16. KAPITEL

Hope stand auf dem Dach und blickte auf London, das vom silbernen Licht des abnehmenden Mondes und dem der Gaslaternen auf den Straßen beleuchtet wurde. Sebastian nahm ihren Samtmantel und hüllte sie in die weichen Falten. Sie schien unter dem Gewicht zusammenzusacken, obwohl er gar nicht so schwer war.

Sie drehte sich um, ihr Gesicht blass; sie schaute ihn an. Er war darauf gefasst, dass die Reaktion einsetzte, sie in Tränen ausbrach, doch sie überraschte ihn.

„Ich muss mich entschuldigen“, erklärte sie mit gefasster Stimme, in der nur noch der Anflug eines Zitterns zu hören war. Sie sah unaussprechlich schön und traurig aus.

Sebastian schluckte. „Weswegen?“

Sie hob eine Augenbraue und erklärte sarkastisch: „Weil ich Angst hatte, als ich in einem Schrank eingesperrt war? Ein schlichter, harmloser Besenschrank. Noch nicht einmal mit Spinnen! “ Sie sagte das wie auswendig gelernt. In ihrer Antwort lag ein Grad an Selbstverachtung, der ihn schockierte.

Er goss Brandy in ein Glas und gab es ihr. „Manchmal sind unsere Ängste stärker als wir, egal, wie sehr wir uns bemühen. Deswegen muss man sich nicht schämen. Jetzt trink das. Danach wird es dir besser gehen.“

Sie nahm das Glas und starrte ihn an: „Ein Wandschrank! Was für ein Feigling hat Angst vor einem schlichten Schrank?“ Angewidert schloss sie die Augen. „Und ich war noch nicht einmal allein. Was muss Lady Elinore von mir denken?“

„Sie hat sich dabei nichts zu denken!“, knurrte Sebastian. „Mach dir deswegen keine Sorgen, hörst du? Jetzt trink den Brandy!“

Einen Moment schaute sie ihn stumm an, dann verschwand der bittere Ausdruck aus ihren Augen. Sie lächelte reuevoll. „Vermutlich wirst du ihr einfach befehlen, nicht schlecht von mir zu denken.“

„Nein.“ Sebastian schüttelte den Kopf. Er hatte sie angefahren wie ein Vorarbeiter in der Fabrik! Kein Wunder, dass sie meinte, er würde einer Dame vorschreiben, was sie zu denken habe. „Lady Elinore hat ein gutes Herz. Sie wird es verstehen.“

„Ja, das stimmt. Aber wer kann schon die Furcht vor einem Schrank verstehen?“, fragte sie so traurig, dass er sie wieder in seine Arme schließen wollte. Sie wandte sich von ihm ab, stellte ihr unberührtes Glas auf die Balustrade und schaute auf die Straße unten. Sebastian musterte sie hilflos. Am liebsten hätte er sie fest an sich gedrückt, gezwungen, seinen Trost anzunehmen. Er hasste diesen Ausdruck von Scham und Elend in ihren Augen. Was sollte er nur tun?

Ihr Umhang glitt ihr von der Schulter. Er trat vor und legte ihn wieder um sie. Seine Arme blieben um ihre Taille gelegt, stützten sie. Noch konnte er die schwachen Schauer spüren, die sie durchliefen. Er zog sie an seine Brust, bot ihr seine Wärme und Stärke an. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen ihn, starrte betrübt über die Dächer Londons. Ihr Haar war unordentlich und leicht feucht. Er atmete ihren Duft ein. Sie schien untröstlich.

Er sagte die ersten Worte, die ihm in den Sinn kamen. „Ich kannte einmal einen Mann in der Weberei, ich war selbst noch ein Junge. Er hieß Reuben Davy, ein großer, kräftiger Kerl. Reuben konnte alles tragen. Ich hielt ihn für den stärksten Mann der Welt. Er kämpfte auch, war Meister der Grafschaft.“

Sie verriet durch nichts, ob sie ihm zuhörte. Eine leichte Brise wehte ihre Locken durcheinander. Unten schob ein Mann in einer Schubkarre seine Waren nach Hause, eine Kutsche fuhr vorüber; die Hufe der Pferde klapperten laut auf dem Kopfsteinpflaster.

