11. KAPITEL

Wassertropfen hingen an den Zweigen und Blättern, zitterten im blassen Morgenlicht, glitzerten wie Kristalle. Die Luft im Park roch feucht und erdig, klar und frisch, als befände sich Sebastian draußen auf dem Land, nicht mitten in London. Er atmete tief ein. Sein Pferd war unruhig, übermütig, und da niemand in der Nähe war, ließ Sebastian es in einen leichten Galopp fallen. Die Hufschläge hallten gedämpft auf dem regenweichen Boden.

Das hatte ihm gefehlt. Sein Morgenritt war ihm wichtig. Außer der körperlichen Ertüchtigung bot er ihm die Möglichkeit, allein und ungestört seinen Gedanken nachzuhängen.

Er war überzeugt gewesen, seine Schwestern bräuchten Routine, Ordnung und einen systematischen Ansatz, verkörpert in der Person und den Anschauungen Lady Elinores. Und dann hatte die völlig zufällige und spontane Bekanntschaft mit den Merridews zu solch erstaunlichen Ergebnissen geführt.

Während der Kutschfahrt nach Hause hatte Dorie sich tatsächlich an ihn gelehnt. Er hatte sich kaum zu atmen getraut.

Und langsam nahm seine stumme kleine Schwester zu. Er war sich sicher. Sie wirkte nicht länger so zart und zerbrechlich, als könnte der nächste Windstoß sie umwerfen. Die häufigen Morgenausflüge mit den Merridews in den Green Park hatten damit viel zu tun. Den Tag mit frischer Milch, Bewegung und Freundlichkeit zu beginnen war gewiss nicht verkehrt.

Er zog die Brauen zusammen. Es war einige Zeit her, seit die Dienstboten das Verschwinden von Lebensmitteln beklagt hatten.

Eine leise Brise fuhr in die Zweige, sodass die an den frischen Blättern hängenden Tropfen herabregneten. Seine Stimmung hob sich, und er schloss die Augen bis auf einen schmalen Spalt, genoss das Zusammenspiel von Pferd, Reiter, Erde und Luft.

„Wer zuerst an der Eiche am westlichen Ende des Parks ist, hat gewonnen!“ Er erhaschte den Blick auf ein Lächeln und Blau, ehe Miss Hope Merridew an ihm vorbeipreschte. Heute trug sie ein blaues Reitkostüm und einen Hut, über dessen Krempe sich kess eine blaue Feder kräuselte. Wenigstens saß sie zur Abwechslung auf dem Pferd, statt seitwärts herunterzuhängen.

Sebastian machte sich sogleich an ihre Verfolgung. Sie hatte einen Vorsprung, aber sein Pferd war größer, kräftiger und schneller. Langsam holte er auf. Feuchte Erde spritzte ihm ins Gesicht. Er beugte sich über den Hals seines Pferdes und drängte es zu höherem Tempo. Sein Blut pulste im Rhythmus der Hufschläge.

Schließlich ritten sie Kopf an Kopf. „Guten Morgen, Miss Hope“, rief er spöttisch. „Es tut mir sehr leid, dass ich Sie überhole.“

Sie lachte. „Versuchen Sie es nur!“

„Oh, das werde ich. Nicht wie ein Gentleman gehandelt, ich weiß, aber ...“ Er beugte sich tiefer über den Hals des Tieres, mehr wie ein Jockey als ein eleganter Reiter. „... ich bin nun mal kein Gentleman!“ Und damit überholte er sie, erreichte etwa fünfzehn Sekunden vor ihr die Eiche.

Lachend kam sie an. „Danke! “, rief sie atemlos. „Ich hasse es, wenn man mich gewinnen lässt.“

Er war überrascht. „Gefällt es Ihnen nicht zu gewinnen?“

„Doch. Aber es ist nicht gewonnen, wenn einem der Sieg geschenkt wird. Das nimmt der Sache den ganzen Spaß. Ich werde lieber beim Wettreiten fair besiegt, als dass ich wegen eines Anfalles von Ritterlichkeit gewinne.“ Ihre Wangen waren gerötet, ihr Hut saß schief, und das Haar hing ihr ins Gesicht - Sebastian hatte nie etwas Schöneres gesehen.

