13. KAPITEL
„Ich habe mich so schrecklich gefühlt, Tante Gussie. Ich hatte keine Ahnung, dass meine Worte Lady Elinore derart aus der Fassung bringen könnten.“
Die Zwillinge und Mrs. Jenner saßen zum Tee in Lady Augustas Empfangssalon und sprachen über den Besuch.
„Ach was! Kein Grund, sich Vorwürfe zu machen. Träume sind wichtig. Deine Schwester hat recht, du hast aus Versehen einen wunden Punkt berührt, das ist alles.“ Lady Augusta kniff die Augen zusammen. „Du sagst, der junge Bemerton habe sie nach Hause gebracht? Das wundert mich.“
„Wir anderen waren zu schockiert, um uns zu rühren“, erklärte Faith.
Mrs. Jenner bemerkte spitz: „Mr. Bemerton ist schließlich ein Gentleman und weiß, was sich gehört. Anders als gewisse andere Herren.“
„Was meinen Sie damit?“, erkundigte sich Hope hitzig. „Mr. Reyne ist ein vollkommener Gentleman! Mr. Bemerton war nur ein wenig schneller bei ihr.“
Faith legte ihr beruhigend eine Hand auf das Knie. „Liebes, weißt du, warum Mr. Reyne so absolut dagegen ist, dass seine Schwestern ebenfalls kommen?“
Hope schüttelte den Kopf. „Nein. Er will sie vor allem beschützen - vielleicht vor zu viel.“
„Ich verstehe nicht“, warf Mrs. Jenner ein, „warum ein Mann, der angeblich Lady Elinore den Hof macht, es erlaubt, dass ein anderer sie nach Hause bringt, besonders nachdem sie die Fassung verloren hatte.“
Lady Augusta schnaubte abfällig. „Wenn sie auch nur einen Funken Verstand besäße, wäre Lady Elinore ohnmächtig geworden, und dann wäre der herrlich große Mr. Reyne gezwungen gewesen, sie aufzufangen und nach draußen zu tragen. Vollkommen ahnungslos, das Mädchen.“
Hope war für Lady Elinores mangelnden Einfallsreichtum sehr dankbar. Wenn der herrlich große Mr. Reyne jemanden auffing und nach draußen trug, dann würde das Hope Merridew sein! „Mr. Reyne“, erwiderte sie fest, „fühlte sich als Besitzer der Anstalt verpflichtet, als Gastgeber bei seinen Gästen zu bleiben.“
Lady Augusta überlegte einen Moment. „Das kann sein. Hat er seine Pflicht als Gastgeber denn erfüllt, der Junge mit den göttlichen Schultern?“ Sie zwinkerte Hope zu. „Hübsch kräftige Schenkel hat er auch. Ich mag Männer mit kräftigen Schenkeln.“
„Tante Gussie, bitte!“ Angesichts Lady Gussies peinlicher Beschreibung von Mr. Reynes körperlichen Attributen errötete Hope. Zutreffend, aber peinlich.
„Nun, ich kann nicht umhin zu bemerken, jetzt wo die Herren diese hübschen, eng anliegenden ... “
Hastig unterbrach Faith sie: „Mr. Reyne blieb noch eine kleine Weile mit uns dort, dann hat er uns heimgebracht.“
Lady Augusta zwinkerte Hope erneut zu, nahm ein Sahnebaiser und betrachtete es nachdenklich. „Mir tut Lady Elinore leid. Agatha Pilton war schon immer merkwürdig.“
„Agatha Pilton? Wer ist Agatha Pilton?“, erkundigte sich Hope verwirrt.
Lady Gussie biss von dem Baiser ab und antwortete, nachdem sie zu Ende gekaut hatte. „Lady Elinores Mutter. Vor ihrer Hochzeit war sie eine Pilton. Sie hat Billy Whitelaw geheiratet, den Earl of Ennismore - ein irischer Titel -, und alles falsch gemacht. Hat sich unmöglich benommen, als sie herausfand, dass Billy eine Mätresse hatte - was hatte sie erwartet? Schließlich war es ja keine Liebesheirat. Alle Welt wusste, dass der arme Billy nach einer reichen Erbin Ausschau hielt. Hatte keinen Pfennig in der Tasche, aber Himmel, war er ein gut aussehender Teufel! Agatha Pilton war ein hübsches junges Ding, bloß ohne Feuer. Sie hätte wissen müssen, dass sie wegen ihres Vermögens geheiratet worden war. So wurde das früher gemacht, und so war es auch bei meiner ersten Ehe. Man musste einfach das Beste daraus machen.“ Sie schüttelte den Kopf und aß den Rest des Baisers.