„Eine Sache aber gab es, die Reuben auf keinen Fall tat: in den Keller gehen. Für nichts und niemanden. Ein paar Arbeiter hielten es für einen Witz, dass ein großer kräftiger Mann wie Reuben Angst vor der Dunkelheit hatte. Sie legten ihn eines Tages herein, stülpten ihm einen Sack über den Kopf und sperrten ihn im Keller ein. Zum Spaß.“

Eine Weile schwiegen sie beide. Hope stand stocksteif. In der Feme segelte eine Möwe über der Themse, ihr Schrei klang hohl und einsam.

„Als sie ihn fanden, weinte Reuben wie ein Kind, rang keuchend um Luft und war so in seinem Entsetzen gefangen, dass er Stunden brauchte, um sich zu beruhigen. Er musste aus dem Keller getragen werden, obwohl er so schwer war.“

Sie stand still wie eine Statue, starrte blicklos auf die dunkle Stadt. Eine Barke glitt lautlos über den Fluss.

„Viel später hat er mir erzählt, dass er mit sieben Jahren im Bergbau zu arbeiten begonnen hatte. Damals störte ihn die Dunkelheit nicht weiter. Er arbeitete jahrelang da. Aber eines Tages, gegen Ende der Schicht, stürzte der Schacht ein. Es dauerte fünf Tage, bis er gerettet wurde. Alle anderen Männer und Jungen waren tot, sein Vater und zwei seiner Brüder eingeschlossen. Er lag tagelang unter der Erde, umgeben von Toten, und wartete auf sein eigenes Ende. Er war erst zwölf Jahre alt - so alt wie ich, als er mir die Geschichte erzählte. Reuben ist nie wieder in einen Minenschacht gestiegen. Er konnte es nicht. Und er ging auch nicht in den Keller oder in einen kleinen Wandschrank.“ Ein Karren holperte über die Straße unten. Irgendwo bellte ein Hund. Sebastian legte Hope eine Hand auf die Schulter.

„Später verprügelte er die Männer. Reuben Davy war ein Mann, der einem Respekt abnötigte. Auch wenn er es nicht ertrug, sich in engen, dunklen Räumen aufzuhalten. Wir alle haben etwas, das wir nicht ertragen.“

Er spürte, wie alle Spannung aus ihr wich. Langsam, ganz langsam drehte sie sich um, und er ließ die Arme sinken. In ihren Augen schwammen Tränen. „Danke“, flüsterte sie.

Am liebsten hätte er sie an sich gerissen und alle Sorgen fortgeküsst. Stattdessen nahm er das Brandyglas und hielt es ihr an die Lippen. „Hier, trink. Es wird ein bisschen brennen, aber nachher wirst du dich besser fühlen.“

Sie warf ihm einen unergründlichen Blick zu und lehnte sich gegen ihn. Er konnte sie riechen, den schwachen Duft, der unverwechselbar ihrer war. Sein Mund wurde trocken, als sie mit ihren Lippen das Glas berührte, das er hielt. Nie zuvor hatte er einer Frau das Glas gehalten, damit sie trinken konnte. Es hatte etwas merkwürdig Intimes.

Seine freie Hand legte er ihr auf den Nacken, dann kippte er das Glas. Sie nahm einen Schluck der goldenen Flüssigkeit, schluckte, schauderte, als der Alkohol ihr brennend die Kehle hinablief. Als er in ihrem Magen ankam, keuchte sie und erschauerte erneut. Mit zurückgelegtem Kopf schloss sie die Augen, genoss die Wärme des Brandys. Ihre Lippen und Wangen schimmerten feucht.

Sobald sie die Augen wieder öffnete, sagte sie schlicht: „Mein Großvater hat mich immer in den Wandschrank unter der Treppe eingesperrt.“ Ein kleiner Schluchzer entrang sich ihr. „Ich ertrage es nicht, eingesperrt zu sein, und das wusste er.“

Er nickte. So etwas hatte er sich schon gedacht.

