Kapitel 12
Ich stieg über die Treppe nach unten, und im nächsten Moment packte Andrea mich am Arm. Ihre Wangen waren leicht gerötet. Sie wirkte aufgewühlt. Das war nicht gut.
»Wir müssen reden. Derek, du auch.«
Alle mussten mit mir reden. Ich hatte es satt, ständig reden zu müssen. »Bevor wir das tun, möchte ich dir unbedingt etwas zeigen.«
Ich führte sie zum Loup-Käfig. Der Wolchw saß an den Stuhl gefesselt darin. Er hatte die Augen geschlossen. Er schien ohne Bewusstsein zu sein.
Andrea riss die Augen auf. »Wer ist das?«
»Das ist ein Wolchw.«
Die Wimpern des Wolchw zitterten. Nun wach schon auf!
»Der Kamen entführt hat?«
»Nein. Der Kidnapper von Kamen war ein älterer Wolchw. Dieser hier ist eher mittleres Management, recht mächtig, aber noch nicht ganz oben.«
Andrea hob die Augenbrauen. »Aha. Und wer hat ihn so übel zugerichtet?«
»Er hat mich wegen meiner Unterredung mit Evdokia bedrängt.«
»Warst du schlecht gelaunt oder so?«
Du hast ja keine Ahnung. »Ja. So könnte man es ausdrücken.«
Andrea schürzte die Lippen. »Warum sieht er wie ein karibischer Pirat aus? Ich dachte immer, Russen wären blond.«
»Und wir haben ständig eine Flasche Wodka in der Tasche und tragen das ganze Jahr lang unsere Uschanka auf dem Kopf.« Der Wolchw öffnete die schwarzen Augen. Sein Blick blieb an Andrea hängen. Er blinzelte und starrte sie entgeistert an.
Oh, Mann!
»Hast getan, als wärst du weggetreten, was?«, sagte ich.
»Hab nur meine Augen ausgeruht.« Er sah immer noch Andrea an. »Hier drinnen ist es nett. Friedlich.« Seine Lippen verzogen sich langsam zu einem Lächeln. »Aber wenn du möchtest, dass ich dir eine passende Fellmütze mache, könnten wir handelseinig werden.«
Andrea lachte verächtlich und verließ den Raum.
»Arbeitet sie hier mit dir zusammen?«, fragte der Wolchw.
»Vergiss es«, sagte ich zu ihm, ging hinaus und schloss zur Sicherheit die Tür ab.
Andrea verschränkte die Arme. »Der hat Nerven. Hast du seine Augen gesehen? Oh, Mann!«
Ja, oh, Mann. »Du wolltest mir etwas sagen?«
»Ja. Auch Derek. Küche?«
»Ja.«
Wir drei nahmen um den Küchentisch Platz. Ascanio schlenderte ebenfalls herein und lehnte sich gegen die Wand.
»Die Akten von de Harven sind tadellos«, begann Andrea. »Wir haben alles überprüft. Er diente vier Jahre in der Armee. Ich habe seine DD214 gefunden, die Entlassungspapiere, und eine Anfrage ans Nationalarchiv gestellt. Dort sagte man mir, dass es zwei Monate dauern würde, die Angaben zu bestätigen. Also habe ich einen Kumpel von mir angerufen, der bei der Military Supernatural Defense Unit arbeitet. Er sagt, seine Akte bei der MSDU ist picobello. Ich habe auch de Harvens Bewertungen als Unteroffizier und seine Besoldungsabrechnungen gefunden.«
Vielleicht konnte jemand seine Entlassungspapiere fälschen, aber es wäre ein enormer Aufwand erforderlich, das Gleiche mit Abrechnungen und Führungszeugnissen zu machen.
»Die Polizei von Orlando hat bestätigt, dass er dort als Polizist gearbeitet hat«, sagte Derek. »Ich habe mit zwei Leuten gesprochen, die ihn kannten. Sie sagten, er sei ein guter Polizist gewesen. Sehr pflichtbewusst.«
»Wir haben uns de Harvens Wohnung angesehen.« Andrea öffnete einen Umschlag und zog ein Polaroidfoto heraus. Es zeigte ein digitales Gemälde. Ein Sonnenuntergang über dem Meer, graue Wolkenfetzen am Himmel. Im Vordergrund ragte ein einsamer Felsen aus dem aufgewühlten Wasser. Darauf erhob sich die weiße Spitze eines Leuchtturms, der einen hellen Lichtstrahl zum Horizont schickte. Unter dem Bild stand: FINSTERNIS REGIERT AM FUSS DES LEUCHTTURMS.
»Sollte mir das irgendwas sagen?«, fragte ich.
»Das ist ein Leuchtturm«, sagte Andrea im gleichen Tonfall, den andere Leute benutzten, wenn sie »Es war Mord« sagten.
»Das ist ein sehr hübscher Leuchtturm. Viele Menschen haben Bilder mit Leuchttürmen an der Wand hängen.« Worauf wollte sie hinaus?
Andrea kramte im Umschlag und zog ein gerahmtes Foto hervor: Jugendliche in traditionellen Schulabschlussroben, in zwei Reihen aufgestellt. Andrea zeigte auf einen dunkelhaarigen Jungen auf der linken Seite. »De Harven.« Dann tippte sie mit dem Finger auf einen blonden Jungen ganz rechts. »Hunter Becker.«
Ich wartete ab, ob sie mir weitere Informationen zukommen ließ.
