5. KAPITEL
Lady Thorn stürzte sich fast auf Giles und Sebastian. „Zwei junge Herren! Wie wunderbar! Es ist immer so schwierig, eine ausgeglichene Gästezahl zu bekommen, wissen Sie - ich kann mir gar nicht vorstellen, warum die Leute glauben, nur die Damenwelt würde die Musik des lieben Grafen genießen.“ Sie lächelte verschwörerisch, während sie sie in den Salon führte. „Ich werde Sie gerecht unter den Damen aufteilen. Giles, lieber Junge, wie geht es Ihrer Mutter? Es ist ewig her, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe! So eine Schande, dass sie zu dieser Saison nicht nach London gekommen ist. Setzen Sie sich bitte hierher.“ Sie schob Giles in die Mitte einer Gruppe junger Damen.
Lady Elinore war eine davon, sah Sebastian, in unerbittlich grauen Twill gekleidet. „Lady Thorn, ich würde lieber hier bleiben bei ...“
„Unsinn! Sie können sich nach dem Konzert zu Giles gesellen. Die Damen werden Sie nicht beißen, und ich werde keinen Mann verschwenden! Außerdem wird jedes männliche Wesen im Raum sich insgeheim wünschen, an Ihrer Stelle zu sein. Die Armen werden fuchsteufelswild sein. Ach, es macht mir solchen Spaß, die Katze unter die Tauben zu schicken.“ Lady Thorn führte Sebastian geschickt durch das Gedränge. „Gefällt Ihnen Ihr Besuch in London, Mr. Reyne? Ausgezeichnet! Ah, da sind wir ja. So, nehmen Sie bitte Platz und seien Sie artig!“, mahnte sie ihn, als sei er ein Fünfjähriger. Dann verschwand sie auf der Suche nach einem anderen hilflosen Herrn, um ihn strategisch günstig zu platzieren.
Sebastian befand sich in der Mitte einer Gruppe, die ihn an einen Familienausflug erinnerte. Die größtenteils weiblichen und meistens jungen Mitglieder hatten einen festen Ring gebildet und schwatzten eifrig miteinander. Er konnte ihre Gesichter nicht sehen. Warum ihn irgendjemand um diesen Platz beneiden sollte, konnte er sich nicht vorstellen. Er schaute zu Giles. Verfluchtes Pech! dachte er. Natürlich hätte er es vorgezogen, neben Lady Elinore zu sitzen, und Giles wäre entzückt, von diesen hübschen jungen Mädchen umgeben zu sein.
Auf der anderen Seite der Gruppe saß ein elegant gekleideter älterer Herr. Sebastian nickte ihm über die gesenkten Mädchenköpfe hinweg zu. Sir Oswald Merridew, Miss Hopes Großonkel. Moment. Was machte er hier? Eine ungute Vorahnung beschlich ihn.
„Mr. Reyne, wie schön, Sie wiederzusehen“, sagte eine Stimme neben ihm. Eine sanfte Stimme. Eine, die ihn bis in seine Träume verfolgte. Plötzlich war ihm sonnenklar, warum alle Männer im Raum ihn um seinen Platz beneideten. Sein Puls begann zu rasen, und Sebastian sprang auf.
Ihre Blicke trafen sich, und er drohte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Hastig schaute er weg, suchte verzweifelt nach einer höflichen, harmlosen Erwiderung. Aber alles, woran er denken konnte, war ihr letztes Zusammentreffen und der Kuss. Diesen Zwischenfall konnte er kaum erwähnen.
„Ich hatte nicht gedacht, dass Sie heute hier sein würden“, platzte er heraus.
Sie wirkte erstaunt. „Oh, aber wir verpassen kein einziges Konzert. Meine Zwillingsschwester ist eine leidenschaftliche Musikliebhaberin. Mr. Bemerton hätte Ihnen das verraten können.“ Sie errötete.