„Nie wieder, das verspreche ich. Nie mehr“, flüsterte er und strich ihr übers Haar. Seine Finger wirkten im Vergleich mit ihrer zarten Schönheit grob, verwachsen und hässlich. „Jetzt noch einen Schluck.“

Sie leckte sich über die Lippen, spitzte sie. Es wäre besser, wenn er sie nicht so hungrig beobachtete, aber er konnte seinen Blick einfach nicht abwenden, so sehr begehrte er sie. Ihre Augen waren riesig im Mondlicht, ihre Lippen feucht und leicht geteilt.

Er streichelte die Stelle, auf die er vorhin nur gestarrt hatte, ihren Nacken. Ein leiser Luftzug wehte ihre Locken gegen seine Finger. Rythmisch strich er über ihre seidenweiche Haut. Ein Schauer durchlief sie.

„Kalt?“, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. Auf ihren Wangen glitzerten Tränenspuren, ihre Wimpern waren nass. Sie hob ihm ihr Gesicht entgegen, und mit einer raschen Bewegung nahm er ihren Mund in Besitz.

Sie erwiderte seinen Kuss mit einer unerfahrenen Ehrlichkeit, die ihn direkt ins Herz traf. Und in seine Lenden.

Er schmeckte Tränen und Verlangen. Unschuld. Erschöpfung. Er löste sich von ihr, rang um Beherrschung, ohne sie loszulassen, atmete schwer, während er seinen Körper seinem Willen unterwarf. Sie war geschwächt von der erlebten Aufregung, und er sollte sie eigentlich beschützen, sie umsorgen, statt sie auf dem Dach der Oper in der Kälte festzuhalten und mit seiner unkontrollierbaren Begierde zu konfrontieren. Was dachte er sich nur - wollte er sie etwa gegen die Steinbrüstung gelehnt nehmen?

Er dachte überhaupt nicht, das war das Problem.

Wieder strich er ihr übers Haar, und wieder erschauerte sie. Ihr musste kalt sein. Er hielt sie dicht an sich gedrückt und drehte sich mit ihr um, sodass er nun die gemauerte Brüstung im Rücken hatte. Jetzt konnte sie sich an ihn lehnen oder zurückweichen. Was sie nicht tat, stattdessen lehnte sie sich fester an ihn, drückte ihren weichen Körper gegen seinen harten.

Die Kälte aus den Steinen drang durch seine Kleider. Eine willkommene Abkühlung, dachte er grimmig. Ihre Augen lagen im Schatten. Seine Erregung ließ nicht nach.

Hope versuchte in seiner verschlossenen Miene zu lesen. Der Branntwein brannte noch in ihrem Hals und ihrem Magen. Sein Blick war verhangen, seine Gedanken nicht zu erraten. Im Mondschein war die gemeißelte Vollkommenheit seiner Lippen deutlich zu sehen. Gemeißelte männliche Schönheit.

Warum küsste er sie nicht wieder? Wusste er nicht, dass sie seine Küsse brauchte, gerade jetzt mehr als je? Er hatte sie für sich gefordert; jetzt wollte sie von ihm besessen werden. Und sie brauchte das, musste ihn halten, küssen, lieben, die düsteren Schatten der Einsamkeit aus seinen Augen vertreiben. Er hatte sie aus der Dunkelheit ins Mondlicht gebracht. Nun wollte sie für ihn dasselbe tun. Weil er es war, der Eine, der Mann aus Schatten und Mondschein, von dem sie geträumt und auf den sie ihr Leben lang gewartet hatte.

In der kalten Einsamkeit der Nacht war er da zu ihr gekommen ... und jetzt auch.

Er hatte einen Arm um ihre Taille geschlungen, sie gehalten und von der kühlen Steinmauer weggezogen an seinen warmen Körper. Kraft und Wärme. Machtvolle, lebensspendende Wärme. Seine andere Hand lag in ihrem Nacken, sanft wie bei einem Neugeborenen. Mit einem Finger streichelte er ihre Haut, langsam, rhythmisch ... sandte geheime Schauer der Sehnsucht ihren Rücken hinab.

So sanft. Er war so groß und stark, sah so hart aus ... und war doch so sanft.

„Küss mich noch einmal“, flüsterte sie. „Ich brauche dich, Sebastian.“

Er erstarrte - und sie stand einen Moment lang am Abgrund von etwas, das sie nicht kannte. Dann senkte er den Kopf und küsste sie.

