9. Kapitel

Am folgenden Tag meldete sie sich formell bei ihren Kollegen und Mitarbeitern zurück. Als die ihre Geschichte gehört hatten, ergoß sich auf Flinx ein Trommelfeuer von freundlichen Schlägen auf den Rücken und Gratulationen zu seinem Erfolg. Jeder war ihm dankbar für das, was er getan hatte. Diesen Ruhm ertrug er geduldig.

Er versuchte sich an ihren Gesprächen zu beteiligen, doch die technischen Begriffe lagen außerhalb seines Erfahrungsbereichs und seiner Studien, wenngleich Clarity offenbar in ihrem Element war. Ein dunkelhäutiger kleiner und ständig nervöser junger Mann stellte sich als Maxim vor. Er war nicht viel älter als Flinx. Sein Labor quoll geradezu über von einer umfangreichen Sammlung von chlorophyllosen Pflanzen. Maxim genoß deutlich seine Rolle als Lehrer und Fremdenführer.

»Wir wissen noch immer nicht, ob diese Pilze von Algen oder Protozoen abstammen, aber es gibt auf dieser Welt Genotypen, die unsere traditionellen Theorien völlig über den Haufen werfen.«

Flinx hörte ihm fasziniert zu, wie er auch bei jeder neuen Information begeistert reagierte, die ihm in die Quere kam. Andererseits bestand die Führung aber nicht nur aus Labor- und Bibliotheksbesuchen. Es gab auch Zeiten und Möglichkeiten für Entspannung und Zerstreuung. Persönlicher Essensservice, frei verfügbare Unterhaltung auf Disc und Chip, sogar gelegentliche Live-Shows machten bei den verschiedenen Firmenabteilungen die Runde. Alles, so dachte Flinx, um das Leben unter Tage so erträglich wie möglich zu machen.

»Das ist eigentlich nur ein geringer Ausgleich«, sagte Clarity, »wenn du bedenkst, daß wir den Himmel und die Sonne niemals zu sehen bekommen. Trotzdem gibt Coldstripe sich alle Mühe. Wir haben die größte Forschungsgruppe auf Long Tunnel. Die anderen Gruppen sind noch sehr klein und fangen jetzt erst an. Die meisten betreiben ausschließlich Forschung. Wir sind die einzigen, die sich so weit vorgewagt und ein verkaufsfähiges Produkt geschaffen haben. Das House of Sometra versucht es ebenfalls, aber die haben hier bisher noch keine richtigen Produktionsanlagen. Sobald die Aromawürfel und das Verdidionvlies gemeinsam auf dem Markt auftauchen, wird man endlich aufhören, ahnungslos zu fragen, wo eigentlich Long Tunnel liegt. Der Plan sieht vor, direkt über Thalia Major zu exportieren. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß die wirtschaftliche Seite dich sonderlich interessiert.«

»Ich interessiere mich für alles«, entgegnete er ruhig.

Es war faszinierend, ihr im Labor zuzusehen. Wenn sie arbeitete, machte sie eine totale Verwandlung durch. Das Lächeln verschwand, das Lachen wurde gedämpfter, und sie bestand nur noch aus Ernsthaftigkeit und Konzentration, wenn sie versuchte, die genetische Struktur eines neuen Pilzes oder eines Schwefelfressers zu analysieren.

Sie arbeitete nur höchst selten mit der eigentlichen Lebensform. Das überließ sie den Schnittexperten und Untersuchungsinstrumenten. Ihre Arbeit beschränkte sich auf die begrenzte Fläche von zwanzig mal zwanzig Zentimetern des Bildschirms eines Hydroden-Anwendungsdesigners mit einigen Milliarden Megabyte Online-Speicher in einem angehängten Markite-Zylinder. Ohne eine lebendige Zelle zu berühren, nahm sie komplizierte Organismen auseinander, setzte sie nach Wunsch wieder zusammen und ließ in wenigen Stunden ein vollständiges Evolutionsschema durchlaufen. Erst nachdem eine mögliche Neukombination simuliert und eingehend überprüft wurde, folgte die Erprobung in der Realität.

Es war hypnotisierend und beunruhigend zuzuschauen - weil es ihm so leichtfiel, mit den niederen Kreaturen zu empfinden, mit deren genetischen Codes gespielt wurde wie mit Kinderbauklötzen, selbst wenn es nur so simple Lebensformen wie Pilze und Schleimbrocken waren. Weil es ihm so unendlich leichtfiel, sich vorzustellen, wie eine Traube von gesichtslosen Fremden sich über ähnliche Geräte beugte, DNS-Moleküle mit mechanischen Manipulatoren hin und her bewegte, Proteine einsetzte und Gene entnahm. Weil es einfach für ihn war, sich als Endprodukt ihrer leidenschaftslosen und seelenlosen Suche vorzustellen.

Clarity beunruhigte ihn auch noch in anderer Hinsicht. Für jemanden, der erst vor kurzem geschworen hatte, sich nicht weiter mit den Problemen einer frivolen und gleichgültigen Menschheit herumzuschlagen, fühlte er sich übermächtig von der jungen Geningenieurin angezogen. Sie hatte bereits bereitwillig demonstriert, wie sehr sie sich von ihm angezogen fühlte.

Er hatte seine Freude daran, sie im Kreis ihrer Kollegen zu beobachten. Wenn sie arbeitete, war sie nicht mehr die verängstigte, erschöpfte Frau, die er aus dem Ingredschungel gerettet hatte - sie alterte um ein Jahrzehnt an Reife und Selbstvertrauen.

