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Es war ein Schuster ohne seine Schuld so arm geworden, daß ihm endlich nichts mehr übrig blieb als Leder zu einem einzigen Paar Schuhe.

~~~ Die Wichtelmänner ~~~

Ich habe noch nie in meinem Leben eine Prinzessin gesehen. Und so wie es aussieht, werde ich auch heute keine zu Gesicht bekommen.

Aber fangen wir ganz von vorne an: Ich stamme aus einer Familie, die seit vielen Generationen im Schuhgeschäft ist. Mein Großvater sprach von unserer Arbeit als Flickschusterei, aber das klingt mehr nach Pfuscherei als nach einem Beruf. Schon bevor ich geboren wurde, führte meine Familie den Schuhreparaturladen im Coral Reef Grand, einem schicken Hotel in South Beach, Miami. Zuerst führten ihn meine Großeltern, dann meine Eltern und jetzt führen ihn meine Mutter und ich. Auf diese Weise bin ich den Berühmten und Berüchtigten begegnet, den Reichen und … Armen (okay, das wäre dann ich), Leuten, die Bruno Magli, Manolo Blahnik und Converse (das wäre wieder ich) an den Füßen tragen. Ich kenne die Schönen. Zumindest kenne ich ihre Füße.

Aber bisher bin ich noch keiner einzigen Prinzessin begegnet.

»Sie sollte jede Minute hier eintreffen«, unterbricht Ryan meine Gedanken. Er ist einer dieser Collegetypen, die als Rettungsschwimmer hier arbeiten. Ich bin damit beschäftigt, die Sohle von einem Paar Johnston Murphys abzureißen, die der Kunde bis acht Uhr braucht. »Meine Freunde haben mir gerade eine SMS geschickt, ihr Autokonvoi ist vor ’ner Minute durch die Collins Avenue gefahren.«

»Und was genau geht mich das an?« Ich will sie wirklich gern sehen, aber ich muss auf meinem Posten bleiben. Ich kann’s mir nicht leisten, einen Kunden zu verpassen.

»Es geht dich was an, Johnny, weil sich jeder – zumindest jeder normale Siebzehnjährige – von der Schuhtheke losreißen würde, wenn eine umwerfend aussehende Prinzessin in der Hotellobby ist.«

»Manche Leute müssen arbeiten. Ich habe Kunden …«

»Ja, klar, Schuhe sind wichtig.«

»Geld ist wichtig.«

Ryan redet normalerweise nicht mit mir. Wie die meisten Typen in meinem Alter, die hier arbeiten, verdient er was nebenher, um sein Cabrio zu betanken, das er zum Abschluss geschenkt bekommen hat, oder vielleicht auch, um neue Klamotten zu kaufen. Mir fällt auf, dass er ein neues Hollister-Poloshirt trägt, das seine Arme eng umschließt. Wahrscheinlich will er mit seinen Muskeln angeben, die er ständig anspannt.

Ich hingegen arbeite hier, um meiner Familie zu helfen, und trainiere meine Muskeln höchstens dadurch, dass ich Collegeschuhe durch die McKay-Schuhnähmaschine jage. Auch wenn ich im Herbst in die zwölfte Klasse komme, werde ich nächstes Jahr nicht aufs College gehen. Kein Geld. Ich werde wohl Schuhe reparieren, bis ich abkratze.

»Willst du sie denn nicht sehen?« Ryan schaut mich an, als hätte ich gerade zugegeben, dass ich noch Windeln trage oder Kiemen habe. Er lässt wieder seine Muskeln spielen.

Natürlich will ich sie sehen. Ich starre schon die ganze Zeit sehnsüchtig auf die Bilder der Titelseiten von Miami Herald, Miami New Times, Sun Sentinel und USA Today, die mir aus dem Hotelcafé ins Auge springen. Eine Boulevardzeitung behauptet, sie sei mit einem Alien zusammen, aber die meisten zeigen eine wilde Partymaus, die regelmäßig ihre Familie und ihr Land blamiert. Sie ist in einer wichtigen, streng geheimen Angelegenheit in Miami, zu der wahrscheinlich der Konsum von zahlreichen Drinks gehört, die auf tini enden.

Oh ja, und ich weiß, dass sie umwerfend aussieht.

Deswegen sollte ich, der das langweiligste aller Leben führt, zumindest einen kurzen Blick auf sie werfen, denn wenn ich irgendwann bei dem Versuch, einen hartnäckigen Stich aufzutrennen, an Arterienverkalkung sterbe, möchte ich wenigstens sagen können, dass ich mal eine Prinzessin gesehen habe.

»Mr. Farnesworth will nicht, dass wir da draußen herumstehen und sie angaffen. Außerdem: Was ist, wenn jemand vorbeikommt und ich bin nicht da?«

»Du meinst, in einer Art Schuhnotfall?«, fragt Ryan lachend.

»Ja. Es ist immer ein Notfall, wenn man seine Schuhe nicht tragen kann. Das kann ich nicht machen.« Ich versuche, es in einem abschließenden Tonfall zu sagen, so wie Mum immer Das können wir uns nicht leisten sagte, als ich noch klein war. Ich wusste dann immer, dass nicht weiter darüber diskutiert wurde.

»Was ist denn los?« Meine Freundin Meg kommt auf mich zu.