»Hunter Becker!«, wiederholte Andrea. »Sie waren in derselben Highschool-Klasse!«
»Wer ist Hunter Becker?«
»Becker der Blutrünstige! Die Leuchtturmwärter! Boston!«
»Mir wäre Becker der Großzügige oder Becker der Vernünftige lieber gewesen, aber sonst sagt mir dieser Name gar nichts.«
Andrea seufzte. »Der Orden hegt den Verdacht, dass es eine Geheimgesellschaft gibt, die sich als Leuchtturmwärter bezeichnet. Sie sind gut organisiert und arbeiten wirklich sehr geheim.«
»Eine Geheimgesellschaft?« Derek runzelte die Stirn. »So etwas wie die Freimaurer?«
Andrea schnaubte. »Ja, genauso wie die Freimaurer, nur dass sie sich nicht nur treffen, alberne Hüte aufsetzen, sich besaufen und Wohltätigkeitsveranstaltungen organisieren. Die Leuchtturmwärter treffen sich und überlegen sich, wie sie Menschen töten und staatliche Gebäude zerstören könnten. Sie hassen Magie, sie hassen alle, die Magie benutzen, sie hassen magische Geschöpfe, und sie verfolgen mit Leidenschaft das Ziel, unseresgleichen mit Stumpf und Stiel auszurotten.«
Also betraf es so ziemlich jeden in diesem Raum.
»Warum?«, fragte Derek.
»Weil sie finden, dass die technische Zivilisation das Beste für die Menschheit war. Sie glauben, die Magie würde uns in die Barbarei zurückwerfen, weshalb sie das Licht des Fortschritts und der Technik hüten müssen, damit nicht bald alles in Dunkelheit versinkt.« Andrea schüttelte den Kopf. »Vor drei Jahren jagte Hunter Becker eine Heilmagie-Klinik in Boston in die Luft. Dutzende Tote, Hunderte Verletzte. Man konnte ihn aufspüren, und er spazierte direkt auf ein Einsatzkommando zu, in jeder Hand eine Waffe.«
Selbstmord durch Widerstand gegen die Staatsgewalt. Immer ein gutes Zeichen.
Andrea hielt das Polaroidfoto hoch und zeigte auf die Bildunterschrift. »Diese Worte waren an die Wand seines geheimen Unterschlupfs geschrieben. So etwas bezeichnet man in unserer Branche als ›Hinweis‹.«
Vielen Dank, Fräulein Neunmalklug. »Ausgezeichnete Arbeit, Miss Marple.«
Sie sah mich mit gebleckten Zähnen an. »Kate, diese Leute sind Fanatiker. Für die Aktion in Boston war eine Menge Teamwork nötig. Die Klinik experimentierte gerade mit einer neuen magischen Therapie gegen die blaue Grippe. In den Labors hatten sie virulente Proben gelagert, die besser gesichert waren als Fort Knox.«
Sie zählte die Punkte an den Fingern ab. »Jemand hat mehrere Bomben mit ausgeklügelten Sicherungen gebaut. Jemand ist am dreifach gestaffelten Wachschutz vorbeigekommen. Jemand hat die Bomben auf verschiedenen Stockwerken in Bereichen mit beschränktem Zugang verteilt. Und schließlich verschaffte jemand Becker Zutritt zum Gebäude auf der anderen Straßenseite, das zufällig die nächste Polizeiwache war. Man schätzt, dass an dem Bombenanschlag mindestens sechs Personen unmittelbar beteiligt waren, von denen einige offensichtlich zum Klinikpersonal gehörten. Außer Becker konnte keiner der Attentäter identifiziert werden, und Becker kam man nur deshalb auf die Spur, weil er durch Trümmer verletzt wurde und eine Blutspur hinterließ. Niemand von diesen Leuten wurde eingeschleust, Kate. Sie haben dort tatsächlich gearbeitet. Seitdem ist der Orden auf zwei weitere terroristische Anschläge aufmerksam geworden, und in beiden Fällen steckten Gruppen aus verdeckten Agenten dahinter. So arbeiten diese Leute. Sie rekrutieren ihre Mitglieder in jungen Jahren und aktivieren sie, wenn eine Aktion geplant ist.«
Schläferzellen aus einheimischen Terroristen. Dieser Fall wurde immer besser. »Woher weißt du das alles?«
Andrea biss sich auf die Unterlippe. »Becker war ein Ritter des Ordens.«
Wenn die Leuchtturmwärter es geschafft hatten, den Orden zu infiltrieren, wäre es unmöglich, ihnen auf die Schliche zu kommen. Mit ihrer Anti-Magie-Einstellung passten sie wunderbar in die Organisation. Jemand wie Ted würde sie mit offenen Armen aufnehmen. Verdammt, sogar Ted selbst konnte einer von ihnen sein. Ich musste jetzt sehr vorsichtig sein, weil ich mir wünschte, dass Ted mit drinhing. So sehr, dass ich mir vielleicht sogar die Realität zurechtbog, um Ted etwas vorwerfen zu können, ob er nun schuldig war oder nicht.
»Sie haben den Orden und die PAD infiltriert«, sagte Derek. »De Harven war Polizist, bevor er als Wachmann anfing.«
»Es könnte buchstäblich jeder sein. Sogar Rene.« Andrea warf die Arme hoch. »Es könnte Henderson sein. Jeder.«
»Nicht jeder«, sagte ich. »Ich gehöre nicht dazu, du auch nicht, und Derek genauso wenig. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass wir auch Curran und den Jungen ausschließen können.«
Ascanio grinste.
Andrea starrte mich an. »Du nimmst mich nicht ernst!«
»Wahrscheinlich, weil du dich zu wenig aufregst«, sagte Derek. »Du solltest die geballten Fäuste in die Luft recken, wie die Leute es im Film machen, und brüllen: ›Eine riesengroße Verschwörung! Sie reicht bis in die höchsten Führungsebenen!‹«
Andrea zeigte mit dem Finger auf ihn. »Du hältst die Klappe. So etwas muss ich mir von dir nicht gefallen lassen. Von ihr vielleicht. Aber nicht von dir.«
»Ich vertraue deinem professionellen Urteilsvermögen«, erklärte ich. »Wenn du sagst, dass es eine Geheimgesellschaft gibt, dann gibt es sie. Ich versuche nur, die Grenzen deiner Paranoia zu definieren. Waren bei allen anderen Zwischenfällen mehrere Personen involviert?«
»Ja.«
Ich dachte laut nach. »Wenn de Harven ein Mitglied der Leuchtturmwärter war, wurde er aktiviert, weil man Adam Kamens Apparatur stehlen wollte. Und das bedeutet, dass wir damit rechnen müssen, dass eine komplette Zelle dahintersteckt.«
»Wahrscheinlich.«
»Die optimale Größe einer terroristischen Zelle liegt bei sieben bis acht Mitgliedern«, sagte Derek. »Gruppen unter fünf Personen mangelt es an genügend Ressourcen und Flexibilität, während mehr als zehnköpfige Gruppen dazu neigen, sich aufzuspalten und zu spezialisieren. Sehr große Gruppen brauchen eine starke Führung, um den Zusammenhalt nicht zu verlieren. Das ist schwierig umzusetzen, während sich die Zelle im Schläfermodus befindet.«
Ich schloss den Mund mit einem hörbaren Klacken.