„Was hat Lady Ennismore getan?“
Lady Gussie machte einen abfälligen Laut und antwortete: „Sie hat ihm in der Öffentlichkeit Szenen gemacht, vor dem Haus der Mätresse auf ihn gewartet und einen grässlichen Aufstand inszeniert. Ist Billy zu seinem Club gefolgt und hat sich auch da unglaublich aufgeführt. Stand unter dem Fenster bei White’s und hat gezetert und gekeift! Entsetzlich!“ Sie streckte die Hand nach dem Gebäckteller aus. „Am Ende hat sie ihm das Haus verboten. Hat begonnen, sich wie eine Vogelscheuche anzuziehen, und sich zu einem Leben als personifizierte Peinlichkeit entschlossen. Billy ist nach Indien oder Irland gegangen und bei einem bizarren Unfall umgekommen. Typisch Billy.“ Sie entschied sich für einen Zitronenkuchen. „Das Letzte, was ich gehört habe, war, dass Agatha sich einer Gruppe Blaustrümpfe angeschlossen hatte - das war ungefähr zu der Zeit, als ich nach Argentinien abgereist bin.“
Hope schenkte sich und ihrer Schwester Tee ein. „Wie faszinierend. Lady Ennismore hat ein Buch mit dem Titel Die Grundzüge der Rationalität für aufgeklärte Damen veröffentlicht, weißt du.“
„Nein, das wusste ich nicht. Es klingt schrecklich!“, erklärte Lady Gussie mit einem vornehmen Schauder. „Klingt mir ganz genau nach der Sorte Buch, das eine aufgeklärte Dame unter allen Umständen meiden sollte.“
„Lady Elinore wurde nach diesen Grundzügen erzogen.“ „Nun, dann zeigt das nur, was für ein Quatsch dieses Buch sein muss. Das arme Ding sieht grässlich aus, kleidet sich geschmacklos und benimmt sich, als hätte sie nie irgendeinen Spaß im Leben gehabt. Ich wette, sie ist noch nicht einmal geküsst worden!“ Lady Gussie knabberte geziert an ihrem Kuchen, dann seufzte sie. „Was für ein vergeudetes Leben. Wenn ich das Mädchen herrichten dürfte, dann könnte ich sie wenigstens passabel machen. Aber all das Grau! “ Sie erschauerte. „Niemand sollte grau gekleidet durchs Leben gehen.“
„Dem stimme ich voll und ganz zu“, erklärte Faith mit Nachdruck. „Unser Großvater hat darauf bestanden, dass unsere Kleider aus grob gewebtem grauem Stoff waren, und es war furchtbar.“
Lady Gussie war entsetzt. „Ich wusste, der Mann war verrückt, aber euch hübsche Mädchen in graue Kleider zu stecken ist ein Verbrechen. Jawohl, ein Verbrechen!“
Hope starrte Lady Gussie an und setzte sich aufrecht hin. „Tante Gussie, du hast recht, absolut recht.“
„Natürlich habe ich recht.“ Lady Gussie verzehrte den Rest ihres Zitronentörtchens und wischte sich den Zuckerguss von den Fingern. „Wobei genau, meinst du?“
Faith starrte ihre Schwester an. „Du hast einen Einfall.“ Hope grinste und nickte.
„Wegen Lady Elinore?“
„Nein, wegen der Waisenmädchen.“ Sie beugte sich aufgeregt vor. „Wir laden diese Mädchen nicht einfach zum Tee ein. Es soll aufregender sein als Tee und Kuchen. Ich bin fest entschlossen, etwas Freude in das Leben der Kinder zu bringen. Hoffentlich hat Lady Elinore nicht allzu viel dagegen - ich möchte sie nicht noch weiter aufregen, als ich es schon getan habe. Ich habe mich schrecklich gefühlt, als sie in Tränen ausbrach, denn ich mag sie, selbst wenn sie merkwürdige Ideen und Vorstellungen hat.“
„Ja, ich auch“, stimmte ihr Faith zu.
„Agatha Pilton gehört erwürgt“, bemerkte Lady Gussie. „Ihrer Tochter beizubringen, dass man sich wie eine Vogelscheuche kleiden muss. Das ist ein Verbrechen wider die Natur!“
Faith nickte. „Ja, ihre Lebenseinstellung muss schlimm gewesen sein! Man denke nur, zu behaupten,Träume seien Müll.“
Die alte Dame schnaubte. „In der Tat! Lady Elinore hat Glück, dass ihre Mutter gestorben ist. Schade nur, dass es nicht schon geschehen ist, als sie noch ein Kind war.“
Hope legte Lady Gussie voller Zuneigung die Hand auf den Arm. „Liebe Lady Gussie! Die arme Elinore wäre so viel glücklicher, wenn du ihre Mutter gewesen wärest.“
Lady Augusta nickte nachdenklich. „Ja, das wäre sie. Aber es ist nie zu spät. Agathas Mädchen kann noch etwas aus sich machen.“
„Ich sterbe vor Neugier“, sagte Faith zu ihrer Schwester. „Was hast du vor?“
Hope erklärte ihren Plan. Als sie fertig war, lehnte sie sich zurück und schaute ihre Schwester und Lady Augusta an. „Werdet ihr mir helfen? Ihr wisst ja, ich bin für so etwas nicht zu gebrauchen, aber mit eurer Unterstützung ... “
„Natürlich werden wir das! “, rief ihre Schwester. „Du kannst auf mich zählen, und Grace wird auch mitmachen wollen.“ Lady Gussie lächelte strahlend. „Natürlich helfe ich dir, Miss. Ganz gewiss sogar.“ Sie leerte ihr drittes Glas Sherry und lachte leise. „Ich liebe ein Komplott. Und, weißt du, ich würde wirklich gerne mehr über dieses Waisenhaus erfahren. Arme, mutterlose Seelen. Hast du was dagegen, wenn ich Maudie und ein paar ihrer Busenfreundinnen dazuhole? Das ist genau das Richtige für sie.“ Plötzlich lachte sie fröhlich. „Maudie hat Agatha immer verabscheut. Jetzt, Hope, meine Liebe, sag, was ziehst du zu Lady Thorns Zigeunerball an?“
Angesichts des jähen Themen Wechsels blinzelte Hope, antwortete aber: „Um ehrlich zu sein, Tante Gussie, ich habe keine Ahnung. Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Was tragen ungarische Zigeuner am Leib? Weiß das jemand?“
,;Flöhe, möchte ich wetten“, bemerkte Lady Augusta sarkastisch. „Aber da mache ich nicht mit! Faith, Liebes, du verbringst doch jede Menge Zeit mit diesem hübschen Graf Rimavska. Weißt du Genaueres?“
Faith wirkte leicht verlegen. Das sollte sie auch besser, dachte Hope, berücksichtigte man, wie viel Zeit sie jüngst in der Gesellschaft des Grafen verbracht hatte.
