8. KAPITEL

„Ich bin sehr froh, dass Sie mich heute Vormittag begleiten, Lady Elinore.“ Sebastian zügelte die Pferde, als sie in eine schmale Kopfsteinpflastergasse im Londoner East End einbogen. Es war nicht unbedingt ein Elendsviertel, aber es war auch kein Ort, an dem er eine Dame von Lady Elinores Herkunft zu sehen erwartet hätte. Kein Wunder, dass sie statt ihrer Zofe einen Lakaeien mitgenommen hatte. Er hatte sich schon gewundert, da sie sonst immer peinlich genau auf Anstandsregeln achtete. Aber ein Lakai konnte ihr wirkungsvoller Schutz bieten als eine Zofe.

Sie trug wieder Grau. Ein graues Kleid, eine graue Pelisse und einen grauen Hut. Alles von schlichtem Schnitt und ganz schmucklos.

Bei seinen Worten neigte Lady Elinore anmutig den Kopf, achtete aber auf Abstand, als sie um die Kurve fuhren. Das hatte sie jedes Mal gemacht, selbst die kürzeste Berührung ihrer Körper vermieden, gleichgültig, wie stark die Kutsche schaukelte. Womöglich war das ihr Anstandsgefühl, aber Sebastian vermutete, es steckte mehr dahinter: Sie mochte nicht berührt werden. Das erschwerte diese ganze Werbung weiter, aber es war kein echter Hinderungsgrund für die Sorte Ehe, die ihm vorschwebte. Er heiratete aus Vemunftgründen, nicht aus Leidenschaft.

Eine Vision von Hope Merridew erstand vor seinem inneren Auge. Wenn er keine Verpflichtungen hätte, wenn er ein freier Mann wäre, würde er Hope Merridew mit ganzem Herzen umwerben. Aber sie war eine ... eine anmutige Elfe, ein empfindliches Wesen aus einer Welt, die er nie bewohnen konnte, voller Lachen und Temperament.

Wenn er ein so zartes Geschöpf in das Chaos holte, das er aus drei Leben gemacht hatte, würde es sie brechen, und das könnte er nicht ertragen.

Es war schwer genug, ihre neuen, kühlen Blicke auszuhalten. Sein Fehler. Seine Absicht. Er hatte ihr von Lady Elinore erzählen müssen. Zu ihrem eigenen Schutz brauchte er diese Barriere zwischen ihnen. Gestern am Teich hätte er sie beinahe in einem öffentlichen Park kompromittiert. Er hätte sie geküsst.

Sebastian Reyne, der wieder nach den Sternen griff. Wann würde er es endlich lernen?

Er zwang sich, an etwas anderes zu denken. An die Frau neben ihm. „Ich bin sicher, Ihre Gegenwart verleiht meinem Anliegen Gewicht, Lady Elinore. Es ist mir bewusst, dass mein Angebot umstritten ist und nicht alle Ihre Mitglieder einverstanden sind.“

Lady Elinores grauer Hut wippte zustimmend. „Ich muss gestehen, dass ich anfangs auch dagegen war, als Sie uns Ihren Vorschlag unterbreiteten. Aber nun, da ich Ihre Beweggründe besser verstehe, habe ich meine Meinung geändert. Ich bin sicher, unsere Schützlinge werden von Ihrer Unterstützung profitieren. Ich weiß, dass einige unserer Patronessen in finanziell angespannten Verhältnissen leben, wohl wegen des Kriegsendes.“ Sie verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. „Wenn Sie die Einrichtung erwerben, wird das ihre Schwierigkeiten verringern.“

„Es ist mir eine Freude, zu Diensten zu sein.“

Sie hatte keine Ahnung, was seine wirklichen Beweggründe waren. Niemand wusste das. Sogar Sebastian war sich selbst nicht ganz sicher. Er wusste nur, dass er dieses bestimmte Waisenhaus kaufen musste. Kein anderes würde gehen.

Keine andere Anstalt hatte schließlich seine Schwestern aufgenommen.

Von seiner Verbindung mit dem Haus hatte Lady Elinore keine Ahnung. Morton Blacks Nachforschungen hatten zu Tage gebracht, dass Lady Elinores Mutter gestorben war, kurz bevor Cassie und Dorie dorthin gebracht wurden. Mädchen, die aufgenommen wurden, erhielten routinemäßig neue Namen, obwohl ihre eigentlichen in einem Buch festgehalten wurden. Morton Black war willens gewesen, die entsprechende Seite zu vernichten, aber es stellte sich später heraus, dass das nicht nötig war. Niemand würde eine Verbindung ziehen von Carrie und Doreen Morgan zu Cassandra und Eudora Reyne.

Sebastian zog an den Zügeln, und die Kutsche kam vor einem hohen, schmalen Gebäude zum Stehen, das einen grimmigen Eindruck vermittelte.

Er sprang herunter und hielt Lady Elinore die Hand hin, um ihr beim Aussteigen zu helfen. Ihre Berührung war so leicht und flüchtig, dass er sie kaum spürte. Sogar ihre Handschuhe waren grau. „Verzeihen Sie mir, Lady Elinore, aber sind Sie in Halbtrauer?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, gar nicht. Seit dem Tod meiner Mutter ist nicht ganz ein Jahr vergangen, aber ich halte nichts von Trauer, die von der Konvention diktiert wird. Wenn es die Farbe meiner Kleidung ist, auf die Sie anspielen, das hat einen anderen Grund. Mein Leben lang schon trage ich Grau, wie auch meine verstorbene Mutter es tat. Farben entflammen männliche Leidenschaft.“

Sebastian hob eine Augenbraue. „Ach, wirklich?“

„Ja. Meine verstorbene Mutter Lady Ennismore hat sich eingehend damit befasst. Wenn alle Frauen darüber Bescheid wüssten und farbige Kleidung vermieden, wären unsere Leben wesentlich friedlicher und rationaler.“

„In der Tat“, murmelte Sebastian unverbindlich. Wenn alle Grau trügen, wäre das Leben seiner Ansicht nach wesentlich eintöniger. Und die Stoffindustrie würde auch leiden.

