15

Zuerst bemerke ich Geräusche. Hupen. Menschen schreien. Wellen brechen sich am Strand. Das Knistern von Neonlicht. Ich bin in South Beach. In einem Umhang. Und ich halte einen blutenden Schwan in den Armen, der früher mal ein Mensch war.

Ich hebe den Kopf, um zu sehen, ob uns irgendjemand beobachtet, aber nein. Es ist die übliche Selbstvergessenheit von South Beach, die Lichter und der Alkohol machen die Menschen zu Zombies. Ich ziehe den Umhang aus und verstecke ihn in meinem Rucksack, dann schaue ich auf Harry hinunter.

Er blinzelt mich an. »Wie … wie kommen wir hierher?«

»Psst.« Ich werfe einen Blick auf den Fleck, der sich auf seiner schneeweißen Brust ausbreitet. »Wir sind eben hier. Ich werde Hilfe holen.«

»Aber …« Er bewegt seinen Schnabel, doch es kommt kein Ton heraus.

»Merk dir, was du gerade gedacht hast«, sage ich. »Stirb mir jetzt nicht weg.«

Ich renne los, in die leere Lobby. Ich kann mich mit dem Gedanken nicht anfreunden, dass dieser Typ als Schwan sterben könnte. Noch mehr Sorgen mache ich mir darüber, dass er sich nach seinem Tod in einen Menschen zurückverwandeln könnte.

Der Nachtportier ist weg. Ich schaue nach links, dann nach rechts, aber ich sehe niemanden.

»Hilfe!«, brülle ich. »Da draußen! Jemand hat einen Schwan erschossen!«

Ich renne auf meinen Laden zu, um 911 anzurufen und ihnen zu sagen … ja, was eigentlich? Ich erwarte eigentlich nicht, jemanden zu sehen, aber dann treffe ich auf Meg. Sie erfasst mit einem Blick mein aufgelöstes Gesicht und mein blutverschmiertes T-Shirt. »Was ist los?«

»Draußen auf der Collins. Jemand hat auf einen Schwan geschossen!« Ich kann ihr nicht erklären, dass es kein Schwan ist, sondern ein Mensch. »Ruf neun-eins-eins an.«

Ich mache mich auf den Weg zurück in die Lobby und vertraue darauf, dass sie anruft. Aber Meg legt ihre Hand auf meinen Arm und hält mich auf. »Du rufst an. Ich werde zu dem Verletzten… verletzten Tier gehen … Ich bin nicht so durcheinander wie du.« Sie schiebt mich beiseite und schießt an mir vorbei.

Ich bleibe allein zurück, allein mit dem unglaublichen Wissen, dass jemand auf mich geschossen hat. Jemand, der wusste, dass ich am Hafen war und warum ich da war. Jemand, der verhindern möchte, dass ich Prinz Philippe finde, und zwar so sehr, dass er dafür töten würde.

Als ich in die Lobby zurückkomme, sind die Schwäne wach und blicken aus dem Fenster. Als sie mich sehen, wuseln sie um mich herum und reden alle auf einmal. Ich drängle mich durch sie hindurch und zur Tür hinaus. Meg hält Harry in den Armen, und einen Augenblick lang bin ich mir sicher, dass er tot ist. Doch dann hebt er den Kopf und starrt mich an. Meg drückt ein Geschirrtuch auf die Wunde, aber auf der Straße ist noch immer eine rote Pfütze. Ich höre eine Sirene. Heulend verstummt sie. Dann rennende Schritte.

»Wo ist das Opfer?« Es ist ein Sanitäter.

Ich deute auf Harry. Der Typ schaut Meg an. »Sind Sie verletzt, Miss?«

»Nicht sie«, sage ich. »Der Vogel.«

»Ein Schwan? Ich mache keine Wiederbelebung bei Vögeln. Ich bin ausgebildeter Rettungssanitäter. Vielleicht ruft ihr besser die Typen aus dieser Tierrettungs-Fernsehshow an.«

»Aber er stirbt!«

»Eigentlich geht es ihm ganz gut.« Meg entfernt das Geschirrtuch von der Brust des Schwanes, und ich sehe, dass der Blutfleck auf seinen weißen Federn kleiner zu sein scheint, kaum mehr als ein Kratzer. »Nur eine Fleischwunde.«

»Aber … der Fleck war vorhin größer.« Ich glotze erst ihn an, dann Meg.