„Natürlich Masken in allen möglichen Stilrichtungen, die einem gefallen. Und was das Kleid angeht, denke ich an leuchtende Farben, Tante Gussie. Viel Rot, Schwarz und Weiß, Rüschen und Volants und Stickereien. Die Männer haben Stiefel an und ... “
„Stiefel bei einem Ball!“, rief Tante Gussie entsetzt.
„Ja, und entweder weite Pluderhosen oder schwarze enge Beinkleider.“
„Da braucht man nicht lange raten, für was sich der Graf entscheidet“, warf Hope spitz ein.
„Ja, er trägt seine Hosen gerne eng, nicht wahr?“ Lady Augusta kicherte. „Er kann es sich aber auch leisten, das muss der Neid ihm lassen, anders als viele andere Männer unserer Bekanntschaft, die Armen - und ich sage, wenn ein Mann die Figur dazu hat, dürfen seine Hosen so eng anliegen, wie er will; ich für meinen Teil werde mich nie beschweren.“
Alle lachten. „Tante Gussie, du bist unmöglich!“
„Ach was! Wozu habe ich schließlich Augen? Was noch, Faith?“
„Die Hemden der Männer sollten weiß, weit geschnitten und an den Manschetten gerafft sein. Dazu gehört eine bunt bestickte Weste sowie ein Kopftuch ... “
„Ein Kopftuch? Wirklich ein Kopftuch?“
Beide Zwillinge lachten über ihren ungläubigen Ton.
„Ja, oder einen schwarzen Hut.“
„Kein Londoner Mann wird ein Kopftuch tragen“, erklärte Lady Augusta fest. „Nun, das wären also die Männer. Aber was ist mit uns? Faith, was ziehst du an?“
„Das habe ich Fel... Graf Rimavska auch gefragt. Und er hat mir bei meinen Ideen geholfen. Ich habe zufällig meinen Skizzenblock da.“ Aus ihrem Retikül holte sie einen kleinen Block, und von da an drehte sich ihre Unterhaltung nur noch um die passende Kleidung für den Maskenball.
„Es ist zwecklos, Bastian. Du kommst da nicht rein. Es ist eine ausschließlich weibliche Veranstaltung.“ Giles lehnte sich auf dem Kutschbock seiner Chaise zurück. Den Kragen hatte er hoch geschlagen und seinen Biberhut mit der nach oben gebogenen Krempe tief in die Stirn gezogen.
Sebastian war gerade erst vor Sir Oswald Merridews Haus am Providence Court angekommen, zehn nervöse, grau gekleidete Mädchen in seiner Kalesche, die letzte Fuhre Waisenmädchen.
„Nur Frauen?“
Giles nickte, stieg von seiner Kutsche und ging zu seinem
Freund. „Geheime Frauensachen, offensichtlich. Wir Männer werden nur für Fahrdienste benötigt.“ Er zuckte die Schultern. „Meine Damen!“, grüßte er die Mädchen und machte eine elegante Verbeugung, nachdem er den Kutschenschlag geöffnet und die Trittstufen heruntergeklappt hatte. „Sie haben das Ziel Ihrer Fahrt erreicht.“
Das war genau die richtige Vorgehensweise, erkannte Sebastian. Die Mädchen kicherten schüchtern, während sie ausstiegen und wie gehorsame Mäuse der Reihe nach in dem Haus verschwanden.
„Lady Elinore kommt nicht?“, fragte Giles.
Sebastian schüttelte den Kopf. „Nein, sie musste sich mit dem Ausflug abfinden, aber sie billigt ihn nicht. Sie sieht die Mädchen nachher.“ Er schickte sich an, ihnen ins Haus zu folgen.
Giles hielt ihn zurück. „Ich habe dir doch gesagt, nur weibliche Wesen werden eingelassen.“ Er zuckte die Achseln. „Natürlich wurden wir eingeladen, Erfrischungen mit Sir Oswald einzunehmen, aber, um ganz ehrlich zu sein, Bastian, zehn Pferde brächten mich nicht in das Haus! “
„Warum?“
Sichtlich unwohl schaute Giles zu den glänzenden Fenstern des Hauses empor und vertraute ihm an: „Die Merridews haben eine Schar Witwen hinzugezogen - Lady Augusta, Lady Gosforth und vielleicht ein Dutzend ihrer Busenfreundinnen. Ein Haufen alter Schachteln, die mich wie einen zerzausten Schuljungen behandeln! Mich! Und weißt du was? Ich fühle mich wie ein zerzauster Schuljunge, sobald ich einer von ihnen unter die Augen komme! Ich war vielleicht mal ein kleiner Schuljunge, vielleicht sogar ein wenig schmächtig, aber ich war nie in meinem Leben zerzaust!“
Er zog seinen Hut tiefer in die Stirn. „Und heute ist eine ganze Bande von ihnen da drin.“ Er erschauerte. „Daher entfliehe ich in die Sicherheit meines Clubs. Sie brauchen unsere Chauffeurdienste in zwei Stunden wieder, hat man mich unterrichtet. Kommst du mit mir?“
Sebastian kam. Da er sie nicht seit Kindertagen kannte, schreckten ihn die Witwen wenig, aber ein Haus voll mit vierzig oder mehr Frauen und er und Sir Oswald die einzigen anwesenden Männer ... der Club klang wesentlich besser.