Seine Zweifel musste er nicht gut verborgen haben, denn als sie die Stufen zur Eingangstür emporstiegen, erklärte Lady Elinore sehr ernsthaft: „Es ist wahr. Meine Mutter hat eine Reihe wissenschaftlicher Untersuchungen angestellt und sie in einem Buch veröffentlicht. Sie haben vielleicht davon gehört: Die Grundsätze der Rationalität für aufgeklärte Damen. “

Sebastian gestand, dass das nicht der Fall sei.

„Dann werde ich Ihnen eine Ausgabe schenken, denn ich hoffe sehr, diese Anstalt nach den Grundsätzen meiner Mutter zu führen. Ich habe bereits mehrere Veränderungen durchgesetzt, doch nicht alle anderen Damen sind mit mir einer Meinung. Aber ich schweife ab, denn wir sprachen ja von der Farbe meiner Kleidung. Mutter fand heraus, dass Grau die Farbe ist, die in der Männerbrust am besten Gleichgültigkeit bewirkt.“

Dem konnte Sebastian nicht widersprechen. Es gab nicht viel, was man über Grau sagen konnte. Und sie in ihrem grauen Ensemble zu sehen weckte auch in seiner Brust ein starkes Gefühl von Gleichgültigkeit.

Sie zog an der Klingelschnur. Im hinteren Teil des Hauses läutete es, und einen Moment später wurde die Tür von einer großen Frau in einem Kleid aus schwarzem Serge geöffnet. Schweigend führte sie sie zu einem großen Raum, in dem sechs Damen warteten, deren Alter von einer stämmigen Matrone von etwa fünfzig Jahren bis zu einer gebrechlich wirkenden Greisin von weit über achtzig reichte. Drei waren in strenges, schmuckloses Grau gekleidet, eine in Schwarz und die übrigen beiden trugen so grell bunte Kleider, dass Sebastian blinzeln musste.

Als er eintrat, richteten sich sechs Augenpaare auf ihn, betrachteten ihn mit unterschiedlichen Stadien zwischen Billigung und Argwohn. Sebastian war die kritische Musterung durch Fremde gewohnt. Es kümmerte ihn nicht, solange er bekam, was er wollte.

„Meine Damen“, sagte er, nachdem er allen vorgestellt worden war. „Sie wissen nun schon seit einiger Zeit von meinem Interesse, daher werde ich nicht um den heißen Brei herumreden. Ich möchte diese Anstalt kaufen. Sie haben meine schriftliche Versicherung, dass ich die wohltätige Arbeit fortführen werde, und Lady Elinore bürgt für mich. Außerdem bin ich bereit, drei von Ihnen als Beraterinnen der Leitung hinzuzuziehen. Mir bleibt nun nur noch, Ihnen mein Angebot zu unterbreiten.“ Er nannte eine Summe, und dem erstickten Keuchen nach zu urteilen, war sie mehr als angemessen. Höflich stand er auf. „Vielleicht kann mich jemand durchs Haus führen, während Sie mein Angebot besprechen. Wie Sie wissen, bin ich nie weiter als in die Eingangshalle vorgedrungen.“ Er war neugierig auf das Haus, in dem seine Schwestern Aufnahme gefunden hatten.

„Ich werde Sie begleiten“, erklärte Lady Elinore. „Alle hier kennen meine Meinung zu dem Verkauf.“

Sie ging mit Sebastian durch das Gebäude, erläuterte die Ziele der Einrichtung und beantwortete seine Fragen. Er war an dem Ort selbst interessiert, weniger an den Ideen dahinter. Über die Erziehung von Mädchen wusste er nichts. Solange die Bewohnerinnen sauber waren und weder unter Hunger noch Kälte litten, war es ihm egal, wie die Anstalt geführt wurde. Das überließ er anderen, die etwas davon verstanden und feste Ansichten dazu hatten.

Und Lady Elinore, das fand er heraus, hatte einige sehr feste Ansichten. „Es ist doch so, Mr. Reyne, diese Mädchen sind - wenn auch ohne eigene Schuld - den übelsten Aspekten der menschlichen Natur ausgesetzt gewesen. Wir müssen nun in ihnen das Gleichgewicht wiederherstellen, damit sie sich von dem Erlittenen erholen können und heranwachsen, um ein nützliches, respektables Leben zu führen.“

Sie sprach davon, wie bei einem ruhigen Leben, das durch Routinen, Lernen und Arbeit geprägt sei, ausartendes Verhalten allmählich nachlassen würde. Hier, so sagte sie, wuchsen Mädchen in Würde auf und würden zur Unabhängigkeit erzogen. Sebastian hatte den Eindruck, als wüsste sie genau, wie man mit seinen Schwestern umgehen und wie man sich um sie kümmern müsste. Er hatte die richtige Entscheidung getroffen, so schmerzlich sie auch persönlich für ihn war.

Er konnte sich nicht vorstellen, dass Miss Hope sich mit ruhiger Routine, Lernen und Arbeiten abgeben würde. Um ehrlich zu sein, er konnte sich auch Cassie nicht ganz dabei vorstellen, aber was er sah, überzeugte ihn davon, dass es möglich war.

Sie brachte ihn zu einem Saal, in dem Mädchen in Reihen saßen und nähten, während eine Dame aus einem Buch vorlas. „Besserungsgeschichten“, unterrichtete ihn Lady Elinore flüsternd. „In jeder geht es um ein Mädchen, das vom rechten Weg abgekommen ist, und jede enthält eine moralische Lektion. Meine Mutter hat sie geschrieben. Wir wechseln ab zwischen den Geschichten meiner Mutter und der Bibel. So ersetzen wir ihr früheres Leben in Sünde und Verderbtheit durch eine solide moralische Grundlage.“

Sebastian nickte. Was wusste er schon von der Erziehung junger Mädchen?

