17. Kapitel

Clarity hörte es ebenfalls. Sie murmelte benommen vor sich hin. »So etwas wie einen echten Telepathen gibt es nicht. So etwas existiert nicht.«

»Ich fürchte doch«, sagte Flinx mit einem weiteren Seufzer. Er wandte sich an das Monster. »Hallo, Fluff, lange nicht gesehen.«

»Lange Zeit, Flinx-Freund.« Es war ein mentales Dröhnen. Der massige Ujurrier kam zu dem rothaarigen jungen Mann herübergeschwankt und legte ihm beide riesigen Tatzen auf die Schultern. »Flinx-Freund geht’s gut?«

»Sehr gut, danke.« Er war irgendwie überrascht festzustellen, daß die Geist-zu-Geist, Mensch-zu-Ujurrier-Kommunikation diesmal sehr viel einfacher erfolgte als vor mehreren Jahren, als er zum ersten Mal auf der von der Kirche kontrollierten Welt auf Fluffs Rasse gestoßen war. Es fiel ihm nicht mehr schwer, alles zu verstehen.

Fluff nickte zufrieden, als zwei weitere riesige Ujurrier wie gigantische Kastenteufel aus dem Loch hervorschossen. Flinx erkannte Bluebright und Moam. Sie untersuchten die Umgebung mit der grenzenlosen Neugier ihrer Art.

»Flinx-Freunds Geist klärt sich allmählich. Nicht soviel Schmutz dort wie früher.« Fluff klopfte sich mit einem fetten Finger seitlich gegen den Schädel.

Flinx wies nach rechts. »Das ist meine Freundin Clarity.«

Fluff ging auf sie zu und strömte von freundlichen Gefühlen fast über. »Hallo, Clarity-Freundin!« Sie wich vor ihm zurück, bis sie an eine Wand gepreßt dastand. Der Ujurrier hielt inne und drehte sich zu Flinx um. »Warum hat deine Freundin Angst vor Fluff?«

»Nicht vor dir als Fluff. Es ist nur deine Größe.«

»Oh-ho!« Der Ujurrier ging sofort auf alle viere hinunter. »So besser, Clarity-Freundin?«

Sie löste sich widerstrebend von der kalten Wand. »Es ist besser.« Ihr Blick hob sich, und sie entdeckte Flinx, der sie amüsiert beobachtete. »Sind das Freunde von dir?«

»Kannst du das denn noch immer nicht erkennen?«

»Aber wie sind sie hergekommen? Wer sind sie?«

»Es sind Ujurrier. Ich glaube, ich habe sie schon mal erwähnt.«

»Die Welt unter Edikt, ja. Das bedeutet, daß niemand hinein- oder herauskommt.«

»Offenbar hat jemand versäumt, die Ujurrier davon in Kenntnis zu setzen. Und wie sie hierhergekommen sind, interessiert mich mindestens genauso wie dich.«

»Hab dich gehört.« Bluebrights mentale Stimme unterschied sich von der Fluffs wie Flinx’ Stimme von Claritys. »Ihr Geistlicht brennt sehr hell.«

Clarity runzelte unsicher die Stirn. »Was bedeutet das?«

»Das heißt, daß du eine starke mentale Aura hast. Für die Ujurrier ist alles wie ein Licht, heller oder dunkler in verschiedenen Abstufungen. Laß dich von ihrer Größe nicht einschüchtern. Oh, sie sind durchaus fähig, einen Menschen auseinanderzunehmen wie ein Holzspielzeug, aber wir sind alte Verbündete. Und wenn es dir ein Gefühl der Sicherheit gibt - sie sind vorwiegend Vegetarier. Sie essen ungern etwas, das selbst ›Licht‹ erzeugt.«

Scrap drängte sich an Claritys Hals. Es war das erste Mal, daß Flinx je erlebt hatte, daß ein Minidrach so etwas wie Angst zeigte. Der jungen fliegenden Schlange mußten die emotionalen Auren der Ujurrier geradezu überwältigend vorkommen. Pip fürchtete sich nicht, weil er sich an frühere Begegnungen erinnerte.

»Hab deinen Ruf gehört«, erklärte Moam, während sie die bewußtlosen Gestalten betrachtete, die verstreut im Raum lagen. »Wir kamen so schnell wie möglich, um Hilfe anzubieten.«

»Meinen Ruf?« Für einen Moment vergaß Flinx Clarity. »Ich habe nicht gerufen. Ich war nicht mal bei Bewußtsein.« Er versuchte sich daran zu erinnern, wie es gewesen war, als er unter der Oberfläche des Sees dahingetrieben war. Nur wenige Eindrücke waren in seinem Gedächtnis haften geblieben und glichen einer mystischen Gedankenmelodie, die im Schlafgas versunken war.

»Wie seid ihr überhaupt hierher gelangt?« Clarity zwang sich, nicht in den schwarzen Schacht zu blicken. »Flinx erzählte mir, ihr hättet ihm ein Raumschiff gebaut.«

»Ein Schiff, ja«, sagte Fluff stolz. »Eine Teacher für den Lehrer. Wir selbst mögen keine Schiffe. Die sind zu laut und zu eng. Wir haben seins nur gebaut, weil es ins Spiel paßt.«

»Spiel?« Sie wandte sich zu Flinx um. »Welches Spiel?«

»Das Spiel der Zivilisation.« Er antwortete etwas geistesabwesend, weil er noch immer versuchte, sich an seine Eindrücke im Sarg zu erinnern. »Die Ujurrier lieben Spiele, daher brachte ich ihnen eines bei, ehe ich Ulru-Ujurr verließ. Als die Teacher fertig war, beherrschten sie es schon ganz gut. Ich habe keine Ahnung, welche Stufe sie mittlerweile erreicht haben.«

»Mag einige Teile des Spiels«, sagte Bluebright. »Andere mag ich nicht. Haben die Teile behalten, die wir mögen, und die anderen rausgeworfen.«

»Sehr sinnvoll. Und wie geht es mit dem Tunnelgraben voran?«

»Was du sagst, ergibt für mich keinen Sinn.« Clarity konnte ihre Verwirrung nicht verbergen.

