Kapitel 16

Kugeln schlugen in die Couch und zerfetzten den Stahl und die Polsterung. In einem grellen Blitz wurde alles um mich herum weiß. Donner traf meine Ohren und erschütterte mein Gehirn in der Schädelkapsel. Dann hörte ich gar nichts mehr. Derek zuckte zusammen und drückte sich die Hände auf die Ohren.

Eine Betäubungsgranate.

Neben mir zitterte Saiman, an den Boden gepresst.

Stählerne Rollläden fuhren herunter und versperrten die vom Boden bis zur Decke reichenden Fenster. Saimans Verteidigungssystem reagierte mit Hochgeschwindigkeit.

Die elektrischen Lampen an der Decke warfen helles Licht auf uns. Die Couch würde nicht lange standhalten. Wir mussten die Position wechseln.

Rechts von uns stand die Tür zum Labor offen. Vier Meter. Wenn wir für Ablenkung sorgen konnten, würden wir es vielleicht schaffen. Ich blickte mich um und suchte etwas, das man werfen konnte. Kleidung nein, zu leicht –, Kleidung, noch mehr Kleidung Tisch. Der Tisch mit der schweren Glasplatte.

Ich sprang hin und versuchte ihn anzuheben. Zu schwer. Ich könnte ihn hochkant stellen und vielleicht zwei Meter weit werfen. Aber das war nicht weit genug. Außerdem würde man mich niedermähen, während ich mich damit abmühte.

Der Lärm des Kugelhagels durchdrang die dicke Wand in meinen Ohren, sanft wie das Rauschen eines fernen Wasserfalls.

Ein dunkler Behälter rollte auf uns zu, blieb zwischen der Couch und der Bar liegen, und entließ eine Wolke aus grünem Gas. Scheiße. Ich hielt den Atem an. Derek hielt sich die Nase zu. Tränen strömten ihm übers Gesicht.

Das war zu viel für Dereks Gestaltwandlersinne. Wir mussten uns in Bewegung setzen.

Ich packte Dereks Schulter, zeigte auf den Tisch und gestikulierte.

Er nickte.

»Saiman!« Ich hörte meine Stimme als schwaches Echo. »Saiman!«

Er sah mich an, und in seinen Augen erkannte ich etwas, das mir vertraut war. Er würde jeden Moment ausrasten. Ich griff nach seinem Arm. »Lauf oder stirb!«

Geduckt hob Derek den Tisch an und schleuderte ihn in Richtung des Mündungsfeuers.

Ich zerrte Saiman auf die Beine und rannte.

Hinter mir zersplitterte Glas im Kugelhagel. Ich hetzte ins Labor und wirbelte herum. Saiman stürmte durch die Tür, dicht gefolgt von Derek. Derek schlug die stabile Tür zu und taumelte wie ein Blinder. Er hatte die Augen aufgerissen, und sein Gesicht war tränenüberströmt. Er blutete aus einer Beinwunde, die einen dunklen Fleck in seine Jeans tränkte.

Langsam, wie unter Wasser, verriegelte Saiman die schwere Stahltür.

Rechts in der Ecke gab es eine Dekontaminierungsdusche. Ich schob Derek hinein und zog an der Kette. Er schüttelte sich unter dem Wasserstrahl und hob das Gesicht, um sich die Augen ausspülen zu lassen.

»Wie schlimm bist du verletzt?«

»Die Kugel ist durchgegangen. Kein Problem.«

Kugeln prasselten im Stakkato gegen die Tür. Sie würde nicht mehr lange standhalten.

Wenn dies mein Labor wäre, hätte ich den Sicherungskasten nicht weit von hier angebracht, um im Notfall alles sehr schnell abschalten zu können. Ich blickte mich um und entdeckte ein dunkelgraues Rechteck an der Wand zwischen zwei Schränken. Perfekt. Ich zog die Klappe des Sicherungskastens auf und legte den Hauptschalter um.

Im Apartment wurde es stockdunkel. Einen Moment sah ich gar nichts mehr, bis sich meine Augen angepasst hatten und ich im schwachen Schein der Digitaluhr an der Wand wieder etwas erkennen konnte. Offenbar war sie batteriebetrieben.

Neben mir hörte ich zerreißenden Stoff und wusste, dass der Werwolf seine Kleidung und seine menschliche Haut abwarf. Zwei Meter über dem Boden glühten wie Vollmonde gelbe Augen auf.

Saiman holte tief und zitternd Luft.