Derek entschuldigte sich mit einem Schulterzucken. »Ich habe sehr viel Zeit mit Jim verbracht.«
»Also müssen wir mit fünf bis zehn Personen rechnen?«, fragte ich.
»Wahrscheinlich eher fünf«, sagte Derek. »Vor allem, da de Harven nun tot ist. Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass wir es mit einer einzigen Zelle zu tun haben. In einer großen Stadt wie Atlanta könnten sie mehr als eine Zelle aufgebaut haben. Außerdem sind sie vielleicht in der Lage, benachbarte Zellen zu aktivieren, wenn die Sache wichtig genug ist.«
Niemand würde eine Schläferzelle wegen einer Kleinigkeit wecken, wenn die Mitglieder schon seit Jahren inaktiv waren. »Mit wie vielen Leuten müssen wir rechnen, wenn sie jede Vorsicht in den Wind schlagen und sämtliche verfügbaren Zellen losschicken?«
Derek runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich würde sagen, zwischen fünfzig und dreihundert. Je mehr Leute, desto schlechter der Zusammenhalt der Gruppe. An ihrer Stelle würde ich mich auf bezahlte Helfer verlassen. Nicht jede Aufgabe erfordert die Aktivierung der gesamten Zelle. Manche Zielpersonen lassen sich zum Beispiel durch einen Auftragskiller ausschalten. Das verringert das Risiko und die Gefahr der Aufdeckung. Wenn die Sache schiefgeht, kann der Killer nur ein einziges Mitglied der Gruppe verraten.«
Andrea schaukelte vor und zurück. »Was zum Teufel hat Kamen in dieser Werkstatt gebaut?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich kenne jemanden, der es weiß. Er hockt gefesselt in unserem Loup-Käfig.«
Ich machte mich, Andrea, Derek und Ascanio im Schlepptau, auf den Weg. Ich nahm den Schlüssel vom Haken an der Wand und schloss die Tür zum Hinterzimmer auf.
Der Loup-Käfig war leer. Die unversehrten Stricke lagen in Windungen auf dem Boden. Sie waren noch verknotet.
Derek sah aus, als wäre ihm speiübel. Ich hatte den gleichen Ausdruck auf Jims Gesicht gesehen, als vor ein paar Monaten ein teleportierender Dieb die Landkarten des Rudels gestohlen hatte. »Wie zum Teufel …?«
»Magie«, sagte Ascanio.
»Wir haben eine Technikphase.« Ich rüttelte an der Käfigtür. Verschlossen. »Netter Trick.«
»Das nächste Mal werden wir ihn an die Wand ketten«, sagte Andrea.
»Es wird kein nächstes Mal geben.« Er würde sich nicht noch einmal einfangen lassen. Jedenfalls nicht so leicht.
Derek entfernte sich ein Stück. »Die Hintertür ist aufgeschlossen«, rief er.
Jetzt wussten wir zumindest, dass er sich nicht völlig in Luft aufgelöst hatte.
Wir hatten Kamen nicht gefunden, wir hatten die Maschine nicht gefunden, und die einzige Person, die etwas zur Aufklärung der Rätsel hätte beitragen können, war uns aus einem verriegelten Käfig entkommen. Es war gut, dass dieser verdammte Laden mir gehörte, weil ich ansonsten vielleicht auf die Idee gekommen wäre, mich zu feuern.
»Sein Stock ist noch da«, sagte Ascanio und hielt den Stab des Wolchw hoch.
Ha! Erwischt! »Bring ihn her.« Ich ging ins Nebenzimmer, öffnete die Tür des Leichenkühlschranks und legte den Stab hinein.
»Was machst du da?«, wollte Andrea wissen.
»Ein Wolchw ohne Stab ist wie ein Polizist ohne Waffe. Er wird zurückkommen, um ihn zu holen. Das Büro ist eine Festung, also ist er nicht in der Lage, während einer Technikphase hineinzugelangen. Er wird während einer Magiewelle kommen, wenn er am stärksten ist. Ich habe diesen Kühlschrank mit so starken Wehren gesichert, dass man schon die MSDU braucht, um sie zu durchdringen. Wenn er zurückkehrt, schnappen wir ihn uns.« Und diesmal würde er sich nicht einfach aus dem Staub machen können.
*
Der Verkehr auf dem Heimweg war die Hölle. Es war sieben Uhr fünfundfünfzig, als ich auf den Parkplatz fuhr und losrannte. Ich jagte durch die Korridore, dann stürmten ich und die Aktenordner die Treppen hinunter, wobei ich zwei Stufen auf einmal nahm.
Ich war fast da, als Jezebel, die zweite meiner Boudas, mir auf einem Treppenabsatz den Weg versperrte. Ihre Augen glühten rot. Sie sah aus, als würde sie jeden Moment Feuer spucken.
»Ich weiß, dass ich spät dran bin.« Ich legte einen Zahn zu und hoffte, dass mein Knie durchhielt.