»Es braucht auch keinen Sinn zu ergeben. Hör zu, und du wirst einiges lernen.«

»Es läuft ganz gut«, antwortete Fluff. »Wir haben noch eine ganze Menge Tunnel zu graben. Hab dich rufen gehört. Beschlossen, einen neuen Tunnel zu graben. War das schnellste Graben, das wir je geschafft haben, aber Lehrer war in Schwierigkeiten. Sind wir vielleicht doch zu spät gekommen?«

»Ich bin in Ordnung.« Jetzt war auch Flinx verwirrt. Wenn er nicht aus Erfahrung gewußt hätte, wozu die Ujurrier fähig waren, hätte er die nächste Frage niemals stellen können. »Wollt ihr damit etwa sagen, daß ihr von Ulru-Ujurr hergetunnelt seid?«

Fluff verzog beleidigt das Gesicht. »Von wo sollen wir sonst tunneln?«

Lächelnd, um anzudeuten, daß er es nicht beleidigend meinte, obgleich er wußte, daß sie diese Reaktion auch in seinen Gedanken lesen konnten, sagte er: »Clarity-Freundin hat recht. Das ergibt keinen Sinn.«

Der riesige Ujurrier kicherte, und in seiner Stimme lag ein Ausdruck spöttischer Verwirrung. »Wie sind wir dann hergekommen? War harte Arbeit, Flinx-Freund, aber auch viel Spaß.«

»Das wär’s. Jetzt bin ich ausgestiegen«, murmelte Clarity.

»Nicht ausgestiegen«, sagte Moam ernst und mißverstand sowohl ihre Gedanken als auch ihre Worte. »Du fängst Tunnel an. Machst da Kurve, dann um die Ecke, dann einmal ganz herum, und hallo! Da bist du schon!«

»Ich frage mich, ob sie durch den Plusraum oder durch den Nullraum ›tunneln‹«, murmelte Flinx staunend. »Oder durch einen Bereich, den die theoretischen Mathematiker noch gar nicht erfunden haben. Wie habt ihr mich gefunden? Könnt ihr meine spezifische Gedankensignatur über die vielen Parsecs hinweg aufspüren?«

»War nicht leicht«, sagte Moam. »Daher hatten wir jemanden, der gekommen ist und nachgeschaut hat.«

Flinx legte die Stirn in Falten. »Gekommen und nachgeschaut hat? Aber wer …«

Eine Stimme hinter ihm ließ ihn zusammenzucken. »Was glaubst du denn, wer?«

Es war Maybeso, der säuerlich und sorgenvoll wie immer aussah. Selbst für einen Ujurrier war Maybeso einmalig. Seine Gefährten hielten ihn für völlig verrückt. Wenn die Bewohner von Ulru-Ujurr unter den intelligenten Rassen eine Anomalie darstellten, dann war Maybeso die Anomalie der Anomalien.

»Hallo, Maybeso!«

»Adieu, Flinx-Freund!« Das riesige Bärenwesen verschwand so lautlos und geheimnisvoll, wie er aufgetaucht war. Er war nicht besonders gesprächig.

Flinx bemerkte Claritys starrenden Blick. Sie hatte sich eingeredet, daß nichts mehr sie schocken könne, doch Maybesos kurzes Erscheinen hatte sie eines besseren belehrt. »Er geht, wohin er will«, erklärte Flinx entschuldigend, »und er braucht keinen Tunnel. Niemand weiß, wie er es macht, nicht einmal die anderen Ujurrier, und er verrät es nicht. Sie finden, daß er etwas seltsam ist.«

»Nicht seltsam. Verrückt.« Ein vierter Ujurrier tauchte aus dem bodenlosen Schacht in der Mitte des Raums auf. Aussehend wie eine Kreuzung zwischen Grizzlybär und Lemure, landete Softsmooth auf dem Fußboden und begann sich zu säubern. In diesem Moment bemerkte Flinx die schwachleuchtenden Ringe, die jeder von ihnen trug.

»Die?« Bluebright reagierte auf seine Frage. »Spielzeuge, die beim Graben helfen. Wir haben dein Schiff gebaut. Wir haben sie gebastelt. Gehört alles zum Spiel, ja.«

»Moment mal, der andere!« Clarity deutete schwach in die entsprechende Richtung. »Der hinter dir aufgetaucht ist, Flinx. Woher kam er? Und wohin ist er verschwunden?«

»Niemand weiß, woher er kam«, sagte Moam, »und niemand weiß, wohin Maybeso geht.«

»Ich glaube, ich fange an zu verstehen«, sagte sie langsam, »warum Ulru-Ujurr unter Kirchenedikt steht.«

»Wir müssen immer daran denken«, erklärte Flinx ihr, »daß die Ujurrier total unschuldig sind. Die AAnn begannen gerade mit einer illegalen Ausbeutung ihrer Welt, als ich dort erschien. Damals hatten die Ujurrier überhaupt keine Vorstellung von einer Zivilisation oder einer modernen Technologie oder irgend etwas Verwandtem. Sie lebten und aßen und paarten sich und gruben ihre Tunnel. Das Spiel spielen, nannten sie es. Daher machte ich sie mit einem neuen Spiel bekannt, dem Spiel ›Zivilisation‹. Sie brauchten gar nicht lange, um zu lernen, wie man ein Raumschiff baut. Das war meine Teacher. Ich wage mir kaum vorzustellen, was sie mittlerweile dazugelernt haben. Offensichtlich wie man Ringe herstellt.«

»Wie man noch mehr Spaß hat!« brüllte Fluff fröhlich. »Sind zu spät hergekommen, um Flinx-Freund zu helfen - aber nicht zu spät, um noch eine Menge Spaß zu haben. Mußten dich sowieso finden, neues Element ist im Spiel. Sehr aufregend. Du würdest sagen: ›Führt unerklärliche astrophysische und mathematische Metastasis ein.‹«

»Wir sollten von hier verschwinden.« Clarity beobachtete die Treppe. »Es ist doch möglich, daß noch andere Fanatiker auftauchen, die nach ihren Freunden sehen wollen.«

»Jetzt ist das gleichgültig. Denn die Ujurrier sind da.« Er sagte es zu ihr, aber er dachte in Fluffs Richtung. »Was meintest du, als du von einem ›neuen Element‹ im Spiel sprachst? Ich dachte, die Regeln, die ich euch mitgab, seien klar und eindeutig gewesen.«