Sie nahm ihren Hut ab, schüttelte ihr Haar aus und setzte ihn wieder auf.

Mit Mühe brachte Sebastian seinen Körper unter Kontrolle, zwang sich, milde zu erklären: „Allerdings hätten wir, glaube ich, nicht galoppieren sollen.“

Sie lachte erneut. „Ach, es ist doch weit und breit niemand zu sehen.“

Das erinnerte ihn an etwas. Er schaute in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Ja, James, der Reitknecht folgte ihnen langsam, aber beharrlich.

Sie bemerkte es und lachte unbeschwert. „Armer James, er hat wieder die schlimmste Schnecke auf Gottes weiter Flur bekommen. Weil er den Stallburschen beleidigt hat, muss er sich immer mit dem übelsten Reittier begnügen, mit dem die Ställe aufwarten können.“ Sie lächelte, sodass ihre Grübchen erschienen. „Ich scheine immer das beste zu erhalten.“

Sebastian fiel es nicht schwer, das zu glauben.

Sie holte tief Luft. „Riecht es nicht himmlisch, so frisch und rein nach dem Regen?“

„Ja. Sollen wir zu Ihrem Reitknecht zurückreiten?“ Sebastian hatte die vage Ahnung, dass die Anwesenheit des Burschen ihn davon abhalten würde, etwas zu tun, was er später bereuen würde.

Entschlossen schüttelte sie den Kopf, sodass die Feder über ihre Wange strich. „Nein, James wird uns irgendwann einholen. Lassen Sie uns nach dort drüben reiten, zum See. Ich würde gerne sehen, ob inzwischen mehr Entenküken geschlüpft sind. Gestern habe ich drei der süßesten, gelbbraunen Federbällchen bemerkt. Wenn es mehr gibt, dachte ich, könnte ich Ihre Schwestern morgen hierher statt in den Green Park bringen. Frisch geschlüpfte Entenküken sind so niedlich.“

Sebastian war solch selbstverständliche Freundlichkeit nicht gewohnt. Seine Schwestern müssten ihr gleichgültig sein. Sie waren keine Verwandten. Er hatte ihr ins Gesicht gesagt, dass er Lady Elinore den Hof machte. Gedankenlose Grausamkeit, das kannte er, damit konnte er umgehen. Grundlose Freundlichkeit war ihm neu.

Sie lenkten ihre Pferde zum Teich. Die Morgensonne stand höher am Himmel, wärmte die feuchte Erde, sodass leichte Dampfschwaden emporstiegen. In der Ferne begann die Stadt zu erwachen. Nach einer Weile fiel ihm auf, dass sie schweigend nebeneinander ritten.

„Ich bin froh, dass Sie heute richtig herum reiten.“

Sie warf ihm einen amüsierten Blick zu. „Soll ich das als Herausforderung verstehen?“

„Nein, nein“, erklärte er hastig. „Ich bin erleichtert, das ist alles. Es ist verteufelt schwierig, sich mit jemandem zu unterhalten, während dieser sich seitlich kopfüber vom Pferd hängen lässt.“

Sie musterte ihn interessiert. „Oh, daran liegt es?“ Sie begann zu lachen. „Verzeihen Sie“, keuchte sie. „Aber das kam mir komisch vor.“

Er schaute sie fragend an, wartete auf eine Erklärung.

Doch sie wechselte lieber das Thema. „Ich werde das Waisenhaus besuchen - die Tothill-Fields-Anstalt. Zu unserer großen Freude hat Lady Elinore meine Schwester und mich eingeladen. Wussten Sie das?“

„Ja, sie hat es mir erzählt“, erwiderte er nüchtern. „Würden Sie mir bitte verraten, was Sie eben so belustigt hat?“

Mit dem lobenswerten Versuch einer ausdruckslosen Miene erwiderte sie: „Selbst zu Ihren besten Zeiten sind Sie nicht gerade berühmt für Ihre Konversationskünste.“

Er runzelte verwundert die Stirn.

Ihre Augen funkelten vor unterdrücktem Lachen. „Ich hing nicht kopfüber, als wir getanzt haben.“

Sie neckte ihn! Machte sich über seine Einsilbigkeit lustig! Niemand zog ihn je auf. Aber eigentlich gefiel es ihm. Er setzte eine gestrenge Miene auf, damit sie das nicht merkte.