Er würde Giles umbringen. Zu allem Überfluss fiel ihm auch nichts mehr ein, was er sagen könnte. In seiner Verzweiflung entschied er sich für seine übliche Bemerkung für Damen. „Sie sehen heute ganz reizend aus, Miss Hope.“
Und dann nahm er ihr Kleid wahr. Sie trug ein Kleid in blassem Narzissengelb, dessen recht tiefen Ausschnitt eine Reihe duftiger Rüschen säumte, die ihre sanft schwellenden Brüste zu liebkosen schienen. Da er von oben zu ihr herunterschauen musste, blieb sein Blick unweigerlich immer wieder dort hängen. Sebastian schluckte. Er durfte nicht an ihren Busen den-ken. Schließlich machte er Lady Elinore den Hof, einer vernünftigen jungen Dame, bei der nicht eindeutig zu sagen war, ob sie überhaupt einen Busen besaß. Das war die Sorte Frau, der er gewachsen war.
Plötzlich fiel ihm ein, dass er der Besitzer einer Reihe von Webereien war; daher bemühte er sich, Miss Hope mit dem Auge des Fachmannes zu betrachten und sich besser auf das Kleid als seinen verlockenden Inhalt zu konzentrieren. Der Stoff war importiert, bemerkte er missbilligend: feinste orientalische Seide, so fein, dass sie sich zärtlich an jede Rundung des schlanken jungen Körpers schmiegte.
Mit einem Mal war ihm sein Halstuch zu eng. Er fuhr fort, ihre Kleidung zu betrachten: Ihr weißer Schal mit den weißen Stickereien war aus Kaschmir, nicht aus Norwich, ihr Retikül aus passender Seide. Wirklich, er sollte mit ihr über die Unterstützung der einheimischen Industrie sprechen.
Er richtete seinen Blick auf das zierliche Gebilde aus Seide, Netz und Federn, das sie auf dem Kopf trug, aber ihm fiel nichts zu sagen ein.
Mit einem warmen, strahlenden Lächeln erhob sie sich und trat näher, so nah, dass sich bei der kleinsten Bewegung ihre Körper berühren würden. Sein Kopf war wie leer gefegt. Langsam neigte sie sich vor. Jäh machte er einen Schritt zurück und stieß gegen einen Stuhl in der Reihe hinter ihm, der polternd umfiel.
Als er den Stuhl wieder hingestellt hatte, war sie wieder da, so nah, dass er den Duft ihrer Haut riechen konnte. Er atmete ihn tief ein.
„Mr. Reyne.“ Sie reichte ihm die Hand. Er ergriff die zarten Finger und schaute auf sie hinab, immer noch völlig ratlos, was er sagen sollte.
„Wie geht es Ihnen?“, war alles, was er zustande brachte.
Sie lächelte wieder sinnverwirrend und bemerkte leise: „Es geht mir ausgezeichnet, danke.“
Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Ihr Lächeln wurde breiter; er konnte nur auf ihren Mund starren, musste sich vor der geringsten Bewegung hüten, oder er würde sich blamieren. Ihr Blick glitt leicht belustigt auf seine Hemdbrust, und als er ihm folgte, merkte er, dass er ihre Hand dort festhielt. Wie war das denn geschehen? Wie heiße Kohle ließ er sie los und machte einen Schritt zurück, diesmal aber ohne Stühle umzuwerfen.
„Mrs. Jenner kennen Sie ja bereits, nicht wahr?“
Ah ja, die Anstandsdame, die ihn neulich Nacht so finster angeschaut hatte. Mit einiger Erleichterung wandte sich Sebastian von dem atemberaubenden Lächeln ab. Er machte eine Verbeugung und eine höfliche Bemerkung. Die Anstandsdame schüttelte seine Hand nur flüchtig und spitzte missfällig die Lippen. Sie hatte wohl etwas Saures zum Dinner gegessen.
„Und dies ist meine Zwillingsschwester, Miss Faith Merridew.“
Auch jetzt, da die Zwillinge nebeneinander standen, konnte Sebastian nicht begreifen, wie jemand sie verwechseln konnte. Sie sahen sich zwar sehr ähnlich, aber Miss Faith konnte sich im Bezug auf ihr Aussehen nicht mit ihrer Schwester messen. Miss Hope hatte ein inneres Feuer, ein Glühen, das Faith fehlte.
Nicht dass ihn Schönheit in irgendeiner Weise interessierte. Charakter war das Einzige, das zählte.