»Versteck dich oder kämpfe«, flüsterte ich ihm zu. »Hauptsache, du stehst mir nicht im Weg.«

Das Feuer wurde eingestellt. Nicht gut. Sie hatten erkannt, dass sie sich nicht durch die Tür schießen konnten. Also würden sie Sprengstoff einsetzen. Ich hastete zur linken Seite der Tür und drückte mich in der Ecke gegen die Wand.

Das riesige, struppige Monster, zu dem Derek geworden war, sprang auf eine Werkbank. Eine krallenbewehrte Hand griff nach einem Gasfeuerzeug und hielt es unter den Rauchmelder der Sprinkleranlage. Derek entzündete die kleine blaue Flamme. Sie leckte zweimal am Rauchmelder, dann versprühten die Düsen an der Decke einen feinen Nebel aus Wassertröpfchen.

Die Sache mit dem Gas hatte sich erledigt.

Ein schrilles Heulen zerriss die Stille.

Dann schlug mir der Explosionsdonner gegen die Ohren. Die Stahltür kreischte und kippte in den Laborraum. Ein Taschenlampenstrahl schnitt durch die Dunkelheit und suchte nach Zielen.

Ich umklammerte den Griff meines Schwerts. Die Berührung gab mir Zuversicht, als würde ich einem alten Freund die Hand schütteln. Inzwischen war mein Haar klitschnass.

Derek fuhr die Krallen aus und sprang hoch. Dann kroch er mit erschreckender Schnelligkeit die Stahlträger an der Decke entlang.

Ich ging neben der Tür in die Hocke.

Der erste Mann schob sich herein, die schwarze Pistole mit beiden Händen umklammert, in der vertrauten Haltung eines Sturmkommandos. Die kugelsichere Weste verlieh ihm einen fast quadratischen Umriss. Der Mann fuhr nach links und rechts herum, schwenkte mit dem Lauf der Waffe einen halben Meter über mich hinweg und stieß in den Raum vor.

Ein zweiter Mann folgte ihm. Er hielt die Taschenlampe und die Waffe im Chapman-Griff die Pistole in der rechten, die Lampe in der linken Hand, beide Hände aneinandergelegt. Er drehte sich, der Lichtstrahl kreiste einmal durch das Labor.

Komm nur herein, du musst hier keine Angst haben. Du bist groß und stark, und deine Waffe wird dich schützen.

Das Licht glitt über Labortische und drang in die Dunkelheit hinter den Regenvorhängen der Sprinkleranlage. Links, rechts

Nun kam der dritte Mann, der den Mann mit der Taschenlampe deckte. Die klassische Formation.

Der Strahl wanderte nach oben, und ein Albtraum wurde sichtbar: ein Riese, fast zwei Meter hoch, mit gewaltigen Muskeln. Im Licht schimmerte seine Haut in reinem Weiß, als wäre er aus Schnee geformt. Eine blaue Mähne floss über seine Schultern. In einem grausamen Gesicht flammten zwei Augen in kaltem Blau, wie Eis aus den Tiefen eines Gletschers. In diese Augen zu starren war wie ein Blick in die fernste Vergangenheit, die Begegnung mit einem Wesen, das fremdartig, uralt und äußerst feindselig war. Saiman hatte seine wahre Gestalt angenommen.

Die Männer erstarrten eine halbe Sekunde lang. Sie hatten einen Mann, eine Frau und Saiman erwartet. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass im Strahl ihrer Taschenlampe ein zorniger Eisriese aus der Dunkelheit auftauchte. Sie reagierten genauso wie die alten Skandinavier vor Urzeiten, gelähmt von Ehrfurcht und Angst.

Ich schlitzte dem Mann, der mir am nächsten war, die Innenseite des Oberschenkels auf, zertrennte Muskeln und Schlagader. Dann stach ich ihm die Klinge ins Herz, zog sie wieder heraus und führte sie in einer fließenden Bewegung über den Hals des zweiten Mannes. Die Klinge war so scharf, dass der Schnitt unglaublich dünn war.

Der Mann mit der Taschenlampe gab einen Schuss ab. Saimans riesige Hand schlug ihm die Waffe aus der Faust. Kräftige Finger umklammerten ihn, und der Mann verschwand in der Dunkelheit. Ein heiserer Schrei ertönte, von Schmerz und Todesangst erfüllt.

Derek ließ sich zu Boden fallen und stürmte über die Leichen hinweg ins Wohnzimmer. Ich folgte ihm.

Hinter uns schrie der letzte Mann immer noch, aber nicht mehr verzweifelt, sondern gequält.

