7. Kapitel
Obgleich sie sich zum erstenmal vollkommen entspannte, seit er sie kennengelernt hatte, sobald sie die Ionosphäre hinter sich gebracht hatten, blieb Flinx äußerst wachsam. Er war schon so weit herumgekommen und hatte schon soviel erlebt, daß ihm das Vakuum allein keinerlei Garantie für Sicherheit bot. Er hielt angestrengt Ausschau und lauschte aufmerksam, doch nichts näherte sich. Verkehr in der Umgebung von Alaspin gab es nicht. Das Com-Gerät blieb stumm. Sie waren allein.
Clarity Held war von seiner Beschreibung der Teacher beeindruckt gewesen. Sie war überwältigt, als die langgestreckte schlanke Masse des Raumschiffs jenseits der Bullaugen der Fähre allmählich sichtbar wurde. Als sie es schließlich betrat, nachdem sie die Personenschleuse hinter sich gelassen hatte, blieb ihr nichts als sprachloses Staunen.
Sie befanden sich in einem Bereich, der in einem Handelsschiff als Mannschaftsmesse eingerichtet gewesen wäre, den Flinx jedoch seine ›Höhle‹ nannte. In der Mitte befand sich ein erhöht angelegter Teich mit tropischen Fischen von verschiedenen Welten. Er war von Büschen und sorgsam gepflegten Pflanzen umgeben. Die Decke wurde von einer Lianenart verdeckt, die bei künstlichem Licht besonders gut gedieh und kein Laub abwarf.
Flinx hatte sehr viel übrig für Grünpflanzen. Die Welt, auf der er aufgewachsen war, trug auf ihrer Oberfläche dichte immergrüne Wälder. Pips Heimatwelt bestand zum größten Teil aus Dschungel und Savanne. Er hatte genug Wüste und Eis gesehen, um beides nach Möglichkeit zu meiden.
Künstliche Schwerkraft machte alles das möglich, sogar den sprudelnden Brunnen in der Teichmitte, der sowohl normales wie auch leichtes Wasser in die Höhe schleuderte. Schweres Wasser verhielt sich an Bord normal, aber leichtes Wasser konnte in verschiedenen Farben getönt werden. Es war eine Mischung aus Glyerzin und Gasen, die in unglaublich dünnen Polymermembranen eingeschlossen waren. Diese stiegen in Gestalt vielfarbiger Bläschen in die Höhe und wurden von einem Trichter aufgesogen, der von den Ranken an der Decke verborgen war. Dieser Trichter kondensierte und bereitete die Bläschen durch das Wasser darunter auf.
Die Möbel bestanden aus echtem rohen Holz, das mit üppigen schwellenden Polstern belegt war, die musikalisch auf jeden reagierten, der darauf Platz nahm, indem sie ihre Melodien den Bewegungen und Gefühlen der Sitzenden anpaßten. Violette und tiefblaue Gestalten jagten sich in zufälliger Anordnung über die runden Wände wie Käfer auf einer Rennbahn. Das absolut Zufällige dieser Jagd war Teil des künstlerischen Inhalts. Die ›Höhle‹ war eine bemerkenswerte Mischung von rechtwinkeligen, geometrischen Formen und warmer Beleuchtung, von grün wuchernden Pflanzen und glitzerndem Wasser, von Natur und Technik.
Clarity wanderte durch den Raum und betrachtete die Flora und die Kunst. Jedes Element der Einrichtung erschien so leuchtend und auffällig wie die Augen eines Kindes und war liebevoll hergestellt und angeordnet, als hätte ein Profi die Innenraumgestaltung besorgt. Flinx hatte einfach alles zusammengewürfelt.
Als sie ihren Rundgang beendet hatte, beruhigte sich ihr Atem wieder. »Und das alles gehört tatsächlich Ihnen?«
»Die Leute schenken mir gern irgendwelche Dinge.« Flinx lächelte verlegen. »Ich weiß nicht warum. Ein paar Dinge habe ich während meinen Reisen selbst erworben.« Er machte eine ausholende Geste. »Der Brunnen und die Pflanzen sind da, weil ich beides gern betrachte. Es sind zwar auch Roboter da, aber ich ziehe es vor, mich mit natürlich wachsenden Dingen selbst zu beschäftigen. Ich scheine bei Pflanzen eine recht geschickte Hand zu haben.«
Er erklärte ihr nicht, daß er annahm, daß sein Erfolg mit Pflanzen etwas mit seiner Empathie zu tun hatte, und er erwähnte auch nicht die Theorien, die besagten, daß Pflanzen zu Empfindungen und Gefühlen fähig seien. Sie hielt ihn schon für seltsam genug, auch wenn er ihr das Leben gerettet hatte.