Hitze, Hunger, Inbesitznahme mit einer einzigen aufwühlenden Berührung. Sein Kuss erschütterte sie bis in die Seele. Bohrender, unerbittlicher Hunger, wie sie ihn nie zuvor gespürt hatte, aber sogleich wieder gezügelt.

Sie kannte Hunger, kannte Verlangen. Innig erwiderte sie seinen Kuss, hielt nichts zurück, zeigte ihm, was sie nicht mit Worten sagen konnte.

Er wich zurück, atmete schwer. Sie konnte seine Augen nicht sehen, spürte aber, wie er sie damit verschlang. Sie hob ihr Gesicht, hoffte, er würde die Bitte in ihren Augen lesen, verstehen. Sein Mund wurde hart, bevor er sich zu ihr beugte und sie behutsam küsste, ehrfürchtig, als könnte sie zerbrechen.

Federleichte Küsse hauchte er auf ihre Wangen und ihr Kinn, streichelte die Reste ihrer Tränen fort, küsste erst das eine feuchte Lid, dann das andere mit vernichtender Zärtlichkeit. Unter seinen behutsamen Liebkosungen konnte sie sein loderndes Verlangen spüren, das er streng im Zaum hielt. Sein großer, kräftiger Körper war angespannt, dennoch hielt er sie ganz leicht, gerade genug, um sie zu stützen, während er ihr Gesicht mit seidigen Engelsküssen übersäte. Engelsküsse, die Schauer durch sie sandten, wie Brandy in ihrem Blut. Brennend, beschwichtigend, erregend ...

Sie fuhr mit den Händen über seine Arme. Unter dem feinen Stoff seines Hemdes war jeder Muskel hart vor Anstrengung, sein Verlangen zu zügeln.

Es war genau wie bei den Walzern, erkannte sie, der Grund, weswegen er so steif und unbeholfen mit ihr tanzte. Er hielt sich zurück. Eigentlich wollte er mehr als nur mit ihr tanzen. Er wollte mehr, als federleichte Küsse auf ihre Augenlider zu hauchen.

Und sie wollte auch mehr.

Der letzte Rest von Zweifeln, die sie gehabt hatte, sich einem so großen, kräftigen Mann zu schenken, verflog bei dieser Erkenntnis. Nie hätte sie es für möglich gehalten, dass ein Mann so zärtlich sein konnte, so sanft, geschweige denn ein so hart wirkender, beherrschter Mann.

Sie fühlte sich geborgen. In seinen Armen und zum ersten Mal seit dem Tod ihrer Eltern fühlte sie sich geborgen. Voll und ganz geliebt, behütet, beschützt, begehrt. Danach hatte sie sich ihr Leben lang gesehnt. Und jetzt wollte sie fliegen, in seinen Armen fliegen.

Von unten drang schwach Musik zu ihnen. Der nächste Akt hatte begonnen. Seine Augen waren dunkle Schatten, seine Stimme belegt und angespannt, als er sagte: „Wir sollten zurückkehren. Bist du bereit hineinzugehen?“

„Nein“, flüsterte sie. „Ich möchte mit dir hier bleiben. Ich möchte dir gehören.“ Sie drückte sich an ihn, schwelgte in seiner Stärke, seiner Wärme. Mit ihren Händen fuhr sie seine muskulösen Arme empor über seinen Hals in sein kurz geschnittenes dunkles Haar, zog seinen Kopf zu sich herab. Ihr Mund fand seinen, und sie küsste ihn aus ganzem Herzen, blind, fieberhaft.

Ein paar Sekunden lang ließ er sich von ihr küssen, ließ sich fast passiv von ihr erkunden, plötzlich aber übernahm er die Initiative, drückte seine Lippen fest und besitzergreifend auf ihre, suchend, liebkosend, kostete sie tief und leidenschaftlich. Das Gefühl, ihm so eng verbunden zu sein, war unglaublich, Hitze breitete sich in Wellen in ihr aus.

Sein Geschmack, das beharrliche Fordern seiner Zunge und Hände ließ sie erbeben, brachte eine unbekannte Saite in ihr zum Klingen. Sie konnte nicht denken, nur reagieren. Sie wollte ihm näher sein, klammerte sich an ihn, erwiderte Kuss um Kuss, bis sie allen Sinn für ihre Umgebung verlor.

