutet.«

»Es war ihre Entscheidung. Wenn sie ein sicheres Leben führen will, hätte sie sich den Pfadfinderinnen anschließen sollen. Sie verdient ihren Lebensunterhalt nicht damit, Kekse zu verkaufen, sondern infizierte Leichen zu navigieren.«

Ich nahm ihm mein Bier aus der Hand und trank. »Also hättest du tatenlos zugesehen, wie die PAD vier Leute abknallt?«

Curran lehnte sich zurück. »Vier Angehörige des Volkes. Aber das ist noch nicht alles. Ich kann einen Schuss von einer M24 einstecken. Du nicht.«

»Als du mir das Geschäftsangebot unterbreitet hast, dachtest du da, ich würde den ganzen Tag lang im Büro sitzen und Plätzchen backen?«

»Bislang ist noch niemand mit einem Plätzchen erschossen worden.«

Er hatte mich in die Enge getrieben. Ich kramte in meinem Gehirn nach einer schlagfertigen Erwiderung. »Es gibt immer ein erstes Mal.«

Wow, welch brillanter Geistesblitz! Zweifellos würde er gleich vor mir auf die Knie fallen, um meinen überragenden Intellekt zu bewundern.

»Wenn es irgendjemand schafft, mit einem Plätzchen erschossen zu werden, dann du«, sagte Curran schulterzuckend. »Wir hatten vereinbart, dass du keine Risiken eingehst.«

»Wir hatten vereinbart, dass ich selber entscheide, wie ich meinen Job erledige.«

Er trank von seinem Bier. »Und ich werde mich weiterhin an diese Vereinbarung halten. Ich habe nicht alles stehen und liegen gelassen, um zu dir zu eilen und dich vor herumfliegenden Kugeln zu schützen, den PAD-Leuten ihre Kanonen in die Ärsche zu schieben und die Freien Menschen so lange zu ohrfeigen, bis sie mir einen guten Grund für dieses Desaster nennen können. Ich wusste, dass du damit klarkommst.«

»Und warum musst du mich jetzt zusammenstauchen?«

In seinen Augen funkelten kleine niederträchtige Lichter. »Obwohl ich eine phänomenale Beherrschung an den Tag gelegt habe, war ich sehr um dich besorgt. Ich war emotional beeinträchtigt.«

»Wirklich? Was du nicht sagst! Emotional beeinträchtigt?«

»Tante B. benutzte diesen Begriff, als sie mir heute erklären wollte, warum ich einen fünfzehn Jahre jungen Idioten nicht dafür bestrafen sollte, dass er vor der Leichenhalle einen flotten Dreier hingelegt hat.«

Das war voreilig von Tante B. gewesen. Sie hätte mir die Sache überlassen sollen.

Curran betrachtete nachdenklich seine Bierflasche. »Ich hätte nie gedacht, dass sie das Problem des Jungen mit diesen Worten beschreiben würde.«

»Und wie würdest du es beschreiben?«

»Jung, verpeilt und aufgegeilt.«

Damit hatte er es treffend zusammengefasst. »Du hast deinen Beruf verfehlt. Du hättest Poet werden sollen.«

Curran nahm einen tiefen Schluck von seinem Bier und kam herüber, um sich neben mich zu setzen. »Geh keine unvernünftigen Risiken ein. Das ist alles, worum ich dich bitte. Du bist mir sehr wichtig. Ich wünschte, du wärst dir selbst genauso wichtig.«

Curran ablenken zu wollen war mit dem Versuch vergleichbar, einen Zug zur Umkehr zu bewegen, also sehr schwierig und letztlich sinnlos. »Hörst du damit auf, wenn ich dich küsse?«

»Kommt drauf an.«

»Schon gut. Ich ziehe das Angebot zurück.« Ich legte den Kopf auf seinen Bizeps. Solange man kein Problem mit den riesigen Krallen hatte, war es in der Umarmung des Löwen warm. »Ich habe einen Klienten.«

»Meinen Glückwunsch.« Curran hob sein Bier. Wir stießen mit den Flaschen an und tranken.

»Wer ist es?«

»Erinnerst du dich an die junge Frau, die bei den Midnight Games für die Sicherheit zuständig war?«

Er nickte. »Groß, rötliches Haar, grünes Rapier.«

»Sie arbeitet für die Red Guard.«

Ich gab ihm eine kurze Zusammenfassung, einschließlich Teddy Jos Kühlschrank.