Zwei Stunden später kehrten sie zum Providence Court zurück und wurden von dem steinalten Butler in die Bibliothek geführt. „Miss Hope lässt Ihnen ausrichten, dass es ein wenig länger dauert. Wenn Sie hier warten wollen ...“ Er deutete auf die bequemen Sessel. „Miss hat Erfrischungen für Sie bestellt.“ Während er sprach, öffnete sich die Tür, und ein Lakai trat mit einem Tablett ein, auf dem sich ein Teller mit Sandwichs, mehrere Scheiben Pastete, ein Pflaumenkuchen und Kekse befanden. Ein weiterer Lakai folgte mit Wein und Ale.
Sebastian beäugte die reichhaltige Auswahl. „Scheint länger zu dauern.“
Giles nahm ein Sandwich und schaute argwöhnisch zur Tür. „Solange diese Tür geschlossen bleibt und keine Witwengeschwader eingelassen werden, kann ich damit leben.“ Er machte eine Pause und lauschte. „Scheint mir eine Menge Lärm zu sein für eine einfache Teegesellschaft. Meinst du, sie haben ein paar Flaschen geköpft?“
„Das halte ich für unwahrscheinlich, schließlich sind die Mädchen alle jünger als fünfzehn Jahre.“ Mit gerunzelter Stirn horchte Sebastian ebenfalls. „Es hört sich allerdings reichlich laut an.“
Sie hatten schon gute Fortschritte bei den Sandwichs und dem Ale gemacht, als die Klingel an der Eingangstür herrisch betätigt wurde. Einen Augenblick später war eine empörte Frauenstimme zu vernehmen. „Das ist Lady Elinore, äh, denke ich.“ Giles erhob sich und trat in die Halle. Sebastian folgte ihm.
Eine entrüstete Lady Elinore stellte den Butler zur Rede. „Es war vereinbart, dass die Mädchen vor mehr als einer Dreiviertelstunde zurück sein würden, aber sie sind nicht gekommen! Sie müssen unverzüglich nach Hause gebracht werden!“
Giles schlenderte zu ihr. „Guten Tag, Lady Elinore. Entzückt, Sie zu sehen. Wie elegant Sie heute gekleidet sind! Wie würden Sie die Farbe nennen - Grau vielleicht? Erstaunlich. Damit sehen Sie ganz ... Und dieser Hut, ein wahrlich hässl..., äh ein herrlich vernünftiges Accessoire. Ihre Hutmacherin hat ein Faible für das Gewagte! Oder handelt es sich um eine Arbeitsprobe der Mädchen oben? Ganz reizend.“ Er bemächtigte sich ihrer geballten Faust, küsste sie mit großer Galanterie, dann rief er in gespieltem Erstaunen: „Graue Handschuhe, bei George! Was für ein kluger Einfall. Kontrast, das ist es!“
Sichtlich verstimmt, entriss sie ihm ihre Hand und wandte sich an Sebastian: „Die Mädchen müssten längst wieder bei ihrem Unterricht sein.“ Sie hielt den Kopf schräg. „Hören Sie den Lärm? Man könnte meinen, man sei in Bedlam und nicht im Hause eines Gentlemans!“ Sie drehte sich wieder zum Butler um und verlangte: „Seien Sie so gut, und informieren Sie Miss Hope und Miss Faith, dass Lady Elinore Whitelaw hier ist, um die Waisenmädchen abzuholen. Sofort.“
Der Butler entfernte sich schwerfällig.
„Darf ich Ihnen ein Sandwich anbieten, Lady Elinore? Oder ein Glas Ale? Ein Stück Pastete?“
„Still, Giles“, bat Sebastian, der merkte, dass Lady Elinore ehrlich aufgebracht war. „Kein Grund zur Sorge, Lady Elinore. Die Mädchen sind hier ganz sicher.“
Sie rümpfte die Nase. „Miss Hope hatte versprochen, die Mädchen würden vor beinahe einer Stunde zurück sein. Es ist von äußerster Wichtigkeit, dass diese Mädchen ein möglichst ruhiges, ereignisloses Leben führen. Nur so können wir sie retten.“ „Ein bisschen Tee, ein kleiner Ausflug, etwas Kuchen“, erwiderte Sebastian in beschwichtigendem Ton. „Was kann das schon schaden?“
Noch während er sprach, läutete ein Glöckchen im ersten Stock. Miss Hope stand auf dem obersten Treppenabsatz und schaute in die Halle hinunter. „Verehrte Lady, sehr geehrte Herren“, verkündete sie fröhlich, „ich präsentiere Ihnen die jungen Damen der Tothill-Fields-Anstalt für Mittellose Mädchen.“ Sie drehte sich um und sagte: „Jetzt geht es los.“
Die Mädchen kamen langsam die Treppe hinab, immer zu zweit, in einer langen, ordentlichen Reihe, so wie sie auch vor beinahe drei Stunden ins Haus gegangen waren. Aber da endete alle Ähnlichkeit auch schon. Die älteren Mädchen gingen voran.
Lady Elinore schnappte nach Luft.
„Herrje!“, murmelte Giles.
Sebastian konnte nur blinzeln. Es waren nicht mehr dieselben Mädchen. Die vorhin ernsten, schmalen Gesichter glühten nun vor Aufregung und Stolz. Ihre straffen Frisuren waren verschwunden, Locken an ihre Stelle getreten, die von Schleifen, Seidenspangen oder anderem Haarschmuck gehalten wurden. Die Mädchen trugen immer noch die grauen Kleider, in denen sie gekommen waren, erkannte Sebastian, aber trotzdem glichen sie nicht mehr den formlosen, tristen Kleidern von vorhin. Diese Kleider passten ihren jungen Trägerinnen wesentlich besser, und jedes war mit farbiger Litze, bunten Rüschen, Spitzenbesatz oder neuen hübschen Knöpfen verziert. In manche waren bunte Stoffstreifen eingesetzt worden. Bei anderen waren die Manschetten oder Kragen und der Saum mit einer Spitzenrüsche eingefasst. Jedes Kleid war nun so einmalig wie seine Trägerin und ähnelte fast einem modischen Gewand.