Vielleicht hätte ich Bauer werden sollen, dachte er. Obwohl es auf Moth wenig Platz für Bauern gab. Wenn er offiziell um Hilfe gebeten hätte, dann wären die Pflanzen, die er auf Mutter Mastiffs Empfehlung angebaut hatte, sicherlich ungesetzlich gewesen.
»Wir sollten losfliegen«, sagte sie plötzlich, als erinnere sie sich jetzt erst wieder daran, warum sie überhaupt zu seinem Schiff zurückgekehrt waren.
»Wir sind bereits unterwegs.«
»Wo? Wie?« Sie schaute sich verblüfft um, aber es gab in dem Gemeinschaftsraum kein Sichtfenster.
»Bereits außerhalb des Systems und nicht mehr im Alaspin-Orbit.« Er warf einen Blick auf sein Armchronometer. »Es ist ein sehr einfacher Befehl. Das Schiff richtet sich nach verbalen Angaben. Das ist viel einfacher, als die Befehle per Tastatur einzugeben. Wenn Sie eine dritte Stimme reden hören, kühl, weiblich-neutral, dann ist das die Teacher. Sie kann nicht denken, daher versuchen Sie erst gar nicht, mit ihr zu diskutieren. Ich habe es lieber so. Ich wollte etwas, das sofort auf meine Wünsche reagiert und mit mir nicht über Alternativen debattiert.«
»Im Gegensatz zu mir?« Sie ging hinüber zu dem Steinwall, der den Teich umschloß, nahm darauf Platz und tauchte eine Hand ins Wasser. Ein Funkeln aus rotem Stahl segelte auf türkisfarbenen Flügeln heran, um ihre Finger zu inspizieren. Sie streckte die Hand träge dem Wesen entgegen, und es schoß nach einem kurzen Schlag seines dreiflossigen Schwanzes davon.
»Die Leute schenken Ihnen Dinge. Wie dieses Schiff?«
»Ich habe eine Menge interessanter Freunde. Die haben es eigentlich für mich gebaut.« Er schüttelte den Kopf, als die Erinnerung sich einstellte. »Ich weiß noch immer nicht, wie sie es bewerkstelligt haben. Irgendwie kam es mir so vor, als beherrschten sie es nicht so gut, aber andererseits schienen sie nichts besonders gut zu beherrschen. Erstaunliche Freunde.«
»Oh, wie schön!« Sie erhob sich und trat von dem Teich zurück. »Was ist das?«
Sie strich mit der Hand über ein Gebilde, das aussah wie ein Dutzend Möbiusringe, die um einen gemeinsamen Mittelpunkt kreisten. Wo sie sich trafen und ineinander verschlungen waren, schienen sie sich aufzulösen. Als sie einen der Ringe berührte, erfüllte ein tiefes Baßdröhnen den Gemeinschaftsraum. Die Berührung eines anderen erzeugte ein schrilles Pfeifen. Es gab nichts Sichtbares, das diese Anordnung etwa anderthalb Meter über dem Boden in seiner Position festhielt.
»Ist das eine Art Schwerkraftprojektion?«
»Ich weiß es nicht.« Er hob die Schultern. »Ich habe es ohne Beratung oder Gebrauchsanweisung erworben, fürchte ich.« Er nickte aufmunternd. »Strecken Sie eine Hand in die Mitte, dorthin, wo die Ringe verschmelzen.«
»Warum? Wird es verschwinden?« Er lächelte. »Nein.«
»Na schön.«
Während sie ihn herausfordernd ansah, schob sie die Hand langsam in die Überschneidungszone. Ihre Finger waren leicht gespreizt. Augenblicklich schlossen sich ihre Augen, und ein Ausdruck reiner Seligkeit glitt über das Gesicht. Der Mund öffnete sich leicht, um den Blick auf krampfhaft zusammengebissene Zähne freizugeben. Langsam legte der Kopf sich nach hinten, dann kippte er nach vorn und nahm den Oberkörper mit wie ein Band, das im Wind flattert. Er mußte aufspringen und hinlaufen, um sie aufzufangen.
Halb trug, halb schleifte er sie zur nächsten Liege und bettete sie behutsam auf die singenden Polster. Der Rücken ihrer linken Hand lag auf ihrer Stirn, und Schweiß sammelte sich auf der Haut wie Perlen. Diesen Ausdruck behielt sie etwa zwei Minuten lang bei. Dann blinzelte sie, wischte den Schweiß ab und drehte sich zu ihm um.