»Sie waren es, ja. Du erinnerst dich aber sicherlich daran, daß du uns auch gesagt hast, daß nicht jeder das Spiel nach den Regeln spielt. Du hast das Pfuschen erklärt. Und dies ist eine Art Pfuschen.«

Softsmooth ergriff jetzt das Wort, wobei ihre mentale Stimme eindeutig weiblich war, verglichen mit denen der drei Männer. »Wie du weißt, haben wir immer die Tunnel gegraben, Flinx-Freund. Wir haben einige interessante Ideen für neue Tunnel in den Informationen gefunden, die die kalten Geister zurückgelassen haben. Haben in dieser Weise einen Tunnel begonnen.« Sie lächelte und entblößte dabei lange Hauer und knochenbrechende Zähne. »Wir können alle möglichen Arten von Tunneln graben; durch Fels, durch Sand, durch das, was du Raum-Zeit nennst.«

»Es macht Spaß, zu anderen Welten zu graben«, meinte Moam. »Immer die gleiche Welt ist langweilig.« Er inspizierte eine der Laserpistolen, die Vandervorts Leibwächter fallengelassen hatten. Flinx machte sich deshalb keine Sorgen. Alles, woran Moam interessiert war, war die Konstruktion der Pistole.

Softsmooth fuhr fort: »Wir haben viele Tunnel zu anderen Welten gegraben.« Sie wies auf den leeren Schacht. Flinx achtete darauf, daß er nicht zu nahe an den Rand herantrat. Wenn man hineinstürzte, ließ sich nicht sagen, wohin man fiel und wann der Sturz aufhörte.

»Haben einen Tunnel zu einem Ort gegraben, den deine Leute Horseye nennen, die Eingeborenen sagen dazu Tslamaina. Haben dort eine interessante Sache gefunden.«

»Große Maschine«, warf Moam ein. »Größte Maschine, die wir je gesehen haben.« Der sonst übliche Unterton von Spott war nun völlig aus seinem Denken verschwunden.

»Haben das Ding studiert«, fuhr Softsmooth fort. »Nach einer Weile entdeckte uns etwas sehr Seltsames, während wir studierten, und kam, um uns wegzujagen, aber wir verschwanden, ehe es dort war.« Sie lächelte wieder. »Wir können uns sehr schnell bewegen, wenn wir müssen, weißt du. Fanden kleinere ähnliche Dinge, die alle mit dem großen Ding auf der Horseye-Welt verbunden waren. Verbindungen sind wie unsere Tunnel, nur kleiner.«

»Was ist Horse?« fragte Fluff plötzlich.

»Ein Wort aus einer terranischen Sprache. Es bezeichnet einen terranischen Vierbeiner. Man kann auch Pferd sagen«, erklärte Flinx ihm. »Es gibt sie aber nicht mehr.«

»Sehr schade. Bild ist hübsch.«

»Sei still, Fluff!« befahl Softsmooth ihm. »Ich rede jetzt.«

»Befiehl mir nicht zu schweigen!«

Sie tauschten einige Hiebe aus, deren schwächster ausgereicht hätte, einen großen Mann auf der Stelle zu töten, ehe sie sich beruhigten und sich verhielten, als sei überhaupt nichts geschehen. Clarity hatte sich zu Beginn des Kampfes an Flinx’ Seite geflüchtet, und er gestattete ihr widerstrebend, in seiner Nähe zu bleiben. Sein Geist war völlig klar, aber seine Gefühle befanden sich in einem wilden Aufruhr.

»Ehe das wirklich überaus sonderbare Etwas erschien, um uns zu vertreiben, fanden wir heraus, was für eine Maschine es war.«

»Es ist ein Alarm«, murmelte Moam. Flinx sah, daß er damit beschäftigt war, die Laserpistole auseinanderzunehmen, wobei seine großen Finger behutsam die elektronischen Schaltungen betasteten.

»Was für eine Art von Alarm?«

»Um vor irgend etwas zu warnen. Vor einer großen Gefahr. Nur daß die Leute, die es warnen sollte, schon vor langer Zeit verschwunden sind.« In Flinx’ Geist erstreckte sich der bildliche Eindruck von ›vor langer Zeit‹, den Softsmooth beschrieb, bis in die Ewigkeit. Das war eindrucksvoll, denn die Ujurrier übertrieben niemals.

»Ihr sagtet, ihr hättet mich finden müssen. Deswegen?« Alle vier Bärenwesen nickten gleichzeitig. »Warum kommt ihr zu mir? Ich weiß nichts über eine Welt namens Horseye, und von unheimlichen Maschinen schon gar nichts.«

»Du bist der Lehrer«, stellte Fluff fest. Und dann, es war wie ein Schock: »Weil du außerdem irgendwie damit zu tun hast.«

»Ich?« Pip hüpfte auf der Schulter ihres Meisters hoch, ehe sie sich wieder niederließ. »Wie kann ich damit zu tun haben, wenn dies das erste Mal ist, daß ich je etwas von dieser Welt höre?«

»Das Gefühl ist da.« Selbst Fluff kommunizierte jetzt mit großem Ernst. »Du bist der Schlüssel zu etwas, ob zu der Maschine oder der Gefahr oder zu etwas anderem, wissen wir noch nicht. Wir erführen es gern. Es hülfe uns bei dem Spiel. Diese Gefahr bereitet uns Sorgen.«

Wenn es etwas Reales war und den Ujurriern Sorgen bereitete, so wußte Flinx, dann sollte jeder andere sich vorsorglich in acht nehmen. »Ist die Gefahr akut?«

»Akut?« fragte Bluebright mit großen Augen.

»Ja, wird sie bald zuschlagen?« formulierte Flinx mit einem Ausdruck müder Ergebenheit seine Frage neu. In ihrer Naivität begriffen die Ujurrier die kompliziertesten mechanischen und mathematischen Vorgänge und Ideen, während sie hingegen weitaus simplere Begriffe ständig mißverstanden.