Eine Waffe feuerte Kugeln nach rechts, und Holz zerbrach. Jemand schoss in blinder Panik. Ich wartete vier Sekunden ab, bis er das Magazin geleert hatte, dann rannte ich quer durch den Raum, trat hinter ihn und schlitzte ihn auf. Ein Schnitt von links nach rechts, der zweite die Wirbelsäule entlang, knapp unter der kugelsicheren Weste. Er ging zu Boden.

Etwas bewegte sich hinter mir.

Ich wirbelte herum und stach zu. Der Mann war nicht mehr als ein Schatten im Zwielicht. Slayer stieß gegen eine schwerere Klinge. Der Mann verpasste mir einen Fußtritt gegen die linke Seite. Sein Schienbein schlug schmerzhaft in meine Rippen. Ein Muay-Thai-Kämpfer. Auch gut. Ich drehte mich mit dem Hieb, rotierte einmal um meine Achse und trat nach ihm. Meine Ferse traf seinen Solarplexus, und ich legte die ganze Kraft meines Schwungs und meines Körpers in den Angriff.

Der Stoß warf ihn zurück. Mein Knie knirschte. Autsch.

Ich jagte ihn, sprang über Kisten. Als mein gestürzter Gegner sich abrollte und wieder auf die Beine kam, schlitzte ich ihm den Bauch auf. Ich zog Slayer heraus und versenkte die Klinge sicherheitshalber zwischen den Rippen auf seiner rechten Seite, bevor ich zurückwich.

Das Geschrei verstummte.

»Alles klarrr«, hörte ich Dereks verzerrte Stimme.

»Saiman! Schalt die Hauptsicherung wieder ein.«

Einen Moment lang schien sich gar nichts zu rühren. Dann ging das elektrische Licht an, plötzlich und grell, wie ein unverhoffter Schlag. Fünf Leichen lagen verstümmelt und verdreht im Wohnzimmer. Ihr rotes Blut bildete einen ungewöhnlichen Kontrast zum monochromen Hintergrund des schwarzen Bodens und der weißen Möbel. Die gewaltige Bestie, die Derek war, richtete sich auf und ließ einen zerfleischten Körper fallen. Es tropfte rot von seinen Krallen. Er hob die Schnauze. Ein lang gezogenes Wolfsgeheul erfüllte das Apartment, ein Lied, das von Jagd und Blut und erlegter Beute erzählte.

Saiman kam aus dem Labor und musste sich unter dem Türrahmen bücken. Etwas hing von seiner Hand. Einst mochte es ein Mensch gewesen sein, doch nun war es nur noch ein schlaffer Sack aus Fleisch, aus dem hier und dort Knochensplitter ragten.

»Es ist vorbei«, sagte ich in beschwichtigendem Tonfall. »Leg ihn hin.«

Saiman schüttelte sein Opfer.

»Leg ihn hin. Du bist dazu in der Lage. Lass ihn einfach los.«

Saiman ließ die Leiche fallen, die mit einem unangenehm feuchten Klatschen auf dem Boden landete. Der Eisriese sackte an der Wand in sich zusammen und blieb in kauernder Haltung sitzen.

Ich ging an der umgekippten Couch vorbei zu dem Mann, dem ich den Bauch aufgeschlitzt hatte. Er atmete noch und presste die Hände auf die Wunde. Neben ihm lag sein schweres taktisches Schwert. Dickes Blut überzog seine Finger mit einer dunklen, fast teerartigen Schicht. Ja, ich hatte die Leber getroffen. Sein Gesicht war unter einer Skimaske verborgen. Ich zog sie ab. Aus blassen Augen starrte mich ein vertrautes bestialisches Antlitz an.

Blaine »The Blade« Simmons. Er hatte früher mal für die Gilde gearbeitet. Vor etwa vier Jahren hatte er beschlossen, dass ihm die Gilde nicht hart genug war, und auf eigene Faust weitergemacht. In der Unterwelt hieß es, dass man bei Blaine Killer anheuern konnte und er jede blutige Arbeit übernahm. Je scheußlicher, desto besser. Er machte alles, solange die Bezahlung stimmte. Diese Leute mussten sein Team gewesen sein.

Ich ging neben ihm in die Hocke, mein blutiges Schwert in der Hand.

Blaines Atemzüge kamen in schnellen, rasselnden Stößen.

»Wer hat euch angeheuert?«

Er keuchte, seine Finger zitterten.

»Wer hat euch angeheuert?«

»Geh zum Teufel!«

Blaine verdrehte die Augen. Dann erstarrte er und sackte in sich zusammen. Seine Hände hörten auf zu zittern.