Ihre Beziehung hatte sich zu festigen begonnen. Es war nicht etwa so, daß sie dazu übergegangen war, sich ihm gegenüber kühl zu verhalten, im Gegenteil: sie war in seiner Gegenwart sehr viel entspannter und lockerer als je zuvor. Aber mit der Rückkehr ihrer Selbstsicherheit war eine leichte und willkommene Distanzierung einhergegangen. Wenn er sich ihr näherte, reagierte sie freundlich. Das war in ihren Augen deutlich zu erkennen und zweifelsfrei aus ihrer Stimme herauszuhören. Aber es war ganz einfach so, daß sie und ihr Überleben nicht mehr von ihm abhingen. So war es auch besser, sagte er sich.

Unglücklicherweise standen ihr wachsendes Selbstvertrauen und ihre Selbstsicherheit in umgekehrtem Verhältnis zu seinem Selbstvertrauen und seiner Selbstsicherheit. Während er intellektuell ihren sämtlichen männlichen Bekannten ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen war, so hatte er in Fragen des zwischenmenschlichen Umgangs weitaus weniger Erfahrungen als ein durchschnittlicher Neunzehnjähriger.

Nun, er war schon immer ein Einzelgänger gewesen und würde wahrscheinlich immer einer bleiben. Er trottete neben ihr her, wenn sie ihre Rundgänge unternahm und ihrer Arbeit nachging, zufrieden mit den kurzen Momenten dazwischen, wenn sie über andere Dinge reden konnten.

Clarity beschäftigte sich intensiv mit einer Substanz namens Swedschimmel. Diese sah aus wie eine Kreuzung zwischen einem Pilz und einem Gelee. Der Schimmelpilz an sich war nutzlos, doch seine reifen Sporen rochen wie frisch gemähter Klee. Wichtiger noch: In richtiger Weise aufgetragen, hatte das Pulver die Fähigkeit, den menschlichen Körpergeruch vollkommen zu überdecken. Diese Wirkung hielt nur wenige Stunden an.

Wenn Clarity und ihre Kollegen es schaffen würden, den Schimmel neu zu konstruieren, damit er Sporen hervorbrächte, deren geruchsbindende Wirkung mindestens vierundzwanzig Stunden oder gar zwei oder drei Tage lang andauerte, hätten sie ein neues kosmetisches Produkt gewonnen, mit dem sie die Märkte des Commonwealth durchaus erobern könnten. Tests bewiesen, daß die Sporen harmlos waren und keine Nebenwirkung hatten, da es sich bei ihnen um ein natürliches Produkt handelte, wohingegen viele Deodorants Schwermetalle enthielten, die gefährlich waren, wenn sie vom menschlichen Körper absorbiert wurden. Clarity hatte ihr Forschungsobjekt selbst ausprobiert und keinerlei schädliche Wirkung bei sich festgestellt.

Sie wandte sich von ihrem elektronischen Konstrukteur ab. »Nicht besonders aufregend das Ganze, nicht wahr? Da setzt man nun alles Wissen und Können der modernen Geningenieurstechnik ein, um sich mit dem Problem des Körpergeruchs herumzuschlagen. Amee sagt immer, daß die Produkte den meisten Profit erbringen, die sich der simpelsten Probleme annehmen.

Derek und Hing arbeiten mit einem Schleimpilz, der in halbflüssiger Form vorkommt. Dieser kann giftige Chemikalien verdauen und sie in nützlichen Dünger umwandeln. Wenn wir seine natürliche Verdauungsgeschwindigkeit beschleunigen, eine billige Zucht ermöglichen und hinreichende Mengen erzeugen, dann ließe er sich auf fast allen Sondermülldeponien im Commonwealth aussetzen. Man stelle sich nur vor, wir wären in der Lage, im wahrsten Sinne des Wortes Gift in Nahrung umzuwandeln. Schlamm und Schmutz - das ist es, womit wir hier unten leben.«

»Sehr gewinnorientiert.«

»Stört dich das?«

Er wandte sich ab. »Ich weiß nicht. Ich habe schon immer Probleme damit gehabt, die Ordnung der Natur aus reinen Profitgründen zu ändern.«

»Jetzt redest du genauso wie meine Kidnapper«, sagte sie mit einem leisen Vorwurf in der Stimme. »Flinx, jedes Geschäft, jedes Gewerbe seit Anbeginn der Zeiten haben die natürliche Ordnung der Dinge aus Profitstreben verändert. Wir setzen nur an der Quelle, am Ursprung an. Hier gibt es keine Luftverschmutzung, weil wir innerhalb des festgefügten Ökosystems von Long Tunnel arbeiten. Wir bauen keine stinkenden Fabriken oder schütten Giftrückstände in verlassene Felstunnel. Im Gegenteil, wir entwickeln Produkte von der Art, wie du sie schon gesehen hast, um die Verschmutzung von Luft und Boden auf anderen Welten zu mindern oder ganz zu beseitigen. Eine ganz neue Industrie wird hier aufgebaut. Wenn unsere Pläne sich verwirklichen lassen und Erfolg haben, dann wird diese früher so nutzlose Welt zur Produktionsstätte einer Legion neuer Reinigungsmittel. Wir experimentieren mit einem Ökosystem, um Dutzende anderer Systeme zu verbessern, vielleicht sogar zu retten.