Sie lächelte. „Gut. Sie sind nicht gekränkt.“

Er gab den Versuch auf, streng auszusehen. „Warum haben Sie eigentlich beschlossen, eine Draufgängerin zu werden?“

„Es war mein sehnlichster Wunsch, seit meinem ersten Besuch in Astley’s Amphitheater vor beinahe zwei Jahren. Mein Schwager hat uns mitgenommen, und wir waren alle begeistert von den Reiterinnen und ihren Kunststücken. Am liebsten wäre ich von zu Hause weggelaufen und hätte mich ihnen angeschlossen.“

„Was hat Sie davon abgehalten?“

„Ach, die Ereignisse überschlugen sich. Wir mussten London überstürzt verlassen. Eine ... ein familiärer Notfall.“ Sie schwieg einen Augenblick. „Aber ich habe mir stets gewünscht, ein paar der Kunststücke selbst auszuprobieren. Ich bin immer schon gerne geritten.“

„Das sieht man. Sie sind eine ausgezeichnete Reiterin. Aber die Tricks, die Sie ausprobieren, sind ausgesprochen gefährlich. Warum riskieren Sie Ihren Hals?“

„Als ich aufwuchs, fühlte ich mich immer eingeschränkt, gefesselt und eingesperrt...“ Sie erschauerte. „Daher tue ich heute gerne Sachen, die ich eigentlich nicht tun sollte. Das gibt mir ein Gefühl von Freiheit. Und es ist nicht so riskant, wie Sie vielleicht glauben. Die zusätzlichen Gurte, die James an meinem Sattel angebracht hat, sind einfach genial. Und es gibt wirklich nichts Schöneres als das Gefühl, wenn ich es schaffe, im Ritt etwas vom Boden aufzuheben. Ich bin keine tollpatschige Trine!“

„Eine tollpatschige Trine?“

Selbstironisch verzog sie das Gesicht. „In vielen alltäglichen Dingen bin ich entsetzlich unfähig.“

So etwas hatte sie auch schon gestern gesagt. Er hatte es für eine Ausrede gehalten, damit er Dorie beim Rösten ihres Muffins helfen konnte. „Mir kommen Sie kein bisschen tollpatschig oder unfähig vor.“

Sie warf ihm ein strahlendes Lächeln zu. „Danke, aber ich kann Ihnen versichern, es stimmt. In allem - außer Reiten. Und Tanzen. Ich habe erst kürzlich Tanzen gelernt, denn mein Großvater hatte es uns untersagt. Aber er war selbst ein hervorragender Jagdreiter, also achtete er darauf, dass wir alle Reiten lernten.“

„Sind Sie auch auf Jagden geritten?“

Sie schüttelte heftig den Kopf. „Himmel, nein. Frauen bei der Jagd? Die Welt würde untergehen! Aus irgendeinem Grund hat er jedoch darauf bestanden, dass wir reiten können, gut reiten. Es hat ihn furchtbar gefuchst, dass ich zwar in allem anderen ungeschickt war, aber dazu geboren schien, im Sattel zu sitzen. Was mich natürlich dazu angetrieben hat, noch besser zu werden.“ „Was auch immer der Grund ist, Sie sind die beste Reiterin, die ich je gesehen habe“, erklärte Sebastian. Das klang wie ein leeres Kompliment, bloß meinte er jedes Wort ernst.

Sie lachte ungekünstelt. „Es ist klar, dass Sie nie bei Astley’s waren. Doch da Reiten mein einziges Erfolgserlebnis ist, werde ich Ihr Kompliment mit Dank annehmen.“ Im Sattel deutete sie eine Verneigung an.