Jezebel verfolgte mich und hielt mühelos mit mir Schritt. »Ich werde ihnen die Köpfe abreißen und ihre Schädel ficken!«
Das hätte ich gern gesehen, zumal ich wusste, dass sie keinen Penis hatte. Wenn Jezebel wütend war, wurde es nahezu unmöglich, ihr etwas zu erklären. Aber ich hatte gelernt zu raten. »Wer?«
»Die Wölfe«, knurrte sie.
Nicht schon wieder. »Welcher von den Wölfen?«
Sie fletschte die Zähne. »Ich werde ihr die Beine abschneiden.«
Also hatte es etwas mit Jennifer zu tun. Natürlich. Während des Amoklaufs meiner Tante hatte Jennifer, die weibliche Hälfte des Alphawolfpaars, die Entscheidung getroffen, den Clan nicht zu evakuieren. Meine Tante hatte den sicheren Unterschlupf der Wölfe in der Stadt angegriffen, während Jennifer nicht da war, und durch ihre Magie waren alle, die sich im Haus aufgehalten hatten, zu Loups geworden, einschließlich Jennifers zwölf Jahre alter Schwester Naomi. Als ich das Haus in der Hoffnung, meine Tante zu töten, erreichte, hatte Naomi mich angegriffen, worauf ich ihr Leben beendet hatte. Jennifer gab mir nun die Schuld am Tod ihrer Schwester. Die Wölfe hielten es mir bei jeder sich bietenden Gelegenheit vor. Für sie war es fast ein Spiel geworden.
Vor mir ragte die Tür zum Audienzsaal auf. Zwei Minuten vor acht. »Wir werden nachher darüber reden.«
»Kate?«
»Nachher.«
Ich atmete einmal tief durch, öffnete die Tür und schritt in den Saal, dicht gefolgt von Jez. Vor mir breitete sich eine riesige Halle aus. Steinbänke boten Platz zum Liegen oder Sitzen, und die Reihen waren einer breiten Bühne zugewandt, die von elektrischen Lampen und Schalen mit offenen Flammen beleuchtet wurde. Mitten auf der Bühne wartete ein gewaltiger Schreibtisch mit einem Stuhl. Normalerweise wurde er von zwei Stühlen flankiert. Diesmal war es jedoch nur einer. Meiner.
Die vorderen Reihen waren gut besetzt. Hier und dort hatten es sich Gestaltwandler gemütlich gemacht, einige allein, andere in Grüppchen. Mindestens einhundert Personen. Petitionen lockten nur selten so viele Zuschauer an. Etwas war im Busch.
Ich hob den Kopf, schritt zur Bühne und setzte mich an den Schreibtisch. Unter mir, auf der linken Seite stand ein zweiter Schreibtisch im rechten Winkel zur Bühne. Dort saß eine Frau etwa in meinem Alter. Sie hatte lockiges braunes Haar, große dunkle Augen und ein ansteckendes Lachen. Sie stellte sich gewöhnlich als George vor. Ihr vollständiger Name lautete natürlich Georgetta, und sie neigte dazu, allen Leuten die Knochen zu brechen, die sie so ansprachen. Ihre Eltern waren die einzigen Lebewesen auf der Erde, die das ohne Lebensgefahr tun durften, und da ihr Vater Mahon war, der Scharfrichter des Rudels, würde ich es nicht darauf ankommen lassen. Während der Petitionen fungierte George als die neutrale dritte Partei, die alle nötigen Unterlagen bereithielt und die Anhörung leitete.
George erhob sich und läutete die Glocke. »Die Sitzung ist eröffnet.«
Die Menge verstummte.
Verdammt, es waren wirklich sehr viele Leute hier. Gestaltwandler tratschten wie alte Südstaatenladys in der Kirche. Wenn sie auf irgendein pikantes Gerücht aufmerksam wurden, versammelten sie sich in Scharen, um zu beobachten, wie sich die Sache entwickelte. Heute war ich bereits geschnitten, gebrannt und geschlagen worden, man hatte mir erklärt, dass wir es mit einer Geheimgesellschaft zu tun hatten, und ich war emotional beeinträchtigt. Eigentlich konnte ich keine weiteren blutigen Überraschungen gebrauchen.
»Angelegenheit Donovan gegen Perollo«, verkündete George.
Im Publikum erhoben sich zwei Gestaltwandler und traten bis zur ersten Sitzreihe vor.
Ich öffnete den ersten Ordner.
Die ersten vier Fälle waren Routine. Ein Streit um ein verlassenes Fahrzeug auf der Grenze zum Territorium der Ratten. Eine Katze hatte es entdeckt und mehrere Stunden damit zugebracht, es aus der Schlucht zu ziehen. Streng genommen waren alle Gestaltwandlerterritorien Teil des Rudelterritoriums, aber jedes Clan-Haus hatte ein paar Quadratmeilen, die ihr eigenes Land waren, damit sich die Clans in ihrem privaten Bereich treffen konnten. Das Fahrzeug ging an die Ratten. Ich entschied, dass die Katze von vornherein nichts auf dem Land der Ratten zu suchen hatte.
Der zweite Fall war ein Familienstreit zwischen Ex-Ehepartnern, die verschiedenen Clans angehörten. Nach der Scheidung hatte der Rattenvater die Kinder übernommen, und nun pochte die Schakalmutter darauf, dass sie keinen Unterhalt zahlen musste, weil sich beide Kinder zu Ratten entwickelt hatten. Ich entschied, dass sie doch zahlen musste.
Beim dritten und vierten Fall ging es um ein Unternehmen, das zu gleichen Teilen dem Schwer-Clan und dem Schakal-Clan gehörte. Die Sache war langwierig und kompliziert, und ich musste häufiger in meinen Unterlagen nachsehen, als ich zählen konnte. Als sich alle Betroffenen endlich setzten, musste ich das Bedürfnis unterdrücken, vor Erleichterung auf dem Schreibtisch zusammenzubrechen.