»Klingt, als hätte die Red Guard dich engagiert, um für sie den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Und wenn irgendwas schiefgeht, können sie dir die Schuld in die Schuhe schieben.«

Ich lehnte mich zurück. »Ich muss irgendwo anfangen, wenn ich mir wieder einen guten Ruf erarbeiten will. Und bis dahin ist es noch ein langer Weg.«

Ein wildes goldenes Licht erstrahlte in Currans Augen. Plötzlich war er wieder ein Raubtier. Wenn ich mir nicht hundertprozentig sicher gewesen wäre, dass er mich liebte, hätte ich die Badewanne fluchtartig verlassen. Stattdessen beugte ich mich zu ihm und streichelte die feinen Stoppeln an seinem Kinn.

»Stellst du dir schon wieder vor, wie du Ted Moynohan umbringst?«

»Hm-mh.«

»Er ist es nicht wert.«

Curran glitt mit der Hand an meinem Arm entlang, und ich hätte fast gezittert. Seine Stimme klang wie Samt, und knapp unter der Oberfläche verbarg sich ein raues Knurren. »Du hast daran gedacht.«

Ich trank einen Schluck Bier. »Ja.« Im Moment hatte ich jedoch viel mehr Lust, Shane zu verprügeln. Das würde mir guttun. Es hätte sogar eine therapeutische Wirkung. »Aber er ist es wirklich nicht wert.«

»Wenn du mehr Geld brauchst, musst du nur in der Buchhaltung anrufen«, sagte Curran.

»Das Budget, das wir vereinbart haben, ist fair. Ich möchte, dass es so bleibt, wie es ist. Gut, so war mein Tag. Und wie war deiner? Was macht dir zu schaffen?«

Currans Finger strichen über meinen Arm, meine Schulter hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter. Mmmh.

»Ein Render ist desertiert«, sagte er.

Render waren spezialisierte Krieger. Alle Rudelmitglieder wurden für den Kampf ausgebildet, sobald sie laufen konnten, doch die gewöhnlichen Gestaltwandler hatten noch andere Jobs und arbeiteten als Bäcker, Schneider, Lehrer. Krieger hatten keinen weiteren Beruf. Im Kampf spezialisierten sie sich auf die Fähigkeiten ihrer Art. Bären fungierten als Panzer. Sie konnten eine Menge einstecken, bevor sie zusammenbrachen, und bei einem Angriff kämpften sie den Weg frei. Wölfe und Schakale waren Alleskönner, während Katzen und Boudas als Render eingesetzt wurden. Wenn man einen Render mitten in einer Kampfzone absetzte, stand er dreißig Sekunden später keuchend inmitten eines Kreises aus Leichen.

»Was für ein Render?«

»Ein weiblicher Luchs. Sie heißt Leslie Wren.«

Aus meinem Gedächtnis kam das Bild einer durchtrainierten Frau mit honigbraunem Haar und Sommersprossen um die Nase, gefolgt von einem fast zwei Meter großen muskulösen Gestaltwandler in Kriegergestalt. Ich kannte Leslie Wren. Als wir vor ein paar Monaten während eines Flairs gegen eine Dämonenhorde gekämpft hatten, war sie an meiner Seite gewesen. Sie hatte mehrere Dutzend Gegner getötet und verdammt großen Spaß daran gehabt. Aber danach hatte ich sie einige Male wiedergesehen, sogar vor recht kurzer Zeit »Was ist geschehen?«

Curran zog eine Grimasse. »Sie hat sich nicht mehr gemeldet. Wir haben ihr Haus durchsucht. All ihre Waffen sind verschwunden. Ihr Lebensgefährte ist schockiert, er glaubt, dass sie in großen Schwierigkeiten steckt.«

»Was glaubst du?«

Die Falten auf Currans Stirn wurden tiefer. »Jims Leute haben ihre Fährte bis nach Honeycomb verfolgt. Sie gingen hinein, und nach etwa dreißig Metern stießen sie auf Wolfswurz.«

Honeycomb war ein verdorbener Ort voller wilder Magie und Irrwegen, die ins Nichts führten. Die Schlucht veränderte sich ständig, wie ein mutiertes Krebsgeschwür, und dort stank es zum Himmel. Wenn man dann noch Wolfswurz dazugab, die bei den Werjägern garantiert einen schweren Allergieanfall auslöste, hatte man sie wirkungsvoll abgeschüttelt.