Bevor Vandervort und ihre Geldgeber sich entschlossen, es mit Long Tunnel zu versuchen, war diese Welt nicht mehr als eine dünne Akte in den galographischen Archiven des Commonwealth. Nun, da wir uns hier tatsächlich eingerichtet haben, entdecken wir jeden Tag Dutzende neuer Möglichkeiten.«

»Und wer ist am Ende der Nutznießer?«

Sie blinzelte. »Du meinst außer den Leuten, die unsere Produkte kaufen?«

»Genau. Welche große Firma wird aus der DNS dieser Welt ihren Gewinn ziehen?«

»Keine große Firma.« Sie schaute ihn überrascht an. »Ich dachte, du wüßtest Bescheid. Coldstripe ist eine unabhängige, sich selbst steuernde Organisation. Amee hat Geldgeber und leitet das Unternehmen hier. Maxim und Derek und ich und die anderen - wir sind Coldstripe. Jedem von uns gehört ein Teil der Gesellschaft. Meinst du wirklich, man könnte Leute von solcher Qualität einfach einstellen und sie dann gegen Zahlung eines Gehalts an einen solchen Ort bringen und arbeiten lassen? Wir sind hier, weil wir eine Chance haben, hier ein Vermögen zu machen. Hier hängt jeder von der Arbeit des anderen ab. Das ist der Grund, warum ich so sehr vermißt wurde.«

Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter, die nicht von Pip besetzt wurde, und er hatte das Gefühl, als verbrenne sie ihm die Haut. Sie hatte wunderschöne Hände mit geschmeidigen langen Fingern und sorgfältig gepflegten Nägeln. Er versuchte nicht, sie abzuschütteln.

»Hast du Mrs. Vandervort vor deinen Entführern gewarnt?«

»Sie hat bereits erste Schritte unternommen. Wir sind zwar darauf vorbereitet, Uns mit Industriespionage herumzuschlagen, aber Ökofanatiker spielen nach keinen anderen Regeln als ihren eigenen. Sie haben sehr viel mit mir geredet, wenn sie gerade keine Fragen stellten. Ich glaube, sie versuchten mich einer Gehirnwäsche zu unterziehen. Ihr Programm, soweit man es überhaupt als solches bezeichnen kann, bestand darin, die Reinheit und Unberührtheit aller Welten zu erhalten, unverdorben vom Commonwealth lautete das Schlagwort. Was immer das bedeuten mag.«

»Für einige Leute«, murmelte Flinx, »ist Unberührtheit ein an sich erstrebenswerter Zustand.«

»Ein toller Zustand«, brummte sie sarkastisch. »Und eine Sackgasse. Ob nun durch das Streben nach Gewinn oder einfach durch den Drang nach Wissen - die Wissenschaft sucht immer den Fortschritt. Wenn sie stillsteht, dann stirbt die Zivilisation. So etwas wie ökologische Unantastbarkeit gibt es auf keiner Welt. Irgend etwas steht immer oben, sei es sozial oder einfach innerhalb der Nahrungskette. Oh, es ist nicht alles einseitig zu sehen! Da bin ich die erste, die dem zustimmt. Es gibt immer die skrupellosen Ausbeuter, die eine Rasse wegen ein paar Millionen Credits auslöschen würden. Aber so verhalten wir uns nicht. Coldstripe ist sozusagen von der Kirche empfohlen. Wir sind nicht daran interessiert, die natürliche Ordnung zu zerstören, sondern nur daran, sie zu benutzen. Aber wir sind ein leichtes Ziel für jegliche Kritik, weil wir neu und klein sind.

Bedenk bitte, daß wir hier auf Long Tunnel keine vernunftbegabten oder auch nur halbvernunftbegabten Wesen behelligen. Wir beschäftigen uns mit Pilzen und Schleimpilzen und sehr kleinen primitiven Organismen. Wir haben die Chance, sie zum Nutzen der gesamten Menschheit einzusetzen. Unter sorgfältiger Beobachtung entwickelt, haben die Lebensformen von Long Tunnel der Zivilisation eine ganze Menge zu bieten, und das sage ich nicht nur, weil ich die Chance habe, mit meiner Arbeit eine Menge Geld zu verdienen. Wir interessieren uns nicht nur für neue Dekorationsmittel. Coldstripe ist viel mehr als Verdidionvlies.« Sie schüttelte den Kopf.

»Ich nehme an, einige Leute sehen das nicht so. Sie ließen lieber eine Welt unberührt, umtost von einem furchtbaren Klima, für immer dunkel und ungenutzt. Es ist die alte Geschichte vom Baum, der im Wald umfällt. Wenn niemand da ist, um ihn fallen zu hören, verursacht er dann ein Geräusch? Ich sage, wenn niemand da ist, um die Schönheit Long Tunnels kennenzulernen und sie zu studieren, dann existiert diese Schönheit nicht. Die Leute, die mich gekidnapped haben, wollen diese Schönheit verborgen und unsichtbar halten. Eine solche Haltung kann ich nicht verstehen. Unsere Arbeit tut nichts und niemandem weh. Die Organismen, die wir modifizieren, leben und gedeihen in ihrem veränderten Zustand.« Sie seufzte traurig.

»Diese Fanatiker wollen sämtliche Forschung auf unseren Gebieten lahmlegen. Sie wollen die Gentechnik und die damit verwandten Disziplinen abschaffen. Es gibt ein halbes Dutzend Wissenschaftsgebiete, die sie am liebsten mit Acht und Bann belegen würden. Was nun diese ökologische ›Reinheit‹ angeht, die sie erhalten wollen - ist es möglich, daß sie auch die Evolution aufhalten wollen?