„Einziges Erfolgserlebnis? Sie sind zu bescheiden.“

„Glauben Sie mir, es ist wahr. Wir sind alle nicht sonderlich gebildet oder belesen, denn mein Großvater hielt nichts von Bildung für Frauen.“ Sie rümpfte die Nase. „Ich bin auf keinem der Felder bevorzugter weiblicher Fertigkeiten eine Leuchte: Meine Aquarelle sind grässlich, ich spiele kein Instrument, meine Handschrift ist unleserlich, und meine Stickarbeiten sind noch schlimmer.“ Ehe er dazu etwas sagen konnte, wechselte sie das Thema: „Reiten Ihre Schwestern eigentlich?“

Er schüttelte den Kopf. „Bis jetzt haben sie sich geweigert, es auch nur in Erwägung zu ziehen, obwohl ich den Verdacht habe, Cassie würde gerne.“ Trocken fügte er hinzu: „Cassie würde lieber platzen als zugeben, dass sie sich irgendetwas wünscht.“ Sie warf ihm einen neckenden Blick zu. „Hm, das muss wohl in der Familie liegen. Und Dorie zeigt kein Interesse?“

Während er noch über ihre erste Bemerkung nachdachte, antwortete er: „Nein, Pferde beunruhigen sie. Und ich will sie nicht zwingen. “

„Natürlich nicht. Man muss dazu verlockt werden, Dinge auszuprobieren, vor denen man sich fürchtet, nicht dazu gedrängt werden. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich versuche, die Mädchen in Versuchung zu führen?“

Er zögerte; ihm gefiel die Idee, aber er wollte ihr nicht noch mehr verpflichtet sein.

„Es wäre eine weitere Möglichkeit, ihnen näherzukommen“, erklärte sie. „Überlegen Sie nur, welchen Spaß Sie zusammen auf Ausritten haben könnten. Sie müssen sich jetzt noch nicht entscheiden, denken Sie in Ruhe darüber nach und lassen Sie es mich wissen.“ Damit ließ sie ihr Pferd in Trab verfallen.

Es gab keine neuen Entenküken oder wenn doch, dann waren sie nicht aus dem Schilf gekommen, daher verabschiedete sie sich von ihm. Sonst käme sie zu spät für den Spaziergang zum Green Park. „Adieu, Mr. Reyne. “ Sie reichte ihm die Hand. „Danke für den wunderschönen Ausritt. Und unsere Unterhaltung habe ich ebenfalls genossen.“

Sebastian beugte sich vor. „Das Vergnügen lag ganz auf meiner Seite.“ Er hob ihre behandschuhte Hand an seine Lippen und küsste sie.

Und obwohl er ihre Haut wegen des Handschuhs gar nicht berührte, durchfuhr es ihn wie ein Blitz.

Sebastian saß an seinem Schreibtisch und schrieb Briefe, als vor seinem Haus eine Kutsche vorfuhr. Heraus stiegen Miss Hope und seine beiden Schwestern. Sie waren früh dran. Vom Rest der Gruppe war nichts zu sehen. Miss Hope hatte ihren Arm um Dorie gelegt, deren Gesicht er nicht sehen konnte, da sie sich an sie klammerte. Cassie wirkte besorgt. Sebastian sprang auf und rannte aus dem Zimmer.

Er erreichte die Eingangshalle gerade, als der Butler die Tür öffnete.

„Was ist los? Dorie? Geht es dir gut?“

Dorie schaute aus dem Schutz von Miss Hopes Armen auf. Ihre Augen waren riesig, und ihr kleines Gesicht war tränenüberströmt. Sie gab keinen Laut von sich.

Hilflos blickte Sebastian sie an. „Hat jemand dir wehgetan, Süße?“

Ohne Vorwarnung verließ Dorie Miss Hope, lief quer durch den Raum und warf sich in Sebastians Arme. Wortlos, zu gerührt, um sprechen zu können, drückte er ihren kleinen dünnen Körper an sich, hob sie hoch und hielt sie sicher in seinen Armen.

Das Herz voll, trug er sie in den Salon und setzte sich mit ihr auf ein gemütliches, weich gepolstertes Sofa. Sie zitterte am ganzen Körper, klammerte sich an ihn wie ein Äffchen, eindeutig außer sich vor Angst. Er hielt sie fest, strich ihr übers Haar. „Sch, meine Kleine, jetzt bist du in Sicherheit. Ich werde nicht zulassen, dass jemand dir etwas tut. Ist ja gut.... Du bist zu Hause ... in Sicherheit, mit Cassie und mir. Und Miss Hope.“

Während er sprach, spürte er Cassies Blick auf sich, und schaute sie über Dories Kopf hinweg an. Sie stand unsicher da, daher winkte er sie zu sich, murmelte zu Dorie: „Siehst du, Cassie ist auch hier. Wir sind alle hier. Cassie, ich und Miss Hope. Niemand wird dir etwas tun.“ Er sah zu Miss Hope, die ebenso unsicher wie Cassie auf der Türschwelle stand. Ihre Wangen waren tränenfeucht.