»Das war nicht anständig«, sagte sie heiser. »Ich habe - so etwas nicht erwartet.«
»Ich auch nicht, als ich das erste Mal meine Hand hineingesteckt habe. Es ist ein wenig überwältigend.«
»Ein wenig?« Sie blickte sehnsuchtsvoll auf die schwebende Anordnung von Möbiusstreifen. »So etwas habe ich noch nie in meinem Leben empfunden, und meine Hand war nur für einen kurzen Moment dort. Aber das war doch nicht nur meine Hand, oder?« Sie schaute ihn fragend an. »Es war mein ganzer Körper.«
»Es war Ihr gesamtes Sein, Ihr vollständiges Selbst, das völlig gefahrlos an eine Hochspannungsquelle angeschlossen war. Wenigstens glaube ich, daß es nicht gefährlich ist, sondern nur eine wundervolle Woge der Lust.«
»Das sollte«, sagte sie mit Nachdruck, während sie sich auf der Liege aufsetzte, »eigentlich verboten werden.«
Er wandte sich von ihr ab. »Das ist es auch.«
»Ich habe noch nie von einem solchen Gerät gehört. Wo wird es gebaut?«
»Auf einer illegalen Welt von illegalen Leuten. Es gibt dort keine Beschränkungen dafür, denn soweit ich weiß, ist das Ding das einzige seiner Art. Niemand sonst weiß, daß es existiert. Die Leute, die dieses Schiff für mich gebaut haben«, - er schaute sich im Gemeinschaftsraum um -, »haben auch das hergestellt. Ein weiteres Geschenk. Sie wollten sichergehen, daß ich ständig glücklich bin, daher haben sie mir die Mittel gegeben, um das zu erreichen.«
»Man kann an soviel Glück und Seligkeit sterben.«
»Ich weiß. Seine Schöpfer haben größere Toleranzen für alles, auch für Glück. Man muß die Dosis beachten. Ich benutze das Gerät nur, wenn ich ernstlich niedergeschlagen bin.«
»Und sind Sie oft ernstlich niedergeschlagen, Flinx?«
»Ich fürchte, das bin ich. Ich war schon immer etwas trübsinnig, und es ist jetzt noch schlimmer als in meiner Kindheit.«
»Ich verstehe. Es geht mich zwar nichts an, und Sie brauchen mir nicht zu antworten, aber lebt auf diesem Schiff sonst noch jemand?«
»Nur Sie und ich, es sei denn Sie zählen Pip und Scrap dazu.«
Sie hob die Schultern. »Ich konnte nicht erwarten, daß Sie mir von Ihren illegalen Lieferanten erzählen.«
»Das macht mir nichts aus. Sie sind wirklich ein nettes Volk. Etwas ganz Besonderes. Ich denke manchmal, daß sie wahrscheinlich im Universum die Auserwählten sind. Sie sind so unschuldig. Wirklich total unschuldig und naiv, obgleich ich allerdings einige Schritte unternommen habe, um das zu ändern. Die Kirche weiß von ihnen, auch die Regierung, und die haben Angst vor dieser Form von Unschuld. Meine Freunde sind außerdem nicht zu verstehen.«
»Ist es möglich, daß ich sie kenne?«
»Möglich, aber ich bezweifle es.« Er ging zu einem blaugrünen Farn hinüber, schob einen der kräftigen Wedel beiseite und holte eine winzige Tastatur hervor. Er ließ die Finger über die Tasten huschen. Es wäre einfacher gewesen, das Kommando verbal einzugeben, aber er hatte das kindliche Bedürfnis, sie noch mehr zu beeindrucken.
Jedem, der in der Galographie nicht bewandert war, wären die Sternenhaufen, die plötzlich zwischen Flinx und dem Brunnen in der Luft erschienen, so vorgekommen, als wäre ihre Position rein zufällig. Erst bei näherem Hinsehen konnte der Betrachter die winzigen hellgrünen Buchstaben ausmachen, die über jeder Sonne schwebten. Ein sehr kleiner Anteil der dargestellten Sterne waren mit stecknadelkopfgroßen gelben Buchstaben bezeichnet statt mit grünen.
»Das Commonwealth«, erklärte er unnötigerweise.
Das AAnn-Imperium wurde nicht dargestellt, obwohl Clarity nicht daran zweifelte, daß er auch dies mit einem Fingerschnippen hätte abrufen können. Auch der Sagittarius-Arm war nicht zu sehen. Das Holo zeigte nur die Vektoren und den schematischen Aufbau des Commonwealth. Während sie sich das Bild ansah, richtete sich die gesamte komplizierte Konfiguration nach der Position der Teacher aus.
»Sie liegt weit draußen.« Er schaute angestrengt in das langsam rotierende Holo. »Vielleicht innerhalb der Commonwealth-Grenzen, vielleicht auch nicht. Unweit des Rosettenebels, am Rand der Galaxis. Keine große Welt. Nicht besonders beeindruckend.« Er bediente die Kontrollen im Farn, und sie sah, wie ein grüner Punkt sich zu Bernsteingelb erhellte.