„Und dies ist mein Großonkel Sir Oswald Merridew.“
„Sir Oswald.“
„Wie geht’s, mein Junge? Froh, einen anderen Mann zu sehen. Mögen Sie Musik? Kann ich von mir nicht behaupten, allerdings scheinen die Damen von diesem Ungarn gar nicht genug bekommen zu können. Und was Geigenmusik angeht - meiner Meinung nach Katzengejaule. Aber egal, meine Mädchen waren ganz versessen darauf zu kommen - sie lieben Musik -, und ich kann meinen Hübschen nun mal keinen Wunsch abschlagen.“ Er blickte seine „Mädchen“ voller Zuneigung an. Eine davon war ein Rotschopf, der seine besten Jahre schon deutlich hinter sich hatte.
„Haben Sie mein... unsere gute Freundin Lady Augusta Montigua del Fuego schon kennengelernt?“
Lady Augusta war die füllige ältere Dame mit der leuchtend roten Lockenfrisur von dem Ball vor ein paar Tagen. Heute war sie in ein erstaunliches Kleid aus lila und goldenem Satin gewandet, das über ihrem beeindruckenden Busen weit ausgeschnitten war. „Mr. Reyne. Wir kennen uns noch nicht. Ich hätte Sie bestimmt nicht vergessen.“ Sie musterte Sebastian von Kopf bis Fuß mit so unverhohlener weiblicher Billigung, dass er zwischen Schock und Belustigung hin und her gerissen war.
Er konnte nicht anders, als ihr Lächeln zu erwidern.
„Meine Damen und Herren ...“ Lady Thorn klingelte mit einem Silberglöckchen, um aller Aufmerksamkeit zu gewinnen, und schaute sich gebieterisch um. Die, die immer noch standen und sich unterhielten, beeilten sich, zu ihren Plätzen zu gelangen.
Es gab ein kleineres Durcheinander, als Mrs. Jenner versuchte, Miss Hope davon zu überzeugen, den Platz mit ihr zu tauschen, aber Lady Thorn blickte sie so gestreng an, dass sie aufgab. Sebastian sah zur Anstandsdame. Sie wirkte, als ginge es ihr nicht gut.
Wahrscheinlich wollte sie näher bei der Tür sitzen, falls ihr Zustand sich verschlechterte, überlegte er. Miss Hopes Platz war fast am Ende der Stuhlreihe, genau neben Sebastians. Er sollte ihr anbieten, mit Mrs. Jenner Plätze zu tauschen, aber Lady Thorn hätte sicher etwas gegen eine weitere Verzögerung.
Erwartungsvolle Stille senkte sich über den Raum.
Ich hätte den Platz tauschen sollen, bemerkte Sebastian zu spät, und nicht wegen der Anstandsdame. Die Stühle standen so dicht beieinander, dass er Miss Hopes Parfüm riechen konnte, und aus dem Augenwinkel sah er das sanfte Heben und Senken ihrer Brust, wenn sie atmete. Von dem Konzert würde er keine einzige Note mitbekommen, da war er sicher. Wie gut, dass ihm nicht viel an Musik lag.
Aber dann hätte er morgen auch kein Gesprächsthema für seine Ausfahrt mit Lady Elinore. Er schaute zu Giles, der direkt neben Lady Elinore saß. Giles war ein guter Kerl, der die Interessen seines Freundes verfolgte.
„Graf Felix Vladimir Rimavska.“
Ein schlanker Mann mittlerer Größe betrat die niedrige Bühne, als gehörte sie ihm, eine Violine unter dem Arm. Gekleidet war er in eine üppig verzierte Türkenjacke in vage militärischem Stil, reich mit Epauletten und Goldschnüren besetzt, und enge weiße Hosen sowie glänzend polierte schwarze Stiefel. Er sah gut aus, hatte ein blasses, irgendwie tragisch wirkendes Gesicht und unergründliche, dunkle Augen. Sein Haar war schwarz, etwas zu lang und zerzaust; es fiel ihm in wilden Locken in die blasse Stirn. Irgendwie gelang es ihm, die militärische Erscheinung mit einem Anflug Zigeuner zu kombinieren. Er schritt in die Mitte der Bühne und stand schweigend da, ein Bild mühsam gezügelter Leidenschaft.
