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Ralph Waldo Emerson hat mal gesagt: »Nur wenige wissen, wie man spazieren geht. Man braucht dazu Ausdauer, einfache Kleidung, alte Schuhe, ein Auge für die Natur, gute Laune, unendliche Neugier, gute Gespräche, gutes Schweigen und sonst nicht allzu viel.« Das erzähle ich Meg, als wir den Pfad zur Ranger-Station entlangtrotten. Ich habe daran gedacht, dass wir uns dorthin wünschen könnten, aber falls Sieglinde Todd und mich belauscht hat, wartet sie dort vielleicht auf uns. Außerdem ist es ein schöner Tag, und ich sollte mich mit dem Gelände vertraut machen, vielleicht sogar nach dem Frosch Ausschau halten. Natürlich wird es auf diesem quadratkilometergroßen Gelände aus Gestrüpp schwierig sein, ihn zu finden.
»Ich habe mich schon gefragt, wann die Schuhe wieder ins Spiel kommen«, sagt Meg. »Ich hätte mir auch nicht vorstellen können, dass du ein Zitat ohne Schuhe auf Lager hast.«
»In allen guten Zitaten kommen Schuhe vor«, versichere ich ihr. »Und Emerson hatte recht. Schuhe sind wichtig.« Ich schaue auf die alten Nikes hinunter, die ich auf die Expedition mitgenommen habe, dann auf Megs Flipflops. »Deine sind nicht so gut.«
»Ich stehe noch mit beiden Füßen auf dem Boden. Ich trage nur bessere Schuhe«, sagt Meg. »Oprah Winfrey hat das gesagt.« Aber sie verzieht das Gesicht. »Ich bekomme tatsächlich eine Blase. Vielleicht können wir irgendwann kurz zu Hause vorbeigehen und meine Turnschuhe holen.«
»Geht es jetzt erst mal?«
»Ja. Aber ich glaube, ich sollte dir das hier geben.« Sie hält mir den Opalring hin. »Für den Fall, dass wir wieder getrennt werden.«
Also nehme ich ihn, und wir nähern uns der Ranger-Station. Rechts und links von uns wächst hohes Gras, und der Mangrovengeruch wird stärker, während der Pfad immer mehr von Sand in Erde übergeht. Die grell strahlende Sonne tut mir in den Augen weh. Ich würde gern meine Sonnenbrille aus dem Rucksack fischen, aber ich weiß, dass Meg keine hat, deshalb kneife ich solidarisch die Augen zusammen. Alle paar Minuten wirft ein riesiger Vogel einen Schatten und sorgt einen Augenblick lang für Erleichterung, bevor die sengende Hitze zurückkehrt. Wolken gibt es keine.
»Können wir uns kurz hinsetzen?«, fragt Meg nach einer Weile.
Wir schlendern auf einen Baumstumpf zu und quetschen uns zusammen darauf. Während Meg ihre Blasen untersucht, betrachte ich den Himmel. Er hat dasselbe strahlende Blau wie zu Hause, aber die Vögel sind anders. Hier ist jeder Vogel mindestens so groß wie eine Katze – Löffler, Ibisse, Reiher in verschiedenen Farben – weiß, rosa, blau und grau, aber mit den gleichen eckigen Flügeln und langen Hälsen. Sie erinnern mich an Schwäne. Ich habe den Schwänen versprochen, ihnen zu helfen, ihre Schwester zu finden. Aber im Moment kann ich nicht mal mir selbst helfen.
»Hast du ein Bild von dem Frosch?«, fragt Meg.
»Klar.« Ich mache den Reißverschluss von meinem Rucksack auf und krame darin herum, aber das erste Foto, das ich finde, ist nicht das vom Frosch, sondern eins vom Prinzen.
»Wer ist das?«, fragt Meg.
»Das ist der Prinz, bevor er zum Frosch wurde.«
Sie greift nach dem Foto. »Wow, der ist ja toll!«
»Findest du? Er hat dieses Geburtsmal-Dings auf der Stirn.« Aber ich muss zugeben, dass er gut aussieht mit seinem athletischen Körperbau, der vermutlich von irgendeinem prinzmäßigen Sport wie Polo kommt.