Sie wusste also, was es für ihn bedeutete, dass Dorie so zu ihm gekommen war. Einen Moment lang hatte er sein Gesicht in Dories Haar drücken müssen, bis er seine Fassung wiedergefunden hatte. Jetzt konnte er sich keine Schwäche leisten.

„Was hat sie so geängstigt?“ Er schaute Cassie und Miss Hope an. „Ein Pferd?“

Miss Hope antwortete: „Nein, es waren keine Pferde in der Nähe. Nur Leute und die Kühe, und vor den Kühen hat sie keine Angst.“

„Cassie, weißt du, was es war?“, fragte er.

Bedrückt zuckte Cassie die Schultern. Dories kleine Beschützerin. Er hielt ihr die Hand hin, und sie kam, wenn auch zögernd. „Komm, hilf mir, Dorie zu halten. Sie braucht ihre ganze Familie, Cassie, ihre Schwester und ihren Bruder.“

Mit steifen, fast ungelenken Bewegungen kam Cassie näher, tätschelte ihrer zitternden Schwester hilflos den Rücken. Sie gab sich die Schuld, das konnte er sehen, obwohl sie keine Ahnung hatte, was Dorie solche Angst machte. Seine kleine, kriegerische Schwester. Er schlang seinen anderen Arm um sie, zog sie an sich. Sie ließ ihn gewähren: Zuerst hielt sie sich gerade und aufrecht, aber allmählich wich die Anspannung aus ihr, und dann lehnte sie sich ganz gegen ihn.

Er schloss die Augen und hielt sie beide fest an sich gedrückt. Seine beiden Schwestern befanden sich in seinen Armen, wie er es kaum noch zu träumen gewagt hatte. Elf lange, einsame Jahre nach dem letzten Mal, als er sie so gehalten hatte, als sie noch kleine Kinder waren.

Und irgendwo tief in ihm begann ein schlaksiger, schuldgeplagter fünfzehnjähriger Junge zu heilen.

Schließlich beruhigte sich Dorie, und die beiden Mädchen schlüpften aus Sebastians Armen. Er läutete nach einem Diener und bestellte heiße Schokolade und Kekse. Die Mädchen gingen mit einem der Hausmädchen nach oben, um sich die Gesichter und die Hände zu waschen.

„Ich weiß nicht, was geschehen ist“, erklärte Hope, sobald sie den Raum verlassen hatten. „Wir waren im Green Park wie immer, standen mit allen anderen in der Schlange für die Milch, als Dorie plötzlich unruhig und ängstlich wurde. Aber ich habe keine Ahnung, warum.“

Er schritt rastlos auf und ab. „Sind Sie sicher? Denken Sie nach. Etwas muss doch gewesen sein.“

Hilflos schüttelte Hope den Kopf. „Nein, da war nichts Ungewöhnliches. Nichts wurde gesagt, nichts getan. Ich habe alles gesehen. Dorie, Cassie und Grace standen mit Lily, unserem Dienstmädchen, in der Schlange, schwätzten und kicherten, wie Mädchen es tun, als Dorie plötzlich erstarrte, ganz blass wurde, und ehe ich mich rühren konnte, lief sie weg - weg von Cassie, von uns, rannte wie ein erschrecktes Kaninchen. Ich bin ihr nachgelaufen und habe sie eingeholt, und Cassie kam mir nach. Dorie war so verängstigt und verzweifelt, dass ich einfach die nächste Droschke angehalten und sie nach Hause gebracht habe.“

„Wofür ich dankbarer bin, als ich sagen kann“, bemerkte er fast schroff.

Sie erwiderte nichts. Worte waren überflüssig. Sie hatte sein Gesicht gesehen, als Dorie zu ihm gelaufen kam. Und dann, als auch Cassie zu ihm gekommen war.

„Cassie weiß es nicht, und Dorie kann es nicht sagen.“ Er seufzte schwer und ballte die Hände zu Fäusten. „Ich wünschte, ich wüsste, wann und wie sie stumm geworden ist... irgendwann in diesen elf verlorenen Jahren ..."