»Wissen wir nicht. Du mußt helfen, das Ding zu verstehen«, sagte Softsmooth. »Du bist der Lehrer.«

»Ich bin kein Lehrer!« entgegnete er ungehalten. »Ich bin nur ein Student, ein Schüler. Mittlerweile hat jeder von euch mehr Wissen in seinem Geist gespeichert, als ich je zusammentragen werde.«

»Aber du kennst das Spiel«, erinnerte Fluff ihn. »Das Spiel der Zivilisation. Das wir noch immer lernen.«

»Und das ist irgendwie ein Teil des Spiels«, sagte Bluebright.

Alle vier starrten ihn an, und er konnte nicht in diese großen gelben Augen blicken und lügen. Hier geschah es wieder. Gerade als er sicher war, daß er die Probleme von jemand anderem gelöst hatte, tauchten neue auf, um den Platz der alten einzunehmen. Wenn er darauf bestand, dann würden sie weggehen und ihn in Ruhe lassen. Wenn er darauf bestand.

Sie flehten ihn stumm an. Es nutzte ihm gar nichts, wenn er sich umdrehte, denn das bedeutete, daß er Clarity ansehen mußte, was mindestens genauso schlimm war. Es gab für ihn keine Möglichkeit der Flucht vor sich selbst. Nicht in diesem Raum, in dieser Zeit, an diesem Ort. Vielleicht nirgendwo und niemals.

»Ich kann nichts tun, um euch zu helfen«, meinte er schließlich, »denn ich habe keine Ahnung von alldem. Versteht ihr das?«

»Nichtwissen verstehen wir, Flinx-Freund«, sagte Softsmooth, ohne zu zögern. »Können wir ändern.«

Flinx verschlug es beinahe die Sprache. »Wie? Indem ihr mich nach Horseye mitnehmt?« Er betrachtete voller Unbehagen den schwarzen Schacht.

»Nein, wir können dir vielleicht ein bißchen zeigen. Selbst können wir es nicht sehen, aber wir können dir helfen zu sehen. Wird nicht gefährlich sein - hoffentlich.« Fluff war herübergeschaukelt, um eine Tatze auf Flinx’ Schulter zu legen. »Wir müssen wissen, Flinx-Freund. Ist auch für uns wichtig. Könnte schlimm genug sein, um Spiel abzubrechen. Um alle Spiele zu beenden.«

Gab es da wirklich noch etwas nachzudenken? Hatte er tatsächlich eine Wahl? Hatte er jemals eine Wahl gehabt?

»Wie wollt ihr es mir zeigen? Befindet sich die Bedrohung in der Nähe?«

»Sie ist sehr, sehr weit weg. Wir können nur raten, wo. Du wirst uns vertrauen müssen. Lehrer muß sich auf seine Schüler verlassen.«

»Wenn es so weit weg ist, wie könnt ihr mir es dann zeigen?«

»Genauso, wie wir dich hier gefunden haben.« Ein großer Finger wies auf seinen Hals. Als sie die Emotionen spürte, die auf sie gezielt waren, hob Pip den Kopf.

»Pip?«

»Genau.« Fluff bemühte sich, ein schwieriges Konzept darzustellen. »Sie ist ein Verstärker für etwas tief in dir, in deinem Geist. Etwas, das wir nicht einmal sehen können. Was immer dir die Fähigkeit verleiht zu erkennen, wie andere Leute empfinden, und was immer dir eines Tages vielleicht gestattet, bestimmte Dinge zu tun. Wir können dabei ein wenig helfen. Deine kleine Gefährtin ist ein Verstärker. Wir können als Vorverstärker funktionieren. Ein sehr, sehr großer noch dazu.« Er legte den Kopf auf die Seite, um zum Himmel aufzublicken.

»Dein Körper wird hierbleiben, aber wir können deinen Geist woanders hinschicken.«

»Woandershin? Könnt ihr mir das nicht etwas genauer angeben?«

»Auf die Bedrohung zu, der Gefahr entgegen. Um zu beobachten und zu lernen. Wir selbst können das nicht tun, aber wir können es mit dir tun. Weil du dich von uns unterscheidest. Weil du dich von jedem anderen unterscheidest.«

Die Ausmaße des kleinen Problems der Ujurrier wurden immer größer, so daß er damit kaum Schritt halten konnte. »Warum grabt ihr nicht einfach einen Tunnel in die Richtung?«

»Weil es zu weit ist. Zu unvorstellbar weit.«

»Aber wenn es so unvorstellbar weit entfernt ist, wie kann es denn dann für uns gefährlich sein?«

»Es kann sich bewegen. Im Augenblick scheint es nicht in unsere Richtung unterwegs zu sein, aber da sind wir uns nicht ganz sicher. Wir müssen aber sicher sein.« Fluff schaute liebevoll auf Flinx herab. »Wir würden dich niemals zwingen, Lehrer.«

»Oh, Hölle, das weiß ich! Aber macht das einen Unterschied? Sorgt nur dafür, daß ihr mich nicht verliert, nachdem ihr mich dorthin geschickt habt, wo ich hin soll.« Er holte tief Luft. »Was habe ich zu tun?«

»Es wäre sicherlich von Vorteil, wenn du dich hinlegen würdest, Flinx-Freund, damit du nicht hinfällst und dich verletzt.«

»Klingt einleuchtend. Wenn ich schon an einer Art ujurrischer Astralprojektion teilnehmen soll, möchte ich am Ende nicht mit einem verstauchten Handgelenk landen.« Wie immer ging sein Sarkasmus an seinen gänzlich naiven Freunden völlig vorbei, doch das half ein wenig von der Angst zu verbergen, die si‹*h in ihm ausbreitete.

Er tat einen Schritt auf den Sarg zu, dann überlegte er es sich schnell anders. Er wollte doch nicht in dieses Ding zurückkehren. Es gab im hinteren Teil des Raums zwei Klappbetten, und er entschied sich für das nächststehende und legte sich darauf, nachdem er sich vergewissert hatte, daß Pips Windungen sich frei entfalten konnten. Er preßte die Arme an die Seiten und hoffte, daß er nicht so steif und ungemütlich landete, wie seine Haltung wirken mußte.

»In Ordnung. Was tue ich jetzt? Hebt ihr mich hoch und werft ihr mich an die Decke?« Er lachte nervös. Jeder Ujurrier stand an einer Ecke des Bettes. Er konnte Clarity zwischen Fluff und Bluebright erkennen, die ihn besorgt beobachtete.