Er ließ seine Hände über sie wandern, zog eine heiße Spur über ihren Körper. Seine Fingerknöchel streiften ganz zart ihre Brustspitzen, und sie merkte nur vage, dass sie sich ihm entgegenbog und einen unverständlichen Laut ausstieß. Stöhnend streichelte er ihren Busen wieder und wieder. Sie rieb sich an ihm wie eine Katze.

Heiser fragte er: „Darf ich?“

Sie runzelte verwirrt die Stirn, verstand nicht, was er meinte, und im Grunde genommen war es ihr auch gleich. „Mehr“, verlangte sie.

Er küsste sie fest, dann öffnete er die Verschnürung ihres Kleides vorne und zog es ihr über die Schultern. Mondlicht schien auf ihre Haut. Sie spürte die Kälte, eine leichte Brise wisperte über ihre nackten Brüste. Plötzlich war sie verlegen und unsicher - bis sie den Ausdruck in seinen Augen sah. Sie schaute zu, wie er mit seinen großen Händen ihre blassen Brüste umfing, und mit einem Mal fühlte sie sich, als müsste sie weinen.

„Einmal hast du ein Kleid mit gelben Rüschen getragen“, erklärte er rau. „Ich habe immer auf diese Rüschen gucken müssen, wie sie deinen Busen umrahmten, und wünschte mir, meine Hände wären an ihrer Stelle.“

Seine Augen waren dunkel, eindringlich. „Ich habe oft davon geträumt. Nie hätte ich gedacht, dass mein Traum einmal wahr werden könnte.“

„Ich wusste immer, dass mein Traum wahr würde“, flüsterte sie und bedeckte seine Hände mit ihren.

„So schön.“ Er beugte den Kopf und küsste jede Brust ganz zart, verehrungsvoll, fuhr mit seinem Mund leise vor und zurück und sandte Wellen der Lust durch ihren Körper. Sie schaute auf seinen dunklen Schopf, der sich über sie beugte. Dann schloss sich sein wunderschöner, harter, sanfter Mund um eine feuchte, aufgerichtete Spitze, und sie drängte sich gegen ihn, als durchzuckte sie ein Blitz.

Er schaute auf, und sein Blick durchbohrte sie mit derselben Hitze. Wieder wandte er seine Aufmerksamkeit ihren Brüsten zu, bis sie das Gefühl hatte, in Flammen zu stehen.

„Sebastian“, hörte sie sich keuchen. „Sebastian.“

Erst spürte sie kühle Nachtluft auf ihren Schenkeln, dann glitt seine warme Hand über ihre Seidenstrümpfe, liebkoste die Haut über den Strumpfbändern. Ihre Beine begannen zu zittern, gaben nach.

Sein Arm schloss sich fester um ihre Mitte, stützte sie, während sie ihm halb entgegenfiel. Sein Blick bohrte sich brennend in ihren, gefüllt mit Hunger und Verlangen, wie sie es sich noch nicht einmal erträumt hätte. Verlangen nach ihr. Hunger ...

Seine großen, rauen Hände glitten höher, malten Kreise auf ihre empfindsame Haut, bis er sie so innig berührte, dass sie sich einen Moment versteifte, Verlegenheit sie zu erfassen drohte, dann aber begann er sie zu liebkosen, und ein wahrer Gefühlssturm brach über sie herein.

Seine Finger schienen genau zu wissen, was zu tun war, und sie drängte sich ihnen zitternd entgegen, vor und zurück, wollte mehr und mehr, wusste aber nicht was.

Wieder bedeckte sein Mund ihren, hart, heiß und mitreißend. Keine sanften Engelsküsse, sondern leidenschaftliche, verlangende Liebkosungen, so herrlich und wundervoll, sie forderten und gaben gleichzeitig. Er brachte sie beide bis an den Rand von etwas Unbekanntem, sie fühlte sich wie von einer Welle getragen, den Empfindungen völlig ausgeliefert. Wie Schweben, aber erdverbundener, urtümlicher.

Sie hielt sich an ihm fest, während sie immer schneller in den Wirbel geriet, erschauerte ....