Sie legte ihm die Hand auf den Arm. „Könnte Cassie es nicht sagen?“

Seine große Hand legte sich über ihre, dann stand er wie versteinert. „Vermutlich, aber bisher hat sie noch nicht einmal meine Hand berühren wollen. So viel ist in den letzten Tagen geschehen, ich hatte noch gar keine Zeit, es zu begreifen.“ Er hob seinen Kopf; in seinen Augen glitzerte Hoffnung. „Cassie vertraut mir weit mehr als vorher. Vielleicht verrät sie es mir jetzt.“

Tröstend drückte sie ihm den Arm, und er schaute sie an. Sein Griff festigte sich. „Danke, dass Sie mir meine Schwestern zurückgebracht haben“, erklärte er mit rauer Stimme, und er meinte nicht die Fahrt mit der Droschke heute.

Der Augenblick streckte sich endlos. Überdeutlich spürte sie seine Hand auf ihrer, Hitze breitete sich langsam, lähmend in Wellen in ihr aus. Sie hatte vergessen zu atmen und holte zitternd Luft. Seine Augen wurden dunkler, wie ein Teich im Mondlicht, und tief in ihnen brodelten Gefühle. Sie machte eine hilflose kleine Geste und lehnte sich an ihn, und er zog sie mit einem kleinen Stöhnen in seine Arme und küsste sie.

Der Kuss war rau und innig und schmeckte nach Dankbarkeit und Demut. Und Hunger. Und Verlangen. Ein kleiner, kehliger Laut entschlüpfte ihr, und sie erwiderte seinen Kuss mit selbstvergessener Hingabe.

Es gab kein vorsichtiges Erkunden, nur sein Mund auf ihrem, seine Zunge um ihre, ihr weicher, schlanker Körper an seinen großen, harten geschmiegt. Es war alles, was sie sich erträumt hatte, und mehr. Sie verlor sich in seinem Kuss, den Empfindungen, die er ihr schenkte.

Und er war von ihr wie behext. Er drückte sie gegen die Wand, hilflos gegenüber diesem Kuss, der Sehnsucht und dem Hunger. Sie presste sich gegen ihn, genoss seine Kraft, seine Stärke und sein heftiges, berauschendes Verlangen.

Mit seinen Händen streichelte er sie überall, liebkoste sie, weckte herrliche Gefühle in ihr. Sie strich mit ihren Fingern über seine Brust, seine Schultern. Wie hatte sie für seinen Körper etwas anderes als Bewunderung empfinden können? Sie streichelte seinen kräftigen Hals, erkundete die herrlich rauen Wangen, und dann fuhr sie ihm durch das kurz geschnittene Haar. Und die ganze Zeit küsste sie ihn auf den Mund, das Kinn und den Hals. Und er küsste sie, als würde er niemals aufhören, küsste Hope, als wäre sie das Leben selbst.

Er berührte ihre Brust, und ein feuriger Strahl von Lust durchfuhr sie. Sie keuchte auf und bog sich ihm entgegen.

Stöhnend hob er den Kopf, und seine Brust hob und senkte sich schwer. Dann löste er sich von ihr.

„Es tut mir ...“

Davon wollte sie nichts hören. Sie hielt ihm den Mund zu und erklärte: „Ich bereue nichts. Und werde es auch nicht.“ Mit ihren Augen versuchte sie ihm zu sagen, was sie noch nicht auszusprechen bereit war, was ihr Herz und ihr Körper aber schon wussten.

Und er blickte ihr einen langen Moment in die Augen, öffnete den Mund, aber da klopfte es kurz, sodass sie nur ein paar Sekunden hatten, um sich zu fangen, ehe ein Dienstbote mit der heißen Schokolade und den noch warmen Keksen eintrat.

Der Moment war vorüber. Und dann kamen die Mädchen zurück.

„Als sie ein Baby war, hatte Dorie eine Stimme.“ Sebastian beobachtete Cassies Gesicht, während er das sagte. Es war keine Frage.

Sie alle saßen um den Tisch versammelt. Hope auch, obwohl sie erklärt hatte, dass es vermutlich besser sei, wenn sie ginge. Er hatte sie stumm angesehen, und Dorie hatte sie an der Hand gefasst.