„Die Mädchen lernen alle häuslichen Fertigkeiten, von Kochen über Putzen zu Schneidern, und sie lernen ein Gewerbe, entsprechend ihren Begabungen und Fähigkeiten. Sie arbeiten natürlich den ganzen Tag. Wir erlauben ihnen keinen Müßiggang, denn müßige Hände, das ist allgemein bekannt, führen zu Verderbtheit. Wir machen nur Pausen für Mahlzeiten und auch für körperliche Ertüchtigung - meine Mutter hat von körperlicher Ertüchtigung für Frauen viel gehalten.“

Das war eine vernünftige Einstellung, dachte er. Pausen für Bewegung war mehr, als die meisten Fabrikarbeiter erhielten, wie er wusste. Manche der Jungen und Mädchen, die er früher gekannt hatte, waren von den vierzehn Stunden Arbeit am Tag in der Fabrik ohne Unterbrechungen, um sich zu recken oder verkrampfte Muskeln zu lockern, zum Krüppel geworden. In dem Moment, als er die Leitung der Fabrik übernommen hatte, hatte er kurze Pausen für Mahlzeiten und Bewegung eingeführt, und das hatte sich bezahlt gemacht. In seinen Fabriken wurde kein Kind zum Krüppel.

Er sah plötzlich die Kinder vor sich, die fröhlich durch den Park tollten, und fragte: „Sie gehen also mit ihnen spazieren?“ Sie schüttelte nachdrücklich den Kopf. „Nein, dort gibt es zu viele Versuchungen, und viele von den Mädchen werden bei der kleinsten Gelegenheit rückfällig. Wir erlauben ihnen nicht, nach draußen zu gehen, bis wir sicher sind, dass sie moralisch stark genug sind, der Versuchung zu widerstehen. Die Welt ist voll von gewissenlosen Menschen, die schutzlose, leichtgläubige junge Mädchen ausnutzen.“

Sebastian dachte an seine Schwestern und nickte. Lady Elinores Leidenschaft, sich dieser Mädchen anzunehmen, rührte ihn. Er war sicher, dass sie mit ein wenig Ermutigung dieses Mitgefühl auf seine Schwestern ausdehnen würde. Der Himmel wusste, sie brauchten jemanden, und mit ihm wollten sie nichts zu tun haben. Lady Elinore war exakt die unwahrscheinliche Verbindung aus vornehmer Dame und einer Frau, die genau verstand, wie hart und schrecklich die Welt sein konnte.

Sie war keine anmutige Elfe.

Lady Elinore nickte brüsk. „Ich bin froh, dass Sie meiner Meinung sind. Sollen wir nun gehen und herausfinden, ob die Damen zu einer Entscheidung gekommen sind?“

Sebastian war einverstanden. Die Damen haben sich in dem Moment entschieden, als ich die Summe genannt habe, dachte er zynisch. Aber die Zeit, in der er die Einrichtung besichtigt hatte, war nicht verschwendet. Einmal abgesehen davon, dass seine Neugier befriedigt worden war, gewann er langsam Lady Elinore für sich. Sie war bereit gewesen, mit ihm zu tanzen oder eine Ausfahrt durch den Park zu machen, wenn er sie fragte, aber sie war stets reserviert und förmlich geblieben - bis jetzt. Als sie ihm das Programm erklärte, war sie beinahe freundlich geworden.

Er hatte immer noch keine Idee, was sie von ihm hielt, aber eines war klar: Sie hatte keine hohe Meinung von Männern.

Sebastian war jedoch niemand, der aufgab, wenn er auf ein Hindernis stieß. Er war sich sicher, wenn er sich genug Mühe gab, würde er schließlich Lady Elinores Achtung gewinnen. Mehr wollte er nicht. Er wollte keine Ehefrau, die ihn mit emotionalen Ansprüchen erstickte. Er heiratete aus praktischen Gründen.

Ihre exzentrische Art störte ihn nicht, solange sie es nicht übertrieb und weiterhin von der Gesellschaft akzeptiert wurde. Es gefiel ihm sogar, dass sie fast trotzig an ihren Überzeugungen festhielt.

Sie würde seinen Heiratsantrag nicht ablehnen, wenn sie wüsste, dass sie als seine Gattin das alleinige Sagen darüber hatte, wie das Waisenhaus geführt wurde, und nach Herzenslust ihre Rationalen Grundsätze umsetzen konnte.

Vielleicht würde er es sogar nach ihr benennen. Das gäbe ein hübsch ungewöhnliches Hochzeitsgeschenk ab: die Lady-Elinore-Reyne-Anstalt für mittellose Mädchen.

Giles lachte schallend. „Die Lady-Elinore-Reyne-Anstalt für mittellose Mädchen? Du wilder romantischer Hund, du! Was für ein Hochzeitsgeschenk! Danach werden alle Damen der Gesellschaft ihr eigenes Waisenhaus haben wollen! “

Sebastian warf ihm einen strengen Blick zu. „So ein Geschenk wird Lady Elinore zu schätzen wissen.“

Giles schmunzelte reuig. „Da hast du zweifellos recht. Sie ist mit Sicherheit ungewöhnlich.“

Sebastian runzelte die Stirn. „Ich muss die Sache beschleunigen, diese Werbung zum Abschluss bringen. Denkst du, ich sollte ihr Blumen schicken oder so etwas? Als Dankeschön für heute und irgendwie als Ausdruck meiner Absichten.“

Giles schüttelte den Kopf. „Nein, sie sagt, Blumen seien nicht rational.“

Sebastian hob die Augenbrauen. „Woher weißt du ... “

„Hat sie die Mädchen schon kennengelernt?“, unterbrach ihn Giles.