Seine Hand vollführte eine weitere Bewegung, und das Holo veränderte sich grundlegend. Als es wieder stehenblieb, leuchtete eine völlig andere Welt heller als die anderen. »Alaspin.« Seine Hand bewegte sich ein drittes Mal und hob eine Welt an den äußersten Grenzen des Commonwealth hervor.
»Die gleiche Welt, nur unter einer anderen Perspektive. Das erste Holo war legal, eine Maske. Die Positionen sind allesamt falsch. Diese sind korrekt und verboten.«
Sie riß die Augen auf. Die neue Welt, die er so hell hatte aufleuchten lassen, bewegte sich deutlich, stark genug, um jeden abzuschütteln, der sie zu lokalisieren versuchte. Diesmal war ihre Farbe nicht grün, sondern ein intensives Rot.
»Ich habe wenig Verwendung für eine schwebende Landkarte«, murmelte sie, »aber ich habe Welten in Grün und Blau und Rosa und Gelb, aber noch nie in dieser Farbe markiert gesehen.«
»Es bedeutet, daß die in Frage kommende Welt unter einem Edikt der Kirche steht. Niemand darf eigentlich wissen, daß sie existiert. Es gibt automatische Waffenstationen in einem wechselnden Orbit, das sechs Planetendurchmesser groß ist, um unerlaubte Annäherungen und noch viel weniger Landungen zu gestatten.« Er wedelte mit der Hand, und das gesamte Holo verschwand wie ein verdampfender Kosmos. »Wenn die Leute wüßten, daß die Welt sich unter einem Edikt befindet, dann würde jedermann versuchen, dorthin zu gelangen, weil es einfach verboten ist. Die Folge wären tote Abenteurer und eine verwirrte Bürokratie.«
Sie schaute ihn unentwegt an. »Aber Sie waren da, Sie sagten, die Leute, die dort leben, haben dieses Schiff erbaut.«
»Ja, meine Freunde, die Ujurrier.« Seine Augen schauten an ihr vorbei, als erwarteten sie, dort etwas anderes zu sehen. Vielleicht etwas, das drei Meter groß war und dichten Pelz trug. Aber er sah nur Pflanzen und Brunnen.
»Warum steht die Welt unter Edikt?«
»Wenn ich Ihnen das verraten würde, dann machte sogar ich mich schuldig, gegen das Edikt verstoßen zu haben.«
»Ich werde es nicht verraten. Ich verdanke Ihnen mein Leben. Ich kann Ihre Geheimnisse bewahren.«
Er überlegte, wandte den Blick ab und seufzte. »Ich komme allmählich zu dem Punkt, wo es mir egal ist, wer etwas weiß und was. Die Ujurrier sind eine körperlich sehr große bärenähnliche Rasse und nach unseren Maßstäben regelrechte Genies. Zumindest waren sie das, als ich mit ihnen zusammentraf. Sie sind außerdem das in seinen Möglichkeiten am höchsten entwickelte Volk, das ich jemals kennenlernte.«
Clarity verzog unwillig das Gesicht. »Das ist noch lange kein Grund, sie unter das Edikt zu zwingen.«
»Sie sind natürliche Telepathen«, erzählte Flinx ihr. »Gedankenleser. Keine empathischen Telepathen wie die fliegenden Schlangen.« Und ich selbst, fügte er hinzu, aber nicht laut.
Sie stieß einen nachdenklichen Pfiff aus. »Sie meinen, echte Geist-zu-Geist-Kommunikatoren? Wie die Leute in den TriDi-Spielen und in Büchern?«
Er nickte. »Genau das, wovor wir uns bei Fremdrassen am meisten gefürchtet haben. Daß sie Kreaturen sind, die unsere Gedanken lesen können, während uns das bei ihnen nicht gelingt. Und nicht nur unsere Gedanken. Auf Ulru-Ujurr gab es eine Einrichtung der AAnn. Die Ujurrier konnten auch ihre Gedanken lesen. Sie verjagten die AAnn. Ich denke, sie können sogar Pips Geist lesen, über wieviel Geist sie auch verfügen mag.« Die fliegende Schlange blickte kurz von seiner Schulter hoch, ehe sie sich wieder bequem hinlegte. »Und das ist nicht alles.«
»Reicht das denn nicht aus?«
»Sie lernen in Form einer Exponentialkurve. Als ich sie kennenlernte, war sie fast eben. Sie hausten in Höhlen. Nur steigt die Kurve nach oben, und zwar sehr steil. Als ich sie wieder verließ, hatten sie aus den Unterlagen der AAnn genug gelernt, um eine beeindruckende kleine Stadt zu gründen, und außerdem die Teacher zu bauen, obgleich ich mir immer noch nicht darüber klar bin, wie sie die notwendige Infrastruktur so schnell schaffen konnten. Sie haben auch noch andere Fähigkeiten.« Er lächelte schwach. »Sie scherzen gern, sind begeisterte Spieler und graben Tunnel.«