Zwei weitere Gestaltwandler erhoben sich. Der Mann trug den rechten Arm in einer Schlinge und machte den Eindruck, als würde er Streit suchen. Er schien Anfang zwanzig zu sein. Doch das musste nichts heißen, denn Gestaltwandler waren sehr langlebig, und bei manchen war ich fest davon überzeugt, dass sie höchstens Ende vierzig waren, obwohl sie auf die siebzig zugingen.
Die Frau schien ungefähr im gleichen Alter zu sein. Schlank, hübsches Gesicht, das von einem Wasserfall aus blondem Haar eingerahmt wurde, das ihr bis zur Hüfte reichte. Sie wirkte nervös, als würde sie damit rechnen, dass ich sie mit irgendetwas bewerfen könnte.
Der Mann hob den Kopf. »Kenneth Thompson, Wolfsclan, Antragsteller.«
Die Frau reckte die Schultern. »Sandra Martin, Wolfsclan, Antragsgegnerin.«
In meinem Kopf ertönte eine Warnsirene.
Ken sah mich an. »Ich beanspruche das Recht auf individuellen Antrag. Ich beantrage, dass mein Gesuch von der Gemahlin entschieden wird.«
Das bedeutete, dass ich das Urteil fällen sollte. Wenn Curran hier wäre, könnte er seine Meinung sagen, aber für die letzte Entscheidung wäre ich verantwortlich. Und Curran war ja sowieso nicht da.
»Ich bin heute die Einzige«, sagte ich zu ihm. »Ich werde in diesem Fall ohnehin das Urteil sprechen.«
Ken wirkte leicht verwirrt. »Man hat mir gesagt, dass ich um ein direktes Gesuch bitten soll.«
Ich warf einen Blick zu George. Sie vollführte eine rollende Geste mit der linken Hand. Mach weiter. Gut.
Barabas hatte mich gedrängt, mir das Protokoll einzuprägen, damit ich nicht völlig auf dem Schlauch stand. Ich sah Sandra an. »Hast du irgendwelche Einwände?«
Sie schluckte. »Nein.«
»Dem Antrag auf ein individuelles Gesuch ist stattgegeben«, sagte ich.
Sämtliche Blicke des Publikums waren auf mich gerichtet. Das war es also. Deshalb waren alle Wichtigtuer des Rudels anwesend. Ich musterte das Alphapärchen der Wölfe. Daniels Miene war völlig ausdruckslos, Jennifers langes Gesicht zeigte ein vages Lächeln.
Okay. Wenn ihr einen Kampf wollt, könnt ihr ihn haben. Ich öffnete den Aktenordner und nahm die Zusammenfassung heraus – zwei getippte Seiten. Andrea und ihre Verschwörungstheorien waren schuld, dass dies der einzige Fall war, auf den ich mich nicht hatte vorbereiten können.
George zwinkerte mir von ihrem Schreibtisch aufmunternd zu.
Ich überflog die Zusammenfassung. Ach du meine Güte!
»Die Faktenlage in diesem Fall sieht folgendermaßen aus: Du, Kenneth, hast um die Gunst von Sandra geworben. Im Zuge deiner romantischen Bemühungen bist du am Freitag in ihr Haus eingebrochen. Sie wachte auf, fand dich in ihrem Schlafzimmer vor und schoss mit einer Glock 21 auf dich, wobei sie drei deiner Rippen verletzte und die Knochen deines rechten Arms zertrümmerte. Du findest, dass ihre Reaktion überzogen war und verlangst Schmerzensgeld und eine Entschädigung für deine Arztrechnungen. Ist das richtig?«
Ken nickte. »Ja, Gemahlin.«
Ich blickte auf die Zusammenfassung. »Hier steht, dass du, als Sandra aufwachte, nackt warst und einen Strauß Zweige in der Hand gehalten hast.«
Ken errötete eine Nuance tiefer, aber ich konnte nicht sagen, ob aus Scham oder Wut. »Es waren Rosen. Ich habe die Blütenblätter abgezupft und auf dem Teppich verteilt.«
Wenn Curran hier wäre, würde er jetzt die Augen schließen und stumm bis zehn zählen.
»Darf ich etwas sagen?«, fragte Sandra.
Ich sah sie an. »Nein. Du wartest, bis du an der Reihe bist.«
Sie machte den Mund zu.
Ich wandte mich wieder an Ken. »Hat Sandra deine … Werbungen erwidert? Hat sie dir gegenüber in irgendeiner Form angedeutet, dass sie dich mag?«
»Schon«, sagte Kenneth.
»Konkreter, bitte«, sagte George.
»Sie hat mir gesagt, dass ich nett aussehe. Ich habe eine Zeitlang versucht, sie zu gewinnen, damit sie weiß, dass ich sie mag.«
»Kann ich etwas sagen?«, meldete sich Sandra erneut zu Wort.
»Nein. Und wenn du noch einmal fragst, lasse ich dich hinausbringen, damit wir ohne dich weitermachen können.«
Sie blinzelte.
Ich sah wieder Ken an. »Was hat Sandra sonst noch getan, um dich zu ermutigen?«
Ken dachte nach. »Sie hat mich angesehen.«
Großartig. Einfach toll.
»Also bist du, nur weil Sandra dich angesehen und dir gesagt hat, dass du gut aussiehst, in ihr Haus eingebrochen, um sie nackt in ihrem Bett zu überraschen?«
Leises Lachen aus dem Publikum. Ich warf den Leuten einen finsteren Blick zu. Das Lachen verstummte.
Ken wurde knallrot und drehte sich zu den Gestaltwandlern auf den Tribünen um. Wenn ihm jetzt ein Fell wuchs und er unter den Zuschauern wütete, war alles klar.
»Kenneth, sieh mich an.«
Er fuhr wieder zu mir herum.
