6. KAPITEL
Hope wand sich, warf sich herum, versuchte zu entkommen. Nur ein Lichtschimmer. Sie griff danach, nach der Klinke. Konnte sich nicht bewegen. Schmerz. Sie versuchte es erneut. „Die Hand des Teufels.“ Das Seil schnitt ihr in die Handgelenke. „Ich verbiete dir, sie zu benutzen.“
Sie rang nach Atem. Ihr Herz klopfte so laut, dass ihr die Ohren dröhnten. Sie starb. Er hatte sie hier zum Sterben eingesperrt.
Faith, wo ist Faith? Wo war ihre Zwillingsschwester?
Finster. Es war so finster. Kann die Hand nicht bewegen. „Ich werde dich lehren, diese Hand zu benutzen.“
Ungeschickt tastete sie mit ihrer anderen Hand nach dem Griff, versuchte den Lichtspalt zu berühren. Sie sollte das Schloss von innen öffnen können. Versuch’s. Versuche es!
Kann nicht! Zu ungeschickt! Sarg. Sie versuchte mit der Faust gegen den Deckel zu hämmern. Aber die Hand gehorchte ihr nicht. Gute Hand. Böse Hand. Der Strick schnitt ihr ins Fleisch. Fest. So fest, dass ihr das Blut abgeschnürt wurde, die böse Hand. „Böse. Verdorben.“
Sie versuchte zu atmen.
„Faith“, rief sie. „Faith!“
„Hope! Hope, Liebes, ich bin hier. Wach auf!“
Licht. Gesegnetes Licht. Es blendete sie, aber trotzdem dankte sie dem Himmel. Faith, ihre Zwillingsschwester, ihre andere Hälfte. In einem Nachthemd. Sie war in Sicherheit. Mühsam rang sie nach Atem.
„Ganz ruhig, Hope. Du bist in Sicherheit. Es war nur wieder einer deiner Träume.“
Allmählich drangen die Worte zu ihr durch. Ein Traum? Sie war nicht auf Dereham Court? Gott sei Dank.
„Es war nur ein Albtraum, Liebes. Du bist hier sicher, in deinem Bett, weit weg von Großvater.“ Faith strich ihr das wirre Haar aus der Stirn.
Hope blinzelte verständnislos, immer noch teilweise im Traum gefangen. Ihre Schwester ergriff ihre linke Hand und hielt sie ihr vors Gesicht. „Siehst du? Keine Stricke. Keine Abdrücke. Es liegt alles hinter uns.“ Sie nahm sie in den Arm.
Zitternd holte Hope mehrmals tief Luft und rieb sich das linke Handgelenk, als wären die Abschürfungen von den Stricken noch da. „Tut mir leid“, sagte sie.
„Das muss es nicht“, erwiderte ihre sanfte Schwester heftig. „Denkst du, ich wüsste nicht, worum es in diesen Albträumen geht? Wie oft du Strafen auf dich genommen hast, die eigentlich ich verdient hatte?“ In ihren Augen glitzerten Tränen. „Ich wünschte nur, ich könnte dir die Albträume abnehmen.“
Hope lächelte zittrig und erwiderte Faith’ Umarmung. „Mach dir keine Sorgen. Ich weiß, du hast deine eigenen Albträume. Das haben wir alle. Es ist Großvaters Erbe.“
Plötzlich musste sie wieder an die Worte ihrer Schwester von neulich denken. „Noch fünfzig Jahre, und wen siehst du vor dir? Großvater!“
War das der Auslöser ihres Albtraums? Erinnerte er sie tief in ihrem Innern doch an Großvater? War der Traum eine Warnung?
Sie dachte darüber nach. Sebastian Reyne war nicht wie Großvater. Er war es nicht. Sie war sich sicher, dass er das nicht war.
Beinahe ganz sicher.
Müde lenkte Sebastian sein Pferd auf die Auffahrt zu seinem Haus. Das Gebäude war hell erleuchtet. Er war nass, schmutzig und erschöpft. In den letzten zweiundzwanzig Stunden war er beinahe ununterbrochen geritten. Er konnte nicht sagen, wie oft er auf dem Weg das Pferd gewechselt hatte. Erschöpft stieg er ab, wankte, als seine Muskeln sich verkrampften.
Die Eingangstür wurde aufgerissen, ehe er die Stufen erreichte. Der Butler eilte ihm entgegen. „Es ist alles in Ordnung, Sir. Wir haben die Mädchen gefunden. “
Sebastian stolperte.
„Mr. Black hat sie gefunden. Sie sind in Sicherheit.“
Sebastian starrte den Butler an, fast unfähig zu verstehen, was er sagte. Er hob den Blick. Hinter dem Butler stand Morton Black in der offenen Tür und hinter ihm mit halb verlegener, halb trotziger Miene Cassie, Dorie an der Hand. Dorie sah nicht anders aus als sonst: weit aufgerissene Augen, argwöhnisch und still.
Erleichterung erfasste ihn. „Gott sei Dank!“ Er lief die Eingangsstufen empor und bückte sich, um die Mädchen zu umarmen. Sie zuckten zurück. Sebastian erstarrte. In seiner Erleichterung, sie gesund und heil vor sich zu sehen, hatte er es vergessen.
Gekränkt und wütend auf sich selbst, weil er die Grenzen überschritten hatte, die die Mädchen von Beginn an gezogen hatten, rieb er sich das unrasierte Kinn. „Entschuldigung. Ich habe nicht daran gedacht, wie nass und schmutzig ich bin. Ich muss wie ein Bär aussehen.“
Sie schwiegen.