»Ich habe hier einen Leeebenden.« Derek hob jemanden vom Boden auf. Der Mann bebte in seinen Armen. Sein rechtes Bein stand in unnatürlichem Winkel vom Körper ab gebrochener Oberschenkelknochen. Im Rücken klaffte eine große Wunde, wo Dereks Krallen ihn aufgerissen hatten. Derek drehte ihn herum, damit ich sein Gesicht sehen konnte. Blasse, verängstigte Augen sahen mich an.

»Wenn nichts weiter mit dir geschieht, wirst du überleben. Sag mir, was ich wissen will, und ich mache es nicht schlimmer«, forderte ich ihn auf.

Der Mann schluckte. »Ich weiß nichts! Blaine hat den Auftrag ausgehandelt.«

»Wie lauteten eure Anweisungen?«

»Wir sollten dieses Apartment überwachen. Wenn die Polizei oder irgendwelche Ermittler auftauchen, sollten wir ganz schnell abhauen.«

»Hattet ihr den ausdrücklichen Befehl zum Angriff, wenn ihr mich oder Derek seht?«

Der Mann nickte. »Dich. Aber nicht ihn. Blaine hat uns Fotos von dir und der Blondine gezeigt.«

Sie wussten, wer Andrea und ich waren, was bedeutete, dass sie auch wussten, wo sich unser Büro befand. Wenn sie uns hier angegriffen hatten, würden sie auch versuchen, das Büro zu stürmen. Jedenfalls würde ich es so machen.

»Warum habt ihr eine Betäubungsgranate benutzt?«

Der Mann schluckte mühsam. »Blaine sagte, der Idiot hätte Geld. Er sagte, es würde niemanden interessieren, wann oder wie er stirbt, solange er am Ende tot ist. Wir wollten ihn eine Weile festhalten, ihn dazu bringen, uns das Geld zu geben und ihn dann erledigen. Blaine sagte, das wäre so etwas wie ein Bonus.«

Nett. »Habt ihr auch Leute in Sibley getötet?«

»Wir und ein paar andere Jungs. Wir wussten genau, wann und wo sie aufkreuzen würden. Wir haben sie alle kaltgemacht. Sie erschossen. Ein Kinderspiel.«

Rätsel gelöst. »Lass ihn fallen.«

Derek öffnete die Hände, und der Mann stürzte krachend zu Boden.

Ich ging zum Telefon und wählte die Nummer von Cutting Edge. Am anderen Ende der Leitung meldete sich Julies Stimme. »Guten Tag. Sie sprechen mit Cutting Edge. Was kann ich für Sie tun?«

»Hallo, ich bin’s. Hol Andrea ans Telefon.«

»Sie ist nicht hier.«

Verdammt. »Wo ist sie?«

»Ein paar Boudas sind gekommen, weil sie mit ihr reden wollten. Sie sagte, es würde nicht lange dauern, dann ist sie mit ihnen gegangen.«

Tante B. Die alte Hexe konnte es einfach nicht abwarten. Sie musste sich Andrea ausgerechnet in diesem Moment zur Brust nehmen.

»Joey ist bei uns.«

Ich suchte in meinem Gedächtnis nach einem Gesicht, das zu diesem Namen gehörte. Joey, Joey Dann sah ich einen Mann Anfang zwanzig vor meinem geistigen Auge, dunkles, fast schwarzes Haar. »Hol Joey ans Telefon.«

Eine junge männliche Stimme meldete sich. »Hallo, Gemahlin! Wie geht es dir?«

»Wir werden angegriffen. Verbarrikadiert die Tür und lasst niemanden rein, den ihr nicht kennt. Schärft es allen ein. Ich bin in einer halben Stunde bei euch. Rührt euch nicht vom Fleck, verstanden?«

Jegliche Fröhlichkeit war aus der Stimme verschwunden. »Ja, Gemahlin.«

Ich legte auf und tippte die Nummer der Wachstation in der Festung ein. »Ich brauche eine Verbindung zu Jim. Sofort.«

»Er ist in der Stadt unterwegs«, erklärte eine weibliche Stimme.

Ich legte so viel Drohung in meine Worte, dass ich damit eine kleine Armee hätte einschüchtern können. »Findet ihn.«

Es wurde still in der Leitung. Ich wartete. Die Leuchtturmwärter hatten eine Killerbande angeheuert. Das klang vernünftig. Schließlich waren ihre eigenen Leute im verdeckten Einsatz und zu wertvoll, um sie in Gefahr zu bringen. Wir mussten davon ausgehen, dass sie bereits vom Scheitern des Angriffs auf Saimans Apartment erfahren hatten und dass ihre Tarnung aufgeflogen war. Jetzt würden sie Saiman zum Abschuss freigeben.