„Nein, noch nicht.“

„Worauf wartest du dann? Sie sind schließlich der Grund hierfür.“

Sebastian zögerte. „Ich bin mir nicht sicher, ob die Mädchen schon bereit sind für gesellschaftlichen Umgang.“

„Nach deinen Erzählungen treffen sie sich doch dauernd mit den Merridews. Wenn das kein gesellschaftlicher Umgang ist, weiß ich nicht was.“

„Du hast recht. Ich werde sofort etwas vorbereiten.“ Er dachte einen Augenblick nach. „Ich werde Lady Elinore eine Nachricht schicken und sie zu einem Ausflug einladen.“

„Wohin?“

Sebastian zuckte die Schultern. „Du kennst London besser als ich. Schlag etwas vor.“

Giles schüttelte lachend den Kopf. „Oh, nein. Dafür übernehme ich keine Verantwortung. Warum sagst du Lady Elinore nicht einfach, dass du mit ihr und deinen Schwestern etwas unternehmen möchtest, und fragst sie nach einem Vorschlag? Sie ist aus London und weiß sicher, was jungen Mädchen gefällt.“

„Eine ausgezeichnete Idee, Giles. Ich werde ihr sofort schreiben.“

„Für diese wunderbare Möglichkeit haben wir Sir Hans Sloane zu danken“, erklärte Lady Elinore. „Er war Arzt, Naturforscher und Sammler, besonders im Bereich der Botanik. Als er vor etwa fünfundsechzig Jahren starb, hat er König George II. einundsiebzigtausend Objekte, eine Bibliothek und ein Herbarium für die Nation vermacht - George II. war der Großvater unseres Regenten.“

Sie schaute Cassie und Dorie erwartungsvoll an. Die sagten nichts. Cassie warf Sebastian einen leidgeprüften Blick zu. „Sehr interessant“, sprang Sebastian ein.

„Ja, es ist faszinierend“, bekräftigte Lady Elinore. „Man setzte Treuhänder ein, die dafür sorgten, dass sein Testament ausgeführt wurde. Und nach längerer Debatte wurde durch einen Beschluss des Parlaments das Britische Museum gegründet.“ Sie deutete auf das Gebäude. „Das führende Denkmal rationaler Ziele in der Welt.“

„Hm“, Sebastian nickte. „Sehr beeindruckend.“

„Meiner Ansicht nach sind die botanischen Ausstellungen die interessantesten, daher werden wir mit denen anfangen“, erklärte Lady Elinore. „Botanik gehört ja sicherlich zu eurem Unterrichtsstoff.“

„Nein“, antwortete Cassie unverblümt.

Lady Elinore hob die Augenbrauen. „Dann aber sicher Aquarellmalerei, Sticken, Italienisch und Musik. Gegen die beiden Letzteren habe ich keine Einwände - es ist rational, eine Fremdsprache zu lernen, und während meine verstorbene Mutter Musik nicht billigte, muss ich gestehen, dass ich selbst eine Schwäche dafür habe. “

„Nein“, erwiderte Cassie erneut.

Lady Elinore war verblüfft. „Oh. Nun, dann beginnen wir hier mit euren botanischen Studien. Die Bestimmung ist eine überaus aufregende Wissenschaft. Der Gründer der modernen Botanik war - was höchst seltsam ist - ein Schwede namens Dr. Carolus Linnaeus, ein Arzt und Physiker, der ... “

„Warum ist das seltsam?“, unterbrach Cassie sie.

„Weil er nicht Engländer war, und außerdem ist es nicht höflich, Cassandra, Erwachsene zu unterbrechen“, erklärte Lady Elinore freundlich. „Dr. Linnaeus ist vor vierzig Jahren gestorben, er hat ein System entwickelt, um die Natur zu untersuchen und zu klassifizieren. Es heißt Systema naturae, was Latein ist. Nach seinem Tod gelangten seine Schriften nach England, und auch eine Reihe seiner Studenten kam her. Einer von ihnen reiste beispielsweise auf der Route von James Cook - von ihm werdet ihr gehört haben, hoffe ich.“

„Nein“, entgegnete Cassie. „Ist er auch tot?“

„Ja“, antwortete Lady Elinore, der die Ironie entgangen war. „Er ist nicht lange nach Dr. Linnaeus verstorben, glaube ich, vor fast vierzig Jahren.“

„Sind alle im Britischen Museum tot?“, fragte Cassie.

Lady Elinore sah überrascht aus, aber nur einen Moment lang. „Ja, natürlich. Bis auf die Leute, die hier arbeiten, und die Besucher. Also, lasst uns nun die botanische Ausstellung besichtigen. Dort sind die herrlichsten Pflanzen zusammengetragen.“ „Tote Pflanzen?“

„Ja, Cassandra, selbstverständlich. Pflanzen kann man nicht gut konservieren, solange sie leben. Und diese Pflanzen kommen von überall her auf der Welt.“

„Also sind sie eher braun als grün.“

„Ja.“

„Meine Freundin Grace hat gesagt, hier gäbe es ägyptische Mumien und große Marmorstatuen, die Lord Elgin aus Griechenland mitgebracht hat. Sie sollen zwar zerbrochen sein, aber sehr interessant.“

Lady Elinore presste ihre Lippen zusammen und verkündete: „Solche Sachen zu sehen ist höchst ungehörig für junge Mädchen.“ Damit marschierte sie festen Schrittes zur botanischen Abteilung.

Cassie drehte sich zu Sebastian um und warf ihm einen langen, beredten Blick zu.

Er erwiderte ihn schweigend, aber mit zusammengekniffenen Augen. Nach einem Moment zuckte sie die Schultern und stampfte hinter Lady Elinore her, Dorie mit sich ziehend. Als Demonstration von märtyrergleich ertragenem, tumbem Gehorsam war es meisterlich, aber Sebastian konnte sich nicht dazu bringen, ihr böse zu sein. Seine streitlustige Schwester machte ihre Sache gut, bedachte man den langweiligen Ausflug.