Alle Mädchen gingen mit schüchternem Stolz, wie junge Rosen, die ihre Blütenblätter entfalteten. Sie schwebten die Treppe hinab, hielten ihre Röcke sorgsam in einer Hand und ihre Hüte in der anderen. Ihre Bewegungen wurden von einem leisen Rascheln begleitet, das Sebastian sich nicht erklären konnte. Nachdenklich runzelte er die Stirn.
„Seidenunterröcke“, murmelte Giles. „Wenn ich mich nicht irre, trägt jede von ihnen einen Seidenunterrock, den sie nicht anhatten, als sie kamen. Es geht doch nichts über Seidenunterwäsche, damit sich eine Frau weiblich fühlt. Ich muss den Hut vor Miss Hope ziehen - es ist ein Wunder! Ich habe noch nie eine solche Verwandlung gesehen. Graue Mäuse in ...“
„Paradiesvögel!“, erklärte Lady Elinore scharf. „Und das nach all dem, was wir unternommen haben, um sie davor zu bewahren.“
„Was für ein Unsinn“, entgegnete Giles. „Sie vor was bewahren? Ein wenig Spitze und einer Feder oder zwei?“
„Es ist wesentlich mehr als Spitze und Federn, es ist... “ „Still, alle beide! “, zischte Sebastian in einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. „Wenn es irgendwelche Meinungsverschiedenheiten gibt, werden wir das auf keinen Fall vor diesen Kindern besprechen.“
Die älteren Mädchen waren unten angekommen und stellten sich im Kreis auf, setzten sich ihre Hüte sorgsam auf ihre neuen Frisuren, banden sie unter dem Kinn und warteten dann auf die Jüngeren. Hope läutete wieder mit ihrem Glöckchen, und schon kamen sie die Treppe hinunter, ein Dutzend kleine Mädchen im Alter von sechs bis zehn, die die Stufen weniger gesittet, aber wesentlich aufgeregter hinuntergingen, während ihre neuen Locken fröhlich wippten. Ihre Kleider waren ebenfalls verschönert worden, und ihre Hüte zierten nun Gänseblümchen,
Röschen und Seidenbänder, aber es war klar zu erkennen, dass die neue Kleidung für diese Gruppe nicht das Wichtigste war.
Jedes kleine Mädchen trug etwas offensichtlich Kostbares; Sebastian konnte nicht genau erkennen, was es war. Er erhaschte einen Blick auf Wolle, einen Schimmer Seide und etwas Spitze. Das letzte kleine Mädchen kam die Treppe in ein wenig zu großen festen Stiefeln hinab. Es war das Kind, mit dem Hope sich neulich im Speisesaal unterhalten hatte, May, deren sogenannter Geburtstag damals gewesen war.
Heute leuchtete ihr schmales Gesicht vor Freude. Sie drückte etwas an ihren mageren kleinen Körper. Dann sah sie Lady Elinore und strahlte sie entzückt an. „Schauen Sie, Mylady! Sehen Sie, was ich bekommen habe“, rief sie.
In diesem Moment erkannte Sebastian, was sie in der Hand hielt, was jedes kleine Mädchen mit solcher Freude und Sorgfalt trug: eine Puppe.
Er schaute zum Treppenabsatz hoch. Miss Hope Merridew beobachtete die Kleinen lächelnd. Selbst von hier unten konnte er sehen, dass ihre Augen feucht schimmerten.
Sebastian musste schlucken.
Die Kleinen eilten zu den älteren Mädchen, um ihnen ihre Puppen zu zeigen. Zu Giles’ Entsetzen folgten ihnen mehrere ältere Damen, die sich begeistert auf ihn stürzten.
„Giles, lieber Junge, wie geht es deiner Mutter? Hast du gesehen, was wir getan haben? Sehen die Kleinen nicht ganz reizend aus?“
„Gütiger Himmel, wenn das nicht der kleine Giles Bemerton ist! Meine Güte, bist du groß geworden! Das letzte Mal, als ich dich gesehen habe, warst du über und über mit Pusteln bedeckt, armer kleiner Kerl.“ Eine elegante Dame streckte die Hand aus und kniff Giles in die Wange.
„Giles, du junger Schurke. Ich wusste gar nicht, dass du auch dabei bist. Wunderbare Ergebnisse. Ich muss sagen, ich hatte meine Zweifel. Wir haben ja auch den ganzen Nachmittag gebraucht - ich wüsste nicht, wann ich mich das letzte Mal so gut amüsiert hätte. Erzähl mir, wie geht es deiner Mutter?“
Er verbeugte sich, bemühte sich zu lächeln und wenigstens mit dem Anschein von Zuvorkommenheit zu antworten. Es war schwierig, der Mann von Welt zu bleiben, wenn einen alte Damen in die Wange kniffen.
Sebastian, der um eine ausdruckslose Miene rang, fand, dass dieser gehetzte Ausdruck in den Augen seinem Freund bestens stand.
Lady Augusta unterbrach das Giles-Wiedersehensfest: „Maudie, erinnerst du dich noch an Agatha Pilton? Dies ist ihre Tochter Lady Elinore.“
Augenblicklich umringten die Damen Lady Elinore und begannen sie mit Fragen zu bestürmen. Es sah ganz so aus, als hätten die Damen eine neue Leidenschaft entdeckt: Waisenkinder.
Feige überließ Giles Lady Elinore ihrem Schicksal. Er stahl sich an den Witwen vorbei zu Sebastian und sagte: „Komm, Bastian. Lass uns diese Kinder nach Hause bringen, ehe der Sturm losbricht.“
Sebastian schaute zum klaren blauen Himmel.