Es klickte in der Leitung, und Jims Stimme meldete sich. »Kate, ich bin hier ziemlich beschäftigt.«

»In der Stadt ist eine antimagische Geheimgesellschaft aktiv. Sie haben eine Bombe. Wenn sie aktiviert wird, tötet sie im Umkreis von mehreren Meilen jeden, der in irgendeiner Form Magie benutzt.«

Jim verlor keine Sekunde. »Was brauchst du?«

»Ich bin in Saimans Apartment. Wir wurden angegriffen. Hier sind sieben Leichen und ein Überlebender. Ich muss wissen, woher die Angreifer kamen, wer sie angeheuert hat, alles, was du herausfinden kannst. Ich schicke Derek mit Saiman zu unserem sicheren Unterschlupf im Westen. Saiman besitzt Dokumente mit näheren Informationen über die Maschine, und er ist jetzt das Hauptangriffsziel der Geheimgesellschaft. Ich werde zu meinem Büro zurückkehren. Julie und Ascanio sind dort, ich muss sie unbedingt zur Festung bringen.«

»Wir sind im Süden, in der Nähe von Palmetto«, sagte Jim.

Auf der anderen Seite der Stadt. Großartig!

»Ich schicke jetzt eine Eskorte los. Ich werde in einer Stunde da sein.«

»Ist Curran bei dir?«

»Er ist im Gelände unterwegs, aber ich werde ihn bald wieder zu fassen kriegen.«

»Sag ihm « Sag ihm, dass ich ihn liebe. »Sag ihm, es tut mir leid, dass wir uns letzte Nacht nicht gesehen haben.«

»Werde ich machen.«

Ich legte auf und sah Derek an. »Bring Saiman und die Dokumente in den sicheren Unterschlupf im Westen. Pass gut auf ihn auf. Wir brauchen das Wissen, das er im Kopf hat.«

Derek riss das Maul auf. »Ja, Gemaaahlin.«

*

Die Magie schlug zu, als ich noch eine Meile vom Büro entfernt war. Der Benzinmotor des Jeeps versagte, und ich steuerte ihn an den Straßenrand.

Die Sorge, die mir seit dem Telefonat im Nacken saß, wurde immer stärker, bis ich es nicht mehr aushielt. Etwas stimmte nicht. Ich konnte es spüren.

Mit den Kids war alles in Ordnung. Sie hatten sich in der Bürofestung verschanzt. Sie hatten einen ausgewachsenen Bouda bei sich, und die Verstärkung war zu ihnen unterwegs.

Ich starrte auf das Lenkrad. Ich würde fünfzehn Minuten brauchen, um den Wassermotor zu beschwören und zum Leben zu erwecken.

Ihnen ging es gut.

Scheiß drauf!

Ich sprang aus dem Wagen, verschloss ihn und setzte den Weg im Dauerlauf fort. Mein Knie protestierte und sandte mit jedem Schritt ein warnendes Stechen durch meinen Oberschenkel. Ein dumpfer Schmerz nagte an meinen Rippen. Es war ein guter Tritt gewesen, aber rückblickend betrachtet wäre es besser gewesen, wenn ich ihm diesen Tritt verpasst hätte.

Die Straßen zogen an mir vorbei. Ich würde sieben Minuten für die Meile brauchen. Das war immer noch schneller, als den Wagen warm zu machen. Ich bog auf die Jeremiah und kam an ein paar Lieferwagen vorbei, die fast die ganze Straße blockierten. Jetzt war es nicht mehr allzu weit.

Etwas lag vor dem Büro auf der Straße. Etwas Kleines, das in Stoff gewickelt war.

Mein Herz schlug schneller. Ich legte einen Zahn zu.

Auf dem Pflaster lag eine Kinderpuppe, in einen schmutzigen Pullover gehüllt. Blut klebte an der Kleidung und dem Plastikgesicht.

Die Tür zum Büro stand offen. Meine Wirbelsäule verwandelte sich in Eis.