Nachdem er sich seines nassen Wollüberrocks, der Handschuhe und des Hutes entledigt hatte, gab er Morton Black die Hand. „Noch einmal vielen Dank, dass Sie zur Rettung geeilt sind, Black. Ich bin Ihnen überaus dankbar. Wollen wir nicht in den Salon gehen? Ich würde gerne alles erfahren. Und Treece“, wandte er sich an den Butler. „Ich bin halb verhungert. Die Mädchen und Mr. Black hätten gewiss auch nichts gegen eine kleine Stärkung einzuwenden.“
Er schob die beiden Mädchen vor sich in den Salon und ließ sich auf einen Holzstuhl fallen. „Nun, Black, mussten Sie weit reisen, um sie zu finden?“
Morton Black schüttelte den Kopf. „Nein, gar nicht. Nur bis auf Ihren Dachboden.“
Sebastian runzelte die Stirn. „Den Dachboden hier?“
Black nickte. „Ich wollte mich gerade aufmachen, die Straßen abzusuchen, als ich bemerkte, dass sie weder Mäntel noch festes Schuhwerk mitgenommen hatten. Das gab mir zu denken. Es erschien unlogisch, wissen Sie, und diese beiden hier sind auf keinen Fall ... dumm. Unvernünftig, vielleicht, aber nicht dumm.“ Er bedachte die Mädchen mit einem leicht tadelnden Blick. Cassie reckte in stummem Trotz ihr Kinn. Dorie saß still und schwieg.
„Dann hörte ich zufällig“, fuhr Black fort, „wie die Köchin eine Spülmagd beschuldigte, sie habe Essen aus der Küche gestohlen, und ich habe eins und eins zusammengezählt. Deswegen habe ich befohlen, das Haus vom Keller bis zum Boden zu durchsuchen.“ Er nickte befriedigt. „Hab sie auf dem Dachboden entdeckt. Miss Dorie schlief tief und fest in einem alten Lehnstuhl, und Miss Cassie saß auf dem Dach und betrachtete die Umgebung. Ich hätte es wissen sollen.“
Erleichterung drohte Sebastian zu überwältigen. Sie hatten offenbar nicht versucht, vor ihm wegzulaufen.
Bloß erklärte das nicht, warum die Mädchen sich überhaupt versteckt hatten. Sie waren keine Kinder, die aus Übermut Streiche spielten. Eigentlich wäre es ihm fast lieber, wenn sie solche kindlichen Züge aufweisen würden. Er ging dem Problem ohne Umschweife auf den Grund. „Ja, aber warum haben sie sich versteckt? Sie sind hier doch völlig sicher.“
Black zuckte die Schultern. „Das kann ich Ihnen nicht sagen, Sir. Die Mädchen haben es mir nicht verraten. “
„Cassie?“ Sebastian drehte sich zu ihr um. „Warum habt ihr beide euch versteckt?“
Eine lange Pause entstand.
„War es ein Streich? Dachtest du, es wäre ein Spaß, alle hereinzulegen?“
Statt einer Antwort warf ihm Cassie einen verächtlichen Blick zu. Selbstverständlich würde sie so etwas nicht aus Jux und Tollerei tun, sagte der Blick.
„Warum dann, Cassie?“
Trotzig und verschlossen zuckte sie die Schultern.
Erbittert ballte er die Hand zur Faust, sagte aber in ruhigem Ton: „Ich bestehe auf einer Antwort, Cassie. Wenn du einen guten Grund hast, wird niemand bestraft. Wenn nicht, erhältst du eine Strafe.“
Dorie schaute auf Sebastians Faust, dann zu ihrer Schwester. Ihr kleines Gesicht war weiß und angespannt, und statt ausdruckslos wie sonst wirkte ihre Miene ängstlich.
Es drückte Sebastian das Herz ab. Mit leiserer Stimme wandte er sich an sie. „Es ist gut, Dorie, niemand wird dir oder Cassie etwas tun. Cassie, hatte es etwas mit Dorie zu tun?“
Cassie sah ihre Schwester an, dann zuckte sie gleichgültig die Achseln. „Und wenn?“
Sebastian seufzte. „Sag es mir einfach, Cassie. Ich bin müde, ärgerlich, erleichtert - alles gleichzeitig. Ich bin Tag und Nacht geritten, außer mir vor Sorge, dass euch beiden etwas Schreckliches zugestoßen ist.“
Skeptisch kniff Cassie die Augen zusammen.
Sebastian wiederholte: „Ja,außer mir vor Sorge!“ Er schüttelte den Kopf, ratlos wegen ihres Verhaltens. „Natürlich war ich das. Ihr beide seid meine Schwestern. Warum sonst sollte ich in London alles stehen und liegen gelassen haben, um herzukommen und nach euch zu suchen?“
Cassie runzelte die Stirn.
Er sagte: „Und ich war nicht der Einzige. Treece, Mrs. Elliot, Mr. Black und die Köchin, alle haben sich große Sorgen um euch gemacht und überall nach euch gesucht. Ich nehme an, die meisten haben seit Tagen nicht richtig geschlafen.“
Sie schaute fragend zu Black, der bestätigend nickte.
Gerade kam Treece herein, eine Kanne Tee, eine Brandykaraffe und einen Teller mit Sandwichs auf einem Tablett. Cassie schaute ihn an, und er nickte. „Es stimmt, Miss Cassie. Wir haben uns alle große Sorgen gemacht. Mrs. Treece hat vor lauter Angst kein Auge zugetan.“
Sebastian, der bemerkte, dass Cassie ehrlich überrascht von ihrer Sorge war, erklärte: „Wir alle haben befürchtet, ihr lägt irgendwo tot im Straßengraben oder schlimmer. Das wenigste, was du daher tun kannst, ist uns zu erklären, warum du uns das hast durchmachen lassen.“
Nach einem Moment des Überlegens sagte Cassie langsam: „Es war kein Streich. Es tut mir leid wegen der Aufregung, die wir verursacht haben. “ Sie schaute zu ihrer kleinen Schwester, und sie verständigten sich lautlos. „Dorie hatte Angst. Sie dachte, sie hätte ... jemanden gesehen.“
„Wen?“
Cassie schüttelte den Kopf.
„Hat sie es dir gesagt? Kann sie sprechen?“
„Du weißt doch, dass Dorie nicht spricht“, erwiderte Cassie ungeduldig.
„Wie willst du dann ...“ Er brach ab. „Nun gut, ich glaube, dass Dorie Angst hatte und dass ich nicht hier war, um euch beide zu beschützen, vor wem auch immer. Aber warum habt ihr es nicht Treece oder Mrs. Elliot erzählt?“
Ausdruckslos schaute sie ihn an, und er erkannte, dass ihr der Gedanke nicht gekommen war. Sie rechnete nicht damit, beschützt zu werden. Das war der Grund, weswegen sie immer ein Messer bei sich trug.