»Tunnel? Das ist lustig.«
»Warum ist das lustig?«
»Das werden Sie schon bald erfahren. Aber feindlich gesonnen sind sie nicht?«
»Im Gegenteil. Sie sind aufgeplustert und sehen ziemlich spaßig aus und richtig kuschelig - wenn Sie sich vorstellen können, daß ein drei Meter großes und elf- bis zwölfhundert Kilogramm schweres Wesen kuschelig ist. Wir kamen bestens miteinander aus.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Sie tauchte die Finger wieder ins Wasser. »Vor allem wenn sie ein Raumschiff als Geschenk für Sie gebaut haben. Wie viele Schiffe haben sie?«
»Soweit ich weiß, ist die Teacher das einzige Schiff, das sie je gebaut haben.« Das erinnerte ihn an einen bestimmten Ujurrier, der so seltsam war, daß sogar seine Mitujurrier ihn ziemlich komisch fanden. »Da war ein männlicher Vertreter namens Maybeso, der kein Schiff brauchte, obgleich ich das so eigentlich nicht ausdrücken sollte, weil ich seine Reichweite nicht kenne.«
Ihre Augen weiteten sich. »Teleportation? Auch das noch?«
»Ich weiß nicht. Sie nennen es anders. Ich glaube, sie verstehen auch von anderen Dingen sehr viel, aber ich wußte einfach nicht genug, um die richtigen Fragen zu stellen. Es ist schon so lange her, und ich müßte mal wieder dorthin.« Er blinzelte. »Sie können verstehen, warum die Kirche eine Welt wie diese unter Edikt stellen möchte. Die Ujurrier sind eine Masse von telepathischen, möglicherweise der Teleportation fähigen Unschuldigen mit unbegrenzten mentalen Möglichkeiten. Sie wissen ja, wie das Kolpnisationsbüro denkt. Daß sie sich jetzt als freundlich und friedlich erweisen, heißt noch lange nicht, daß sie auch morgen noch freundlich sind. ›Paranoia bedeutet Überleben‹ und anderer Unsinn in dieser Richtung.«
Sie nickte langsam, und er wandte sich ab und blickte sinnend auf den Teich. »Sie brauchen sich jetzt wegen einer Verfolgung keine Sorgen mehr zu machen. Die Teacher ist sehr schnell, und wir sind bewaffnet, obgleich ich keine Ahnung habe, ob die Waffen wirklich funktionieren. Ich mußte sie noch nie einsetzen.«
»Im Gegensatz zu den Leuten, die mich geschnappt haben«, sagte sie leise.
Er überprüfte den Datenanzeiger, den er um das linke Handgelenk geschnallt hatte. »Wir sind schon bald weit genug draußen, um den KK-Antrieb zu aktivieren. Sobald wir erst mal im Überraum sind, kann uns nichts mehr erreichen.«
Er erzählte ihr nicht, daß die Teacher das einzige Schiff im Commonwealth mit der Fähigkeit war, direkt von einer Planetenoberfläche aus zu starten und auch dort zu landen. Diese unschuldigen Genies, die Ujurrier, hatten innerhalb einer Woche ein Problem gelöst, das die besten Physiker des Commonwealth seit der Entwicklung des KK-Antriebs beschäftigt hatte. Es gab immer noch eine Reihe von Geheimnissen, die er vor seinem Gast bewahren wollte. Eines davon bestand in der Vortäuschung, daß sein Schiff nicht anders war als ähnliche Vehikel.
»Wenn diese Welt unter Edikt stand, wie kam es dann, daß Sie dort waren und mit den Bewohnern so eng zusammenlebten, daß der Wunsch aufkam, Ihnen ein Schiff zu bauen?«
Er betrachtete die Decke. Erstaunlich, dort oben gab es Käfer, die sich in den Ranken häuslich einrichteten. Er konnte sich nicht vorstellen, wie und wann sie an Bord gekommen waren. Sie sind die eigentlich dominante Lebensform in diesem Universum, dachte er. Nicht die Menschen, nicht die Thranx, nicht die AAnn. Es waren stets die Kleinen, die herrschten. Die Insekten hatten es geschafft, bis auf das Vakuum alles zu kolonisieren. Nun hatten sie die Teacher übernommen. Sie verliehen dem Gemeinschaftsraum eine neue Qualität von Heimeligkeit - bis auf die Tatsache, daß einer von ihnen von einer Ranke aus ihm direkt auf den Kopf fiel.
Bisher hatte nichts Gefährliches eine Reise in seinem Haar mitgemacht. Insekten bissen und stachen ihn nur selten. Vielleicht war er nicht so wohlschmeckend wie andere Leute.