Wenn sie Coldstripe ausschalten, dann kommt auch jede weitere Entwicklung zum Erliegen. Die privaten Forschungsgruppen werden sich schnellstens zurückziehen. Universitäten haben es nicht so gern, wenn ihre Leute in Schießereien verwickelt werden.«

»Ich kann verstehen, warum sie so begierig sind, deine Arbeit zu stören und zum Erliegen zu bringen.«

Sie nickte. »Wenn sie Coldstripe fertigmachen und uns von hier vertreiben können, dann werden die anderen Gruppen folgen. Das Commonwealth wird sich nicht einmischen, weil es hier nicht genügend Sachwerte in Form von Gerät und Personal gibt, um eine Intervention zu rechtfertigen. Die Fanatiker werden alles stillegen. Niemand wird je versuchen, die Arbeit wiederaufzunehmen. Am Ende versinkt alles in Vergessenheit.« Sie spreizte die Finger in einer Geste der Hilflosigkeit.

»Alle Möglichkeiten werden für immer vertan sein. Kein Verdidionvlies mehr. Keine Aromawürfel, keine giftfressenden Pilze, nichts. Die Schwimmer werden in die Wildnis zurückkehren und selbst verwildern, nur ihre Art wird in dieser Gegend irgendwann aussterben, weil sie keinen einfachen und geschützten Zugang zur Nahrung mehr hat.« Trauer und Erschütterung schwangen in ihrer Stimme mit.

»Nur ein winziger Teil der Höhlen wurde erforscht und kartographiert. Das nimmt viel Zeit in Anspruch. Dies ist die erste Welt, auf der wir uns anzusiedeln versuchten, wo Luftbeobachtung und Vermessungssatelliten nutzlos sind, denn der Teil des Planeten, an dem wir interessiert sind, befindet sich unter Tage. Wie eine Schatzkiste. Selbst Cachalot ließ sich aus der Luft vermessen und kartographieren. Das ist mit Höhlen nicht möglich. Einige der Techniken, die die Kartographen einsetzen müssen, sind schon Tausende von Jahren alt. Long Tunnel ist die Höhle Aladins, die Biogold liefert anstatt von Münzen. Die Juwelen hier sind lebendig und beweglich und müssen erforscht werden. Wir können nicht zulassen, daß uns das von einer Bande Verrückter weggenommen wird. Und das lassen wir auch nicht zu.«

»Sie haben dich schon einmal geschnappt. Sie könnten es erneut versuchen.«

»Diesmal sind wir darauf vorbereitet«, lächelte sie zuversichtlich. »Du hast Amee gehört. Die Sicherheitskräfte haben Posten bezogen. Diesmal können sie sich nicht an den Hafenkontrollen vorbeischleichen. Jeder Ankömmling wird dreifach überprüft. Das Gepäck wird von Hand durchsucht. Jetzt, da meine Entführung bekannt ist, achtet jeder auf jeden. Wenn die Fanatiker hier jemanden eingeschleust haben, dann wird in Zukunft er nicht einmal mehr unbeobachtet die Toilette aufsuchen können. Sie müssen sich jetzt ganz hübsch zurückhalten, oder sie werden aufgestöbert, entlarvt und einem ausführlichen Verhör unterzogen.« Ihr Blick hob sich.

»Ich möchte nur sichergehen, daß du begreifst, was wir hier tun, Flinx. Du hast so unsicher geklungen - oder zumindest leicht skeptisch. Es geht nicht nur darum, Geld zu verdienen; jede Woche, jeden Monat machen wir eine wichtige Entdeckung, die den Umfang des menschlichen Wissens vergrößert. Nicht nur in der Ökologie oder in der Geologie, sondern in allen wissenschaftlichen Bereichen. Long Tunnel ist einzigartig. Etwas ähnliches gibt es im ganzen Commonwealth nicht.

Nimm nur einmal die Luftsensoren. Niemand hat je etwas derartiges gesehen. Die Taxonomen drehen fast durch bei ihren Überlegungen, ob sie eine völlig neue Klasse von Lebewesen schaffen sollen, um sie einzuordnen und zu erklären. Es ist alles ungemein aufregend. Lebensformen, die in einer Weise gedeihen, wie wir es nicht im geringsten ahnten. Das allein ist es wert, für diese Einrichtung zu kämpfen. Täglich mehren wir das Homanxwissen und den Homanxfortschritt. Die Thranx, die hier arbeiten, glauben, sie hätten einen Sulfidfresser gefunden, der genetisch so verändert werden kann, daß er beschädigte Exoskelette zu reparieren vermag. Chitin kann man nicht regenerieren, aber diese Wesen scheiden es als eine Art Nebenprodukt aus. Man bestreicht damit die Wunde, wartet, und alles wächst zusammen und ist am Ende wie neu.

Hast du eine Ahnung, was das für die Thranx bedeutet? Du weißt ja, welche Angst sie vor einer Beschädigung des Exoskeletts haben. Es ist in etwa die schwerste äußere Verletzung, die sie davontragen können. Sie haben das Problem noch nicht gelöst, aber wir versuchen ihnen zu helfen. Die Gewinne aus dieser Erfindung teilen wir uns dann. Es wäre ein wesentlicher medizinischer Fortschritt in der Behandlung von Thranx-Verletzungen und würde wahrscheinlich viele Leben retten. Ist das denn den Kampf nicht wert?«

»Ich weiß nicht.« Er wandte sich von ihr ab und betrachtete die Wand. »Ich bin noch zu jung, um große ethische Fragen zu diskutieren. Ich habe genug Probleme, mein eigenes Gefühl für Ethik zu entwickeln, geschweige denn über die Homanxethik nachzudenken.«

Sie war offensichtlich enttäuscht. »Dann bist du nicht überzeugt, daß unsere Ziele kleine Veränderungen im Ökosystem rechtfertigen?«