Sanft erklärte er: „Wenn ich nicht da bin, sind trotzdem etwa
zwanzig Leute in diesem Haus, Cassie, und ihre Aufgabe ist es, sich um euer Wohlergehen zu kümmern. Ihre einzige Aufgabe.“ Cassie zuckte unbehaglich die Schultern: Sie war beunruhigt, aber entschlossen, Gleichgültigkeit zu heucheln.
„Kannst du mir irgendetwas darüber verraten, wer oder was Dorie Angst gemacht hat?“
Wieder hatte sie diesen sturen Ausdruck in den Augen, und Sebastian begriff, dass er alles erfahren hatte, was sie ihm heute sagen würde. „Nun gut, es ist schon spät. Mrs. Elliot wird euch beide jetzt zu Bett bringen. Ich werde morgen darüber nachdenken, was wir unternehmen, wenn ich ein wenig geschlafen habe und mein Kopf klarer ist. Gute Nacht, Cassie und Dorie!“
„Gute Nacht, Sir“, murmelte Cassie und nahm Dorie an der Hand. Auch das tat weh. Cassie weigerte sich, ihn Sebastian zu nennen, wie er sie gebeten hatte. Sie bestand darauf, ihn mit „Sir“ anzusprechen wie die Dienstboten, und machte damit deutlich, dass er ihr nichts bedeutete.
Sebastian schaute zu, wie sie aus dem Raum gingen. Als sie die Tür erreichten, sagte er leise: „Ich weiß, ich klinge verärgert, aber ihr könnt euch nicht vorstellen, wie dankbar ich bin, dass ihr beide gesund und wohlauf seid.“
Die Mädchen blieben kurz auf der Schwelle stehen, dann schauten sie einander an. Langsam, zögernd drehte sich Cassie um. „Es tut uns leid, dass wir Ihnen Sorgen bereitet haben“, erklärte sie an den Raum als Ganzes gewandt, nicht an Sebastian. Es war ein Sieg, aber ein schaler.
„Schlaft gut, ihr beiden“, antwortete er und war mit einem Mal unglaublich müde. Sie würden nie aufhören, ihn dafür zu strafen, dass er sie verloren hatte.
„Also habe ich sie mit nach London genommen“, erzählte Sebastian Giles zehn Tage später. Mit dem Kinn deutete er nach oben zur Decke. „Sie schlafen jetzt. Die Reise hat sie ganz schön erschöpft, die armen Kleinen.“ Er war am späten Nachmittag in London angekommen.
Giles hob eine Augenbraue. „Zwei kleine Mädchen um dich zu haben erschwert dein gesellschaftliches Leben, weißt du.“ „Ja, aber was sonst hätte ich tun sollen? Es liegt auf der Hand, dass ich sie nicht allein lassen kann. Dringender als je brauche ich eine Ehefrau, und je länger ich es aufschiebe, desto mehr Schwierigkeiten tun sich auf.“
„Welche Schwierigkeiten? Machen die Mädchen mehr Probleme?“
Sebastian schüttelte den Kopf. „Nein, eigentlich nicht, obwohl ich einräumen muss, dass mir ihre letzte Eskapade ganz schön zugesetzt hat. Aber es geht auch um die Fabrik. Es gibt Sachen, um die ich mich selbst kümmern muss, und in letzter Zeit hat es viele Unruhen in der Gegend gegeben. Bislang ist es mir gelungen, zu verhindern, dass es auch meine Fabriken erreicht - die Lage meiner Arbeiter ist wesentlich besser als die der meisten, und das wissen sie -, aber trotzdem können ein paar Hitzköpfe ...“Er bemerkte Giles’glasig werdenden Blick und sagte: „Ich langweile dich. Jedenfalls muss ich diese Brautwerbung so kurz wie möglich halten, damit ich mich wieder meinem normalen Leben zuwenden kann. Vor einer Stunde habe ich Lady Elinore eine Nachricht geschickt.“
„Also hast du deinen Plan nicht aufgegeben, Lady Elinore den Hof zu machen?“
„Nein, warum sollte ich?“ Sebastian schob den Gedanken an Miss Hope entschlossen beiseite. „Dieser Zwischenfall hat mich mehr als alles darin bestärkt, dass ich eine Frau brauche, die für ihre besonderen Umstände Verständnis hat.“
„Du bist also wild entschlossen, deine eigenen Wünsche als unwichtig..."
„Wir sollten meine Wünsche - was immer du auch meinst, woraus sie bestehen - außen vor lassen, Giles.“
„Nun gut. Deine eigenen Wünsche sind unwichtig, und nur Lady Elinore kann deine Schwestern verstehen, niemand sonst. Wie zum Beispiel Miss Hope.“ Zweifelnd lächelte Giles.
Sebastian runzelte die Stirn. Sein Freund war wie eine Katze, die uninteressiert schien, bis sie ihre Krallen zückte. Mit Nachdruck erklärte er: „Miss Hope ist ein reizendes Mädchen, aber sie hat ein behütetes, privilegiertes Leben geführt. Lady Elinore mag der privilegierten Klasse entstammen, aber sie hat den größten Teil ihres erwachsenen Lebens mit armen Waisenmädchen gearbeitet.“ An dem Ausdruck in seinen Augen konnte er erkennen, dass Giles nicht aufgeben würde, daher wechselte er das Thema. „Danke auch, weil du die Wogen bei ihr geglättet hast. War sie sehr verärgert, dass ich nicht zur Ausfahrt erschienen bin?“
„Nein, nicht sehr.“
„Gut. Dann hast du es ihr erklärt.“
„Ja.“
„Gut. In meiner Nachricht habe ich Lady Elinore für morgen früh zu einer Ausfahrt mit mir und den Mädchen eingeladen.“ Giles hob eine Augenbraue. „Und hat sie die Einladung angenommen?“
Sebastian schüttelte den Kopf. „Noch nicht. Ich habe ihr aber auch erst vor etwa einer Stunde die Nachricht geschickt. Aber ich bin sicher, sie wird es.“
Giles nippte an seinem Portwein und sagte nichts.