Sebastian verabscheute ihn auf den ersten Blick.
Die weiblichen Zuhörer seufzten und klatschten aufgeregt. Graf Felix Vladimir Rimavska bedachte sie mit einem gekränkten Blick. Augenblicklich verstummten die Versammelten. Er hob die Violine ans Kinn.
Die Wolle seines Rockes war von minderer Qualität, entschied Sebastian. Und die rote Farbe würde auch nicht lange halten. Beim ersten kräftigen Regenguss würde die Farbe vermutlich auslaufen und die weißen Hosen mit rosa Streifen versehen. Die Vorstellung hatte etwas unglaublich Befriedigendes.
Graf Rimavska warf den Kopf zurück, schloss die Augen und spielte. Seine Violine schluchzte, jubelte und weinte vor Gefühl. Sebastian verstand wenig von Musik, aber man brauchte es ihm nicht zu sagen: Der Bastard war gut, verflucht! Die Damen um ihn herum seufzten und wurden fast ohnmächtig, sie wiegten sich leise zu den an- und abschwellenden Melodien.
Sebastian ertrug es nicht, dem Schönling auf der Bühne zuzusehen, wie er seine pomadisierten Locken schwang, während er seiner Geige engelsgleiche Musik entlockte. Daher wandte er den Blick ab, der prompt auf den Rüschen und der zarten Haut von Miss Hopes Brust landete. Die Rüschen hoben und senkten sich. Das Kleid war vorne viel zu weit ausgeschnitten. Ihre Anstandsdame hätte etwas dagegen unternehmen sollen. Plötzlich wurde ihm klar, worauf er gerade starrte: Er riss den Blick los, richtete ihn wieder nach vorne auf die Bühne.
Der Graf stolzierte umher, während er spielte, und bewegte seine schmalen Hüften auf eine Art und Weise, die in Sebastian das Verlangen weckte, ihm einen Fausthieb zu verpassen.
Sebastian schloss die Augen, aber dann roch er Miss Hopes Parfüm noch deutlicher. Vanille, Rosen und Frau. Ihre Schultern berührten sich fast. Er bildete sich ein, er könnte die Wärme ihrer Haut fühlen. Sie seufzte. Und alles, woran er denken konnte, war ihr Busen, umrahmt von Rüschen. Oder ohne irgendetwas umrahmt. Vielleicht nur von seinen Händen.
Es war schrecklich. Er öffnete die Augen wieder, streckte seine Beine aus, legte die Knöchel übereinander und starrte auf seine Schuhe. Das war das Sicherste.
Verfluchtes Geigengedudel. Es stellte etwas mit den Gefühlen der Menschen an. Wieder schaute er zum Grafen, hoffte, dass sein Ärger über den Kerl seine unbequeme Erregung vertreiben würde.
Er verschränkte resigniert die Arme, starrte wieder auf seine Schuhe und machte sich auf einen Abend in der Hölle gefasst. Oder im verbotenen Himmel.
Hope seufzte, als das Stück zu Ende ging. Sie hatte eigentlich nicht geglaubt, sich heute gut zu unterhalten: Musik war Faith’ Leidenschaft, nicht ihre. Und da die meisten Leute, die diesen schneidigen Ungarn hören wollten, weiblichen Geschlechtes waren, hatte Hope nicht damit gerechnet, Mr. Reyne zu sehen. Aber er war nicht nur gekommen, man hatte ihn auch noch neben sie gesetzt.
Sein Freund Mr. Bemerton saß mit Lady Elinore auf der anderen Seite des Salons. Vielleicht irrte sich Mrs. Jenner; vielleicht war es Mr. Bemerton, der Lady Elinore den Hof machte, nicht Mr. Reyne. Oder es war eine List, um das Gerede im Keim zu ersticken.
Waren am Ende beide an Lady Elinore interessiert? War das der Grund für Mr. Reynes Verstimmung? Hope musterte die betreffende Dame verstohlen. Nach ihrem Äußeren beurteilt, schien sie nicht die Sorte Frau zu sein, um deren Aufmerksamkeit sich gleich zwei gut aussehende Männer mühten. Sie stand im Ruf, exzentrisch zu sein, und ihre Kleidung heute Abend war hausbacken. Genau genommen ...