Ich zog Slayer aus der Scheide und zwang mich dazu, langsamer zu werden. Ich musste zu Atem kommen. Die Tür war unversehrt. Jemand hatte sie geöffnet. Ich drückte prüfend mit den Fingerspitzen dagegen, und sie schwang weiter auf. Ich blickte in mein Büro. Mein Schreibtisch lag auf der Seite, über den Boden waren wahllos Papiere verstreut. Wo eine blutige Hand nach der Wand gegriffen hatte, war ein roter Fleck.

Auf der rechten Seite sah ich einen nackten Jungen liegen auf dem Rücken, in einer Blutlache, die Brust, wo jemand die Rippen herausgerissen hatte, ein Wald aus Knochensplittern. Männlich. Im Hals und in der linken Schulter hatte er ein Loch. Jemand hatte ihn mit unmenschlichen Zähnen gebissen. Der Kopf war eine blutige Masse aus zerfetztem Gewebe. Ein Stuhlbein ragte aus dem Bauch; jemand hatte die Leiche wie einen Schmetterling am Boden aufgespießt.

Ich näherte mich der Leiche, das Schwert kampfbereit, und sah das stoppelkurze Haar auf der rechten Seite des Schädels. Joey.

Ein wütendes Knurren ließ das Büro erzittern. Etwas schepperte metallisch, einmal, zweimal.

Ich stürmte nach hinten.

Die Tür zum Hinterzimmer lag zersplittert am Boden. Ich sprang darüber hinweg. Ein Teil der Wand war aufgerissen, und durch das Loch sah ich einen weiblichen Gestaltwandler in Kriegergestalt. Sehr groß, mindestens zwei Meter zehn, beigefarbenes Fell mit dunklen Punkten. Sie war nur Krallen und Zähne und schlug mit dem Rest des Stuhls auf den Loup-Käfig ein. Die monströsen Ohren liefen in einem schwarzen Haarbüschel aus. Ein Luchs.

In meinem Kopf fügten sich die Puzzleteile zusammen. Leslie, der vermisste Render, den Curran gejagt hatte.

Im Käfig hielt ein Bouda in Kriegergestalt etwas in den Armen und schützte es mit seinem Körper. Im Rücken hatte er tiefe Wunden, die blutig verschmiert waren. Die Gestalt in seinen Armen zitterte. Zwei verbogene Beine ragten hervor. Muskeln wölbten sich an ungewöhnlichen Stellen, überzogen von Flecken aus menschlicher Haut und beigefarbenem Fell.

Leslie sah mich und erstarrte.

Ascanio drehte sich um, und ich konnte einen Blick auf das werfen, was er zu beschützen versuchte. Ein schreckliches Gesicht mit vorstehendem Unterkiefer starrte mich an. Wie ein Klumpen aus geschmolzenem Wachs, die Augen kaum mehr als schmale Schlitze. Das typische Gesicht eines Lyc-V-Opfers, wenn das Gestaltwandlervirus erstmals den Körper infizierte.

Aus dem Monstergesicht blickten mich kleine braune Augen an. Julie. Oh, mein Gott! Julie!

Leslie versuchte die Kids zu ermorden.

Ich griff an.

Leslie brüllte und schleuderte den zertrümmerten Stuhl auf mich. Ich wich aus und stach ihr in die Brust. Ich zielte aufs Herz, doch Slayer glitt von den Rippen an, stattdessen traf ich einen Lungenflügel. Das war, als hätte man einen Menschen mit einer Nadel gestochen. Krallen streiften meine Schulter. Ich zog einen Schnitt quer über ihren Bauch. Sie beugte sich zurück und trat mit beiden Füßen aus. Ich sah den Tritt, konnte ihm aber nicht mehr ausweichen. Der Schlag traf mich mitten in die Brust. Ich flog zurück in den Hauptraum und rollte mich am Boden ab. Dann krachte ich mit dem Rücken gegen die Wand. Die Welt drehte sich um mich.

Leslie sprang durch das Loch auf mich zu, mit ausgefahrenen Krallen und riesigen schnappenden Zähnen.

Ich duckte mich weg. Sie knallte gegen die Wand und fuhr herum. Ihre Krallen schnitten wie Dolche durch die Luft. Ich wich immer wieder nach links oder rechts aus. Sie holte zu weit aus, und ich sprang in die Öffnung und verwandelte Slayer in einen Wirbelsturm aus scharfem Metall. Linker Schenkel, Flanke, rechter Schenkel, linke Schulter, Brust

Sie knurrte und verpasste mir einen Rückhandschlag. Ich wurde von einem Vorschlaghammer getroffen. Mein Kopf wurde zurückgerissen, sie harkte mit der anderen Hand meinen Körper. Schmerzen explodierten in meinem Bauch. Ich wankte rückwärts.