Alle Zweifel waren ausgeräumt. Sebastian fühlte sich unendlich gesegnet. Zum ersten Mal in seinem Leben ergänzten sich das, was er tun sollte, und das, was er tun wollte, aufs Vollkommenste.

„Cassie?“

Sie knabberte an ihrem zuckrigen Keks und schaute ihn mit einem Anflug des alten Argwohns an.

„Hat sie je sprechen gelernt?“

Cassie blickte zu Dorie, die ihren Blick erwiderte und kaum merklich die Schultern zuckte. „Ja“, sagte Cassie.

„Normal?“, musste er fragen.

Cassie nickte.

„Wann hat sie aufgehört?“

Wieder schaute Cassie zu ihrer Schwester und schien Zustimmung in ihrem Gesicht zu lesen. „Vor zwei Jahren. Direkt nach MamsTod.“

Mit einem Gefühl der Erleichterung lehnte Sebastian sich zurück. „Also hat sie Witwe Morgan geliebt und war außer sich vor Trauer, weil sie gestorben ist. Oder?“

Cassie sagte nichts, trank nur etwas von ihrer Schokolade und wich seinem Blick aus.

„Habt ihr sie beide geliebt?“

Nach einem raschen Blick zu ihrer Schwester erklärte Cassie: „Mam war in Ordnung. Sie hat uns recht gut behandelt, aber wir wussten, dass wir nicht ihre Töchter waren oder so. Sie hat uns hart arbeiten lassen, sagte, wir schuldeten es ihr.“

„Was musstet ihr arbeiten?“

„In der Wirtschaft.“

„Was für einer Wirtschaft?“

„,Der Bulle und der Eber“. Mam hat sie geführt. Dorie und ich, wir haben alles Mögliche getan, die Betten gemacht, geputzt und geschrubbt, haben in der Küche geholfen - was auch immer.“ Sie schaute kurz zu ihm. „In den letzten Jahren musste ich im Schankraum arbeiten. Dorie nicht. Sie blieb hinten in der Küche oder half oben.“

Was das bedeutete, war ihm klar. Cassie bekam langsam weibliche Formen, daher wurde sie beim Bedienen eingesetzt. Sebastian schluckte. Er ertrug den Gedanken daran nicht. Sie erzählte ihm nicht alles, das wusste er. Hoffentlich würde sie das, wenn die Zeit reif war. Und hoffentlich ertrug er es, wenn sie es tat.

„Wenn ihr also Witwe Morgan nicht wie eine Mutter geliebt habt, warum hat Dorie dann mit dem Sprechen aufgehört, als sie starb?“

Cassie schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Sie hat einfach aufgehört, und das ist alles.“

„Am Tag, nachdem sie gestorben war, oder ein paar Tage später?“

„In der Nacht von Mams Tod. Mam starb, und Dorie hat kein Wort mehr gesprochen.“

„Aber warum ... “

„Pass auf!“ Cassie knallte ihre Tasse auf den Tisch. „Denkst du, ich hätte es nicht versucht? Denkst du, ich hätte einfach zugesehen, wie meine Schwester aufhört zu sprechen, ohne herauszufinden, weswegen? Sie hat mir nichts gesagt, kein Wort. Sie wollte es noch nicht einmal aufschreiben!“ Ihr Gesicht verzog sich gequält. „Ich weiß, ich hätte in der Lage sein müssen, ihr zu helfen, aber ich konnte es nicht. Ich habe es versucht, wirklich.“

„Es tut mir leid, Süße.“ Er griff über den Tisch und nahm ihre Hand. „Ich weiß, dass du alles versucht hast. Das weiß ich doch. Du hast dich wunderbar um Dorie gekümmert.“

Einen Keks auf halbem Weg zum Mund, saß Dorie wie erstarrt, musterte nur bestürzt ihre Schwester. Nach einem Augenblick legte sie ihren Keks sorgsam auf ihren Teller, rutschte von ihrem Stuhl und legte die Arme um ihre große Schwester.

Aber sie gab keinen Laut von sich oder erklärte etwas. Was auch immer für ihr Schweigen verantwortlich war, schien dazu bestimmt, auf ewig ihr Geheimnis zu bleiben.