Hope runzelte die Stirn. Zwar hatte sie Lady Elinore ein-oder zweimal gesehen, aber sie hatte keinen Eindruck auf sie gemacht. Sie hatte sie mehr oder weniger als unwichtig abgetan, doch heute Abend, als sie Lady Elinores unerbittlich graues Kleid betrachtete, den breiten grauen Schal und ihr streng nach hinten frisiertes Haar, das zu großen Teilen von einem schmucklosen, wenig schmeichelhaften grauen Häubchen bedeckt wurde, fühlte sich Hope stark daran erinnert, wie Großvater sie immer gezwungen hatte, sich zu kleiden.
Als wäre es ein Verbrechen, eine Frau zu sein ...
Der Violinist stampfte mit dem Fuß auf, und Hope zuckte schuldbewusst zusammen, aber er hatte es nicht getan, weil sie unaufmerksam war; sondern weil er ein lebhaftes Zigeunerlied mit viel Gestikulieren und Stampfen begann. Seine Violine schluchzte mit Leben und Dramatik. Der Mann sah wirklich gut aus. Mit den ungezähmten Locken, die ihm jungenhaft in die Stirn fielen, und den wie gemeißelten Lippen würde ihm binnen kurzem die Londoner Damenwelt zu Füßen liegen. Er schien geradewegs aus einer von Lord Byrons fantasievolleren Balladen entsprungen zu sein.
Er ließ sie vollkommen kalt.
Der Graf stampfte wieder auf, vermutlich sollte es wie bei einem Kosaken sein. Sie sah sich im Raum um. Alle blickten wie gebannt nach vorne. Damen lehnten sich in ihren Stühlen vor, die Hände hingerissen auf die Brust gelegt, und seufzten entzückt, während der Graf spielte, stampfte und seine langen schwarzen Locken schüttelte. Er hatte etwas sehr Theatralisches, so wie er sich gab. Und der enge Schnitt seiner weißen Hosen war mehr als ein bisschen vulgär. Sie nahm an, dass es einfach dazugehörte, wenn man auf der Bühne auftrat. Und zweifellos konnte er spielen. Nicht dass sie ein besonderer Musikkenner war; das überließ sie ihrer Schwester.
Sie schaute zu Faith und lächelte. Ihre schüchterne Schwester saß stocksteif, umklammerte ihr Retikül und starrte den Ungarn mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen an, als sei sie verhext. Graf Rimavska war nicht nur gut, begriff Hope, er musste absolut brillant sein. Faith konnte sehr kritisch mit weniger begabten Künstlern sein und bewunderte jeden, der gut spielte, aber sie hatte ihre Schwester nie einen Musiker so verehrungsvoll, ja fast ehrfürchtig anschauen gesehen.
Faith konnte ihn gerne haben. Trotz seines unbestreitbaren Talentes und seiner dunklen, gut geschnittenen Züge fand Hope den Grafen nicht annähernd so anziehend wie den großen, finster blickenden Mann an ihrer Seite. Verstohlen sah sie zu ihm, weil sie wissen wollte, ob Mr. Reyne den Vortrag genoss, aber er studierte gedankenverloren seine Schuhe. Warum war er so verstimmt? War es Lady Elinore, die Musik oder etwas anderes, ein Problem in seinem Leben? Sie wollte sich Vorbeugen, sich bei ihm unterhaken und ihn trösten.
Nach dem finalen Crescendo stand der Graf einen Augenblick leicht schwankend, ließ sich dann erschöpft von seinem leidenschaftlichen Vortrag auf einen nahen Stuhl sinken und erklärte, er benötige eine Erfrischung, ehe er fortfahren könne. Damen und Dienstboten eilten zu ihm.
Von Mr. Reyne war ein gedämpftes Schnauben zu hören.
Hope lächelte. Schon aus der konzentrierten Betrachtung seiner Schuhe hatte sie geschlossen, dass Mr. Reyne von dem Grafen nicht gefesselt war; jetzt schien er ihre Meinung zu teilen.
„Nun, Mr. Reyne, was denken Sie begann sie, aber ihre Schwester packte sie drängend am Arm.