»Ich habe eine Druckkompresse gemacht.« Zu dem Sanitäter sagt Meg: »Schauen Sie mal, das blutet immer noch. Könnten Sie mir vielleicht etwas Mull oder so geben, damit ich ihn in ein Taxi setzen und in die Tierklinik bringen kann? Der Hotelmanager mag diese Schwäne wirklich sehr, und die Leute werden ausflippen, wenn sie Blut sehen.«

»Aber …« Ich zeige auf die Pfütze auf dem Boden. »Er war am Verbluten.«

»Er hatte wahrscheinlich nur einen Schock«, sagt der Sanitäter.

Nicht zum ersten Mal kommt mir der Gedanke, dass Meg wie eine von diesen Schuhmarken ist, die wir nie zur Reparatur bekommen, Bass Weejuns oder Birkenstocksandalen, die Art von Schuhen, die bequem sind und niemals kaputtgehen.

Schließlich gibt der Sanitäter Meg ein paar Mullverbände, und genau da kreuzt die Polizei auf.

»Hier hat es eine Schießerei gegeben?« Die Polizistin schaut sich um.

»Ja«, sage ich zu ihr. »Da war ein Typ auf einem Motorrad. Er hat auf einen Schwan geschossen.«

»Es geht hier um einen Schwan?«

»Ja, einen Schwan.«

»Einen Schwan?«

»Das ist illegal, oder? Oder darf man seit Neuestem auf der Collins Avenue jagen und ich weiß es nur noch nicht?«

Die Polizistin schaut ihren Partner an, der gerade aufgetaucht ist. Der Partner schüttelt den Kopf. »Fast alle vom Einsatzteam sind am Hafen. Jemand hat Schüsse gehört.«

»Haben sie den Kerl gesehen, der geschossen hat?«

»Ein paar Hafenarbeiter haben einen blonden Typen mit schwarzen Klamotten gesehen.«

»Das ist der Kerl, der auf den Schwan geschossen hat! Er hätte mich erschossen, wenn der Schwan nicht vor mir gestanden hätte.«

Ich schaue Harry an. Es stimmt. Es könnte sein. Jemand hat auf mich gezielt. Der Sanitäter hat Harrys Wunde verbunden, und offensichtlich hat sich Meg so lange bei ihm eingeschleimt, bis er den Schwan auf seiner Trage zu einem Taxi getragen hat. Ich weiß noch nicht mal, warum Meg schon so früh hier ist, aber ich bin froh darüber.

»Ich kann Ihnen eine Beschreibung geben«, sage ich. »Es könnte da einen Zusammenhang geben.«

Ich weiß, dass es einen Zusammenhang gibt, und der Kerl ist vielleicht noch immer hinter mir her.

Als die Cops wieder weg sind, gehe ich zum Laden zurück. Der Umhang ist dort, er ist ganz blutverschmiert. Er hat mir das Leben gerettet. Ich wasche das Blut ab, dann ziehe ich den Umhang an und wünsche mich nach Hause.

Dort packe ich ein paar Klamotten zum Wechseln, ein kleines Zelt und einen Schlafsack in einen Rucksack. Dann suche ich Mom und finde sie im Schuhreparaturgeschäft. Wir müssen uns vorhin knapp verpasst haben. »Ich muss sofort aufbrechen«, sage ich zu ihr.

Ich erzähle ihr nichts von der Schießerei. Ich muss runter auf die Keys, den Fuchs finden, bevor es jemand anderes tut. »Sag Meg, es tut mir leid, dass ich ihr nicht Auf Wiedersehen sagen konnte.«

»Warte!« Mom packt mich am Handgelenk. »Der Nachtportier sagt, dass in der Lobby jemand auf einen Schwan geschossen hat. Weißt du etwas darüber?«

Ich lüge. »Nein. Echt?« Ich weiß, dass sie die Wahrheit rauskriegen wird, aber bis es so weit ist, bin ich weg und wahrscheinlich nicht einmal mehr an einem Ort, wo ich mein Handy aufladen kann.

»Was, wenn es gefährlich ist?«, fragt sie.

Ich lüge wieder. »Es wird nicht gefährlich. Das war wahrscheinlich nur irgendein psychopathischer Vogelhasser.«

Und dann gehe ich. Bei mir habe ich nur Megs Opalring, den Umhang und das wenige, was ich in meinen Rucksack gepackt habe.

Bis vor Kurzem dachte ich, mein Leben sei langweilig. Das ist es jetzt nicht mehr.

KISSED
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