»Für Coldstripe sind diese Veränderungen sicherlich eine Menge wert. Und was alles übrige betrifft - das kann ich nicht beurteilen.«

»Aber wir spielen doch gar nicht mit der Ökologie herum«, seufzte sie mit einem Ausdruck hilfloser Verzweiflung. »Die Pilze, die zu Verdidionvlies wurden, existieren immer noch in ihrer natürlichen Form. Wir züchten nur die genetisch veränderte Abart, die wir entwickelt haben. Auswirkungen auf die unterirdische Flora gibt es nicht.«

Er wandte sich ruckartig zu ihr um, so daß sie erschrak. »Ich bin nur deinetwegen gekommen. Ich habe kein Recht auf eine Meinung, egal wie sie aussieht.« Er tat einen Schritt auf sie zu, blieb plötzlich stehen und schaute zu Boden. »Es wird außerdem allmählich Zeit, daß ich mich wieder auf den Weg mache.«

»Du willst weg?« Ihr Gesicht zeigte Verwirrung. »Du bist doch gerade erst angekommen. Du sagtest, du seist Student. Ich nahm an, daß dir der Rundgang durch die Labors gefällt, daß es dir Spaß macht, die anderen Wissenschaftler kennenzulernen und etwas über ihre Projekte zu erfahren. Wenn es dich langweilt, warum siehst du dir dann nicht Long Tunnel an? Such dir ein paar Leute und zieh ein wenig durch die Gegend.«

Er sah sie an. »Warum zerbrichst du dir den Kopf darüber? Warum bist du so sehr daran interessiert, was ich tue?«

»Natürlich weil du mir das Leben und damit wahrscheinlich die ganze Einrichtung hier gleich mit gerettet hast. Und weil ich dich mag.« Sie runzelte über die eigenen Worte die Stirn. »Das ist seltsam. Gewöhnlich ziehe ich ältere Männer vor. Aber an dir ist ganz gewiß irgend etwas Besonderes, Flinx. Ich denke dabei an mehr, als wir auf unserer Reise gemeinsam erlebt haben.«

»Wie bitte?« Er redete in viel schärferem Ton, als er beabsichtigt hatte, aber wie immer vermutete er Spott, wo nur Verwunderung und Arglosigkeit vorlagen.

»Du bist einfach - anders.« Sie trat auf ihn zu. Pip schlug mit den Flügeln, blieb aber auf seiner Schulter sitzen, als sie die Arme von hinten um ihn schlang, nicht versuchte, seine Arme zu umklammern, sondern ihn nur festhielt. Die Berührung ließ ihn erschauern.

»Ich glaube, ich habe mich nicht klar ausgedrückt«, flüsterte sie. »Ich kann mich besser auf dem Hydrodiw verständlich machen. Flinx, ich habe dich mehr als nur gern. Ich möchte, daß du hierbleibst. Nicht um zu studieren. Um mit mir zusammenzusein. Wir hatten noch nicht viel Zeit, um darüber zu reden, über uns, meine ich. Ich hatte seit meiner Rückkehr soviel zu tun. Ich habe lediglich über Long Tunnel und seine Bedeutung und meine Arbeit gesprochen. Jetzt ist es wohl an der Zeit, über dich und mich zu reden.«

»Darüber gibt es nichts zu reden.« Er wollte völlig ruhig, kühl, distanziert erscheinen, doch die Nähe ihres Körpers machte das unmöglich.

Sie spürte es, umarmte ihn fester und drückte sich gegen ihn. »Wirklich nicht? Du bist für mich etwas ganz Besonderes. Und ich fände es schön, wenn auch ich für dich etwas Besonderes wäre. Ich glaube, wenn sie richtig aufgebaut und gepflegt wird, könnte unsere Beziehung zu etwas ganz Spez …«

»Hör auf!«

Die Heftigkeit seiner Reaktion erschreckte sie so sehr, daß sie ihn losließ. »Ich dachte …«

»Du dachtest. Es gibt nichts zu denken, Clarity. Du verstehst mich nicht. Du verstehst im Zusammenhang mit mir überhaupt nichts.«

Aufgeschreckt durch den heftigen Ausbruch ihres Herrn schwang Pip sich in die Luft und suchte den unsichtbaren Feind. In diesem Moment war der Feind nicht zu sehen, denn es war Flinx selbst.

Claritys Geständnis ihrer Zuneigung hatte das seelische Gleichgewicht zerschlagen, das Flinx in den vergangenen Wochen so mühsam aufrechterhalten hatte. Das hatte nichts mit der Tatsache zu tun, daß sie so offensichtlich von ihm angezogen wurde. So etwas hatte er schon früher erlebt. Es lag daran, daß er sich sosehr zu ihr hingezogen fühlte, geistig sowohl wie körperlich. Sie war intelligent und schön und älter, aber sie redete nicht herablassend mit ihm. Es war das erste Mal in seinem Leben, daß er diese Art von allumfassender Zuneigung zu einer Frau verspürte. Mehr als jeder andere es sich vorstellen konnte, wußte er, daß es ein echtes Gefühl war. Daher reagierte er auf die einzige Art und Weise, wie er zu reagieren pflegte, wenn er das Gefühl hatte, daß ihm etwas zu naheging, ihn einengte - indem er es wegstieß und versuchte, die Distanz zu wahren. Es war beängstigend zu entdecken, daß er auch nicht halb so kühl bleiben konnte, wie er es sich wünschte. Die Realität des Gefühls Liebe war noch weit schwieriger zu erfassen als die Theorie.