Ein Kreischen zerriss die Nacht. Unheimlich, wie eine verlorene Seele in der Hölle. Da, wieder. Schließlich ein Krachen.

Benommen packte sie ihn an den Schultern. „Was war das?“

Er hatte seinen Kopf in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen und presste sie einen Augenblick lang fest an sich, ehe er sie langsam, widerstrebend losließ. Er schluckte krampfhaft und sagte: „Es tut mir leid. Ich hätte nicht ...“ Er zog ihr Oberteil wieder hoch über ihre Schultern, band mit zitternden Fingern die Verschnürung zu. Eine Grimasse, die fast wie Schmerz aussah, flog über sein Gesicht, und er erklärte gepresst: „Ich habe deine kurzzeitige Hilflosigkeit ausgenutzt. Es tut mir leid. Ich hätte es nicht tun dürfen.“

Sie starrte ihn an, wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte, unfähig zu begreifen, was eben geschehen war. Im einen Moment hatte sie sich am Rande von etwas ... Bedeutsamem befunden, und dann war sie in die Realität gestoßen worden, stand zitternd in der Kälte, als hätte ihr jemand einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf gegossen. Er verschnürte die Bänder an ihrem Oberteil und steckte sie ordentlich in den Ausschnitt, seine Finger - die Finger, die sie an den Rand besinnungslosen Entzückens gebracht hatten - streiften nun kaum ihre Haut.

Wieder ertönte das gequälte Kreischen. Sie erschauerte. „Was ist das für ein Lärm?“

Er seufzte. „Katzen.“

„Katzen?“, wiederholte sie ungläubig. „Für mich hört sich das mehr nach völlig verängstigten Kindern in Not an.“

Er sah irgendwie verlegen aus. „Nun, es sind aber keine Kinder, sondern Katzen. Auf dem Dach.“

Sie runzelte die Stirn, zweifelte an seinen Worten. „Sicher?“ „Vollkommen.“

„Ich habe nie eine Katze solche Geräusche machen hören. Wenn es Katzen sind, dann muss jemand sie quälen.“

Er warf ihr einen unergründlichen Blick zu. „Niemand quält sie.“

„Aber es hört sich an, als hätten sie Schmerzen.“

Daraufhin sagte er etwas, das sie nicht ganz verstehen konnte. Etwas in der Art, dass er das Gefühl kannte.

„Wie bitte?“

„Sie leiden keine Schmerzen. Es geht ihnen gut. Jetzt ist es aber wirklich Zeit, zu den anderen zurückzukehren. Sie werden sich schon wundem, was aus uns geworden ist.“ Er begann sie zur Tür zu führen.

Das durchdringende Kreischen ertönte erneut.

Besorgt blieb sie stehen. „Woher willst du wissen, dass es den Katzen gut geht? Man meint, sie litten entsetzlich. “

Er schloss kurz die Augen, seufzte und erklärte knapp: „So hören sich Katzen an, wenn sie sich begatten.“

Begatten? Überrascht schlug sie sich eine Hand vor den Mund. Und dann dachte sie darüber nach. Endlich begriff sie, warum ihm das so peinlich war. Wenn sie nicht von sich begattenden Katzen unterbrochen worden wären ...

Er wirkte so grimmig und unzugänglich, dass sie nichts sagen konnte. Sie gestattete ihm, sie in ihren Samtumhang zu hüllen und zur Tür zu bringen, seine Hand ruhte leicht auf ihrem Rücken, brannte sich durch ihre Kleider so mühelos wie ein Brandeisen.

Die Katzen schrien erneut.

Ihr entschlüpfte ein Laut.

Er blieb sofort stehen. „Geht es ... geht es dir gut?“ Er beugte sich vor, um ihr ins Gesicht sehen zu können. „Entschuldige. Ich weiß, ich hätte nicht tun dürfen, was ich getan habe. Ich habe den Kopf verloren, habe mich hinreißen lassen

Wieder der Schrei.

„Verdammte Katzen“, explodierte er.

„Genau meine Meinung“, stimmte sie ihm zu und kicherte erneut.

Ungläubig schaute er sie an. „Du ... du lachst?“

„Ich weiß, das sollte ich nicht, aber ... du musst doch zugeben, dass es komisch ist. Da waren wir und haben ... und sie waren da und haben ... und ..."