»Ich würde ihn jederzeit durch einen Kuss wieder zum Prinzen machen«, sagt Meg.
Endlich finde ich das Foto vom Frosch und lege es schnell auf das Prinzenfoto, bevor Meg noch weiter sabbern kann. »Ja, na ja, jedenfalls suchen wir hiernach. Nach einem Frosch. Nicht nach einem Kerl.«
»Schon kapiert.« Sie betrachtet das Foto, dann tauscht sie es gegen das andere. »Macht es dir etwas aus, wenn ich das hier eine Weile in meiner Tasche aufbewahre? Er ist sooooo klasse.«
Ich schüttle den Kopf. »Schön. Wenn du auf hirnlose Playboys stehst.«
»Glaub schon – so wie du auf reiche, betrunkene Prinzessinnen.« Sie steckt das Foto in ihre Tasche. Und dann wird die Sonne wieder von einer gewaltigen Gestalt verdunkelt. Ich blicke nach oben.
Ein Truthahngeier. Ich zeige auf ihn.
Kurz darauf kitzelt mich eine der seltenen Brisen an der Nase und weht uns einen Geruch in die Nase.
»Riechst du das?«, frage ich Meg.
Sie nickt. »Mangroven. Sie stinken wie eine offene Jauchegrube, aber sie sehen hübsch aus.«
Ich schüttle den Kopf. »Nicht die Mangroven. Etwas Totes, etwas Großes.«
Irgendetwas veranlasst mich, aufzustehen und dem Geruch zu folgen. Dabei verlasse ich den Pfad und wate durch das Gras, obwohl es mir ins Gesicht schlägt und meine Arme zerkratzt. Eine Zeit lang verliert sich der Geruch im süßeren Duft des Ozeans, und ich frage mich, ob ich mich getäuscht habe, ob es nicht doch die Mangroven sind. Das hoffe ich, denn der Gestank, den ich gerochen habe, stammt von etwas Größerem als von einem Opossum oder einem Eichhörnchen. Was ich gerochen habe, könnte auch menschlich sein. Doch als ich es gerade endgültig den Mangroven zuschreiben will, rieche ich es wieder. Ich schiebe mich durch das hohe Gras und halte den Atem an, weil es so stinkt. Dann sehe ich es.
Erleichtert atme ich aus. Ich gehe zurück zu Meg.
»Es war nur ein Hirsch«, sage ich. Jetzt, wo ich weiß, was es ist, wird mir bewusst, was ich befürchtet hatte. Ich hatte gefürchtet, es wäre der Prinz.
»Wer würde in einem Wildreservat einen Hirsch töten?«, fragt Meg. »Da stimmt doch was nicht.«
Guter Einwand. Wir beschließen, dem Parkaufseher Bescheid zu sagen – wenn wir ihn jemals finden.
Das rasiermesserscharfe Gras, durch das ich gelaufen bin, hat brennende Schnitte auf meinen Armen und Beinen hinterlassen. Meg greift nach meinem Rucksack. »Hast du da drin irgendetwas Nützliches, zum Beispiel eine Sonnenbrille oder Socken oder ein Erste-Hilfe-Set?«
Verlegen nicke ich. »Ich wollte die Sonnenbrille nicht tragen, weil du keine hast.«
»Wie wär’s damit«, sagt sie und zieht die Sonnenbrille heraus, »ich trage die Brille und tue dafür etwas für deine Schnitte.«
Als Meg das sagt, fällt mir der Schwan wieder ein. Sie hat ihn gehalten, und es ging ihm besser. Hat Meg ihn irgendwie geheilt? Hat sie doch Zauberkräfte? Aber sie zieht das Erste-Hilfe-Set heraus, wischt die Schnitte mit Jod ab und klebt Pflaster drauf. Sie fühlen sich ein wenig besser an, aber geheilt sind sie nicht. Okay, ich bin einfach nur verrückt. Meg klebt ein paar Pflaster auf ihre Blasen.
Bald darauf treffen wir auf Menschen – Wanderer und Strandgänger. Dann erreichen wir die Ranger-Station.