„Hope! Hope, ich muss zu ihm! Komm mit!“, verlangte Faith. Es war ungewöhnlich für ihre Zwillingsschwester, sie so eindringlich um etwas zu bitten, daher ließ Hope es nach einem kleinen, entschuldigenden Lächeln zu Mr. Reyne geschehen, dass ihre Schwester sie mit zu der Gruppe hingerissener Bewunderer zog.
Gerade lehnte der Graf die ihm gereichten Speisen ab. „Wein und Gebäck? Pah, das ist etwas für Frauen, und ich bin ein Mann.“ Er winkte den Champagner fort. „Gibt es keinen Wodka? Nun gut, Brandy wird zur Not gehen. In Paris hat man mich mit dem feinsten Wodka bewirtet.“ Er nahm das Brandyglas und kippte sich den Inhalt mit dramatischer Geste die Kehle herunter, dann erschauerte er übertrieben. Er öffnete seine Augen einen Spalt, musterte die versammelten Damen und sah aus wie ein satter Panther. „Irgendetwas zu essen?“
Hope verfolgte leicht belustigt von dem albernen Getue des Mannes, wie seine Bewunderinnen durcheinanderliefen, um ihm zu Gefallen zu sein.
„Schinken. Pah, wollen Sie mich vergiften?“ Er beäugte die ihm gereichte Platte mit Widerwillen. Die Dame, die sie ihm hingehalten hatte, zog sich unter Entschuldigungen zurück. Einen Augenblick zuvor hatte sie einem Lakai den Teller mit den hauchdünnen Schinkenscheiben entrissen und dem Grafen triumphierend angeboten. Die Gattin eines Adeligen, die sich für einen Künstler zur Dienerin machte. Es war ein sehenswerter Anblick.
Konnten sie nicht erkennen, dass seine Weigerung, zufrieden zu sein, Teil seiner Vorstellung war? Hope drehte sich um, um die Beobachtung mit ihrer Schwester zu teilen. Aber Faith war nicht da.
„Vielleicht mundet Ihnen ein Bissen geräucherter Lachs auf leicht gebuttertem Brot, Graf Rimavska?“ Erstaunt vernahm Hope die Stimme ihrer Schwester. Waren alle verrückt geworden?
Der Graf ließ einen angespannten Moment verstreichen, dann lächelte er billigend. „Ein Engel mit Nahrung. Von Ihren zarten Händen, o Göttliche, würde ich sogar Schinken riskieren.“ Faith strahlte, als er sie näher zog. Hope wandte sich entsetzt ab. Was tat Faith da? Diese musikalische Bewunderung ging sicherlich zu weit.
Sie suchte Mrs. Jenner. „Unternehmen Sie etwas!“
„Was soll ich Ihrer Ansicht nach tun?“
„Meine Schwester davon abhalten, sich lächerlich zu machen.“
Mrs. Jenner schaute sie ungläubig an. „Aber sie macht sich nicht lächerlich. Ich halte es für ganz reizend.“
„Aber er ... er ...“ Hope konnte kaum sprechen. „Sie bedient ihn wie eine Magd.“
„Unsinn, sie ist nur um ihn bemüht.“ Mrs. Jenner hob eine Augenbraue und erklärte süffisant: „Er ist ein Graf aus bester Familie, sagt man, märchenhaft reich und außerordentlich attraktiv. Wenigstens hat die liebe Faith sich nicht von einem dahergelaufenen Emporkömmling den Kopf verdrehen lassen.“ Sich den Kopf verdrehen lassen?Verwundert schaute Hope zu, wie ihre Schwester dem Grafen einen Leckerbissen nach dem anderen reichte. Es schien nicht richtig. Der Mann war ein Aufschneider. Sie wandte sich älteren, weiseren Häuptern zu. „Großonkel Oswald? Lady Gussie? Was tut Faith da? Sie hat sich doch noch nie so aufgeführt.“
Lady Gussie tätschelte ihr die Hand. „Es ist nur Spaß, Liebes. Faith amüsiert sich. Er ist ein schöner Mann und spielt wie ein Engel. Es ist eine Freude, die schüchterne kleine Faith zur Abwechslung flirten zu sehen. Das Mädchen ist sonst immer viel zu ernst.“
Hope runzelte die Stirn. Flirten? Faith flirtete nie. „Oh mein Gott“, flüsterte sie. „Ein Musiker!“ War er Faith’ Traummann?