„Das hier ist Hyde Park“, erklärte Sebastian, als die offene Kutsche das Tor passierte. „Alle, die etwas sind, gehen hier am Nachmittag spazieren - alle vornehmen Leute. Prächtig gekleidete Damen und bedeutende Herren.“
„Sie sehen nicht prächtig aus, sie sehen dumm aus.“ Mit hängenden Schultern saß Cassie in der Ecke der Kutsche und ließ ihre Füße baumeln, sodass sie immer wieder gegen die Ledersitze trat, während sie den Spaziergängern finstere Blicke zuwarf.
„Das hier ist nicht die richtige Zeit für die Promenade. Jetzt sind nur wenige Leute hier. Am Nachmittag drängen sich hier die elegantesten Menschen der Welt.“
„Ich hasse Menschenansammlungen.“ Cassie war wild entschlossen, nichts zu mögen. Sie hatte nicht nach London kommen wollen. Sie hatte heute Morgen nicht mit der Kutsche fahren wollen. Von London hatte sie genug gesehen.
Es war ein Verhalten, das sich Sebastian sonst von niemandem gefallen lassen würde, aber für den Augenblick hatte er beschlossen, ihre Unhöflichkeit nicht weiter zu beachten. Allmählich begann er, sie zu verstehen. Es war symbolische Unhöflichkeit. Er konnte es nicht ganz genau sagen, aber er hatte das Gefühl, trotz ihrer Feindseligkeit war sie dankbar, dass er sich um sie kümmerte, und erleichtert, die Bürde von Dories Schweigen und ihrer namenlosen Furcht mit jemandem zu teilen.
Wie auch immer, Cassie musste ihre Unabhängigkeit zeigen. Sie war im Grunde genommen stolz und verpasste keine Gelegenheit, ihn daran zu erinnern, dass sie bislang ohne ihn ausgekommen war. Das Messer an ihrem Bein, mit dem sie gegen die Polster trat, war ein unsichtbarer Beweis dafür.
Ein hochrädriger Phaeton fuhr flott an ihnen vorbei, gezogen von einem Paar exzellent aufeinander abgestimmter Grauer. Giles besaß ein ähnliches Gefährt. Sebastian reckte den Hals, aber von seinem Platz aus konnte er nicht erkennen, wer der Fahrer war, sondern nur, dass er einen hohen Biberhut aufhatte und eine Dame mit grauem Hut neben ihm saß.
Er schüttelte den Kopf. Was dachte er nur? Giles stand nie vor Mittag auf.
„Hör auf, gegen den Sitz zu treten, Cassie“, verlangte Sebastian.
Trotzig hob sie den Kopf, gehorchte aber. Ihre Feindseligkeit war eine hauchdünne Schicht. Gestern, als sie in der Stadt ankamen, hatte Cassie mürrisch erklärt, sie wollte nicht in London leben, noch nicht einmal für einen Monat, aber sie hatte sich nicht davon abhalten können, den Kopf nach all den Sehenswürdigkeiten umzudrehen. Ihre Augen hatten vor Aufregung geglitzert. Und jetzt im Park nahm sie jedes Detail an der Kleidung der Damen wahr, von denen sie behauptete, sie sähen dumm aus.
Sie war ein aufgewecktes kleines Ding, und Sebastian war dankbar dafür. Die Schwierigkeiten, die Cassie ihm bereitete, störten ihn nicht. Cassie war eine Lebenskünstlerin, ähnlich wie er selbst. Durch ihre Erfahrungen hatte sie sich nicht kleinkriegen lassen.
Es war Dorie, die ihm am meisten Sorgen bereitete. Er hatte keine Ahnung, wie er mit ihr umgehen sollte. Sie schien ihm so zerbrechlich.
Auf dem Sitz in der Kutsche saß sie wie eine kleine, dünne Puppe. Ihre Haut war blass wie Porzellan und zart, ihre Augen wirkten groß in ihrem spitzen kleinen Gesicht. Dass sie ständig Essen mitgehen ließ, konnte man ihr wirklich nicht ansehen. Er wünschte, er könnte sie irgendwie erreichen.
Die Gouvernante irrte sich. Dorie war nicht geistig behindert. Sie sprach nur nicht. Aber sie verstand alles, was gesagt wurde, und Sebastian glaubte auch, dass sie lesen konnte - wenigstens schienen ihr die Bücher Freude zu bereiten, die er besorgt hatte. Sie weigerte sich zu schreiben, außer etwas abzuschreiben. Von diesen Punkten einmal abgesehen, war sie immer artig und folgsam. Beinahe unnatürlich für ein Mädchen, das gerade zwölf geworden war.
Sebastian machte sich beständig Sorgen ihretwegen. Er hatte versucht, sie von einem Arzt untersuchen zu lassen, um zu sehen, ob ihr Schweigen auf eine Verletzung im Hals zurückging. Doch sie weigerte sich standhaft, und der Anblick des bleichen Kindes, das sich verzweifelt mit seinen kleinen Fäusten gegen den Arzt gewehrt hatte, hatte ihn geradewegs ins Herz getroffen. Er hatte den Arzt weggeschickt.
Noch Wochen danach hatte sie ihn aus ihren großen grauen Augen vorwurfsvoll angeschaut.
Jetzt saß sie ordentlich auf ihrem Platz und betrachtete gehorsam die Sehenswürdigkeiten von Hyde Park. Er hatte keine Ahnung, was in ihrem Kopf vorging, aber er musste weiter versuchen, es herauszufinden.
Zum Dutzendsten Mal wünschte er sich, Lady Elinore wäre bei ihm. Sie wüsste, was zu tun wäre, was sie zu seinen Schwestern sagen sollte. Aber sie hatte sich entschuldigt, weil sie heute Morgen eine andere Verabredung hatte. Sebastian erkannte eine Ausflucht, wenn sie ihm unterkam. Lady Elinore musste beleidigt sein, weil er Hals über Kopf nach Manchester auf gebrochen war und es seinem Freund überlassen hatte, seine Entschuldigung zu übermitteln. Er hätte sich die Zeit nehmen sollen, ihr wenigstens eine kurze Nachricht zu schreiben. Und seinem Butler auftragen, ihr Blumen zu schicken.
„Wir kommen jetzt zum Teich“, sagte er. „Dorie, würdest du gerne Enten füttern?“
Sie schaute zum Wasser, antwortete allerdings nicht. Er bedeutete dem Kutscher, anzuhalten.
„Warum bleiben wir stehen?“, verlangte Cassie zu wissen.