Ich hatte Blut im Mund. Leslie blutete an mindestens einem Dutzend Stellen, aber es war immer noch nicht genug, um sie auch nur langsamer werden zu lassen. Sie war schnell, das Lyc-V ließ ihre Wunden heilen, und mein Schwert richtete einfach nicht genügend Schaden an.

Ich trat nach ihr. Sie rammte eine Faust gegen mein Bein. Im letzten Moment schwankte ich, und die Faust streifte mich nur. Trotzdem schrie mein Oberschenkelknochen vor Schmerz auf. Sie zielte auf mein verletztes Knie. Ich trieb Slayer in ihre Leber.

Leslie kreischte und brüllte: »Stirrrb schooon!«

Ich führte einen Hieb gegen ihren rechten Arm und zertrennte die Sehne. Wenn ich diesen Kampf nicht gewann, würden die Kids sterben. Also musste ich dieses Miststück unbedingt töten. Ich würde ihr die Gliedmaßen einzeln herausreißen, wenn es sein musste.

Sie packte mich mit der linken Hand, grub die Krallen in meine Schulter und hob mich hoch, um mich näher an ihre Zähne heranzuzerren. Ich zog mein Wurfmesser und stach es ihr in die Kehle schnell, als würde ich einen Nagel einschlagen. Sie gurgelte, riss mich von sich weg und schleuderte mich zur Seite.

Ich prallte mit dem Rücken gegen Andreas Schreibtisch, kam wieder auf die Beine und griff erneut an. Alles tat mir weh, so sehr, dass der Schmerz verhinderte, dass ich das Bewusstsein verlor.

Leslie packte einen Aktenschrank und warf ihn auf mich. Ich wich aus. Dann warf sie einen Stuhl. Ich duckte mich und rückte weiter vor. Leslie hob ein Bücherregal an. Es würde mich treffen, weil ich nirgendwohin ausweichen konnte.

Ein schwarzer Hund in der Größe eines Ponys stürmte durch den Türeingang. Grendel, du blöder magischer Pudel!

Der Hund knallte wie ein Rammbock gegen Leslies Brust. Die Wucht riss den Render zu Boden. Ich rannte auf Leslie zu. Diese Chance musste ich nutzen.

Leslie packte Grendel am Nackenfell und warf ihn beiseite. Der Hund landete mit einem Knurren vor der Wand.

Leslie sprang auf und zeigte mir die gefletschten Zähne. Blut tropfte ihr aus dem Maul und schwappte in lang gezogenen Fäden zu Boden.

Bloß nicht wegtreten. Ich musste einfach bei Bewusstsein bleiben.

»Osanda.« Das Machtwort kam mir über die Lippen und entriss mir unter grellem Schmerz einen Brocken Magie. Es war mir egal. Ich legte alles hinein, was ich hatte. Geh in die Knie. Knie nieder, du Miststück!

Sie keuchte. Ihre Schienbeinknochen zerbrachen wie Zahnstocher, und sie stürzte auf die Knie. Ich holte mit Slayer aus. Die blasse Klinge des Schwertes rauchte, gespeist von meiner Wut. Ich durchschnitt die Wirbelsäule. Leslies Kopf kippte zur Seite. Ich schlug noch einmal zu. Nun fiel er zu Boden. Ihr kopfloser Körper kippte mir entgegen. Ich kickte ihren Kopf in die Ecke und schleppte mich zum Loup-Käfig.

Julie winselte mit sehr leise Stimme. Ihr Atem kam pfeifend aus der Öffnung zwischen ihren zerfleischten Kiefern. Ascanio lag auf dem Rücken. Seine Augen glühten rot und blickten mich an. Er war noch am Leben. Beide waren noch am Leben.

Ich hielt mich an den Gitterstäben fest. Mein Brustkorb schmerzte entsetzlich. »Sie ist tot. Alles wird gut. Alles wird gut. Gebt mir die Schlüssel.«

Ascanio schrie auf und warf sich auf die Seite. Eine Rippe stach aus seiner Brust. Er öffnete die Hand. Darin lag in einer blutigen Masse der Schlüssel. Er schloss die Augen.

Ich schob eine Hand durch die Stäbe, griff nach dem feuchten, warmen Schlüssel und sperrte den Käfig auf.

»Hilf uns«, flüsterte Julie. »Es tut weh, Kate es tut so weh.«

»Ich weiß, Baby, ich weiß.« Ich musste sie zu Doolittle bringen. Ein Viertel der Lyc-V-Opfer überlebte die erste Transformation nicht.