Er erinnerte sich an ihre Frage und erwiderte geistesabwesend: »Ich habe nach jemandem gesucht und dabei eine Reihe seltsamer Orte besucht.«
»Darf ich wissen, wonach Sie gesucht haben?«
»Nach meinem Vater und meiner Mutter.«
»Oh!« Das war nicht die Antwort, die sie erwartet hatte. »Haben Sie sie gefunden?«
»Ich fand heraus, daß meine Mutter tot ist. Ich weiß aber noch immer nicht, was mit meinem Vater geschah oder wer er war.«
»Suchen Sie noch immer?«
Er schüttelte heftig den Kopf, überrascht, wie verkrampft er war. »Ich bin lange durch die ewige Nacht geflogen, bin auf vielen Welten gelandet und habe nach einer Antwort gesucht. Die Suche hat mir viel von meiner Leidenschaft genommen. Nun ändern sich meine Interessen. Was für mich vor ein paar Jahren noch wichtig war, hat nun kaum noch eine Bedeutung. Ich möchte zwar immer noch die Antwort wissen, sehe aber keinen Sinn mehr darin, meine ganze Energie dabei zu vergeuden.«
»Demnach sind Sie als Waise aufgewachsen?«
Das reizte ihn zu einem Lächeln, wie es seine Kindheitserinnerungen immer taten. »Ich hatte eine Adoptivmutter. Mutter Mastiff. Eine verlogene, betrügerische, keifende, schmuddelige häßliche alte Lady, die ich sehr liebe.«
»Das verstehe ich gut«, sagte sie leise.
»Wissen Sie«, erzählte er ihr plötzlich, »alles, was ich immer wollte, war Ruhe. Ich habe nicht um dieses Schiff gebeten, genauso wie ich auch nicht alle die Probleme haben wollte, mit denen ich mich herumschlagen mußte. O Gottheit, ich bin ja nicht mal zwanzig!«
»Sie sind sehr viel reifer, Flinx, als die meisten älteren Männer, die ich kenne.« Er war so tief in die eigenen Gedanken versunken, daß ihm der Hintersinn ihrer Bemerkung völlig entging.
»Ich erkenne erst jetzt allmählich, wie die Kräfte aussehen, die das Universum bewegen, Clarity. Den vernunftbegabten Teil zumindest. Nichts ist genau so, wie es nach außen hin erscheint. Da sind kaum wahrnehmbare Unterströmungen in allem, was wir tun, und aus irgendeinem verdammten Grund scheinen diese Unterströmungen mich als Ziel oder Ausgangspunkt zu haben. Je entschlossener ich versuche, mich von ihnen fernzuhalten, vor ihnen wegzulaufen, desto heftiger verfolgen sie mich.«
Nun war sie es, die lachen mußte. »Jetzt reden Sie Unsinn.«
»Ich wollte, es wäre so. Vielleicht rede ich auch Unsinn. Möglich, daß Sie recht haben.« Immerhin, wenn er sein strapaziertes Nervenkostüm betrachtete, war es durchaus möglich, daß seine Einbildungen ihm mittlerweile genauso solide erschienen wie die Wirklichkeit, ohne daß er den Unterschied feststellen konnte.
»Sie denken also, das Universum hätte es auf Sie abgesehen?«
»Es ist nicht gerade hinter mir her. Es läßt mich nur nicht in Ruhe. Alles, was ich mir zu erfahren wünschte, waren die Identitäten meiner Mutter und meines Vaters. Während ich das herauszufinden versuchte, sind um mich herum eine ganze Reihe Leute gestorben. Ja, gestorben«, bekräftigte er als Reaktion auf ihren skeptischen Blick. »Das ist eine Last, die ich nicht ablegen kann. Mir folgt die Gewalt. Betrachten Sie sich doch selbst. Sie sind ein gutes Beispiel.«
»Sie zu treffen, war reiner Zufall«, hielt sie ihm entgegen. »Für mich sogar ein sehr glücklicher. Sie können doch nicht ernsthaft annehmen, daß es irgendeinen kosmischen Plan gibt, der Ihnen das Leben schwermacht.«
»Ich weiß, daß es verrückt klingt. Manchmal weiß ich nicht, was ich glauben soll. Es gibt Zeiten, da denke ich, ich sollte an Bord der Teacher bleiben, mir eine Richtung quer durch die Galaxis suchen und losjagen, bis der Antrieb schlapp macht. Wenigstens hätte ich dann meinen Frieden.«
Sie ließ die Stille nach diesem Ausspruch etwas länger dauern, ehe sie wieder das Wort ergriff. »Mir scheint es so, als müßten Sie wählen zwischen Ihrem Seelenfrieden und den Antworten auf alle Ihre Fragen.«
Er sah sie wieder an, und nach und nach löste sich die innere Verkrampftheit. »Das war eine sehr tiefgehende Beobachtung, Clarity.«
»Zur Hölle, ich bin schließlich eine sehr aufmerksame und scharfsichtige Person! Neben dem biologischen Genie. Sich selbst zu verdammen, ist ebensowenig eine Lösung wie Selbstmitleid.«
»Was wissen Sie schon von diesen Dingen? Trotzdem finde ich es nett von Ihnen, daß Sie meine Laune zu heben versuchen. In Anbetracht Ihrer eigenen Lage ist es schon nett von Ihnen, überhaupt an mich zu denken.«
»Ja, Sie sind wirklich in einer traurigen Verfassung, nicht wahr, Flinx? Sie sind unabhängig, wohlhabend genug, um ein eigenes Sternenschiff zu lenken, und Sie sind gerade neunzehn. Es ist ziemlich schwierig, für jemanden Mitleid zu haben, der sich wegen solcher Lebensumstände ständig beklagt.«
Sie analysiert nur das, was sie sieht, dachte Flinx. Sie denkt nicht über die inneren Abweichungen und Veränderlichkeiten nach. Aber sie bewies trotzdem, daß sie nachgedacht hatte.