„Um die Enten zu füttern.“
„Womit?“
Sebastian förderte einen Korb mit altbackenem Brot zu Tage. „Kommt!“
„Ich will keine blöden Enten füttern“, murrte Cassie. „Ich hasse Enten.“
„Das kümmert mich nicht. Ich möchte, dass du sie fütterst, und die frische Luft wird dir guttun.“
„In London gibt es keine frische Luft.“
„Stimmt. Du vermisst sicher die reinen, süßen Düfte von Manchester“, stimmte ihr Sebastian ironisch zu. Netter fügte er hinzu: „Steig aus, Cassie, oder ich verfüttere dich an die Enten. Obwohl du mit dieser finsteren Miene den armen Tierchen eine Magenverstimmung bescherst. “
Schmollend kletterte Cassie herunter. Sebastian stieg aus und drehte sich um, um Dorie aus der Kutsche zu helfen. Sie wich zurück, und er verfluchte sich innerlich, dass er nicht daran gedacht hatte. Cassie drängte sich an ihm vorbei und hielt ihrer Schwester die Hand hin. Dorie nahm sie und ging vorsichtig die Stufen herunter. Sie sah aus, als könnte sie der nächste Windstoß umpusten.
Zusammen gingen sie zum Teich. Sebastian zerbrach das Brot und gab es seinen Schwestern. Die Enten kamen laut schnatternd herbei. Nach ein oder zwei Augenblicken hatte Cassie vergessen, dass sie Enten blöd fand, und warf ihnen Bröckchen zu, lachte fröhlich darüber, wie sie sich um die Stückchen zankten, schalt sie, dass sie sich gegenseitig Brot abjagten.
Dorie brach ihr Brot in winzige Stücke und warf sie eines nach
dem anderen ins Wasser, wobei sie sich die kleineren Enten, die
scheuen und die lahmen, aussuchte. Sie tat das ganz ernst und
bedächtig, als habe man ihr eine wichtige Aufgabe
anvertraut.
Ihr gefiel es, entschied Sebastian. Sie würden das hier wieder tun. Jeder positive Moment war ein Schritt nach vorne. Als er beschlossen hatte, sie mit sich nach London zu nehmen, hatte er aus der Beobachtung Trost gezogen, dass Dorie irgendwie erleichtert schien, ihn zu sehen. Natürlich hatte sie das weder durch Tat noch Wort gezeigt, aber auch seine Haushälterin hatte seinen Eindruck bestätigt. Mrs. Eliot sagte, das Mädchen entspanne sich etwas, wenn er heimkomme. Und obwohl sie immer noch körperlich Abstand hielt, wirkte sie auf ihn irgendwie weniger ängstlich, wenn er da war, fast wie jemand, der Angst vor Hunden hatte, sich aber durch die Anwesenheit eines Wachhundes irgendwie sicherer fühlte.
Es war eine Art Fortschritt. Wie das Füttern der Enten.
„Ach, ich sehe, die Enten haben Sie ebenfalls schon gut erzogen, Mr. Reyne“, erklang eine Stimme hinter ihm. „Sie sind ganz schön anspruchsvoll, nicht wahr?“
Es war Miss Hope, die in einem grünen Ausgehkleid und einer grün-weißen Pelisse hinreißend aussah. Die Verschnürung der Pelisse aus russischen Paspeln sollte militärisch wirken, aber an ihr tat sie das nicht. Auf ihren Locken trug sie ein flottes Hütchen mit goldenem Schnurbesatz und einer roten Feder. Sie lächelte ihn so herzlich an, dass ihm die Luft wegblieb.
Er starrte sie stumm an, und die Kehle war ihm wie zugeschnürt vor Verlangen.
„Wie geht es Ihnen, Mr. Reyne?“, sagte eine andere Stimme kühl, riss ihn aus seiner Trance. Ihm wurde jäh klar, dass beide Misses Merridew vor ihm standen, in Begleitung eines hübschen Kindes mit rotgoldenem Haar und eines Lakaien, der einen Weidenkorb in der Hand hielt.
Widerstreitende Gefühle tobten in ihm. Es war elf Tage her, seit er Miss Hope bei dem Konzert gesehen hatte. Elf Tage voller Aufregung und Sorge, aber dennoch hatte er sie vermisst.
Bloß hatte er noch nicht vorgehabt, dass seine Schwestern jetzt schon Mitglieder der Gesellschaft kennenlernten, außer Giles, der über sie Bescheid wusste, und natürlich Lady Elinore. Cassie und Dorie waren noch nicht so weit, Leuten vorgestellt zu werden. Sie brauchten mehr Zeit, um sich sicher zu fühlen, mehr Zeit, zu lernen, wie man sich benahm.
Miss Hope legte dem hübschen Mädchen ihren Arm um die Schulter und zog sie nach vorne. „Mr. Reyne, das hier ist unsere Schwester Grace. Grace, das ist Mr. Reyne.“
Das Mädchen knickste und sagte schüchtern: „Guten Morgen, Sir.“ Sie musste etwa elf oder zwölf Jahre alt sein, dachte er, während er ihren Gruß erwiderte. Erwartungsvoll schaute sie zu seinen Schwestern.
Verdammt und zugenäht! Er hatte keine Ahnung, ob seine Schwestern überhaupt wussten, wie man sich anderen Kindern gegenüber verhielt. Deshalb war er ja auch so früh am Morgen hergekommen und hatte eine abgelegene Stelle am Ufer ausgesucht. Jetzt lächelten drei Mitglieder der vornehmen Welt seine Schwestern an. Es gab kein Entkommen, denn Miss Hope erkundigte sich gerade: „Und diese beiden reizenden jungen Damen sind ...?“
Sebastian wusste nicht, was er sagen sollte. Wenn er sie vorstellte, würde Cassie unhöflich sein und Dorie als Missgeburt bloßgestellt werden, die nicht sprechen konnte. Innerhalb weniger Tage würde der ganze Ton davon wissen, und das würde Sebastian nicht zulassen. Seine Schwestern waren kein Stoff für Klatsch. Er wollte sie beschützen, sie packen und mit ihnen in die sichere Kutsche zurückkehren. Nur wenn er Dorie packte, würde sie sich wehren, dann würde Cassie ihr Messer zücken, und die Hölle wäre los. Finster blickte er Miss Hope an, wünschte sich, sie und ihre Schwestern würden sich in Luft auflösen.