»Keine anderen Duftspuren, die sie begleitet haben?«

Curran schüttelte den Kopf. Also hatte ihr niemand eine Pistole an den Kopf gehalten. Sie war allein nach Honeycomb gegangen und hatte Wolfswurz benutzt, weil sie ihre Spur verwischen wollte. Leslie Wren hatte sich abgesetzt. So etwas konnten Gestaltwandler aus verschiedenen Gründen tun. Im günstigsten Fall hatte sie mit jemandem aus dem Rudel ein Problem, das sie nicht lösen konnte, worauf sie beschlossen hatte, der Sache aus dem Weg zu gehen und abzuhauen. Im schlimmsten Fall war sie zu einem Loup geworden. Wenn ein normaler Gestaltwandler zum Loup wurde, kam es zu einem Amoklauf. Wenn ein Render zum Loup wurde, kam es zu einem Massaker.

»Ich werde morgen auf die Jagd gehen«, sagte Curran.

Um Leslie Wren zu erwischen, bevor jemand zu Schaden kam. Endlich erinnerte ich mich, wo ich sie zuletzt gesehen hatte. Sie hatte Julie und Maddie mitgenommen, als sie in der Nähe der Festung im Wald einen Hirsch jagen wollte. Curran war die beste Wahl. Mit einem durchschnittlichen Gestaltwandler würde ein Render den Boden aufwischen. Curran war imstande, sie niederzuringen, ohne größeren Schaden anzurichten. Ich verstand es, aber es gefiel mir nicht.

»Brauchst du Hilfe?«, fragte ich.

»Nein. Tut dein Knie noch weh?«

»Nein. Warum?«

»Ich hatte mich nur gefragt, ob du vielleicht etwas Abwechslung vom Schmerz gebrauchen könntest.«

Hmm. »An welche Art von Ablenkung hattest du denn gedacht?«

Curran beugte sich herab, seine Augen waren dunkel und voller goldener Funken. Seine Lippen legten sich auf meine. Der Schock, seine Zunge an meiner zu spüren, war elektrisierend. Ich schlang die Arme um seinen Hals und verschmolz mit ihm. Meine Brustwarzen wurden an seine Haut gepresst. Die harten Muskeln seines Rückens wölbten sich unter meinen Fingern, und ich küsste ihn, seine Lippen, den Mundwinkel, die empfindsame Stelle unter seinem Kinn. Ich schmeckte seinen Schweiß, und die harten Bartstoppeln kratzten an meinen Lippen. Er stieß einen leisen maskulinen Laut aus, etwas zwischen einem tiefen Grollen und einem Schnurren.

Oh, Gott!

Seine Hände glitten über meinen Rücken, streichelten mich, drückten mich fester an ihn, bis ich die harte Länge seiner Erektion spürte. Oh, ja!

»Wir sollten aus der Wanne steigen.« Ich knabberte an seiner Oberlippe.

Er küsste meinen Hals. »Warum?«

»Weil ich möchte, dass du oben liegst, und ich keine Kiemen habe.«

Curran richtete sich auf, hob mich aus dem Wasser und trug mich ins Wohnzimmer.

*

Wir lagen auf der Couch und hatten uns in eine Decke gewickelt. »Was willst du also wegen Ascanio unternehmen?«, fragte ich ihn.

Curran seufzte. »Die meisten jungen Kerle haben jemanden, dem sie nacheifern: ihrem Vater, ihrem Alpha, mir. Als ich jünger war, hatte ich meinen Vater und dann Mahon. Ascanio hat niemanden. Sein Vater ist tot, sein Alpha ist ein Weibchen, und zu mir hat er keine Beziehung. Er gehorcht mir und akzeptiert, dass ich das Recht habe, ihn zu bestrafen, aber er hat nicht das Bedürfnis, wie ich sein zu wollen.«

»Du meinst, dass er dich nicht als Helden verehrt? Vergiss es ganz schnell!«

Er sah mich mit finsterem Ausdruck an. »Ich glaube, ich werde Beleidigungen des Herrn der Bestien unter Strafe stellen.«

»Wie soll es bestraft werden?«

»Oh, ich werde mir etwas ausdenken. Jedenfalls habe ich beschlossen, ihn an Raphael zu übergeben.«

Raphael war hübsch, er verdiente gutes Geld, Frauen rissen sich um ihn, und er war ein brutaler Kämpfer. Ich konnte mir vorstellen, dass ein junger Bouda auf die Idee kam, es gäbe niemanden auf Erden, der cooler war.