Großonkel Oswald hörte sie. „Ja, aber das ist nicht schlimm. Schließlich hat er einen Titel, und die Familie ist sehr reich. Und da es im Augenblick einen erschreckenden Mangel an Dukes gibt ...“ Er zuckte die Achseln. „Lass deiner Schwester ihren Spaß.“
Sebastian beobachtete, wie der Graf sich durch den Teller mit dem Räucherlachs aß und sich dann von einer Platte mit Hummerpasteten bediente. Beides wurde ihm von einer bewundern-den Miss Faith Merridew dargeboten. Mehrere Gläser des geschmähten Brandys waren schon seine Kehle hinabgelaufen.
Der Kerl hatte keine Stärkung nötig, sondern eine Tracht Prügel. Allein vom Zuschauen musste Sebastian die Zähne zusammenbeißen. Miss Faith fütterte ihn praktisch, während ihre Schwester daneben stand und jede Bewegung hingerissen verfolgte. Unfähig, das länger mit anzusehen, ohne dass ihm schlecht wurde, durchquerte er den Raum zu Giles und Lady Elinore. Wenigstens war Lady Elinore nicht sogleich aufgesprungen, um sich mit den anderen um den Künstler zu scharen, bemerkte Sebastian zufrieden. Eine überlegt handelnde Frau.
„Nun, was halten Sie davon?“ Er deutete mit dem Kopf zur Bühne. „Schon jemals so etwas gesehen?“
„Nein, in der Tat nicht. Eine höchst exzellente Vorstellung“, pflichtete ihm Lady Elinore bei.
Sebastian schnaubte abfällig. „Eine schöne Vorführung.“
„Ich habe ihn als ,byronesk‘ beschrieben gehört“, erklärte Lady Elinore, „aber mir war nicht klar, dass es in diesem Maße treffend sein würde. Die Gesellschaft neigt gewöhnlich dazu, bei solchen Sachen zu übertreiben, aber in diesem Fall scheint es angemessen. Meinen Sie nicht auch, Mr. Reyne?“
„Was? Dass er angemessen ist?“ Sebastian blinzelte. Miss Hope hatte ihre Augen gar nicht von dem verflixten Fiedelspieler abwenden können.
„Byronesk.“
Sebastian runzelte die Stirn. „Ich dachte, er sei ungarisch.“ Giles und Lady Elinore lachten, als hätte er einen großartigen Witz gemacht. Giles erwiderte: „Ja, als sei er geradewegs aus ,Giaur‘ entsprungen.“
Sebastian nahm an, dass dies Dschaur ein Ort in Ungarn war. Mit solchen Sachen kannte er sich nicht aus. Er war nur ein paar Jahre lang zur Schule gegangen, wie Giles sehr gut wusste, und Lyrik hatte nicht zum Unterricht gehört.
„Nein, viel eher aus ,Der Korsar“, denke ich“, sagte Lady Elinore. „,Seine Stirn so hoch und bleich, Ebenholzlocken wild und weich“ ..."
„Passend in der Tat“, pflichtete ihr Giles bei. „,Und die stolze Lippe wie gequält, den anmaßenden Gedanken kaum verhehlt.“ Allerdings sieht es nicht so aus, als wolle er seine anmaßenden Gedanken verhehlen - über die Minderwertigkeit der ihm dargebotenen Stärkungen, zum Beispiel.“
Giles lachte über seinen Witz, Lady Elinore runzelte die Stirn. Sebastian, der keine Ahnung hatte, wovon sie sprachen, runzelte ebenfalls die Stirn. Miss Hope schenkte dem albernen Kerl viel zu viel Aufmerksamkeit.
Lady Elinore verkündete mit kühlem Emst: „Mr. Bemerton, ich hoffe, Sie machen sich nicht über den Grafen lustig. Meine Bewunderung war vollkommen ehrlich gemeint. Er ist der beste Violinist, den ich je gehört habe. Die Tatsache, dass er außerdem noch Lord Byrons romantischstem Helden ähnlich sieht, ist kein Grund für unangebrachte Späße. Ganz im Gegenteil, es steigert seine Attraktivität nur noch.“ Damit drehte sie sich zum Gehen um und ließ Giles mit offenem Mund stehen.