Aber ehe er sprechen konnte, wurde ihm ein kleiner Ellbogen in die Seite gerammt, und Cassie drängte sich an ihm vorbei. „Meinem Bruder scheint es die Sprache verschlagen zu haben. Ich bin Cassandra, und das ist meine Schwester Eudora, aber wir nennen sie Dorie. Sie spricht nicht.“ Sie warf das wie einen Fehdehandschuh hin, aber Miss Hope lächelte nur.
„Hallo, Cassandra und Dorie.“ Sie drückte Cassie die Hand und streckte Dorie freundlich ihre eigene entgegen.
Dorie musterte sie eine Weile abwägend, und Sebastian wappnete sich schon für das Schlimmste. Dann hingegen ergriff das Kind die Hand, und er seufzte erleichtert.
Unbeeindruckt fuhr Miss Hope fort: „Wir sind so froh, euch kennenzulernen - nicht wahr, Grace? Denn Grace kennt sonst niemanden in ihrem Alter in London und langweilt sich zu Tode beim Einkaufen oder ähnlichen Aktivitäten, die wir älteren Damen so genießen.“
Grace nickte und betrachtete Cassie ernst. „Bist du schon im Londoner Tower gewesen?“
Cassie schüttelte den Kopf.
„Früher wurden Leuten da die Köpfe abgeschlagen - sogar Königen“, unterrichtete Grace sie genüsslich. Sie wandte sich an ihre Schwester. „Wir könnten doch noch einmal hingehen, oder? Und Cassandra und Dorie mitnehmen?“
Ihre Schwester nickte. „Sicher. Wenn Mr. Reyne es erlaubt.“ Cassie schaute ihn streitlustig an, warnte ihn, es zu verbieten. „Das wäre sehr nett, danke“, erklärte sie, „und ihr dürft mich Cassie nennen.“
Sebastian blinzelte und bemühte sich, ein breites Grinsen zu unterdrücken. Wer hätte gedacht, dass seine messerbewehrte, kämpferische kleine Schwester zu solch reizenden Manieren in der Lage war? Sogar ihre Sprechweise war deutlich besser.
Sie war eine gute Beobachterin, wurde ihm plötzlich klar. Sie hatte den Merridews so geantwortet, wie sie sie angesprochen hatten. Wie interessant.
„Ist Ihnen das Brot ausgegangen?“, fragte die andere Zwil-lingsschwester. Sie nahm dem Lakai den Korb ab. „Wir haben genug dabei. Die Köchin hebt es für uns auf. Hier. “ Sie reichte jedem Mädchen mehrere große Stücke, und sie eilten zurück zum Ufer und warfen wie drei ganz normale kleine Mädchen den Enten Futter zu. Miss Faith ging mit ihnen.
Sebastian merkte, dass er den Atem angehalten hatte. Wie drei ganz normale Mädchen. Er seufzte.
„Das klang aber, als käme es von Herzen“, sagte Hope.
Er machte einen zustimmenden Laut, dachte einen Moment nach und brachte dann ein schroffes: „Schönes Wetter, heute, nicht wahr?“, zustande.
Hope nahm diese Zurückweisung gelassen. Er hatte gleichzeitig froh und entsetzt ausgesehen, als sie angekommen war, aber nachdem die Kinder zusammen zum Teich gelaufen waren, hatte er sich entspannt. Sie nahm an, viele Männer fühlten sich in der Nähe von Kindern unbehaglich. Nicht allen fiel der Umgang mit ihnen so leicht wie ihrem Schwager Gideon.
Sie hakte sich bei ihm unter und sagte: „Es ist sehr schön. Sollen wir einen kleinen Spaziergang unternehmen, während die Enten ihr Festmahl erhalten?“ Er erstarrte angesichts der Berührung, und sie fügte hinzu: „Faith und James werden gut aufpassen.“
Ohne sie anzusehen, erwiderte er steif: „Nun gut, dann gehen wir.“ Er schlug ein schnelles Tempo an, sodass sie fast laufen musste, um mit ihm Schritt zu halten. Er benötigte einen Moment, um es zu bemerken, dann wurde er deutlich langsamer. Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus.
Beinahe verzweifelt blickte er sich um, dann sagte er: „Sind das dort drüben Ulmen? Ulmen sind sehr nützliche Bäume. Schattig. Besonders wenn die Sonne scheint.“ Er machte eine Pause, offenbar um zu überlegen, bevor er hinzufügte: „Ja, es ist schön. In den letzten Tagen war es oft sonnig.“
Hope lächelte. Es war genauso wie bei den anderen Gelegenheiten, wenn sie ihn berührte. Einerseits schien er zu erstarren und kein vernünftiges Wort herauszubekommen, andererseits hatte sich seine große, warme Hand wie von selbst schützend über ihre gelegt, sie auf seinem Arm festgehalten. Sie war sich sicher, dass er gar nicht gemerkt hatte, was er tat. Seine Widersprüchlichkeit war faszinierend.
Er schaute zu den Mädchen, die den schnatternden Enten Brotstückchen zuwarfen. „Ich nehme an, den Enten wäre Regen lieber.“
Wenn sie sich nicht der Unterhaltung annahm, erkannte Hope, würden sie am Ende nur über die Pflanzenwelt des Parks, Enten und die Wahrscheinlichkeit von Regenschauern reden.
Mit einem leichten Drücken seines Armes schlug sie vor: „Wollen wir uns diese Weiden einmal näher anschauen?“
Nach kurzem Zögern lenkte er ihre Schritte zu den Bäumen. Er war ihr ein Rätsel, zog sie aber an wie ein Magnet. Sie war entschlossen, ihn näher kennenzulernen. „Sind Ihre Schwestern schon lange in London?“
Argwöhnisch blickte er sie an. „Ja.“
„Mein Herr, Sie sind sehr tapfer.“
Sein Blick wurde noch argwöhnischer. „Warum sagen Sie das?“
Sie lachte leise. „Die meisten Männer Ihres Alters würden es hassen, ihre jüngeren Schwestern am Hals zu haben, besonders wenn sie versuchen, Zutritt zur Gesellschaft zu finden.“
„Nein, ich bin außerordentlich froh, sie bei mir zu haben.“
Es war nicht nur eine höfliche Phrase, erkannte Hope. Er meinte das ernst. Sie schaute ihn nachdenklich an. „Aber ist es denn keine große Last für Sie, mit ihnen Ausflüge zu machen und sie zu unterhalten? Die meisten Leute, die ich kenne, würden das der Gouvernante überlassen.“
Nüchtern erklärte er: „Wir haben Gouvernanten ausprobiert, aber es klappt irgendwie nicht. Cassie kann schwierig sein.“ Ihre Augen funkelten belustigt. „Sie könnten sie immer noch zur Schule schicken“, bemerkte sie leichthin.