Warum, um Himmels willen, hatte Lady Elinore diesen Ort dafür ausgesucht?

Die Antwort darauf erhielt er nach einer weiteren Stunde, die sie mit der Betrachtung gepresster, brauner Vegetation verbracht hatten. „Sie werden sich vielleicht wundern, woher ich so viel über das Museum und die Ausstellungen hier weiß.“ „Nein“, entgegnete Cassie tonlos.

Glücklicherweise hörte Lady Elinore sie nicht. Sie fuhr fort: „Meine verstorbene Mutter hat mich einmal im Monat mit hierher genommen.“ Sie lächelte die Mädchen an. „Meine Mutter Lady Ennismore war eine berühmte Pädagogin und Schriftstellerin, müsst ihr wissen. Sie war immer sehr beschäftigt, hielt Vorträge, hatte Treffen oder schrieb Bücher. Solange ich klein war, habe ich nicht viel von ihr gesehen. Aber für unsere Museumsbesuche hat sie sich immer Zeit genommen.“ Entzückt schaute sie sich in dem riesigen, hallenden Gebäude um. „Ich habe mich immer sehr auf die Stunde hier gefreut, jeden Monat, nur Mutter und ich. Ich fühle mich hier fast wie zu Hause.“

Cassie starrte sie an: „Das sind die einzigen Gelegenheiten gewesen, bei denen Sie Ihre Mutter allein gesehen haben?“

Lady Elinore schüttelte kurz den Kopf und antwortete milde tadelnd: „Wenn die eigene Mutter berühmt ist und eine Berufung hat, dann muss man Opfer bringen. Ich bin stolz darauf, Lady Ennismore Tochter zu sein und ihre Arbeit fortzuführen.“

Eine kurze, unbehagliche Stille entstand.

„Ich kann verstehen, dass Ihnen das Museum ans Herz gewachsen ist“, bemerkte Sebastian schließlich. „Danke, dass Sie uns hergebracht haben.“

„Oh, aber wir sind doch lange noch nicht fertig.“

Cassie blickte ihn stumm an. Langsam geriet sie an das Ende ihres ohnehin nicht unbegrenzten Vorrats an gutem Benehmen, erkannte er. Ihr momentanes Mitgefühl für Lady Elinore würde nicht ewig anhalten. Er musste sie nach Hause schaffen, ehe sie etwas Unverzeihliches tat.

„Ich denke, die Mädchen haben so viel Botanik gesehen, dass es für einen Tag reicht. Es ist jetzt Zeit, nach Hause zurückzukehren und ein paar Erfrischungen einzunehmen.“

„Nun gut“, gab Lady Elinore nach. „Obwohl es noch viel zu sehen gibt. Aber eine Tasse Tee wäre mir jetzt sehr willkommen.“ Sebastian brachte sie rasch zu ihrer Kutsche. Während Cassie einstieg, sagte er leise zu ihr: „Du hast dich heute sehr gut benommen, Cassie. Wenn du so weitermachst, werde ich mir eine Belohnung für dich und Dorie einfallen lassen.“ Unglücklicherweise hörte Lady Elinore ihn. „Eine Belohnung? Oh, da weiß ich genau das Richtige. Ich werde euch beiden eine Ausgabe von Mutters Besserungsgeschichten für junge Mädchen geben.“

Sebastian konnte an Cassies Augenverdrehen erkennen, dass seine Schwester für einen Tag genug hatte von Lady Ennismores Ideen zur Erziehung. Mit angehaltenem Atem starrte er Cassie an, sandte ihr die stumme Botschaft, dass er sich tatsächlich eine besondere Belohnung einfallen lassen würde, wenn sie Lady Elinore artig dankte. Wenn aber nicht...

Cassie erwiderte seinen Blick kühl und sagte mit lähmender Höflichkeit: „Danke sehr, Lady Elinore. Ich bin sicher, die Geschichten werden ebenso fesselnd sein wie Ihre botanische Führung.“

Zu Sebastians ewiger Dankbarkeit merkte Lady Elinore nichts von der Ironie. Seine Dankbarkeit währte jedoch nicht lange, denn sie sah sich durch das dick aufgetragene Kompliment dazu veranlasst, sich erneut endlos über die Sammlung botanischer Kostbarkeiten auszulassen.

Cassie ertrug es fünf Minuten, dann verkündete sie mit klarer Stimme: „Lady Elinore, wussten Sie, dass ich ein Messer um mein Bein geschnallt trage?“ Sie begann ihren Rock zu lüften, um es ihr zu zeigen.

„Das reicht, Cassie“, erwiderte Sebastian mit dröhnender Stimme. Es juckte ihn in den Händen, sie zu schütteln. Es waren Bekenntnisse wie dieses, die viele der früheren Gouvernanten in Ohnmacht hatten sinken lassen, besonders wenn sie ihren Rock schamlos lüftete und ihr nacktes Bein enthüllte. Oder wenn sie vorführte, wie scharf das Messer war.

„Es tut mir leid, Lady Elinore“, begann er sich zu entschuldi-gen, brach aber ab, als er sah, dass sie nicht in Gefahr schwebte, in Ohnmacht zu fallen. Sie blickte vielmehr interessiert auf die unförmige Ausbuchtung unter dem Musselin. Cassies Erklärung schien sie nicht weiter zu beeindrucken.

Das war der Grund, weshalb er ihr den Hof machte, rief er sich ins Gedächtnis. Wenn sie Cassies Ungezogenheit gewachsen war, dann war jetzt die Zeit, das zu zeigen.