»Ob Sie es glauben oder nicht, ich bin das alles herzlich leid. Ich möchte nur noch in Ruhe gelassen werden, meinen Gedanken nachhängen und meine Studien betreiben. Die Ujurrier haben dieses Schiff mir zu Ehren Teacher getauft. Sie hätten es statt dessen Student nennen sollen, denn das ist es, was ich bin. Mein Hauptthema bin ich selbst. Ich möchte wissen, wer und was ich bin. Vielleicht weiß ich das ja längst und bin entweder zu dumm oder zu ängstlich, um es zu erkennen.«
Bei diesen Worten erhob sie sich und ging zu ihm herüber. Ihre Hände bewegten sich. »Ich denke, Sie sind ganz in Ordnung, wenn Sie diese Dummheiten endlich vergessen, mit denen Sie sich selbst belasten.« Er wich einen Schritt zurück, und sie zog tatsächlich einen Schmollmund.
»Wohin wollen Sie?« fragte er unsicher.
Sie atmete tief ein. »Haben Sie schon mal von einer Welt namens Long Tunnel gehört?« Er schüttelte den Kopf. »Rufen Sie sie mal auf Ihrer Holo-Karte ab. Sie meinen, Alspin ist eine Grenzwelt? Auf Long Tunnel gibt es nur einen einzigen Außenposten, und der ist unterbesetzt. Aus gutem Grund, wie Sie selbst erkennen werden, wenn wir erst mal dort sind. Das ist der Ort, den ich aufsuchen muß.«
»Wenn ich Sie dorthin zurückbringe, wo Sie gewesen waren, werden Ihre Kidnapper Sie nicht dort zuerst suchen?«
»Das werden sie ganz sicher tun, aber ich muß meine Kollegen darüber unterrichten, was geschehen ist, damit sie Schritte unternehmen, um sich selbst zu schützen.« Sie lächelte. »Sie werden gleich verstehen, warum ich so seltsam auf Ihre Erwähnung der Tatsache reagierte, daß Ihre ujurrischen Freunde so gern Tunnel graben. Ich glaube nicht, daß sie für eine der Ausgrabungen auf Long Tunnel verantwortlich sind.«
»Wahrscheinlich nicht. Obgleich es schon ziemlich schwierig ist, sie ganz klar zu verstehen, da eine Geist-zu-Geist-Kommunikation auch nicht viel weiterführt. Extreme Arglosigkeit und extreme geistige Leistungsfähigkeit sind eine ziemlich schwierige Kombination, um damit zurechtzukommen.«
Jetzt werden sie wahrscheinlich nicht mehr so arglos sein, sagte er sich. Nachdem er sie mit dem Spiel der Zivilisation vertraut gemacht hatte. Obgleich er sie ganz gut kannte, mochten sie sich mittlerweile schon längst einem völlig anderen Spiel zugewandt haben. Er müßte es in Erfahrung bringen - sobald er diese junge Dame dem Schutz ihrer Freunde überstellt hätte.
Er murmelte etwas in das verborgene Pick-up und verzichtete diesmal auf den zeitraubenden Einsatz der Tastatur. Er hatte vielleicht keine Ahnung von der Position Long Tunnels, anders jedoch die Teacher. In ihren Datenspeichern war die Lage jeder bekannten Welt des Commonwealth zu finden.
Flinx zuckte leicht zusammen, als Clarity plötzlich hinter ihm auftauchte. Pip verließ seine Schulter und setzte sich auf eine dekorative Skulptur am anderen Ende des Wasserbeckens. Scrap spielte mit den Fischen im Wasser, schoß hinunter und griff spielerisch an, sobald sie sich der Oberfläche näherten. Ein schuppiger, an den falschen Ort verschlagener Königsfischer, dachte Flinx belustigt.