»Hier steht, dass ihr, du und Sandra, zusammen im Northern Recovery Office arbeitet. Ist das richtig?«
»Ja.«
»Abgesehen von den Ereignissen am Freitag, würdest du sagen, dass Sandra eine freundliche Person ist?«
Ken grübelte darüber nach. Er war sich nicht sicher, worauf ich hinauswollte. »Ich glaube schon.«
»Könnte es sein, dass Sandra, als sie dir sagte, dass du nett aussiehst, einfach nur versucht hat, freundlich zu dir zu sein?«
»Nein.«
»Also hast du nie erlebt, dass sie im Büro zu irgendeiner anderen Person nett war?«
Er zögerte. »Nun ja, sie sagt schon manchmal nette Dinge zu Leuten, aber ich meine, ich bin da der einzige Mann, also ist das etwas anderes.«
Am liebsten wäre ich auf den Tisch gesprungen, hätte ihm einen Schlag auf den Kopf verpasst und das Problem auf diese Weise gelöst. »Wäre es vielleicht möglich, dass du Sandras Bemerkung falsch interpretiert hast?«
Wieder dauerte es ein paar Sekunden, bis er antwortete. »Möglich wäre es.«
Halleluja! »Nehmen wir mal an, in deinem Büro würde ein Mann arbeiten. Ein sehr großer und starker Mann. Zum Beispiel ein Render. Eines Tages würde er mit einer neuen Lederjacke ins Büro kommen. Ihr plaudert freundlich miteinander, du sagst, wie toll du seine Jacke findest, und in der folgenden Nacht wachst du auf und siehst, wie der Mann vor dir steht, völlig nackt und mit einem Strauß Rosen in der Hand.«
Kenneth riss die Augen auf. »Aber ich bin nicht schwul!«
»Es geht nicht darum, ob du schwul bist oder nicht. Es geht darum, dass du es mit jemandem zu tun bekommst, der größer und stärker ist als du, während du selbst in einer ziemlich schutzlosen Situation bist. Wenn dieser Kerl in deinem Schlafzimmer auftauchen sollte, würdest du dann erschrocken reagieren?«
»Teufel, ja! Ich wäre verdammt erschrocken. Ich würde ihm sagen, dass er sich sofort verpissen soll. Aber sie hat mir nicht gesagt, dass ich verschwinden soll. Ich wäre sofort gegangen, wenn sie ›Ken, verpiss dich!‹ gesagt hätte. Stattdessen hat sie achtmal auf mich geschossen.«
Idiot! »Sie ist kleiner und schwächer als du. Sie ist aufgewacht, hat gesehen, dass du nackt und einsatzbereit bist, und wahrscheinlich hat sie gedacht, dass du sie vergewaltigen willst. Sie hatte Angst, Ken. Du hast ihr Todesangst eingejagt.«
»Sie musste vor gar nichts Angst haben! Ich hätte ihr niemals etwas angetan.«
»Das wusste sie aber nicht. Du warst bereits in ihr Haus eingebrochen, was bedeutet, dass du keinen Respekt vor ihrer Privatsphäre hast. Wie sollte sie auf die Idee kommen, dass du sie als Person respektieren und einfach wieder gehen würdest, wenn sie dir sagt, dass du verschwinden sollst?«
Kenns Unterkiefer arbeitete. »So läuft das nun mal bei den Gestaltwandlern. Jeder weiß, dass du den Herrn der Bestien nicht ermutigt hast. Trotzdem brach er in deine Wohnung ein, und du hast nicht auf ihn geschossen.«
Das Publikum wurde so still, dass ich mich selbst atmen hören konnte. Das war es also. Darauf hatte es Jennifer abgesehen.
»Ich verstehe.« Meine Stimme wurde leiser. »Ist das der Grund, warum du dein Gesuch ausdrücklich an mich richten wolltest?«
»Ja.«
»Von wem kam der Vorschlag?«
»Von meinem Alpha.«
Jennifer wollte mich in eine peinliche Situation bringen. Wenn sie tatsächlich erwartete, dass ich zusammenklappte, würde sie warten müssen, bis in der Hölle Rosen wuchsen. Ich drehte mich zu Jennifer um. Sie sah mich lächelnd an. Eine halbe Sekunde, um vom Tisch aufzuspringen, zwei Sekunden, um den Raum zu durchqueren, dann konnte ich ihr meine Faust ins Gesicht rammen. Um all ihre und meine Probleme zu lösen.
»Ich wusste gar nicht, dass die Alphas des Wolfsclans meine Beziehung zum Herrn der Bestien so aufmerksam im Auge behalten. Ich werde heute Abend unter unserem Bett nachsehen, um mich zu vergewissern, dass sich dort keine kleinen Wolfsspione verbergen.«
Jemand schnaubte und verstummte sofort wieder.
»Weißt du, was ich getan habe, nachdem ich feststellte, dass sich der Herr der Bestien in meiner Wohnung befand?«
Ken wurde klar, dass er sich auf dünnes Eis begab. »Nein.«
»Ich habe ihm ein Messer an die Kehle gehalten«, sagte ich. »Und ich habe das Schloss an meiner Tür ausgetauscht. Davon abgesehen hatte ich den Herrn der Bestien vor seinem Einbruch ermutigt. Ich habe mit ihm geflirtet, ihn geküsst und bin in Unterwäsche vor ihm herumspaziert.«
Ich hatte es fast geschafft. Ich musste es mir nur noch ein wenig länger verkneifen, Jennifer zusammenzuschlagen. »Hat Sandra jemals irgendetwas in dieser Art getan?«
»Nein.«
Jetzt legen wir einfach alles auf den Tisch. »Hat sie jemals in einer Badewanne mit dir rumgeknutscht oder dir nackt das Abendessen serviert?«
Mein Gesicht schien dunkler geworden zu sein, denn Ken schluckte mühsam. »Nein.«
Ich wandte mich an George. »Steht in den Gesetzen des Rudels irgendetwas über Liebeswerbung?«
George räusperte sich. »Artikel fünf, Abschnitt eins besagt, dass kein Mitglied des Rudels ein anderes Mitglied bedrohen oder angreifen darf, um sexuelle Handlungen zu erzwingen.«
»Welche Strafe steht auf Vergewaltigung?«, fragte ich.