„Ich würde sie niemals wegschicken. Niemals!“ Er sagte das so heftig, dass sie beide überrascht waren. Eine Weile schlenderten sie noch weiter, aber seine Heftigkeit hing wie eine Wolke zwischen ihnen.
Er schaute immer wieder prüfend zu seinen Schwestern. Sanft tadelnd erklärte sie: „Meine Zwillingsschwester ist sehr verantwortungsbewusst, und James kennen wir schon unser ganzes Leben. Ich weiß, Sie schätzen seine Fähigkeiten als Reitknecht nicht unbedingt, doch ich versichere Ihnen, er ist kräftig und ein guter Beschützer.“
Bei ihren Worten zuckte er zusammen, als hätte sie ihn aus unerfreulichen Erinnerungen gerissen. „Es tut mir leid. Ich wollte nicht unhöflich sein.“ Unbehaglich fügte er hinzu: „Ich habe sie einmal verloren.“
„Verloren?“
„Ja, ich habe sie bei einer Frau gelassen, sie bezahlt, damit sie auf sie aufpasst. Aber dann ist sie fortgegangen und hat sie einfach mitgenommen.“ Sein Arm unter ihren Fingern spannte sich an, und seine Hand hielt ihre fest umklammert. Sie war sicher, dass er es nicht merkte.
„Wie lange?“
Es entstand eine Pause, ehe er zwei bittere Worte aussprach: „Zu lange.“
Sie fragte sich, wie lange wohl ,zu lange war, aber er hatte das mit so bitterer Selbstanklage gesagt, dass sie nicht nachfragen wollte. Stattdessen sagte sie: „Ich bin sicher, Sie gehen mit sich selbst zu hart ins Gericht. Ihren Eltern obliegt doch die Hauptverantwortung für Ihre Schwestern.“
Er schüttelte den Kopf. „Meine Eltern waren da schon tot. Es war meine Schuld.“ So untröstlich starrte er auf den Teich, dass sie ihn am liebsten umarmt hätte.
Voller Mitgefühl drückte sie seine Hand. „Ich bin sicher, es ist nicht allein Ihre Schuld, Mr. Reyne. Und Sie haben sie ja wiedergefunden, daher wäre es doch Zeit, sich selbst zu verzeihen.“
Er runzelte die Stirn, als er merkte, wie fest er ihre Hand gehalten hatte. Rasch lockerte er seinen Griff und erklärte unbehaglich: „Ich weiß gar nicht, warum ich Ihnen das erzählt habe ... ich hatte es nicht vor.“
„Ihr Vertrauen ehrt mich“, versicherte Hope ihm. „Wobei haben Sie sich Ihre Hand verletzt?“
Sogleich steckte er sie in seine Tasche. „Entschuldigung“, begann er, „ich weiß, es ist ein scheußlicher Anblick. Ich hatte nicht damit gerechnet..."
„Es sieht kein bisschen scheußlich aus!“, unterbrach sie ihn heftig. „Es ist bloß eine Hand mit zwei beschädigten Fingern. Und wenn Sie die Wahrheit wissen wollen, mir hat es gefallen, als Ihre Hand auf meiner lag. Sie hat sich ... gut angefühlt, warm und stark.“
Sie wusste, sie war zu weit gegangen, und schaute errötend weg. „Verzeihung. Das hätte ich nicht sagen sollen. Bitte vergessen Sie es.“ Sie versuchte ihre Hand von seinem Arm zu nehmen, aber er hielt sie fest.
„Lassen Sie nur!“ Sein Tonfall war herrisch und mit einem Hauch von Akzent.
Sie schaute zu ihm auf. Er erwiderte ihren Blick, ihren Arm besitzergreifend an sich gedrückt. Sie konnte sein Herz schlagen fühlen. Seine Augen schienen sie zu verschlingen. Langsam, ganz langsam hob er seine Hand, bis er sie an der Wange berührte, so leicht und zärtlich, dass sie sie gar nicht gespürt hätte, hätte sie nicht solche Hitze ausgestrahlt. Sie konnte nicht anders; sie rieb ihre Wange an seiner Hand. In seinen Augen flammte etwas auf, und sie hob ihm ihr Gesicht in einer stummen Einladung entgegen. Er fasste ihr Kinn, starrte ihr lange in die Augen und beugte sich dann vor. Hope lehnte sich ihm entgegen, umklammerte seine Rockaufschläge - in diesem Moment ertönten ein Platschen und ein Schrei.
„Die Mädchen!“ Er ließ sie los und rannte zum Teich zurück.
Hope stand da, zitternd und am Rande ... von nichts. Er hatte sie küssen wollen. Genau hier unter den Weidenzweigen. Und so beschämend es auch war, sie hätte ihn gelassen. Sogar zurückgeküsst. Schamlos.
Mühsam beherrscht, eilte sie ihm nach. Als sie die Wegbiegung erreichte, konnte sie die ganze Szene vor sich sehen. Cassie war in den Ententeich gefallen. Sie plantschte und quietschte in dem schlammigen Wasser, während sie sich bemühte, das glitschige Ufer zu erklimmen, lachte halb aus Verlegenheit, halb aus Enttäuschung, als es ihr misslang und sie zurückrutschte. Die Enten waren längst geflohen.
In Sekunden war ihr Bruder bei ihr, ging, ohne zu zögern, ins Wasser und hob sie hoch. Augenblicklich versteifte sie sich und verstummte. Alle Spuren von Heiterkeit waren wie weggewischt aus ihrem Gesicht.
Er trug sie zu einer Bank am Ufer und setzte sie behutsam ab. „Alles in Ordnung, Cassie? Wie ist das geschehen? Ist dir kalt? Hier, nimm das.“ Er streifte sich seinen Rock ab und wickelte sie darin ein.