»Flinx? Vielleicht solltest du das lieber doch nicht riskieren.«

»Vermutlich hast du recht. Aber ich konnte eigentlich noch nie das tun, ws für mich gut ist. Ich scheine immer nur Dinge zu tun, die anderen zum Vorteil gereichen.« Er schloß die Augen und fragte sich, ob es einen Unterschied machte. »Na los, tu schon, was du tun mußt, Fluff!«

 

Es gab keinen Übergang, keine Verzögerung. Er befand sich wieder im See, Pip neben sich. Es war nicht das, was er erwartet hatte. Nur trieb er diesmal nicht ziellos dahin. Er konnte sich bewegen. Probeweise schwamm er einige Kreisbahnen, wobei Pip ihm folgte. Die durchsichtige Flüssigkeit drang ihm nicht in die Nase und die Lungen, um ihn zu ersticken.

Als er die vierte Kreisbahn vollendete, wurde der See dunkel. Er schwamm weiter und hatte das Gefühl, als sei er mit hoher Gesclnvindigkeit unterwegs, dennoch schien sein Körper sich kaum zu bewegen. Hände und Füße paddelten träge, während der Kosmos an ihm vorüberjagte.

Transparenz und Sonnenlicht machten roten und violetten Streifen Platz, als würde seine Umgebung extrem vom Doppler-Effekt verändert. Sterne und Nebel flogen explosionsartig auf ihn zu, um unter seinen Füßen rasend schnell zu verblassen. Eine interessante Illusion, aber nicht mehr.

Fühlt es sich so an, wenn man ein Quasar ist? dachte er beiläufig.

Er wäre lieber etwas langsamer unterwegs gewesen, um einzelne Sterne und Planeten eingehender zu untersuchen. Wie elektrische Funken tauchten Bilder mächtiger Rassen und immenser galaxisweiter Zivilisationen in seinem Bewußtsein auf und waren gleich wieder verschwunden. Alle waren neu und unbekannt, fremd und unerwartet. Sein Geist tastete sich an sie heran und löste sich dann wieder wie eine Weile, die den Strand hinaufläuft und versickert.

Vorbei am letzten vernunftbestimmenden Gedanken und immer noch weiter hinaus, nun kaum mehr als eine Idee, ein Flecken auf dem ungeheuren Feld der konventionellen Physik. Kein Partikel, das diesen Namen verdient hätte, nicht mehr als ein letzter Nachhall eines Gedankens, der sich aus dem Gefängnis des Geistes befreit hatte.

Mittlerweile waren die Sterne alle verschwunden, ebenso der letzte Rest Vernunft, und erfand sich in einer Region wieder, die eigentlich nicht existieren durfte. Ein Ort, wo das Vakuum lediglich gefüllt war mit vergessenen Spuren interstellaren Wasserstoffs und einem vereinzelten glühenden Sonnenkern, der wie eine Kerze in einer Flasche leuchtete, die durch einen Ozean des Nichts trieb. Und etwas anderes.

Zu groß, um lebendig zu sein, und dennoch lebte es. Eine sich aufbäumende Neudefinition von Leben und Tod, Gut und Böse.

Selbst als die Kraft, die ihn vorwärtstrieb, versuchte, ihn mitten in sich hineinzuziehen, merkte er, wie er langsamer wurde, zurückfiel. Ganze Zivilisationen hatte er berührt, ganze Galaxien hatte er gesehen und verstanden, aber dies war zu groß und zu schrecklich, als daß sein entkörperlichtes Selbst begreifen konnte. Er erblickte seinen Schatten und wandte sich ab, kehrte sich nach innen und rannte, kämpfte sich auf dem Weg zurück, den er gekommen war.

Noch als er floh, bemerkte es ihn. Er versuchte zu beschleunigen, während das Universum um ihn herum eine ebene Fläche laserheller Farben war. Unbeholfen, aber riesig griff es nach dem Eindringling - und verfehlte ihn. Um einen Kilometer, ein Lichtjahr, einen galaktischen Durchmesser - er würde es niemals erfahren. Wichtig war nur, daß es ihn verfehlte und ihn unbehelligt ließ und unversehrt von dem, was es darstellte.

Zurück zu sich selbst floh er und jagte im letzten Moment an einem riesigen, aber verwirrten Geist vorbei, der noch unschuldiger und unwissender war als die Ujurrier, ein Inhaber noch größerer Möglichkeiten. Es war eine sich ausdehnende Grünheit, ein fahles Limonengrün, auf Glas gesprüht, in dem er sich selbst und Clarity und andere Menschen als Spiegelbild sah. Ein smaragdgrüner Leim hielt alle zusammen. Dann war es verschwunden.

Und wurde durch etwas anderes ersetzt, so verschieden von seinem Vorgänger wie er selbst. Er schwamm in einem anderen Teil des Sees. Als es vorbeijagte und ihn kurz berührte, empfand er einen tiefen Frieden. Diese zweite Intelligenz war warm und freundlich und sogar entschuldigend. Sie war da, und dann war sie verschwunden und hatte den Weg des Grünen genommen.

Die dritte und letzte Berührung war die von einem Bewußtsein, das er endlich erkannte. Ein einsamer Ruf. Überhaupt nicht das, was man von einer künstlichen Intelligenz erwartet hätte. Weit draußen jenseits der Grenzen des Commonwealth im Abgrund. Zugleich Waffe und Instrument, das darauf wartete, daß er zurückkehrte und es bediente, damit ausglich, seiner Existenz den Sinn gab, obgleich alle alten Feinde längst verschwunden waren.

Was war denn mit neuen Feinden? Was war mit jenen, die das große Warnungsnetz auf Horseye erbaut hatten? Wohin waren sie verschwunden und warum? Niemand wußte es. Die Ujurrier wollten es wissen. Flinx auch.

Da traf es ihn mit Wucht. Er wurde gebraucht. Denn er war ein Ausreißer, ein Scherz, ein Monster. Einer, den jene, die den Alarm gebaut hatten, nicht hatten vorhersehen können. Genauso wie sie nicht die Evolution der Grünheit hatten vorhersehen können, der Wärme und der Tar-Aiym-Maschine der Vernichtung, die in ihrer Einsamkeit schrie. Sie hatten den Alarm gebaut, um vor der unvorstellbaren Bedrohung an den fernsten Grenzen der Existenz zu warnen, und waren vermutlich geflohen, weil sie keinen Weg gefunden hatten, sich dagegen zu behaupten.