Ich bin froh, Meg zu sehen; sie arbeitet in der Kaffeebar neben unserem Laden. Ich weiß, dass sie böse werden wird, weil ihre Brüder, die gestern Abend die Bar geschmissen haben, kein bisschen aufgeräumt und geputzt haben. Genau wie ich arbeitet Meg für ihre Eltern, sie hilft sogar während des Schuljahrs aus. Sie ist meine beste Freundin und normalerweise der einzige Freund, für den ich überhaupt Zeit habe. In der Mittelstufe war ich ein bisschen in sie verknallt. Ich bin sogar mit ihr zum Schulball gegangen, als wir in der Achten waren. Sie wollte damit einen anderen Typen eifersüchtig machen, aber als wir dann auf der Tanzfläche standen, hatte ich einen Augenblick lang das Gefühl, dass da mehr war. Doch das ist schon lange her.

Jedenfalls wird Meg verstehen, weshalb ich nicht mit Ryan gehen kann.

Ryan lässt seine Muskeln spielen und mustert Meg von oben bis unten, so wie er es bei allen Mädchen tut. »Ich versuche gerade, Johnny zu überreden, dass er sich mal fünf Minuten von der kurzweiligen Welt der Schuhreparaturen losreißt, um Prinzessin Vickys Autokonvoi zu sehen. Nie möchte der Junge seinen Spaß haben.«

Meg schneidet eine Grimasse und legt mir die Hand auf den Arm. »Und warum genau sollte John diese Trashqueen aus Europa sehen wollen?«

»Hallo?«, sagt Ryan. »Weil er ein siebzehnjähriger Kerl mit ganz normalen männlichen Bedürfnissen ist und sie…« Er hebt beide Hände auf Brusthöhe und deutet ihre Vorzüge an.

»Echt schöne Augen hat«, beende ich den Satz für ihn.

Meg verdreht die Augen. »Und den IQ eines Einzellers.«

»Jedenfalls kommt er nicht mit.« Ryan muss unbedingt noch eins draufsetzen. »Der Junge ist verrückt nach Schuhen.«

»Der Schuh, der dem einen passt, drückt den andern.« Während ich das sage, zwinkere ich Meg zu. Sie und ich sammeln Zitate über Schuhe. Ich hatte schon auf eine Gelegenheit gewartet, bei der ich das hier zum Einsatz bringen konnte. »Das ist von C. G. Jung.«

»C. G. wer?«, fragt Ryan.

»Ein Schweizer Psychiater«, sage ich. »Noch nie gehört von der Jungschen …?«

»Wie auch immer«, sagt Ryan. »Du kommst also wirklich nicht mit?«

Meg wirft mir einen Blick zu. »Ich kann deinen Kunden sagen, dass du gleich wiederkommst, falls du gehen willst. Aber ich bin mir sicher …«

»Das würdest du tun? Danke!« Ich weiß, dass Meg erwartet hat, dass ich ablehne, aber ich möchte wirklich gern gehen. Wahrscheinlich werde ich allerhöchstens von einem Stehplatz hinter einer Palme im Blumenkübel aus beobachten können, wie Victoriana eincheckt, aber trotzdem wäre es ein Hauch von Abenteuer, und Abenteuer erlebe ich ja sonst keine.

»Es geht los!« Ryan hält sein Handy hoch. »Pete an der Tür hat gerade eine SMS geschickt, dass ihre Limousine in Sicht ist.«

»Du bist gut vernetzt«, sagt Meg zu Ryan.

»Das ist genau das, worauf es ankommt.« Ryan tritt näher an sie heran. »Vielleicht sollten wir uns auch mal vernetzen… zum Beispiel am Freitagabend, wie wär’s?«

Ich bin mir sicher, dass Meg Ja sagen wird. Die meisten Mädchen werfen sich ihm geradezu an den Hals. Aber sie lächelt noch nicht einmal. »Nein, danke. Du bist nicht mein Typ.«

Ryan sieht so überrascht aus, wie ich insgeheim bin. »Auf wen stehst du dann? Andere Mädchen?«

Meg zuckt mit den Schultern, wirft mir einen Blick zu und zuckt dann wieder mit den Schultern. »Warum geht ihr nicht einfach eure Prinzessin begaffen?«

»Macht es dir wirklich nichts aus, mich zu vertreten?« Ich weiß, dass es ihr etwas ausmacht.

»Geh einfach, bevor ich es mir anders überlege.«

Ryan wirft im Weggehen einen Blick zu Meg zurück. »Sie steht total auf dich.«

»Ja, klar.«

»Doch, wirklich. Du solltest zuschlagen. Sie sieht zwar nicht besonders gut aus, aber du kannst nicht so wählerisch sein.«

»Sie hat dich eiskalt abserviert.« Ich schaue zu Meg zurück, die uns beiden noch immer hinterhersieht. Sie streicht sich ihr kinnlanges braunes Haar aus den Augen, und einen Moment lang muss ich an diesen Abend in der achten Klasse denken. Doch als sie bemerkt, dass ich sie anschaue, hebt sie abwehrend die Hände, als wollte sie sagen: Was guckst du denn so? »Nee, sie und ich sind einfach nur gute Freunde.«

Aber ich winke ihr zu, bevor ich in die Hotellobby abbiege.

KISSED
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