Sie beugte sich vor und sagte zu Cassie. „Ist es nicht unpraktisch, jedes Mal unter deine Röcke greifen zu müssen, um heranzukommen?“ In ihrer Stimme schwangen weder Sarkasmus noch Spott mit.

Cassie runzelte die Stirn. Das war nicht die Reaktion, die sie sich erhofft hatte. Misstrauisch schaute sie zu Sebastian, als glaubte sie an eine Verschwörung. Sebastian bemühte sich um eine möglichst ausdruckslose Miene. Es sah so aus, als könnte Lady Elinore allein damit fertig werden. Es war besser, er hielt sich heraus.

Cassie entschied sich, Lady Elinore zum Aufdecken ihrer Karten zu zwingen. „Nein, ich komme ganz einfach heran. Sehen Sie?“ Sie griff unter den Rock und zog ihr Messer hervor, schwenkte es als Beweis. Die Klinge glänzte im Nachmittagslicht.

Lady Elinore nickte. „Ja, etwas umständlich, aber eine sehr wirkungsvolle Verteidigung. Es sieht schön scharf aus.“ Sie streckte die Hand aus und nahm es der überraschten Cassie ab. Erfahren prüfte sie die Klinge, dann reichte sie sie zurück. „Ja, sehr gut. Ein Messer ist nutzlos, wenn es nicht scharf ist.“ Lächelnd wandte sie sich an Dorie und erkundigte sich: „Und, Dorie, hast du auch ein Messer?“

„Nein! “, riefen Sebastian und Cassie gleichzeitig und gleichermaßen entsetzt. „Warum sollte sie?“, fügte Sebastian hinzu.

Überrascht musterte Lady Elinore ihre schockierten Mienen. „Oh, es tut mir leid. Ich nahm an, Sie seien eine aufgeklärte Familie.“

„Was meinen Sie damit?“, wollte Sebastian wissen.

„Meine Mutter war eine starke Befürworterin davon, dass Damen Mittel zu ihrer Verteidigung bei sich tragen.“

„Mittel zu ihrer Verteidigung?“

Sie nickte und erklärte ruhig: „Es gibt viel Gewalt in der Welt, und Frauen müssen sich um ihre eigene Verteidigung kümmern, denn Männer werden oft von Leidenschaften beherrscht, die leicht entflammen - Männer sind grundsätzlich eher gewaltbereit und man kann sich nicht einfach darauf verlassen, dass sie wohlwollend sind.“

Ob der Beleidigung seines Geschlechtes gekränkt, entgegnete Sebastian sarkastisch: „Also tragen Sie auch ein Messer unter Ihren Röcken?“

„Oh, nein. Wie ich schon sagte, so ein großes Messer wäre mir viel zu umständlich. Ich trage dies hier.“ Damit zog sie aus dem Saum am Ausschnitt ihres Oberteiles eine lange, spitze Hutnadel. Sie lächelt Cassie freundlich zu. „Genauso scharf wie dein Messer, aber viel leichter zur Hand. Alle meine Kleider, egal ob für den Tag oder den Abend, sind so genäht, dass ich eine solche Nadel darin unterbringen kann. Wenn ich eine weite Reise mache oder mich in weniger respektable Stadtviertel begebe, trage ich auch noch eine kleine Pistole bei mir.“

Beim Anblick von Cassies Gesicht verflog Sebastians Verärgerung. Seine kleine Rebellin wusste nicht, was sie davon halten sollte. Mit offenem Mund starrte sie Lady Elinore an: irgendwie schockiert und mehr als ein bisschen missbilligend. Nachdem sie mit eben dieser Taktik erfolgreich mehrere Gouvernanten in die Flucht geschlagen hatte, hatte sie nicht damit gerechnet, von einer kleinen, zimperlichen Lady ausgestochen zu werden. Morton Black hatte recht, Lady Elinore war Cassie und ihren Mätzchen gewachsen. Sogar ihre exzentrischen Züge konnten nützlich sein.

Aber er war neugierig. „Mussten Sie sich je selbst verteidigen?“

„Nein. Nur hat meine Mutter mir eingeschärft, dass ich das eines Tages müsste, daher bin ich stets bereit.“

„Verstehe.“ Obwohl es seinem Beschützerinstinkt zuwiderlief, wenn Frauen bewaffnet herumliefen, konnte er es kaum verurteilen. Er war nicht immer zur Stelle gewesen, Frauen unter seinem Schutz vor Unheil zu bewahren; es war ein Gebot der Vorsicht, wenn sie auf Gefahren vorbereitet waren, selbst wenn es ihm widerstrebte.

Ein Ruf unterbrach sie. „Hey, Bastian, halt an!“ Es war Giles, der ihnen winkte, gerade als der Landauer auf dem Weg in die Hill Street in die Berkeley Street einbog und sein Tempo verlangsamte. Sebastian gab dem Kutscher das Zeichen anzuhalten.

Giles, der auf einem hübschen schwarzen Wallach saß, ritt zu ihnen. „Guten Tag, Mädchen, Lady Elinore. Was für ein schockierendes Kleid, Lady Elinore. Von so bemerkenswertem Schnitt und ungewöhnlicher Farbgestaltung!“

Lady Elinore, die eines ihrer gewohnt formlosen grauen Kleider trug, rümpfte die Nase und wandte den Kopf, um interessiert eine Stelle am Horizont zu studieren.

„Cassie, Dorie, ihr seht ebenfalls ganz entzückend aus.“ Giles zwinkerte ihnen zu. „Nun, wohin ist denn diese Ladung Schönheiten unterwegs?“

Sebastian antwortete: „Wir waren im Britischen Museum und wollen nun eine Erfrischung zu uns nehmen.“

„Ich bin wie ausgetrocknet“, rief Giles. „Wohin wollt ihr? Darf ich mich euch anschließen?“

Sebastian hatte vorgehabt, zu Hause Tee und Kuchen einzunehmen, aber bei Giles’ Frage fiel ihm plötzlich wieder Miss Hopes Vorschlag von gestern ein. Und sie waren schließlich ganz in der Nähe. Er schaute die Mädchen an. „Ich dachte, wir gehen zu Gunter’s und essen Eis.“

Überrascht hoben Cassie und Dorie die Köpfe. Nach ihrem unartigen Benehmen hatte Cassie nicht mit einer Belohnung gerechnet, aber da sie so gründlich in ihre Schranken gewiesen worden war, entschied Sebastian, dass es nicht zählte.