„Nicht so ein Sturm, mein Guter!“ Giles nickte zu den Frauen. „Lady Elinore. Sie mag zwar gerade unter einer Lawine Witwen begraben sein, aber du hast doch ihr Gesicht gesehen. Sie wird das nicht einfach so hinnehmen, sondern Miss Hope zur Rede stellen. Also beeilen wir uns besser, die Zuschauer fortzuschaffen.“
Sebastian nickte und winkte James zu sich. Innerhalb von Minuten stand Sir Oswalds Kutsche vor dem Eingang, und der Lakai verfrachtete die Mädchen hinein. Giles’ und Sebastians Gefährte folgten. Am liebsten hätte Giles seine Chaise selbst gefahren, aber Sebastian hielt ihn zurück.
„Tut mir leid, Bastian, aber ich habe eine wichtige Verabredung mit... meinem Hutmacher.“
„Feigling.“
„Voll und ganz“, stimmte ihm Giles zu.
Sebastian lockerte seinen Griff um den Arm des Freundes nicht, bis der sagte: „Na gut. Mein Pferdebursche kann fahren.“
Nur wenige Augenblicke später trafen die Kutschen der älteren Damen ein, die sich nacheinander verabschiedeten, nicht ohne Miss Hope für den angenehmen Nachmittag und Sir Oswald für die Erfrischungen zu danken. Giles wurde ermahnt, ein guter Junge zu sein und seiner Mutter nicht so viele Sorgen zu bereiten, und Agatha Piltons Tochter eingeladen, sie möglichst bald einmal zu besuchen. Nachdem die letzte gegangen war, herrschte in der Eingangshalle gespannte Stille.
„Die Ruhe vor dem Sturm“, flüsterte Giles. Lady Elinore war blass - bis auf die beiden hellroten Flecken auf ihren Wangen. Ihre Lippen hatte sie zu einer schmalen Linie zusammengepresst. Ihre Augen blitzten verärgert.
Lady Augusta, die sich der Spannung im Raum bewusst war, erklärte: „Oswald, ich bin erschöpft. Bring mich nach oben und besorg mir etwas zu trinken! “
„Das kommt davon, wenn du deine Innereien mit Tee überschwemmst, Gussie. Ich werde dir einen schönen Kräutertrank ...“
Lady Augusta schnaubte abfällig. „Ich will keine Kräuter, Oswald! Sie haben dann und wann ihren Sinn, aber jetzt brauche ich Cognac.“
Sie gingen. Dabei zählte Großonkel Oswald alle Übel von Branntwein auf und die Vorzüge von Kräutertinkturen, während Lady Augusta ihm keine Beachtung schenkte und unbeeindruckt guten Cognac verlangte. Grace und Faith zogen sich zum Aufräumen nach oben in das Kinderzimmer zurück. Sebastian, Lady Elinore, Giles und Hope blieben in der Halle zurück, von wo aus Sebastian sie in die Bibliothek führte.
Lady Elinore starrte Hope finster an. „Vermutlich sind Sie stolz auf das, was Sie getan haben!“
„Ja, das bin ich“, sagte Hope. „Haben Sie nicht gesehen, wie froh diese Kinder sind?“
„Darum geht es nicht.“
„Ganz genau darum geht es. Was können schon ein paar fröhliche Stunden, ein bisschen Schnickschnack anrichten?“
„Eine Menge.“
„Eine Menge Gutes, denke ich.“
„Ich habe diesen Ausflug wider besseres Wissen erlaubt, und jetzt sehe ich, wie recht ich hatte. Diese Mädchen werden nie mehr in ihre Routine zurückfinden.“
„Gut“, entgegnete Hope.
„Wie können Sie nur hereintanzen mit Ihren frivolen Ideen und glauben, Sie wüssten, was gut für die Mädchen ist?“
„Ich war einmal ein Mädchen, dem es ganz ähnlich ging.“ Lady Elinore machte eine abfällige Geste. „Ganz ähnlich wie ihnen, beileibe nicht! Sie stehen ihnen vielleicht im Alter näher als ich, aber Sie haben ein völlig behütetes Leben geführt! Was wissen Sie schon über die Härten und Misshandlungen, die meine Mädchen erlitten haben?“
Hope sehnte sich danach, Lady Elinore die scharfe Erwiderung zu geben, die ihr auf der Zunge lag, aber sie war sich Mr. Reynes zu deutlich bewusst, der mit besorgt gerunzelter Stirn dastand. Die wachsende Feindseligkeit zwischen den beiden Frauen bereitete ihm sichtlich Unbehagen, sodass Hope sich zwang, ihr Temperament zu zügeln. Sie antwortete so ruhig wie möglich. „Mein Leben war nicht so behütet, wie Sie meinen.“ Eine Stimme von der Tür unterbrach sie. „Härten und Misshandlung? Meine Schwester kennt sich nur zu gut damit aus! Unser Großvater hat sie regelmäßig mitleidlos geschlagen. Er hat sein Bestes getan, sie zu brechen. “ Faith trat in die Bibliothek und nahm die Hand ihrer Schwester, hielt sie hoch. „Ihnen ist vielleicht aufgefallen ...“
„Nein, Faith.“ Hope versuchte ihre Hand wegzuziehen. „Hier geht es nicht um mich.“
„Doch. Es ist der Grund, weswegen du das heute getan hast.“ Faith wandte sich an die anderen. „Meine Schwester und ich sind Zwillinge, aber gewissermaßen spiegelverkehrt: Ich habe ein Muttermal auf der linken Schulter und sie auf der rechten, ich bin Rechtshänderin, sie ist Linkshänderin. “
„Und?“, fragte Lady Elinore unbeeindruckt.