Aber das Unvorhergesehene war ihnen gefolgt. Das Leben war entstanden und hatte sich über das hinaus entwickelt, was sie sich vorgestellt hatten. Oder hatten sie es sich vorgestellt, es erwartet, alles erwartet und den Alarm zurückgelassen, um zu warnen, was immer und wer immer ihnen nachfolgte? Das Grüne, die Wärme und die Waffe.

Nur eines hatten sie sich bestimmt nicht vorstellen können: einen Neunzehnjährigen namens Flinx.

Es war möglich, daß die Ujurrier es geahnt hatten. Wie, das konnte er sich kaum vorstellen, aber die Ursinoiden waren zu Dingen fähig, von denen sie die meisten ohnehin nicht verstanden. Wie Maybeso, der teleportieren konnte, wann und wo immer er es wünschte, aber der nichts auf Aufforderung hin tat und wahrscheinlich völlig wahnsinnig war.

Soviel geschah gleichzeitig, und er steckte mittendrin. Dort gab es eine Verantwortung, der er sich nicht entziehen konnte. Was immer ihn bedrohte, bedrohte auch jede andere Intelligenz. Die großen Zivilisationen, die er im Vorbeißug gespürt hatte, die Intelligenzen, die immer noch darum kämpften, aus dem UrweUsch lamm aufzustehen, das Grüne, die Wärme und die Waffe, die sang. Und das Commonwealth, sein Commonwealth. Menschheit, Thranx, jeder und alles.

Die Unendlichkeit, die er mit seinem Verstand angekratzt hatte, war an sich aufwühlend. Sie schickte sich an, sich zu bewegen, wenngleich noch lange nicht. Langein bezug auf seine Zeit oder auf die galaktische Zeit? Er stellte fest, daß er es nicht wußte. Das war etwas, das er irgendwie herausfinden mußte.

Was immerhin sehr viel Sinn ergab. War er nicht ein Student? Ein Lernender? Er hätte die Hilfe der Ujurrier und seiner alten Mentoren, wenn er sie finden konnte. Und er würde wieder hinausgehen, über den Normalraum hinaus, um weitere Eindrücke zu gewinnen. Er würde gehen, weil er der einzige war, der es konnte. Etwas würde mit dem getan werden müssen, was er aufgespürt hatte, wenn nicht während seines Lebens, dann während eines anderen. Diejenigen, die das Warnsystem entwickelt hatten, hatten genauso gedacht.

 

Als er erwachte, schwamm er in seinem eigenen Schweiß. Pip lag ausgestreckt auf seiner Brust, die Flügel gespreizt und schlaff, total erschöpft. Vier müde Ujurrier betrachteten ihn sorgenvoll zusammen mit einem verstörten Menschen.

Clarity ergriff seine Hand, drückte sie an ihre Brust und mußte dabei Tränen wegzwinkern. Scrap klammerte sich noch immer an ihre Schulter und an ihren Hals.

Soweit er es beurteilen konnte, hatte er sich nicht gerührt. Aber als er versuchte, sich aufzusetzen, geschah nichts. Jeder Muskel, jeder Knochen in seinem Körper schmerzte.

»Das war«, flüsterte er, »überwältigend. Außerdem beängstigend und lehrreich.«

Clarity ließ seine Hand sinken, um sich über Augen und Nase zu wischen. »Ich dachte, du würdest sterben. Du lagst dort ganz friedlich, einen wundervoll zufriedenen Ausdruck im Gesicht, und plötzlich hast du angefangen zu schreien.«

Er runzelte die Stirn. »Ich kann mich nicht erinnern, geschrien zu haben.«

»Du hast geschrien«, versicherte sie ihm, »und du hast dich aufgebäumt und hin und her geworfen, bis ich glaubte, du brächst dir selbst die Arme. Deine Freunde mußten dich festhalten.«

»Das war nicht so einfach«, murmelte Bluebright. »Hätte nicht geglaubt, daß soviel Kraft im kleinen Körper des Lehrers steckt.«

»Ich war dicht davor«, sagte Flinx plötzlich, als er sich erinnerte. »Zu dicht.« Er brauchte den Ujurriern nichts weiter zu erklären, da sie in seinen Gesit blicken konnten, aber Clarity hatte diese Gabe nicht. »Dort draußen war etwas«, berichtete er ihr ruhig.

»Wo draußen? In der Nähe von Gorisa?«

»Nein. Draußen - dort. Jenseits des Commonwealth. Außerhalb unserer Galaxis. Noch weiter als weg, glaube ich. Ich weiß nicht wie, aber sie«, - er wies auf die stumm beobachtenden Ujurrier -, »und Pip zusammen schickten einen Teil von mir bis jenseits der Reichweite des besten visuellen Teleskops. Aber nicht der Radioteleskope. Ich denke, ich habe es gesehen, obgleich die Leute, die die Daten auffangen, keine Ahnung haben, worauf sie blicken. Ich bin mir auch nicht sicher, was es war. Nur daß es gefährlich ist. Und groß. Mehr als das, noch viel größer als groß.«

Fluff war ernst. »Das ist kein Spaß. Ernstes Spiel.«

»Ja, ein sehr ernstes Spiel«, stimmte Flinx ihm zu.

»Was tun wir jetzt, Flinx-Freund-Lehrer?« fragte Moam.

»Wir versuchen, noch mehr zu erfahren. Es sind auch noch andere daran beteiligt. Nicht nur ich und ihr, sondern solche, von denen wir nichts geahnt haben. Ich muß einiges über sie in Erfahrung bringen. Es wird einige Zeit und Arbeit kosten. Gegen die Arbeit habe ich nichts. Ich hoffe, daß wir genug Zeit haben. Ich werde eure Hilfe brauchen.«

»Aber immer, Flinx-Freund.« Die vier redeten mit einer einzigen mentalen Stimme.