»Was stimmt nicht, Flinx? Sag es mir!«

»Du kennst mich gar nicht richtig. Du kennst nur das, was ich gezeigt habe.«

»Dann laß mich alles sehen, damit ich verstehen kann!« flehte sie ihn an. »Gib mir die Chance! Ich könnte dich gut genug kennenlernen, damit wir gemeinsam glücklich werden können.«

»Wir würden niemals miteinander glücklich sein«, sagte er mit Nachdruck. »Ich kann mit niemandem glücklich sein.«

Verletztheit gesellte sich nun zu dem Ausdruck der Verwirrung in ihrer Stimme. »Du sprichst in Rätseln.«

Es blieb ihm nichts anderes übrig, als seinen Kurs weiterzuverfolgen. Das kleine Schiff, das mit ihm über die Stromschnellen seines Lebens abwärts raste, ihn dabei hin und her warf, schien niemals ans Ufer zu gelangen.

»Du bist doch eine Geningenieurin, und eine gute dazu. Sicherlich hast du schon mal was von der Meliorare-Gesellschaft gehört.«

»Die …« Sie zögerte. Ganz eindeutig war dies nicht das, was sie von ihm erwartet hatte. Aber sie fing sich schnell. »Gesetzlose der schlimmsten Sorte. Verbrecherische Eugeniker. Sie nahmen an ungeborenen menschlichen Wesen ohne Vorwarnung und Erlaubnis genetische Veränderungen vor.«

»Stimmt.« Plötzlich war Flinx sehr müde. »Ihre Absichten waren durchaus ehrenwert, aber ihre Methoden waren gotteslästerlich. Sie verletzten jedes Gesetz zur Genveränderung und kosmetischen DNS-Chirurgie, das existiert. Soweit ich weiß, wurden einige neue Gesetze beschlossen, um speziell ihre Vergehen rechtlich zu erfassen.«

»Was ist denn mit ihnen? Ich kann mich erinnern, daß der letzte von ihnen gefangen wurde, in ein Krankenhaus kam und hirngeleert wurde, und das schon vor längerer Zeit.«

»So lange ist es gar nicht her. jedenfalls nicht so lange, wie in den offiziellen Archiven nachzulesen ist. Die letzten dieser Vereinigungen waren bis vor wenigen Jahren noch aktiv.« Er betrachtete sie mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen. »Ich denke doch, daß du als gesetzestreue Geningenieurin noch viel heftiger als der normale Bürger verurteilst, was sie getan haben.«

»Natürlich tue ich das. Die Einzelheiten ihrer Arbeit wurden niemals veröffentlicht. Die Regierung hält alles so gut wie möglich unter Verschluß, aber da ich in diesem Bereich tätig bin, hatte ich während meines Studiums Zugang zu einigen Informationen, die durch undichte Stellen der Geheimhaltung sickerten. Ich weiß, was die Melioraren taten oder zu tun versuchten. Sie wiederholten die Verbrechen der Biologen des zwanzigsten Jahrhunderts, nur in einem viel größeren Ausmaß und Rahmen.

Nun gehören sie jedoch der Geschichte an. Die Melioraren waren Verbrecher mit wissenschaftlicher Ausbildung. Nichts von ihrem Wirken wird jemals Eingang finden in die gesetzlich zugelassenen Publikationen der Gentechnologie. Die Regierung hat verfügt, daß alles versiegelt und unzugänglich gemacht wird.«

»Stimmt. Das einzige Problem, das sie nicht lösen konnten, war folgendes: Während man alle Forschungsergebnisse der Melioraren unter Verschluß nehmen konnte, hatte man jedoch keinen Zugriff auf die Resultate ihrer Experimente. Oh, die meisten Opfer fand man. Man heilte jene, bei denen dies möglich war, und erlöste jene von ihrem Leiden, die derart mißgebildet waren, daß sie nicht die geringste Hoffnung auf ein normales Leben hatten. Aber sie fanden nicht jeden. Wenigstens eins der Forschungsobjekte der Melioraren erreichte das Erwachsenenalter, ohne sich selbst zu verraten oder ernsthaft krank zu werden. Es gab vielleicht noch mehr. Das weiß jedoch nicht einmal die Kirche.«

»Davon hatte ich keine Ahnung. Der abschließende Bericht, der mittlerweile in die Geschichte der Gentechnologie eingegangen ist, besagt, daß das letzte Mitglied der Gemeinschaft vor Jahren aufgestöbert und bestraft wurde und daß ihre gesamte Arbeit aus dem Verkehr gezogen wurde.«

»Nicht alles«, korrigierte Flinx sie. »Sie haben nicht jeden gefunden.« Seine Blicke schienen sich an ihr festzusaugen. »Sie haben mich nicht erwischt.«

Pip hatte sich endlich auf einem Geländer in der Nähe niedergelassen. Scrap hatte sich von Clarity entfernt, um seiner Mutter näher zu sein. Er war verwirrt und verängstigt durch Flinx’ Ausbruch und gestattete Pip, ihn unter einem ihrer Flügel zu verstecken.

Clarity starrte den jungen Mann an, der plötzlich ein Stück von ihr zurückgewichen war. Schließlich lächelte sie - aber es war ein schiefes, unsicheres Lächeln.