„Mein Großvater hielt Hope für böse, weil sie ihre linke Hand bevorzugte. Er behauptete, die linke Hand sei ein Werkzeug des Teufels. So hat sie den größten Teil ihrer Kindheit mit der Hand auf den Rücken gebunden verbracht. Und zwar keineswegs sanft.“ Erneut fasste Faith nach Hopes Hand.
Hope versuchte sie wegzuziehen. Es war ein Teil ihres Lebens, den sie vergessen wollte, aber Faith ließ sie nicht los, hob das Handgelenk in die Höhe. „Mein Großvater hat sie so fest nach hinten gebunden, dass sich die Haut wund gerieben hat. Von der Zeit als unsere Eltern starben, als wir sieben Jahre alt waren, bis zu dem Tag vor zwei Jahren, da wir ihm entkommen sind. Wagen Sie es nicht, zu sagen, sie wüsste nichts von Härten! “ Eine lange peinliche Pause entstand. Hope zog ihre Hand fort. Leise erklärte sie: „Es tut mir leid, Lady Elinore, wenn Sie aufregt, was ich getan habe.“
Lady Elinore erwiderte steif: „Was Sie als Kind erleiden mussten, tut mir leid. Trotzdem haben Sie unüberlegt gehandelt und damit die Grundlage dieser Anstalt und die ganze gute Arbeit, die wir bei den Mädchen geleistet haben, untergraben.“
Hope hob die Augenbrauen. „Wie das? Ein paar Bänder, um ihre Kleider zu verschönern? Eine Puppe für die Kleineren?“ Missbilligend verzog Lady Elinore den Mund. „Ein Stoffstück mit einem aufgemalten oder aufgestickten Gesicht ist nicht rational.“
Hope unterbrach sie: „Es geht doch gar nicht um rational oder nicht, sondern um ein Kind, das niemanden auf der Welt hat, aber Trost in der einsamen Nacht findet, wenn es seine Puppe an sich drückt.“
„Es sind doch nur ein paar Lumpen! Sie können genauso gut die Decke an sich drücken, unter der sie schlafen.“
Hope starrte sie ungläubig an. „Sie hatten nie eine Puppe, nicht wahr?“
Lady Elinore wirkte unbehaglich. „Natürlich nicht! Sentimentaler Unsinn! Mit Puppen zu spielen ist nichts als Zeit Verschwendung.“
Hope schüttelte den Kopf. „Eine Puppe ist so viel mehr als etwas Stoff und ein paar Knöpfe. Eine Puppe wird zu einer Person, einer Freundin, einer Schwester, einer Vertrauten. Eine Puppe gehört einem allein - vollkommen und ganz, ist etwas zum Liebhaben und Drücken, jemand, dem man seine Träume und Ängste anvertraut. “
Lady Elinore sah skeptisch aus. „Wofür soll das gut sein?“ „Trost. Liebe. Ein Gefühl von Sicherheit“, antwortete Hope leise. „Haben Sie nie allein im Bett gelegen und konnten nicht einschlafen, mitten in der Nacht, vielleicht regnet es sogar draußen und der Wind pfeift ums Haus? Wenn man sich allein gelassen, ungeliebt und einsam fühlt...“
Lady Elinore wirkte so betroffen, dass Hope rasch sagte: „Ich meine nicht Sie persönlich. Wir alle erleben solche Augenblicke, auch Kinder. Ich erinnere mich an eine Zeit, als ich dachte, das Leben könne nicht schlimmer werden, dass uns niemand in der Welt liebt und wir allen egal sind.“
Bedrücktes Schweigen herrschte im Zimmer, während sich alle erinnerten ...
Giles Bemerton, der als Siebenjähriger zur Schule geschickt worden war, klein, einsam und verletzlich, gequält von den älteren Jungen ...
Lady Elinore, die sich ihrer Mutter im Britischen Museum am nächsten fühlte ...
Sebastian Reyne, ein Junge, der die Verantwortung eines Mannes schulterte, verzweifelt versuchte, seine Familie zusammenzuhalten, versagte und dabei alles verlor ...
Eine Weile sprach niemand. Lady Elinore holte ein kleines gestärktes Taschentuch aus ihrem Retikül und putzte sich die Nase. „Nun gut“, sagte sie. „Ich akzeptiere Ihre Argumente für die Puppen. Aber was Sie mit den Kleidern angestellt haben! Sie haben keine Ahnung, welche gefährlichen Neigungen Sie damit geweckt haben.“
Bei diesen Worten verflog ein Großteil von Hopes Mitgefühl für Lady Elinore. Ihr Temperament regte sich. „Gefährliche Neigungen? Mir war nicht klar, dass ein bisschen Spitze und ein paar Knöpfe eine so dramatische Wirkung haben könnten.“ Unnachgiebig schob Lady Elinore ihr Kinn vor und hob die Hände. „Die Wirkung war doch offensichtlich! Haben Sie es denn nicht gesehen?“
Hope betrachtete Lady Elinore aus schmalen Augen. „Ich habe eine Gruppe fröhlicher junger Mädchen gesehen, die heute wesentlich hübscher aussahen als gestern. Was haben Sie gesehen?“
„Mädchen, die mit dem Ziel gekleidet waren, männliche Aufmerksamkeit zu erregen. Mädchen am Rande der Verderbtheit!“ „Unsinn!“
„Sie können sich gerne darüber lustig machen, aber sogar Mr. Bemerton hat es bemerkt.“
Abwehrend hielt Giles die Hände in die Höhe. „Lassen Sie mich da heraus.“
„Aber es stimmt doch“, beharrte Lady Elinore. „Sie haben selbst gesehen, wie sie aussahen, als sie hineingingen wie ... wie - was haben Sie gesagt, wie sie wirkten?“
„Wie stille, kleine Mäuse.“
„Ja, und jetzt sahen sie wie Paradiesvögel aus.“
„Nein!“ Giles stand auf. „Das haben Sie gesagt, nicht ich, Elinore.“
Sie wirkte schockiert, weil er ihr widersprach. „Aber es stimmt doch.“
„Nein, tut es nicht! Wie können Sie so etwas nur sagen?“, begann Hope. „Sie sind bloß ..."