»Ich wünschte, ihr würdet euch laut äußern.«

Er wandte sich zu Clarity um und wurde sich bewußt, daß er mit den Ujurriern auf rein telepathischem Weg kommuniziert hatte. »Ich habe herausgefunden, was ich mit meinem Leben anfangen werde. Ich dachte, ich wäre dazu bestimmt, ziellos umherzuwandern und wahllos Wissen in mir aufzuhäufen. Nun habe ich eine Aufgabe. Dort draußen ist ein leerer Ort. Nach den Gesetzen, die die Verteilung von Materie im Universum regeln, dürfte er nicht existieren. Aber er existiert, und mittendrin befindet sich etwas. Etwas Böses. Ich werde versuchen, eine Möglichkeit zu finden, dessen Herr zu werden, wenn es sich anschicken sollte, auf uns zuzukommen. Dabei könnte ich mich vielleicht zu einem vollständigen menschlichen Wesen entwickeln.«

»Du bist ein vollständiges menschliches Wesen, verdammt noch mal!«

Er lächelte verhalten. »Clarity, ich bin neunzehn. Kein Neunzehnjähriger ist ein komplettes menschliches Wesen.«

»Machst du dich über mich lustig?«

»Nein, tue ich nicht.« Softsmooth reichte ihm eine Hand und half ihm beim Aufstehen. Pip hatte kaum genug Kraft, um sich an seine Schulter zu klammern. Die spitze Zunge hing ihr schlaff aus dem Maul.

»Ich brauche etwas zu trinken. Etwas Kaltes.« Zum erstenmal bemerkte er den leeren Raum. »Wo sind alle?«

»Sie sind nacheinander aufgewacht«, erklärte Clarity. Sie wies nickend auf die Stelle des Fußbodens, wo Dabis gelegen hatte. »Der da kam noch vor den anderen zu sich. Das erste, was er sah, war Bluebright, der seine auseinandergenommene Pistole in der Hand hielt.«

»Sie haben sich schnellstens aus dem Staub gemacht«, sagte Moam. »Wir hätten mit ihnen reden können, aber ihre Geister waren verwirrt und voller Angst.«

»Ich kann mir gut vorstellen, daß sie es eilig hatten.« Flinx wandte sich an Fluff. »Was werdet ihr jetzt tun?«

»Unser Zivilisationsspiel weiterlernen.«

»Gut. Ich versuche, einige von den neuen Regeln zu lernen. Dann melde ich mich wieder bei euch.«

Fluff schlug die Tatzen zusammen und erfüllte den Raum mit dumpfem Dröhnen. »Wunderbar! Wir machen daraus ein neues Spiel. Vielleicht diesmal nicht so ernst.«

»Wir wollen es mal versuchen«, sagte Flinx. »Ich muß weiter meine Studien betreiben. Ich muß lernen und wachsen.«

»Wir werden dich wieder finden, wenn es soweit ist.« Softsmooth legte ihm einen Arm um die Schultern, der ihn fast völlig zudeckte, und drückte ihn zärtlich an sich. Flinx’ Halswirbel knackten leise. »Wir verlieren Flinx-Freund-Lehrer nie aus den Augen. Können Maybeso immer fragen, dich zu suchen.«

»Ja. Ich wünschte, Maybeso wäre hier.«

Wie auf Kommando erschien der fünfte Ujurrier. Sein ständig säuerlicher Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert. »Da bin ich«, knurrte er.

»Hast du dem noch etwas hinzuzufügen?« fragte Flinx ihn. Er wußte, daß er nicht zu erklären brauchte, was er mit ›dem‹ meinte. Bei Maybeso brauchte überhaupt nichts erklärt zu werden.

»Später«, sagte Maybeso brüsk und verschwand.

»Das ist schon ein seltsames Wesen«, murmelte Flinx bewundernd.

»Sehr seltsam«, pflichtete Softsmooth ihm bei. »Ich glaube, er mag dich, aber wer weiß schon?«

Flinx sah zur Treppe. »Ich glaube kaum, daß einer von den Leuten, die hier waren, noch einmal zurückkommen wird.«

Clarity mußte lächeln. »Ich hätte nie gedacht, daß so große Männer sich so schnell bewegen können.«

»Darüber reden wir später.«

Die vier Ujurrier bildeten um ihn einen Kreis und legten ihm die Tatzen sacht auf die Hände. »Bis später«, sgten sie im Chor.

Sie machten kehrt und sprangen in das Loch mitten im Fußboden. Er hörte ihre Geister, die sich verabschiedeten, und lauschte ihnen, bis der letzte aus seinem Bewußtsein verschwunden war.

Mehrere Minuten verstrichen. Dann durchlief ein Ruck den Boden, als hätte das Gebäude von unten einen Tritt erhalten. Steine und Erde quollen im Schacht herauf. Clarity und Flinx rannten zur Treppe und blieben dort, bis der Staub sich wieder gelegt hatte.

»Sie haben den Tunnel hinter sich aufgefüllt«, stellte er nachdenklich fest. »Eine gute Idee. So etwas läßt man nicht offen zurück, so daß jemand hineinstürzen kann.« Er meinte zu Clarity: »Nun wirst du mich bitten, dich mitzunehmen, wohin ich auch reisen will, weil du glaubst, daß du mich liebst.«

»Ich glaube es nicht«, meinte sie, »ich weiß es.«

Er schüttelte langsam den Kopf. »Entschuldige, aber ich finde, ich habe es richtig ausgedrückt. Du glaubst, du liebst mich. Du bist von mir fasziniert, und du findest mich vielleicht sogar attraktiv. Aber du mußt einsehen, daß du mich nicht begleiten kannst.«

Seine Zurückweisung ließ sie schmerzhaft zusammenzucken. »Du traust mir noch immer nicht. Das ist es doch, oder? Nach dem, was ich getan habe, kann ich dir das nicht verdenken. Aber alles das liegt jetzt hinter uns. Ich sehe dich wieder so, wie ich dich zuerst gesehen habe und wie du wirklich bist.«

»Tatsächlich? Das ist sehr interessant, denn ich sehe mich nicht als das, was ich wirklich bin. Ich habe lange Zeit damit zugebracht, herauszubekommen, wer meine Eltern waren. Dabei kam nicht viel Gutes heraus. Vielleicht habe ich mehr Glück bei der Suche danach, wer ich bin. Aber das ist nicht der Grund, warum du nicht mit mir kommen kannst. Ich kann dich nicht mitnehmen, weil ich nicht weiß, was mir alles zustoßen wird. Ist das nicht seltsam? Aber am Ende tue ich mich noch mit der alten Vandervort zusammen.