Mit verschlossener Miene ließ Cassie alles über sich ergehen. Ihr war es peinlich, erkannte Hope, und sie war wütend. Vielleicht wütend auf sich selbst, weil sie die Aufmerksamkeit ihres Bruders auf sich gezogen hatte.
„Mir geht es gut“, erklärte Cassie ungnädig, als er sein Taschentuch hervorzog und ihr damit übers Gesicht zu reiben be-gann. Sie entriss es ihm und tat es selbst. Mit ihren tropfnassen Zöpfen und dem blauen Musselinkleid voller Schlamm und Entengrütze, das sich wie eine zweite Haut an ihren Körper schmiegte, bot sie keinen alltäglichen Anblick.
„Auf jeden Fall hatten die Enten heute genug zu essen“, erklärte Grace und brach das unbehagliche Schweigen.
„Davon bin ich überzeugt, die gierigen kleinen Dinger“, erklärte Hope. „Ein Glück, dass sie zu satt waren, um Cassie zu fressen.“ Sie grinste, und Cassies schmollender Mund wurde weicher.
In diesem Augenblick sah Hope es: Unter dem durchweichten blauen Stoff zeichnete sich etwas ab, das wie eine Messerscheide aussah.
Hope schaute zu Faith, um zu sehen, ob es ihr auch aufgefallen war. In der Tat. In die Augen ihrer Zwillingsschwester trat ein besorgter Ausdruck. Grace war es ebenfalls nicht entgangen. „Ist das ein Me...“, fing sie an, aber Faith brachte sie gerade noch rechtzeitig mit einem schwesterlichen Kniff in den Arm zum Verstummen.
„Wir sollten dieses Mädchen besser nach Hause bringen“, verkündete Mr. Reyne, der von dem Intermezzo offensichtlich nichts mitbekommen hatte. „Miss Hope, Miss Faith, Miss Grace, auf Wiedersehen. Cassie, Dorie, wir gehen. Die Kutsche wartet.“
Hope begleitete sie, während Grace und Faith das letzte Brot an die Enten verfütterten. Die Mädchen liefen voraus, als wollten sie jeden Eindruck vermeiden, sie hätten etwas mit ihnen zu tun.
Er hatte Hope seit dem Beinahekuss nicht angesehen. Warum nicht? Cassie war nichts passiert, sie war nur nass, schmutzig und verstimmt.
Die Mädchen kletterten in die Kutsche. Hope und Mr. Reyne waren noch einige Schritte entfernt, als sie sagte: „Mr. Reyne?“ Hope war selbst überrascht, dass ihre Stimme normal klang. „Unser Spaziergang hat mir sehr gefallen. Und unsere Unterhaltung.“ Und ich wünschte, Sie hätten mich geküsst. Die Worte hingen unausgesprochen zwischen ihnen.
Er blieb stehen, drehte sich zu ihr um. Auf seinen Wangen bildeten sich rote Flecken. Steif begann er: „Ich muss mich entschuldigen, Miss Hope. Ich hatte kein Recht ...“ Er brach ab, räusperte sich und erklärte schroff: „Es war ein Fehler. Ich bin in der festen Absicht nach London gekommen, Lady Elinore den Hof zu machen.“
Es war wie eine Ohrfeige.
„Es tut mir leid“, fuhr er fort, „wenn ich einen falschen Eindruck ..."
Tödlich verlegen, schnitt ihm Hope das Wort ab und sagte mit gespielter Unbekümmertheit: „Entschuldigen, Mr. Reyne? Wofür? Es ist doch nichts geschehen. Ein Spaziergang in einem öffentlichen Park mit meinen Schwestern in der Nähe - da kann niemand etwas sagen.“
Sie wünschte sich, im Boden zu versinken. Oder dass sie heute Morgen gar nicht erst aufgestanden und in den Park gegangen wäre. Er hielt sie ohne Zweifel für dreist, meinte, sie habe sich ihm an den Hals geworfen. Vermutlich hatte er gar nicht vorgehabt, sie zu küssen, wenn sie ihn nicht ermutigt hätte.
Ihr kam der Gedanke, dass sie und ihre Schwester nicht gut darauf vorbereitet waren, mit einer Zurückweisung zu leben. Hope war noch nie von einem jungen Mann abgewiesen worden, aber bisher hatte sie auch noch nie einem Mann irgendetwas angeboten. Außer diesem Mann - einen Kuss in einem öffentlichen Park, nicht weniger -, und er hatte sie einfach abgewiesen. Wegen einer berüchtigten Eigenbrötlerin! Einer unscheinbaren älteren Frau!
Mit heißen Wangen wandte sie sich ab. „Ich denke, es wird bald regnen. Wir sollten uns beeilen, nach Hause zu kommen. Guten Tag, Mr. Reyne.“ Sie reichte ihm ganz kurz die Hand und versuchte, nicht daran zu denken, wie zärtlich er erst vor wenigen Minuten ihr Kinn gehalten hatte. Sie winkte den Mädchen zu. „Auf Wiedersehen, Cassie und Dorie. Ich hoffe, wir sehen uns wieder.“
„Oh, das werden wir“, erwiderte Cassie. „Miss Faith und Grace haben uns eingeladen, mit ihnen morgen früh zum Green Park zu kommen.“
Hope blinzelte.
„Wenn Mr. Reyne es erlaubt, natürlich nur“, erinnerte Faith sie milde, als sie hinter Hope trat.
Unter zusammengezogenen Brauen starrte Cassie ihren Bruder stumm an.
Hope ballte die Hände zu Fäusten, versuchte ihn mit schie-rer Gedankenkraft dazu zu bringen, den Ausflug zu verbieten. Er konnte die Mädchen selbst in den Green Park bringen. Sie wollte nicht mehr mit den Reynes zu tun haben als unbedingt nötig.
Er zögerte, schaute zu Dorie, deren Augen in stummer Bitte auf ihn gerichtet waren, und nickte. „Natürlich. Wann sollen die Mädchen fertig sein, Miss Hope?“
Hope sagte nichts, aber Faith antwortete, sie würden die Mädchen morgen früh abholen. Mit diesem Versprechen trennten sie sich.