»Die Todesstrafe«, antwortete George.
Ken wurde kreidebleich.
»Deine Handlungen können als Vorbereitung auf einen sexuellen Übergriff interpretiert werden. Es ist erschreckend, dass eure Alphas das nicht erkannt haben, da es ihre Aufgabe ist, sich um solche Dinge zu kümmern und den Mitgliedern ihres Clans ein entsprechendes Unrechtsbewusstsein zu vermitteln. Ist eine erzwungene Paarung im Wolfsclan etwas Normales?«
Sämtliche Zuschauer wandten sich den Alphawölfen zu. Daniel wurde sichtlich aufgeschreckt. Jennifer biss die Zähne zusammen.
Ken reagierte mit der Verzweiflung eines Mannes, der mitten auf einem reißenden Fluss auf einer kleinen Eisscholle gestrandet war. »Nein.«
»Also ermuntern eure Alphas euch nicht zur Vergewaltigung, soweit dir bekannt ist?«
»Nein!«
»Nun gut. Ich bin bereit, ein Urteil zu sprechen.« Ich sah Sandra an. »Jetzt darfst du etwas sagen, wenn du möchtest.«
Sie schüttelte den Kopf.
Ich sah Ken an. »Du hast dich wie ein Vollidiot benommen und dir damit acht Kugeln eingefangen. Sei glücklich, dass sie nicht dorthin geschossen hat, wo das eigentliche Problem lag. Wenn ich an ihrer Stelle gewesen wäre, hätte ich dir den Kopf abgehackt und den Vorfall der Polizei gemeldet, nachdem du auf meinem Teppich verblutet wärst. Nimm es in dich auf, lerne daraus und führe fortan ein anständiges Leben. Du bekommst keine weitere Strafe. Außer dass du dich bei Sandra entschuldigst, weil du ihr Angst eingejagt und sie in diese peinliche Situation gebracht hast, in der sie die Angelegenheit vor dem versammelten Rudel ausbreiten muss.«
Er starrte sie mit wild blickenden Augen an. »Es tut mir leid.«
»Die Sitzung ist geschlossen.« Ich schaute zu den Alphawölfen hinüber. »Die Alphas des Wolfsclans sollen sich bitte zu einer kurzen Unterredung bei mir einfinden, bevor sie gehen.«
Der Saal leerte sich in Rekordzeit. Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück.
Daniel und Jennifer kamen zu meinem Schreibtisch.
Meine beiden Boudas rückten etwas näher an mich heran.
»Jezebel, Barabas, lasst uns allein«, sagte ich. Je weniger Zeugen es gab, desto besser.
Barabas kehrte unverzüglich um und ging zur Tür hinaus. Jez zögerte, knurrte etwas Unverständliches und folgte ihm dann.
Nur ich, Jennifer, Daniel und George.
»Es war ein großer Spaß«, sagte ich. »Aber jetzt ist das Spiel vorbei.«
»Was für ein Spiel?«, fragte Jennifer.
Ich zuckte mit den Schultern. »Dir stehen drei Möglichkeiten zur Auswahl. Erstens, du hörst einfach auf, mich zu ärgern, und die Sache ist erledigt. Zweitens, du forderst mich heraus, und ich werde dich töten. Das wäre sehr gut für mich. Ich kann etwas Übung gut gebrauchen.«
Jennifer bleckte die Zähne. Daniel legte seine Hand auf ihren Unterarm. Sie konnte ich mühelos überwältigen. Gegen beide wurde es schwierig, vor allem, wenn die Magie auf dem Tiefpunkt war.
»Drittens, du machst damit weiter, mich zu nerven. In diesem Fall werde ich bei der nächsten Ratssitzung des Rudels eure Absetzung beantragen. Das kann ich doch tun, nicht wahr, George?«
»Ja, das kannst du«, bestätigte George mit einem breiten Lächeln.
»Mit welcher Begründung?«, knurrte Jennifer.
»Inkompetenz. Als Beweis werde ich aus dieser Verhandlung zitieren. Die Angelegenheit betraf zwei Mitglieder des Wolfsclans, die den Fall eurer Autorität unterstellten. Also wusstet ihr entweder nicht, wie ihr damit umgehen solltet, oder ihr wolltet nicht damit umgehen, entweder aus Bequemlichkeit oder weil ihr Vergewaltigungen aktiv billigt. Das wäre so oder so ein Grund für eure Absetzung, und anschließend wird ein Untersuchungsausschuss klären, wie es um das Paarungsverhalten des Wolfsclans bestellt ist.«
»Man wird nichts finden«, sagte Daniel.
»Ihr seid fünfhundert Wölfe mit schätzungsweise einhundertfünfzig Paaren. Was glaubt ihr, wie sie reagieren werden, wenn man ihre Paarungsrituale unter die Lupe nimmt?«
»Das kannst du nicht tun!« Jennifer fuhr zu Daniel herum. »Das kann sie nicht tun.«
»Sie hat das Recht, es zu tun«, sagte Daniel. »Es ist vorbei, Jennifer. Diesen Kampf kannst du nicht gewinnen.«
Jennifers Augen wurden tiefgrün. »Was zum Teufel weißt du überhaupt, wie es ist, ein Alpha zu sein? Du bist ein Mensch. Du bist nur aus dem einzigen Grund hier, weil du mit Curran vögelst.«
Nett. »Ich weiß nicht viel, aber ich lerne schnell.« Ich stand auf. »Und ich bin hier, weil ich in zwei Wochen zweiundzwanzig Gestaltwandler getötet habe. Ich habe mir meine Stellung verdient. Wie oft wurdest du herausgefordert, Jennifer? Ach ja, richtig. Niemals. Klär mich bitte auf. Wie wurdest du noch gleich zur Alpha?« Ich sah Daniel an. »Hilf mir auf die Sprünge, Daniel. Mit wem hat sie gevögelt? Vielleicht mit dir? Es scheint ziemlich gut gewesen zu sein, weil das der einzige Grund sein dürfte, warum du es so lange mit ihr ausgehalten hast.«
Ich sah kaum, wie sich Daniel bewegte. Eben noch stand er entspannt da, und im nächsten Moment hatte er die Arme um Jennifer geschlossen. Es war eine sehr vorsichtige Umarmung. Sie sah zärtlich aus, aber ich erkannte, dass sich Jennifer keinen Zentimeter mehr von der Stelle bewegen konnte.