Dinge stehen hier auf dem Spiel, die persönliche Beziehungen unwichtig werden lassen. Ich werde meine ganze Zeit darauf verwenden, sie zu verstehen. Das wäre einer anderen Person gegenüber nicht fair. Vor allem wenn es jemand ist wie du. Ich garantiere dir, nach einigen Jahren, die du unerkannt von Welt zu Welt gereist bist, um irgendwelche obskuren schriftlichen Zeugnisse und Akten zu studieren und auf diese Weise irgendwelches sinnloses Wissen zusammenzutragen, würdest du dich zu Tode langweilen. Wahrscheinlich langweile auch ich mich, aber ich habe keine Wahl. Ich muß es tun. Du hingegen nicht.

Es gibt in deinem Gewerbe andere interessante Aufgaben, andere Welten, die du besuchen kannst.«

»Daran habe ich kein Interesse mehr.« Sie gab sich Mühe, nicht zu weinen, wie er sehen konnte.

»Im Augenblick vielleicht nicht, aber dein Interesse wird wieder erwachen. Es gibt auch eine Menge anderer Männer, und die meisten sind weitaus reifer als ich. Wahrscheinlich sehen sie auch besser aus, ganz gewiß sind sie mental nicht so belastet. Du kannst mit einem davon glücklich werden oder mit zweien oder dreien oder auch mit einer ganzen Reihe von ihnen, je nachdem wie viele du als Verehrer wünschst. Auf jeden Fall glücklicher, als du es jemals mit mir werden könntest. Ich bin kein Hellseher, aber ich denke doch, daß ich dir das prophezeien kann.« Er wischte ihr die ersten Tränen aus den Augen.

»Ich glaube, daß Scrap dich wirklich liebgewonnen hat. Er wird dir ein guter Gefährte sein, und er wird dir helfen, die besseren Männer aus den nicht so guten herauszusuchen.« Er grinste. »Das ideale Hilfsmittel der unabhängigen Frau. Schutz und Zuneigung, alles in einem kleinen geschuppten Paket. Leb wohl, Scrap!«

Er streckte dem Minidrach einen Finger entgegen. Scrap verstand die Geste nicht, aber er nahm für einen kurzen Moment das Gefühl wahr. Seine spitze Zunge zuckte mehrmals aus dem Maul, um die warme menschliche Haut zu berühren.

»Wir sind schon seltsame Kreaturen, wir Menschen. Die Erbauer des Alarms haben uns nicht vorausgesehen. Es gibt dort draußen eine Menge, was sie nicht erwartet haben. Einiges davon habe ich gesehen. Viel mehr kann ich dir darüber nicht erzählen, denn ich weiß nicht mehr als das. Die Evolution hat ihre eigenen Methoden, sich gegen die ausgeklügeltsten Techniken der Zukunftsschau zur Wehr zu setzen. In diesem Fall ist es sicherlich sinnvoll und angeraten.« Er wandte sich ab, um die Treppe hinaufzugehen.

»Flinx, warte! Du kannst mich doch nicht so einfach zurücklassen. Ich kann doch nicht hierbleiben!«

Er zögerte. »Du hast recht. Du hast keinen Platz mehr, an den du zurückkehren kannst, nicht wahr? Ganz zu schweigen von den Lügen, die deine Ex-Chefin über dich verbreiten wird, um ihren eigenen Kopf vor den Firmenbossen zu retten. Mal sehen - sie hat Coldstripe verraten. Ich glaube, die Geldgeber interessieren sich brennend für diese Information. Vielleicht haben sie für dich sogar woanders einen Job. Setz dich mit ihnen in Verbindung und erklär ihnen alles, und ich wette, sie beschützen dich vor Vandervort. Es gibt schließlich gewisse Wege, um den Wahrheitsgehalt deiner Behauptungen zu überprüfen - und den ihrer Geschichten.« Plötzlich klang seine Stimme belustigt.

»Das alles ist Teil des großen Spiels, nicht wahr? Zivilisation. Wir verbringen unser ganzes Leben damit, es zu spielen. Ich denke, ich habe soeben die nächste Stufe der Reife erreicht. Beschäftige dich weiter mit deiner Gentechnik, Clarity! Vielleicht wirst du mir eines Tages sogar dabei helfen, daß ich mich besser verstehe.«

Er streckte ihr die Hand entgegen, und sie ergriff sie. Zusammen stiegen sie die Treppe hinauf.

»Ich helfe, so gut ich kann«, versprach sie ihm, als sie das Büro erreichten. »Ich tue, was du mir empfiehlst.«

»Was immer du tust, tu es für dich, nicht für mich.« Er stand da und hing seinen Gedanken nach. »Dieses Warnsystem existiert schon länger als nur ein paar Jahre, und ich glaube, wir haben noch etwas Zeit, ehe die Bedrohung, die es meldet, unsere ungeteilte Aufmerksamkeit erforderlich macht. Um sie richtig zu verstehen, muß ich erst mal mich selbst verstehen, und um mich selbst zu verstehen, muß ich mehr über meine eigene Art erfahren. Ich kann dir keine ewige Gemeinschaft versprechen, aber nun, da ich eingehender darüber nachdenke, sehe ich keinen Grund, warum du mir bei meinen Studien nicht assistieren kannst.« Er zögerte. »Das heißt, wenn du interessiert bist.«

Sie starrte ihn lange an, ehe sie langsam den Kopf schüttelte. »Gerade wenn ich glaube, dich durchschaut zu haben, muß ich alles vergessen, was ich erfahren zu haben glaube, und wieder von vorn anfangen.«

»Wenn dies für dich zu kompliziert ist, dann stell dir nur mal vor, wie beängstigend das auf mich wirken muß«, riet er ihr ernst.

Clarity freute sich über seinen Gesinnungswandel und war glücklich, mit ihm so lange zusammenbleiben zu können, wie er es zuließ, doch ganz gleich, wie schön ihre gemeinsame Zeit werden mochte, sie wußte genau, daß sie diesen letzten Gedanken niemals aus ihrem Bewußtsein verbannen könnte.