»Was für ein Gerede ist das denn? ›Sie haben mich nicht erwischt.‹ Du bist doch gar nicht alt genug, um ein Mitglied der Gemeinschaft gewesen zu sein, nicht einmal in ihren letzten Tagen.«

Nun war es an ihm, freudlos zu lächeln. »Ich sagte dir doch, daß du überhaupt nichts verstehst. Ich war kein Mitglied der Gesellschaft. Ich bin eines ihrer Experimente. Lustig, nicht wahr? Dabei sehe ich doch normal aus.«

»Du bist normal«, erwiderte sie mit Nachdruck. »Du bist normaler als jeder, den ich kennengelernt habe. Schüchtern, ja, aber das ist nur ein weiteres Zeichen deiner Normalität.«

»Ich bin nicht schüchtern; ich bin vorsichtig. Ich trage Schutzhüllen, um mich zu verstecken. Ich halte mich stets im dunkeln und versuche, keine Erinnerung an mich zurückzulassen.«

»Das ist dir in meinem Fall ganz gewiß nicht gelungen. Flinx, das kann doch alles nicht dein Ernst sein. Wie solltest du das denn erfahren haben? Das ist unmöglich.«

»Ich war auf Moth, als die letzten Angehörigen der Gemeinschaft gegen die Regierung kämpften und beide Gruppen sich gegenseitig umbrachten. Sie kämpften um mich. Aber ich flog nicht mit in die Luft. Ich konnte fliehen.« Er erzählte ihr nicht, wie er hatte fliehen können, da er noch immer nicht genau wußte, wie er es geschafft hatte, und es beunruhigte ihn, darüber nachzudenken.

Ihre Augen suchten. Sie sehen bestimmt die gewölbte Stirn, die zusätzlichen Finger, jedes körperliche Anzeichen für mögliche Mutationen, dachte er mit leisem Spott. Sie würde nichts dergleichen finden. Die Veränderungen, die an ihm vorgenommen wurden, waren noch im Mutterleib erfolgt. Nur er glaubte, daß sie sichtbar waren.

»Ich wurde nicht geboren, Clarity, ich wurde sozusagen erbaut. Entworfen und empfangen in einem Konstruktionscomputer.« Er tippte sich gegen die Schläfe. »Was dort drinsteckt, ist eine Perversion der Natur. Ich bin nur eine funktionierende Hypothese. Die Leute, die mich ausgedacht haben, sind tot oder hirngeleert, daher ist niemand mehr da, der weiß, was sie aus mir machen wollten.

Natürlich bin ich genauso illegal wie die Mitglieder der Gesellschaft. Schuldig durch meine Geburt und nicht durch meine Zugehörigkeit. Wenn die Regierung herausbekommt, wer ich bin, dann wird man mich verhaften, einsperren und dann an mir herumspielen. Wenn man entscheidet, daß ich harmlos bin, und mich für normal erklärt, dann läßt man mich vielleicht laufen. Wenn man zu einem anderen Ergebnis kommt…«

»Das kannst du doch gar nicht wissen, Flinx. Ganz gleich, was du gesehen oder erfahren hast oder was man dir erzählt hat, es gibt keinen Grund, daß dir etwas passiert.«

Aber er erkannte, daß sein Geständnis sie nicht nur geschockt hatte, sondern daß sie unsicher geworden war. Ihre Haltung ihm gegenüber war immer noch von Hoffnung geprägt, immer noch voller Zuneigung, aber nun etwas überlegter, nachdenklicher. Die ungebändigten Gefühle versanken nun unter der Last der Fragen, die er in ihr Bewußtsein gepflanzt hatte. Es war schändlich, in dieser Weise ihre Gefühle zu beeinflussen, aber er hätte es nicht unterlassen können, selbst wenn er es gewollt hätte. Sie war sich des Mannes, der vor ihr stand, nicht mehr sicher. Die sehr vereinfachende Linse, durch die sie ihn betrachtet hatte, war für immer zerschlagen. Gleichzeitig war etwas dahingegangen, das er wohl für immer und ewig verloren hatte.

Er konnte es nicht ändern. Es war wichtig für sie, sich zurückzuziehen, Abstand zu gewinnen, zu erkennen, mit welchem Freak sie es zu tun hatte. Denn er wußte, daß er kurz davor gestanden hatte, sich hoffnungslos und gefährlich in sie zu verlieben, und er war noch nicht in der Lage, um das zuzulassen. In diese Lage würde er vielleicht niemals gelangen.

»Flinx, ich weiß nicht, was ich davon halten soll, was du mir gerade erzählt hast. Ich weiß auch nicht, ob ich etwas davon glauben kann, auch wenn du es offensichtlich tust. Ich weiß nur, daß du lieb und gut und fürsorglich bist. Das brauche ich gar nicht zu überprüfen. Ich habe es nämlich beobachtet und am eigenen Leibe verspürt. Ich glaube nicht, daß irgend etwas davon …« Sie zögerte, ehe sie das Wort über die Lippen brachte. »… in dich hineinprogrammiert wurde, ehe du geboren wurdest. Diese Charaktereigenschaften sind Funktionen deiner Persönlichkeit, und sie waren es, die mich zu dir hingezogen haben.«

Sie meinte jedes Weort, so wie sie es sagte, das wußte er. Es war ein ehrliches, direktes Geständnis eines tiefen Gefühls. Es ließ ihn innerlich erbeben.