Wie aufs Stichwort erklang das Schreien noch einmal.

Sie lachte. „Es ist schrecklich ..."

Sein Gesichtsausdruck ernüchterte sie. Sie hob die Arme und nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände. „Oh, bitte, schau nicht so. Ich bereue keinen einzigen Moment von dem, was geschehen ist. Heute Nacht war wie verzaubert. Danke, dass du mich aus meiner persönlichen Hölle gerettet hast.“ Zärtlich küsste sie ihn auf den Mund. „Und danke, dass du mir den Weg zu meinem persönlichen Himmel gezeigt hast. Heute Nacht haben wir ihn nicht erreicht, aber das werden wir noch ... nicht wahr, Sebastian?“

Er starrte sie wortlos an, sein Gesicht ernst, fast düster. In seiner Wange zuckte ein kleiner Muskel. Er sagte nichts, zog sie nur in seine Arme und hielt sie dort einen langen Augenblick fest an sich gedrückt.

„Meinst du das ernst?“, fragte er rau.

„Ja.“ Das war ein Versprechen.

Bei ihrem leisen Ja barg er sein Gesicht in ihrem Haar. Einen Moment später hob er ihr Kinn an und küsste sie auf den Mund, schaute ihr in die Augen und erklärte schlicht: „Ich werde es in Ordnung bringen, das verspreche ich dir.“

Als sie die Treppe hinabstiegen, saßen Giles und Lady Elinore schweigend nebeneinander auf der untersten Stufe. Elinore sprang auf. „Wie geht es Ihnen, Miss Hope? Es tut mir so entsetzlich leid, dass Sie ...“

Hope umarmte sie. „Danke, aber es geht mir wieder gut, Elinore. Es war sehr freundlich von Ihnen zu warten, und auch noch an einem so ungemütlichen Ort.“

„Ja, was tut ihr eigentlich hier?“, fragte Sebastian. Lady Elinore wirkte irgendwie verstört.

„Euren Ruf schützen“, antwortete Giles. „Mrs. Jenner und Miss Faith waren beide entschlossen, zu Miss Hope aufs Dach zu gehen, aber ich habe erklärt, dass Lady Elinore und ich die ganze Zeit bei euch bleiben werden. Miss Faith hat die Anstandsdame überreden können, mit ihr in die Loge zurückzukehren.“ „Ausgezeichnet“, sagte Hope. „Faith weiß, dass ich es nicht ertrage, wenn Mrs. Jenner viel Aufhebens um mich macht.“ Sie warf Sebastian einen raschen, verlegenen Blick zu. „Nicht, dass bei unserem Ausflug auf das Dach etwas Ungehöriges geschehen wäre.“ Sie spürte, wie sie rot wurde.

Giles wölbte eine Augenbraue, bemerkte aber nur: „Natürlich nicht. Und es geht mich auch nichts an.“

Lady Elinore sah nicht so aus, als fühlte sie sich wohl. „Es wird nicht unbemerkt bleiben. Wir waren mindestens fünfundzwanzig Minuten fort. Und wir haben den größten Teil des zweiten Aktes versäumt.“

„Das tut mir leid, Lady Elinore. Ich weiß, wie sehr Sie die Oper lieben ..."

„Oh, das ist schon in Ordnung“, unterbracht Giles sie beiläufig. „Lady Elinore und ich haben unsere Bekanntschaft vertieft, nicht wahr, Elinore?“

Lady Elinore wurde über und über rot. Zu Hope sagte sie: „Ich habe mir Ihretwegen Sorgen gemacht.“

Hope drückte ihre Hand. „Danke. Es ... es ist eine alberne Schwäche von mir, sonst nichts. Ich ertrage es nicht, in einem engen, dunklen Raum eingesperrt zu sein.“

„Daran ist nichts albern“, knurrte Sebastian hinter ihr.

Seine Worte wärmten sie. Wie auch seine Hand auf ihrem Rücken, die er dort liegen ließ, bis sie ihre Plätze in der Loge erreichten.

„Was ist es für ein Gefühl?“, fragte Faith leicht wehmütig, als sie sich an diesem Abend fürs Bett fertig machten.