»Wir entschuldigen uns für alles, was die Gemahlin als Beleidigung aufgefasst haben könnte«, sagte er. »Wir wollten auf keinen Fall respektlos erscheinen.«
»Entschuldigung angenommen.«
»Hört auf zu reden, als wäre ich gar nicht da«, stieß Jennifer hervor.
»Wir freuen uns darauf, in Zukunft mit dir zusammenzuarbeiten«, fuhr Daniel fort. »Dürfen wir jetzt gehen?«
»Bitte. Ich wünsche euch noch einen angenehmen Abend.«
Daniel setzte sich in Bewegung, und Jennifer folgte ihm. Gemeinsam verließen sie den Audienzsaal.
Ich wartete, bis die Tür geschlossen war. Dann brach ich auf meinem Stuhl zusammen.
George starrte mich entgeistert an. »Heiliger Strohsack! Ich kann es immer noch nicht fassen, dass sie so weit gegangen ist.«
Ich schloss die Augen.
»Alles in Ordnung mit dir?«
»Ich bin müde. Mein Knie tut wieder weh, und ich versuche gerade, mich ins Dachgeschoss zu teleportieren.«
»Ähm, dazu bist du nicht fähig, Kate.«
»Ich weiß. Aber ich gebe mir wirklich große Mühe. Sagst du mir Bescheid, wenn ich anfange, mich in Luft aufzulösen?«
Leider funktionierte es nicht. Also stieg ich die Treppen hinauf, ging in die Dusche, spülte mir den Dreck und das Blut ab und zog frische Kleidung an.
Ohne Curran kamen mir die Zimmer leer vor. Ich stand eine Weile im Türrahmen zum Schlafzimmer und betrachtete das Bett.
Ich wollte nicht, dass sich alles als eine große Lüge entpuppte.
Ein kleiner Teil von mir wollte gehen. Einfach verschwinden, ohne Erklärungen oder Enttäuschungen. Dann müsste ich mich nie wieder mit der Frage beschäftigen, ob es eine Lüge war.
Aber so würde ich vor einer Herausforderung davonlaufen. Normalerweise ging ich Herausforderungen frontal an und knallte mit dem Kopf dagegen, bis ich verletzt, blutig und benommen am Boden lag.
Ich schlang die Arme um meinen Oberkörper. Wenn ich mit Curran zusammen war, füllte er die Leere aus. Wenn ich traurig war, brachte er mich zum Lachen. Wenn ich sauer war, forderte er mich zum Zweikampf heraus. Ich vergaß allmählich, wie es war, allein zu sein. Und ich war völlig allein. Abgesehen von Roland gab es im Umkreis von ein paar tausend Meilen keinen anderen Menschen, der so verkorkst war wie ich.
Wenn ich morgen aufwachte und Roland draußen vor der Festung wartete, würde ich sterben. Sogar ziemlich schnell. Evdokia hatte recht. Ich hatte die bestmögliche Ausbildung im Schwertkampf erhalten, aber wenn ich meinem Vater begegnete, würde der Kampf nicht mit dem Schwert entschieden werden. Ich brauchte eine bessere magische Ausbildung, und zwar eine ganze Menge davon. Und ich hatte keine Ahnung, wie Curran darauf reagieren würde. Hör mal, Schatz, macht es dir etwas aus, wenn ich auf dem Festungsgelände übe, einen Vampir zu massakrieren? Beachte es einfach nicht weiter, wenn deine Leute in Todesqualen schreien, falls etwas schiefgeht.
Es war eine Sache, wenn man wusste, dass man eine Beziehung mit der Tochter von Roland hatte. Aber es war etwas ganz anderes, wenn man mit der Nase auf diese Tatsache gestoßen wurde.
Letztlich musste ich mir gar nicht überlegen, ob Curran mich wirklich liebte. Ich musste mir nur klarmachen, ob ich ihn so sehr liebte, dass es mir egal war, warum er mit mir zusammen sein wollte. Darauf wusste ich die Antwort. Ich wollte es mir nur nicht eingestehen. Wenn er sich in diesem Moment meldete und in Schwierigkeiten steckte, würde ich ihn suchen und retten, auch wenn es mich das Leben kostete, ob er mich nun liebte oder nicht. Die Sache war ziemlich verkorkst.
Nein, das stimmte nicht. Wenn er mit mir zusammen war, weil er mich brauchte, um gegen Roland zu kämpfen, musste ich gehen. Ich konnte nicht hierbleiben, neben ihm in seinem Bett schlafen, ihn berühren, ihn küssen, während ich wusste, dass er mich gar nicht liebte, sondern nur zum Überleben brauchte. Ich würde ihn weiter lieben, aber ich könnte nicht bleiben. Hätte er es mir ganz zu Anfang so erklärt, bevor ich die Gelegenheit hatte, mich in ihn zu verlieben, hätte ich mich vielleicht nichtsdestotrotz mit ihm zusammengetan. Ich hätte nicht mit Curran geschlafen, aber ein Bündnis mit dem Rudel hätte meine Position gestärkt, und wir beide hätten uns vielleicht mit einer Art geschäftlicher Vereinbarung begnügt. Doch dazu war es jetzt zu spät. Ich wollte Liebe oder gar nichts.
Ich holte mir mein Kissen vom Bett und rollte mich, in eine leichte Decke gehüllt, auf der Couch ein. Irgendwann würde er nach Hause kommen. Dann würden wir reden.