„Hast du das gesehen?“
„Allerdings“, murmelte Sebastian, der keinen Moment das Geschehen neben der Bühne aus den Augen gelassen hatte. „Eine absolute Schande.“
„Sie hat mich gemaßregelt. Wieder! “
„Hm. Wer?“
„Lady Elinore! Sie hat mich wegen meiner unangebrachten Späße gemaßregelt und ist dann beleidigt davongesegelt!“ Giles war fassungslos. Und von dem Glitzern in seinen Augen her zu schließen, auch belustigt. „Noch nie hat eine Frau so mit mir gesprochen, und ganz bestimmt keine unansehnliche graue Maus wie sie.“
„Ähem!“ Sebastian räusperte sich bedeutungsvoll, aber Giles entging die Warnung, daher war er gezwungen hinzuzufügen: „Wenn du dich bitte erinnern willst, dass du von meiner Zukünftigen sprichst.“
„Was? Ach ja, natürlich. Tut mir leid.“ Giles starrte Lady Elinore hinterher.
„Was hast du eigentlich heute getan, um sie gegen dich aufzubringen?“
Giles deutete mit seinem Kinn zur Bühne. „Den Fiedelspieler beleidigt.“
Sebastian schnaubte. „Der Mann kann gar nicht genug beleidigt werden! Verfluchter Schnösel!“ Die Merridew-Schwestern standen immer noch da, offensichtlich fasziniert von dem Grafen.
Giles nickte. „Der Kerl schreit förmlich nach einem Schlag auf die Nase, wenn du mich fragst.“
„Ganz genau meine Gedanken.“
In völligem Einvernehmen beobachteten sie, wie sich die Damenwelt um den Grafen drängte. Die Merridew-Mädchen waren ganz vorne, direkt neben ihm. Lady Elinore hatte sich unauffällig zu dem Kreis der Bewunderinnen gesellt. Sebastian erklärte: „Ich schaue mir das hier nicht länger an.“
Angewidert schüttelte Giles den Kopf. „Ich auch nicht. Lass uns zu dir gehen. Ich brauche jetzt etwas Ordentliches zu trinken.“
Als sie jedoch bei dem Haus ankamen, das Sebastian für die Saison gemietet hatte, wartete dort schon eine dringende Nachricht von seinem Butler aus Manchester. Cassie und Dorie wurden vermisst. Sie wurden seit - er schaute auf das Datum des Schreibens - seit inzwischen drei Tagen vermisst. Der Butler hatte sich die Freiheit herausgenommen, nach Mr. Black zu senden.
Vermisst. Eiseskälte erfasste ihn, und eine Sekunde lang konnte er keinen Gedanken fassen. Sie konnten nicht verschwunden sein. Er konnte sie einfach nicht erneut verloren haben.
Ihm war schlecht, und er machte sich schreckliche Sorgen, aber trotzdem befahl Sebastian, ihm unverzüglich ein ausgeruhtes Pferd zu satteln. Knapp erklärte er Giles, was vorgefallen war. „Ich muss sofort aufbrechen.“
„Ja, natürlich. Ich werde mich hier um alles kümmern, ja?“ Sebastian, der einzig für seine kleinen Schwestern Gedanken hatte, fragte geistesabwesend: „Was denn?“
„Du hast doch für morgen eine Verabredung mit Lady Elinore zu einer Ausfahrt, oder?“
„Ach ja. Verdammt! Sollte ich ihr schreiben ...?“
Giles legte ihm beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. „Denk nicht mehr daran. Ich werde ihr morgen meine Aufwartung machen und erklären, dass du in einer wichtigen Familienangelegenheit abberufen wurdest. Ich werde sogar mit ihr die Ausfahrt machen, wenn sie mag. Ich habe morgen nichts Besonderes vor.“
„Danke, Giles. Du bist ein guter Freund. Ich muss mich nur umziehen, dann bin ich weg.“
In weniger als zehn Minuten war Sebastian fertig in Stiefel, wildlederne Reithosen und Reitrock gekleidet und bereit, gen Norden in die Nacht zu reiten.