Tränen liefen über Julies Gesicht. »Der Junge stirbt.«

Ich sah mir Ascanio an. Zerbrochene Rippen, aufgeschlitzter Rücken. Ich berührte seinen Hals. Pulsschlag. Schwach, aber regelmäßig. Langsam öffnete er die Augen. »Ich habe es verrrsuuucht.«

»Du warst großartig.«

Von draußen drang das Getöse eines magischen Motors herein. Jims Verstärkung. Ich zwang mich, aufrecht zu stehen.

»Lass mich nicht allein!«, schluchzte Julie.

»Nur bis zur Tür. Um Hilfe zu holen. Ich bin gleich wieder da.«

Ich kehrte ins Wohnzimmer zurück, in meinen Schmerz gehüllt wie in einen Umhang, und sah, wie ein grauer Lieferwagen vor dem Büro anhielt. Das Rudel besaß keine grauen Lieferwagen.

Ich stürmte zur Tür.

Die Tür des Wagens ging auf. Ein älterer Mann stieg aus und richtete eine Armbrust auf mich. Am Ende des Bolzens glühte ein winziger grüner Funke. Eine explosive Pfeilspitze.

Ich schlug die Tür zu und verriegelte sie.

Die Explosion erschütterte das gesamte Gebäude.

Ich ließ den Innenrollladen vor dem linken Fenster herunter und sprang nach rechts. Der Armbrustbolzen war eine halbe Sekunde vor mir dort und prallte am Gitter ab. Schnell ließ ich auch hier den Rollladen herunter. Der Schwall aus magischer Energie schlug wie eine Abrissbirne gegen die Wand. Sie knirschte, aber sie hielt stand. Noch ein paar direkte Treffer, und das Haus würde einstürzen.

Die Kids konnten nicht laufen, jedenfalls nicht schnell genug, um einem Fahrzeug zu entkommen.

Grendel humpelte auf mich zu. Ich kraulte sein zottiges Nackenfell und fuhr mit der Hand an seinem Rücken entlang. Offenbar nichts gebrochen.

Ich hatte noch genug Kraft für ein weiteres Machtwort. Damit würden wir ein paar Minuten Zeit gewinnen, aber danach wäre ich für einige Zeit ausgeknockt. Dann saßen wir hier in der Falle.

»Wenn es hart auf hart kommt, versteckst du dich, hast du gehört?«

Grendel winselte.

»Versuch nicht, den Helden zu spielen, Hund.«

Ich schob die Klappe in der Tür zur Seite und öffnete das schmale Sichtfenster. Die Tür des Lieferwagens stand offen. Drinnen legte der Mann mit der Kampfweste langsam und methodisch einen weiteren Sprengbolzen in seine Armbrust.

Wir waren erledigt.

Wenn sie sich durch die Wand sprengten, würde ich ein paar von ihnen mitnehmen. Zu mehr war ich nicht imstande.

Der Mann hob die Armbrust.

Eine graue Gestalt sprang vom Dach. Eine riesige Bestie, eine Mischung aus Mensch und Löwe, landete auf dem Lieferwagen.

Curran.

Die mächtigen Krallen schlugen ins Dach des Lieferwagens und rissen das Metallblech auf, als würden sie eine Sardinenbüchse öffnen. Der Armbrustschütze blickte auf und sah noch, wie die große Tatze herankam, um seinen Schädel wie ein Ei platzen zu lassen. Die Kiefer des Löwenkopfes öffneten sich und entließen ein ohrenbetäubendes Brüllen, eine Kriegserklärung, die sogar den Lärm des beschworenen Motors übertönte. Die Bestie steckte den Kopf durch das Loch und zog zwischen den Zähnen einen strampelnden Körper heraus. Sie packte ihn mit den Tatzen und riss die obere Körperhälfte ab.

Wieder einmal war er meine Rettung.

Currans Gestalt zerfloss und verwandelte sich in eine etwas menschenähnlichere Form. Er zog einen weiteren Mann aus dem Lieferwagen, brach ihm das Genick, warf die Leiche beiseite und sprang ins Fahrzeug. Dann wurde es heftig durchgeschüttelt. Blut spritzte von innen gegen die Fenster, jemand schrie, und schließlich stieg der Herr der Bestien aus, blutig und mit golden glühenden Augen.

Ich entriegelte die Tür. Sie schwang auf, und er zog mich an sich. Ich warf ihm die Arme um den Hals und küsste ihn, ohne auf das Blut und das Fell zu achten.