Rasch drehte Hope sich um. Ihre Zwillingsschwester konnte das doch unmöglich gespürt haben - was sie in Mr. Reynes Armen auf dem Dach gefühlt hatte. „Was?“

Aber Faith war damit beschäftigt, ihre Kleider ordentlich zusammenzulegen, und achtete nicht auf verräterisches Erröten. „Wenn man verliebt bist.“ Sie schaute auf. „Du bist in Mr. Reyne verliebt, nicht wahr?“

Hope zögerte.

„Ich weiß, dass du dich von ihm hast küssen lassen. Das konnte ich erkennen, als du in die Loge zurückkamst.“ Sie seufzte. „Oh, Hope. Du hast gestrahlt, als hätte jemand in dir eine Kerze angezündet, so schön, so glücklich. Dass du so aussiehst nach einer deiner Attacken ...“ Sie lächelte unsicher. „Es muss Liebe sein. Genau wie Mama es versprochen hat.“

Hope nickte. Plötzlich kamen ihr die Tränen, und sie umarmte ihre Schwester fest. „Ja“, flüsterte sie. „Ich liebe ihn.“ Sie hatte diese Worte noch nie zuvor laut ausgesprochen und drückte Faith noch einmal. „Oh, Faith, ich liebe ihn.“ Sie hatte nie für einen anderen empfunden, was sie für Sebastian empfand.

„Ist es ernst?“

Hope nickte. „Ja!“

„Und er ist der Mann aus deinem Traum?“

„Ich weiß es nicht, und es ist mir auch egal. Der Traummann ist nicht mehr wichtig. Ich liebe ihn. “

Bestürzt blieb Faith der Mund offen stehen. „Wie kannst du sagen, der Traummann sei unwichtig? Das geht nicht. Es muss wahr sein.“

Hope schüttelte den Kopf. Sie würde niemals das verzauberte Gefühl vergessen, im Mondschein in den Armen ihres Traummannes zu tanzen, aber ihr großer, schroffer, geliebter Sebastian würde niemals so Walzer tanzen, als seien sie beide eins. Sie lächelte zärtlich. „Nein, der Traum war nur ein Traum. Aber mein Sebastian ist wirklich. Wundervoll wirklich, und unsere Liebe ist echt.“

„Aber ich dachte ... wenn der Traum ..." Faith brach ab. „Er hat es dir gesagt? Hat die Worte ausgesprochen?“

Hope schüttelte den Kopf. „Nein, aber das wird er noch.“ Faith sah nachdenklich aus. „Ich glaube, ich bin vielleicht auch verliebt. Graf Rimavska könnte es sein, Hope.“

Hope wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Faith war von ihm geblendet, dass wusste sie, doch Liebe ... „Bist du dir sicher?“

Mit einer Mischung aus Reue und Aufregung schaute Faith sie an, bevor sie nickte. „Ich weiß nicht. Ich vermute es. Er ... er fasziniert mich. Wenn ich mit ihm zusammen bin ... dann fühle ich mich ... wie verzaubert. Am Rande von etwas Erschreckendem wie einem tiefen Abgrund, und doch kann ich nicht anders, als zu wünschen, mich hineinzustürzen.“

Das verstand Hope. Sie hatte mit Mr. Reyne am Rande desselben Abgrundes gestanden. Und in seinen Armen hatte sie sich freudig, glücklich hineingeworfen. Sebastian.

Faith betrachtete sie mit feuchten Augen und seufzte aus tiefstem Herzen, als sie ins Bett stieg. „Ist es nicht herrlich? All diese Jahre haben wir davon geträumt, uns zu verlieben, und jetzt endlich ist es geschehen. Und auch noch uns beiden gleichzeitig. “ Hope erwiderte ihr Lächeln. „Wenigstens ist deiner reich und hat einen Titel. Der Himmel weiß, was Großonkel Oswald sagen wird, wenn ich ihm anvertraue, dass ich meinen Sebastian heiraten will.“

Faith lachte. „Ich weiß ganz genau, was er sagen wird.“ Mit verstellter Stimme erklärte sie: „Schockierend. Einen Diamanten wie dich an einen Emporkömmling zu verschwenden, wenn Herzöge darum betteln würden! Schockierend!“