»Ich will Raphael bitten, mir einen persönlichen Gefallen zu tun und sein Mentor zu werden«, sagte Curran. »Doch bevor er auf den Plan tritt, werde ich dem verzogenen Bengel das Leben zur Hölle machen, damit es für ihn eine himmlische Erlösung ist, wenn Raphael ihn unter seine Fittiche nimmt.«

Das klang nach einer sehr guten Idee, nur dass Curran und Raphael sich nicht besonders gut verstanden. Curran hatte Raphael sogar einmal als Tante B.’s eitlen Pfau bezeichnet. »Du willst Raphael also um einen Gefallen bitten?« Ich hielt inne und starrte Curran mit gespieltem Erstaunen in die Augen. »Die Pupillen sind nicht erweitert. Du bist weder high noch betrunken «

»Er hat mitgeholfen, dein Geschäft einzurichten«, sagte Curran. »Und wir haben einige Gemeinsamkeiten.«

»Zum Beispiel?«

»Ich weiß, was er im Moment durchmacht. Ich kenne das aus eigener Erfahrung. Raphael ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Der Junge wird ihm guttun. Er wird ihn zwingen, gelegentlich an etwas anderes zu denken.«

Ich war mir ziemlich sicher, dass Raphael sich höchstens durch Andrea aus seinen Gedanken reißen ließ. »Das wäre großartig. Aber leider steckt er bis zum Hals in seinem eigenen Sumpf. Wahrscheinlich hat Tante B. ihm längst den gleichen Vorschlag gemacht, den er zweifellos abgelehnt hat.«

»Ich bin nicht Tante B.«, sagte Curran.

»Das ist mir auch schon aufgefallen.«

Er streichelte meine Schulter. »Dein Tattoo ist verblasst. Ich kann es kaum noch erkennen.«

Ich drehte den Kopf, um einen besseren Blick auf den Raben zu haben. Die schwarzen Linien der Zeichnung waren nur noch hellgrau, und die Worte Дaр Вoрoнa, die Gabe des Raben, waren fast verschwunden.

»Doolittle sagt, das liegt an der vielen Heilmagie, mit der er mich in den letzten Wochen behandelt hat. Auch viele meiner Narben sind verblasst. Wahrscheinlich ist es sogar besser so. Das Tattoo ist sowieso viel zu kitschig. Jedes Mal, wenn andere Leute es sehen, fragen sie, was da steht und warum ich kyrillische Buchstaben auf der Schulter habe « Ich machte den Mund zu.

»Was?«

Das kyrillische Alphabet wurde um das Jahr 900 nach Christus von zwei griechischen Mönchen entwickelt. Davor hatten die Slawen die glagolitische Schrift verwendet, denen die so genannten »Zeichen und Einschnitte« vorausgegangen waren slawische Runen.

Der Nachname des Erfinders lautete Kamen, was auf Russisch »Stein« bedeutete. Normalerweise endeten russische Namen auf »-ow« oder »-ew«, aber es war durchaus möglich, dass seine Familie die Endung weggelassen hatte, als sie in die USA eingewandert war.

Ich rief im Wachraum an. Barabas meldete sich mit einem amüsierten Unterton in seinem leicht ironischen Tenor, bevor ich überhaupt die Gelegenheit hatte, etwas zu sagen. »Ja, Gemahlin?«

»Warum redet mich jeder als Gemahlin an?«

»Weil Jim dich in allen offiziellen Dokumenten zur Gemahlin ernannt hat. Du möchtest nicht als Partnerin bezeichnet werden, dich mit Alpha anzusprechen wäre verwirrend, und über ›Herrin der Bestien‹ müssen die Leute lachen.«

»Warum ist es überhaupt nötig, mir einen Titel anzuhängen?«

»Weil du der Anhang des Herrn der Bestien bist.«

Hinter mir lachte Curran leise. Anscheinend amüsierten sich an diesem Abend alle über mich. »Ich weiß, dass es schon spät ist, aber könntest du mir ein Buch heraussuchen? Es ist von Oswinzew und heißt Die Slaven. Eine Untersuchung heidnischer Traditionen

Barabas seufzte dramatisch. »Kate, du treibst mich zur Verzweiflung. Noch mal von vorne. Und diesmal tust du so, als wärst du ein Alphaweibchen.«

»Ich will jetzt keine Vorträge hören. Ich brauche einfach nur das Buch.«

»Schon viel besser. Vielleicht noch mit einem leichten Knurren in der Stimme?«

»Barabas!«

»So ist’s richtig! Meinen Glückwunsch! Du bist durchaus lernfähig. Ich werde das Buch besorgen.«

Ich legte auf und sah Curran finster an. »Was findest du so witzig?«

»Dich.«

»Lach, solange du es noch kannst. Irgendwann musst du schlafen, und dann werde ich furchtbare Rache nehmen.«

»Du bist eine Frau mit großer Gewaltbereitschaft. Ständig wirfst du mit Drohungen um dich. Du solltest dich mit Meditationstechniken vertraut machen «

Ich sprang auf die Couch und nahm den Herrn der Bestien in den Schwitzkasten.