„Lady Elinore“, erkundigte er sich, „sind Sie damit einverstanden? Gunter’s ist hier in der Nähe.“

Leise erwiderte Lady Elinore etwas und zuckte die Schultern, was er als Zustimmung wertete. Sie war immer noch böse auf Giles, das konnte er sehen. Die beiden kamen einfach nicht gut miteinander aus.

„Es ist dort drüben, an der Ecke.“ Giles zeigte es ihm. „Da, das Haus mit dem Ananas-Schild. Du suchst eine schöne schattige Stelle für die Damen, Sebastian, und ich werde einen Ober schicken.“

„Was, gehen wir nicht hinein?“

Giles schüttelte den Kopf. „Das kannst du natürlich, aber an einem so herrlichen Tag wie heute isst alle Welt ihr Eis draußen im Schatten. Mach dir keine Sorgen, die Ober bringen alles, was man braucht.“ Damit ritt er voraus.

Sie fanden eine Stelle unter großen Ahornbäumen, wo sie den Landauer abstellen konnten. Damen saßen in ihren Kutschen und genossen mit langstieligen Löffeln eisige Köstlich-keiten. Elegante Herren standen an den Geländern und unterhielten sich mit den Damen in den Kutschen, während sie auch Eis aßen.

„Ausgezeichnete Stelle“, erklärte Giles, als er zu ihnen kam. Sein Pferd war an einem Pfosten ein paar Meter entfernt festgebunden. Ein Ober eilte herbei. „Was darf ich den Herrschaften bringen? Welche Geschmacksrichtung möchten Sie?“

Sebastian sah ratlos aus. Die Mädchen ebenfalls. Lady Elinore schwieg. Schließlich erklärte Cassie: „Ich hatte noch nie ein Eis, also weiß ich nicht, was für einen Geschmack es hat. “ „Nie ein Eis gehabt?“, rief Giles gespielt entsetzt. „Bastian, sie sind jetzt seit - wie lange in London und haben noch kein Eis gegessen?“

„Ich hatte auch noch nie eines“, gestand Sebastian.

Giles wandte sich an Lady Elinore: „Lady Elinore, nun ist es unsere Pflicht als Londoner, diese schockierenden Zustände zu ändern. Welche Sorte würde den jungen Damen Ihrer Meinung nach Zusagen?“

Lady Elinore erwiderte kühl: „Ich habe keine Ahnung, Mr. Bemerton. Ich habe noch nie Eis gegessen. Und ich habe es auch nicht vor. Meine Mutter hielt Essen, das in extremen Temperaturen serviert wird, für schädlich. Eis ist keine rationale Speise.“ „Das ist es bestimmt nicht“, pflichtete ihr Giles heftig bei. „Es ist eine Speise für die Götter! Also ist es für alle das erste Mal, dann - ausgezeichnet! Ober, welche Sorten gibt es?“

Der Ober ratterte eine Liste herunter. Sebastian bekam nicht alles mit: Es gab Wassereis und Sahneeis in allen möglichen Variationen, darunter Erdbeere, Pistazie, Bergamott, Königscreme, Schokoladensahne, gebrannte Haselnusssahne, Jasmin, weißer Kaffee, Tee, Ananas, Holunder und Zitrone sowie eine ganze Reihe anderer französischer Sorten, die er nicht verstand.

Es waren so viele, aus denen man wählen konnte, dass niemand sich entscheiden konnte, weshalb Giles es übernahm. „Nun gut, für die Damen schlage ich Erdbeereis ..."

„Ich hätte lieber Pistazie, bitte“, sagte Cassie. „Ausgezeichnet! Also, Ober, zwei Erdbeereis, ein Pistazieneis, und wie ist es mit gefrorenem Orangenpunsch für uns, Sebastian - das ist mit Rum versetzt?“

Sebastian nickte. „Klingt gut.“

„Wenn Sie das eine Erdbeereis für mich bestellt haben - ich esse es nicht“, verkündete Lady Elinore. „Wie ich schon sagte, Eis ist keine rationale Speise.“

Giles betrachtete sie nachdenklich. Unter seiner Musterung hob Lady Elinore ihre Nase noch ein wenig höher.

„Das tut mir leid. Essen Sie Brot, Lady Elinore?“, erkundigte er sich mit demütiger Stimme. „Ich kann Ihnen Brot bringen lassen.“

„Ja“, gestand sie, widerwillig besänftigt.

Giles sagte etwas zu dem Ober, der nickte und die belebte Straße zu Gunter’s überquerte.

„Dann ist alles ja geklärt“, verkündete Giles und stieg in den Landauer. Er zwängte sich zwischen Dorie und Cassie, sodass er Lady Elinore gegenübersaß, die ihre Knie so weit wie nur möglich zurückzog, damit sie seine nicht berührten. Das Manöver entging ihm nicht, und er begann die Mädchen über ihren Ausflug zu befragen. Sebastian nahm erfreut zur Kenntnis, dass Giles auch Dorie Fragen stellte, sie aber extra so formulierte, dass sie mit Kopfschütteln oder Nicken antworten konnte. Giles war ein guter Kerl.

„Mr. Bemerton, wussten Sie, dass Lady Elinore bewaffnet ist, genau wie ich?“, fragte Cassie.

Giles blinzelte verwundert und schaute Lady Elinore an.