»Jeder hat Probleme«, fuhr sie fort. »Wenn auch nur etwas davon stimmt, was du erzählt hast, dann möchte ich wissen, wer besser ausgestattet ist als ich, um alles zu verstehen und an deinen Sorgen Anteil zu nehmen.«

»Du hast doch keine Vorstellung, was ich tun könnte«, warnte er sie. »Ich weiß es ja nicht einmal selbst. So wie ich älter werde, spüre ich, wie ich mich innerlich verändere, und ich meine nicht das Schwinden der Jugend. Es liegt viel tiefer. Es ist körperlich - hier.« Er tippte sich wieder gegen die Schläfe. »Wie verändert es sich?«

»Ich weiß es nicht. Ich kann es nicht sagen; es ist unmöglich in Worte zu fassen. Es ist nur so ein Gefühl, daß irgend etwas Wesentliches mit mir im Gange ist. Etwas, worüber ich keine Kontrolle habe. Einmal dachte ich, ich wüßte, was es ist: daß es etwas war, das ich studieren und meistern könnte. Nun bin ich mir nicht mehr so sicher. Ich habe das Gefühl, daß es viel mehr ist, als ich anfangs annahm. Vielleicht sogar viel mehr, als meine Schöpfer beabsichtigt hatten. Die Mutation erfolgt - in welche Richtung, weiß niemand.

Wenn man älter wird, sollte man doch eigentlich Antworten auf seine Fragen finden. Ich aber scheine nur immer mehr Fragen zu haben. Manchmal ist es zum Wahnsinnigwerden.« Als er den Ausdruck sah, der sich in ihrem Gesicht ausbreitete, beeilte er sich, ihr zu versichern: »Ich meine nicht wahnsinnig in dem Sinn, daß der Verstand streikt, daß ich verrückt werde, sondern wahnsinnig insofern, als die Erfahrung enttäuschend und verwirrend ist.«

Sie brachte ein angedeutetes trauriges Lächeln zustande. »Ich erlebe selbst manchmal solche Augenblicke, Flinx. Das tut wohl jeder. Ich möchte nur, daß wir zusammen sind. Ich glaube, wenn wir zusammen sind, und du empfindest in der Weise für mich, wie ich für dich empfinde, dann müßten wir alles meistern können. Ich habe Zugang zu geheimen Archiven. Mein Sicherheitsstatus ist sehr hoch. Coldstripe mag zwar klein sein, aber unsere Kontakte sind hervorragend.«

Er schüttelte den Kopf. »Du wirst niemals an die Kirchenarchive herankommen, in denen sich Aufzeichnungen über die Gesellschaft befinden. Sie sind mit einem moralischen Imperativ verschlossen. Ich weiß es, ich habe es ja versucht. An die Regierungskopien kann man mit Hilfe von Bestechung und Nötigung gelangen, aber bei der Kirche ist das nicht zu schaffen.«

»Wir werden es schaffen. Alles ist möglich, wenn man verliebt ist.«

»Bist du denn so sicher, daß du verliebt bist?«

»Du beharrst stur auf deinem Standpunkt, nicht wahr?«

»Ich kann mir nichts anderes leisten. Du denn?«

»Ich weiß es nicht mehr. Ich glaubte es, aber - kann sich überhaupt jemand einer Sache sicher sein?« Ihr Lächeln vertiefte sich. »Sieh mal, du bist nicht der einzige, der sich ganz erheblich über etwas aufregen kann, das in seinem Innern geschieht. Was ich nicht verstehe: warum du mich die ganze Zeit über wegstößt, während ich doch nichts anderes will als dir helfen und dich verstehen. Warum läßt du nicht zu, daß ich dich unterstütze, daß ich mit dir ziehe?«

»Weil ich gefährlich bin. Ist das denn nicht offensichtlich?«

»Nein, das ist es nicht. Nur weil irgendwelche fehlgeleiteten Leute vor deiner Geburt mit deinen Genen herumgespielt haben - falls das überhaupt den Tatsachen entspricht -, bist du noch lange keine Bedrohung. Wenn ich dich betrachte, dann sehe ich nur einen jungen Mann, der sich seiner selbst und der Zukunft nicht ganz sicher ist und der sich voll und ganz eingesetzt hat, um mir zu helfen, als ich in Not war, und der mich genausogut hätte übersehen und seine ursprünglichen Pläne fröhlich in die Tat umsetzen können. Ein junger Mann, der sein eigenes Leben riskiert hat, um eine Fremde zu retten. Ein Mann, der gütig und intelligent ist, allerdings gelegentlich auch ein wenig zynisch. Warum sollte ich darin eine Bedrohung sehen?«

»Weil du nicht weißt, was ich vielleicht tun könnte. Weil ich nicht mal weiß, wozu ich vielleicht fähig bin« Er flehte sie jetzt schon fast an, wollte die Distanz beibehalten, die er zwischen ihnen hatte entstehen lassen, wollte ihr jedoch auch keine Angst machen.

»Die Melioraren wollten die Menschheit verbessern, soweit ich mich entsinnen kann. Wenn dein Geist ein Spiegelbild deiner Moral ist, dann habe ich nichts zu befürchten.«

»Clarity, du willst es einfach nicht sehen, oder?«

»Du sagtest, ich könnte es nicht sehen. Hilf mir zu verstehen, Flinx!« Sie machte einen Schritt auf ihn zu, dann hielt sie inne. Sie wünschte sich inständig, ihn zu halten, ihn zu umarmen und zu trösten und ihm zu sagen, ganz gleich, was passiert sei, es werde sich alles zum Guten wenden. Doch zur gleichen Zeit konnte sie seine Warnung nicht so einfach beiseite wischen, daß es für sie vielleicht besser wäre, wenn sie gerade dies nicht täte.

Beide wurden hin und her gerissen zwischen dem Verlangen ihrer Herzen und dem Befehl ihres Verstandes, wenngleich aus unterschiedlichen Gründen. Sie hätten in diesem Moment alles klären können, hätten ihrem Leben auf die eine oder andere Art und Weise eine entscheidende Wendung geben können, nur vermochten sie ihr Gespräch nicht mehr fortzusetzen.