Lady Elinore wandte sich zu ihr um. „Worüber Sie sich nicht im Klaren sind, ist die Tatsache, dass viele dieser Mädchen aus einem Leben in Sünde und Laster gerettet wurden. Aus Häusern mit üblem Ruf.“
Hastig schritt Sebastian ein. „Lady Elinore, ich denke nicht, dass es angebracht ist, Miss Hopes Ohren mit solchen Geschichten zu besudeln ...“
„Meine Ohren zu besudeln! “, rief Hope aus, plötzlich wütend. „Was für ein bodenloser Unsinn! Wenn einige dieser armen Kinder es geschafft haben, die Sünde und die Laster zu überleben, die ihnen von anderen aufgezwungen wurden, dann kann ich es wohl ertragen, davon zu hören!“
Sebastian schaute sie entsetzt an.
Jetzt war kein Halten mehr für Hope. „Und wenn sie unter dem Bösen in der Welt zu leiden hatten, dann sind sie Opfer, oder?“ „J-ja“, pflichtete ihr Lady Elinore zu.
„Warum behandeln Sie sie dann, als seien sie von Haus aus schlecht?“
„Was meinen Sie? Das tue ich nicht. Sie müssen reformiert und gebessert werden, selbstverständlich, und ihr Hang zur Unmoral muss ausradiert werden ... “
„ Gebessert? “ Hope verlor die Beherrschung. „Hang zur Unmoral? Solchen Unfug habe ich mein Leben lang von meinem Großvater zu hören bekommen - nur, dass er behauptete, alle Frauen seien sündig geboren! Diese Mädchen sind doch nur Kinder, die keine Wahl hatten bei dem, was sie getan haben! Wenn Sie beraubt werden, bedürfen Sie dann einer Besserung?“
Lady Elinore wirkte verwirrt.
Hope wartete keine Antwort ab. „Nein, natürlich nicht. Und diese Kinder wurden ihrer Kindheit und ihrer Unschuld beraubt. Sie kennen Furcht und Hass, Böses und Härten. Was sie lernen müssen, ist Liebe und Hoffnung, Stolz und wie man im Leben glücklich wird.“ Ihre Stimme wurde weicher. „Hübsche Kleider machen sie nicht zu möglichen Paradiesvögeln - sie sind einfach nur junge Mädchen, die die natürliche Freude an ein paar hübschen Sachen empfinden. Erinnern Sie sich nicht mehr, wie es war, ein schönes neues Kleid ...“ Sie brach ab, schaute auf Lady Elinores formloses Gewand. „Nein, vermutlich nicht.“
Lady Elinores Mund zitterte.
Hope trat vor und nahm sanft ihre Hand. „Bitte, regen Sie sich nicht auf. Ich weiß, dass Sie es gut meinen. Aber Sie folgen den Vorschriften Ihrer Mutter blindlings, und die sind so hart und freudlos.“
„Meine Mutter war eine großartige Frau“, erklärte Lady Elinore mit bebender Stimme.
„Aber warum wollte sie, dass Frauen sich nicht daran freuen, schöne Sachen zu tragen? Warum einem einsamen Kind den Trost einer Puppe verwehren?“
„Viele Leute bewundern die Ideen meiner Mutter.“
„Vielleicht“, antwortete Hope behutsam, „aber sie scheint nicht glücklich gewesen zu sein. Und hat ihre rationale Lebensweise Ihnen Glück und Freude gebracht?“
Lady Elinore verzog das Gesicht. „Pflicht ist wichtiger als persönliches Glück.“ Es hörte sich stark nach einem Zitat ihrer Mutter an.
Hope drückte ihre Hand. „Mag sein, aber wenn Pflicht und Freude kombiniert werden können, warum sollte man sich dann das persönliche Glück versagen?“
Lady Elinore zog ihre Brauen zusammen, erwiderte jedoch nichts.
Ein längeres Schweigen folgte. Schließlich erklärte sie mit zitternder Stimme. „Verstehe. Danke, dass Sie Ihren Standpunkt erläutert haben. Ich ... ich werde jetzt gehen. “ Sie stand auf und blickte sich um, hilflos, ein wenig blind.
Sebastian und Giles standen noch dort.
„Bastian?“, fragte Giles.
Sebastian rührte sich nicht. Wie gebannt starrte er Hope an, und als sein Freund ihn mit dem Ellbogen anstieß, zuckte er zusammen und sagte unbestimmt: „Ja, ja, sicher.“
Giles öffnete die Tür. „Lady Elinore.“
„D-danke, Mr. Bemerton.“ Still und mit Würde verabschiedete Lady Elinore sich. Sebastian und die anderen folgten ihr schweigend in die Halle.
Ein Lakai wurde geschickt, eine Droschke anzuhalten, und sobald sie vor der Tür stand, half Mr. Bemerton Lady Elinore hinein. Sebastian schien geistesabwesend, seine Miene war ausdruckslos. Behände sprang Giles in die Droschke und befahl dem Kutscher loszufahren.
Sobald sich das Gefährt in Bewegung setzte, erkundigte sich Giles: „Benötigen Sie ein Taschentuch, Elinore?“
Aber Lady Elinore antwortete nicht. Sie starrte ins Leere, eine steile Falte auf der Stirn.