Sie reckte ihre Nase noch höher und sagte nichts, aber leichte Röte stieg ihr in die Wangen.

„Was du nicht sagst, Cassie. Wo versteckt sie ihre Waffe denn? An der gleichen Stelle?“ Er blickte provozierend auf Lady Elinores Beine.

Sie zupfte ihren Rock zurecht. „Ganz bestimmt nicht! Cassandra, es ist unhöflich, solche Themen in Gesellschaft zu diskutieren.“

„Eine große Hutnadel. In ihrem Oberteil“, flüsterte Cassie.

Giles richtete seinen Blick auf das in Frage kommende Kleidungsteil. „Ich kann nichts erkennen“, flüsterte er zurück und zwinkerte Sebastian zu.

Sebastian trat seinem Freund auf den Fuß und wechselte entschlossen das Thema. Sie sprachen über Pferde, bis der Kellner eintraf, sein Tablett beladen mit Glasschälchen, randvoll mit farbenfrohen Köstlichkeiten. Giles verteilte Servietten und dann das Eis: Dorie erhielt ein sahnig rosafarbenes, ein blassgrünes reichte er Cassie, einen der weißlich orangen Berge aus geschabtem Eis gab er Sebastian, den anderen behielt er selbst. Übrig blieb ein Eis in der Farbe gerösteter Kekse.

Lady Elinore betrachtete es missbilligend. „Für wen ist das?“ Giles grinste. „Sie sagten, Sie äßen Brot. Das hier ist Broteiscreme.“ Er steckte den langstieligen Löffel in die sahnige Masse und hielt ihn ihr gefüllt vor den Mund. „Sieht es nicht köstlich aus?“

Lady Elinore verzog prüde das Gesicht. „Nein! Ich habe zugestimmt, Brot zu essen, kein ... mpf.“

Sebastian hätte seinem Freund böse sein sollen, aber der Ausdruck auf Lady Elinores Gesicht entlockte ihm ein verwundertes Lachen. Und die Mädchen kicherten.

Um Würde bemüht, schluckte Lady Elinore die Eiscreme von dem Löffel, den Giles ihr ungefragt in den Mund gesteckt hatte, während sie sprach. Beim Schlucken ging ein seltsamer Ausdruck über ihre Züge.

„Ich habe doch gesagt, dass Sie es mögen würden“, erklärte Giles selbstzufrieden.

„Es ist keine rationale Speise“, wandte Lady Elinore ein, konnte ihre Augen aber nicht von dem Schälchen in Giles’ Hand losreißen. Sie leckte sich die Lippen.

„Sie können es genauso gut auch aufessen“, bemerkte Giles vernünftig. „Sonst verkommt es. Es ist eine schlimme Sünde, gutes Essen verderben zu lassen.“ Er beugte sich vor und platzierte die Schale in Lady Elinores Händen. „Sie können ja nachher mit Ihrer Hutnadel auf mich einstechen, wenn Sie wollen.“ Damit drehte er sich zu den Mädchen um und fragte: „Nun, wie schmeckt euch euer erstes Eis?“

Lady Elinore betrachtete die Eisschale gleichermaßen verlangend und argwöhnisch. Sie warf Giles einen Blick zu, um zu sehen, ob er sie beobachtete, aber da er vollends mit Sebastians Schwestern beschäftigt schien und noch nicht einmal in ihre Richtung schaute, nahm sie den langen Löffel und aß noch etwas. Ein Ausdruck seligen Entzückens erschien auf ihrem Gesicht, belebte es ungeahnt. Sie schaute wieder zu Giles, aber er beugte sich gerade zu Cassie, daher nahm sie noch einen Löffel, dann noch einen.

Cassie probierte ihres und rief: „Oh! Ich dachte, es würde wie Schnee schmecken. Aber das hier ... mmh ... Das hier ist das Wunderbarste ... Köstlichste, das ich je ... mmh ... gegessen habe.“ Sie löffelte begeistert ihr Pistazieneis, als fürchtete sie, es könnte sich in Luft auflösen.

Sebastian schaute Dorie zu. Sie steckte sich immer nur ein wenig von ihrem Erdbeereis in den Mund, ließ es langsam schmelzen und ihre Kehle hinunterlaufen. Er lächelte über ihren hingerissenen Gesichtsausdruck.

„Komm schon, Bastian, sonst schmilzt dein Eis.“

Da erst fiel Sebastian wieder sein gefrorener Orangenpunsch ein. Er schmeckte süß und herb zugleich, mit einem Schuss Rum. Speise für die Götter, fürwahr.

Es war Ironie, dass er letztlich Hope Merridew den Erfolg des Ausfluges der Mädchen mit Lady Elinore zu verdanken hatte.

Das Museum war ein Fehlschlag gewesen - und dabei war er sich sicher, dass es dort Ausstellungen gab, die die Mädchen interessiert hätten. Ihm kamen Zweifel an der Art und Weise, wie Lady Elinore die Mädchen behandelte; lange Vorträge und Tadel - das waren genau die Taktiken von sieben erfolglosen Gouvernanten. Er dachte daran, wie die Anstalt für Mittellose Mädchen geführt wurde. Cassie befand sich am Rande einer Rebellion.

Lady Elinores einziger Erfolg war das Messer.

Das waren keine erfreulichen Gedanken. Und ihre Beziehung zu ihrer Mutter hörte sich auch nicht viel versprechend an. Wenn sie glaubte, so benähme sich eine Mutter ...

Hätte Miss Hope sie begleitet, wäre der ganze Ausflug viel lustiger geworden, da war er sich sicher. Alle hätten eine Menge Spaß gehabt. Und viel gelacht.

Er runzelte die Stirn. Es passte nicht zu ihm, bei der ersten Hürde aufzugeben. Ein Plan musste gründlich getestet werden, ehe man ihn änderte. Er würde Lady Elinore noch nicht aufgeben.