Ihre Arme schlangen sich um ihn und zogen ihn an sich. Er hätte sich aus der Umarmung lösen können, verspürte diesmal aber nicht den Drang, es zu tun.
»Demnach sind wir jetzt unterwegs nach Long Tunnel?«
»Unterwegs, ja. Was tun Sie da?«
»Das läßt sich leichter zeigen«, flüsterte sie ihm ins Ohr, »als umständlich beschreiben.«
Was sie ihm zeigte, war eine Möglichkeit, wie man Parsecs überbrücken konnte. Zum erstenmal langweilte er sich nicht während der langen Reise durch den Überraum, und er war auch nicht gezwungen, sich regelmäßig in die Bibliothek des Schiffs zu begeben, um seine Wartezeit zu unterbrechen. Die Bibliothek beschränkte sich auf alles das, wozu die Ujurrier Zugang hatten, während sie sein Schiff bauten. Während seiner Besuche auf anderen Welten hatte Flinx sie reichhaltig vergrößert. Er zeigte sie Clarity, als sie Zeit dazu hatten.
Er verliebte sich nicht in sie, obgleich er das sehr leicht gekonnt hätte. Dafür war noch zuviel in ihm verschüttet. Das war nicht weiter beunruhigend, denn auch sie bot keine Anzeichen, sich in ihn zu verlieben. Sie tat nichts anderes als den Sprung von Alaspin nach Long Tunnel zur abwechslungsreichsten Reise zu machen, die er je mit der Teacher unternommen hatte.
Es hatte eine ganze Menge für sich, nicht allein zu reisen, sich nicht vom Rest der Menschheit abzuschotten. Vor allem wenn die Menschheit vertreten war in Gestalt eines so lebhaften, kapriziösen, intelligenten und attraktiven Wesens wie Clarity.
Sogar aus dem Orbit sah Long Tunnel ungeheuerlich aus. Es gab einen einzigen Peilstrahl auf der Oberfläche. Als er sich an ihn hängte, schätzte die Teacher die mittlere Windgeschwindigkeit in der gemäßigten Zone auf hundertfünfzig Stundenkilometer.
»Ein vergleichweise ruhiger Tag.« Clarity las die Werte über Flinx’ Schulter. »Es stürmt meistens viel schlimmer.«
Sie standen auf einem traditionsreichen Anachronismus: der Brücke des Schiffs. Da Flinx den Schiffscomputer von überallher erreichen konnte, auch von der Toilette aus, war die Existenz der Brücke nichts anderes als ein Tribut an die archaische Konstruktionsweise. Aber es vermittelte ein gutes Gefühl, vor einer Kontrollkonsole zu sitzen und eine Reihe von manuellen Instrumenten zu überwachen und zu bedienen. Er verstand einige der Funktionen, jedoch wiederum nicht annähernd genug, um im Notfall das Schiff selbst zu steuern. Ein interstellares Schiff zu lenken, war so kompliziert, daß Homanxpiloten nur selten etwas zu tun bekamen und darüber froh waren. Sie waren kaum mehr als eine letzte Sicherheit für ein eigentlich narrensicheres System.
Die Kontrollen und der Blick durch die breite Scheibe aus PlexMix waren wenigstens reizvoll, und es war ein durchaus angenehmer Ort, um zu verfolgen, wie unverständliche Informationen eingingen. Die Schirme auf der Brücke waren größer als die in den Kabinen und im Gemeinschaftsraum.
»Wie windig kann es denn da unten werden?« fragte er.
»Drei-, vierhundert Stundenkilometer. Vielleicht auch mehr. Niemand achtet mehr darauf, es sei denn, ein Nachschubschiff wird dringend erwartet.«
»Ich dachte, wenn du schon mittendrin lebst, dann nimmst du den Wind die ganze Zeit über wahr.«
»Das ist es ja. Wir leben gar nicht mittendrin. Die Oberfläche von Long Tunnel ist unbewohnbar.«
»Ihr wohnt in unterirdischen Bauten?«
»Du wirst schon sehen.« Sie wies mit einem Kopfnicken auf eine Datenanzeige. »Folge nur dem Navistrahl nach unten.«
»In Ordnung.« Er rührte sich nicht.
Sie wartete noch eine Weile. »Suchen wir denn die Fähre nicht auf?« fragte sie schließlich.
»Natürlich.« Er erhob sich. »Ich habe nur noch einiges überprüft.«
So sehr er sich freute, neue Welten zu sehen und neue Leute kennenzulernen, so verspürte er doch immer ein leises Bedauern, wenn der Zeitpunkt heranrückte, die Teacher zu verlassen. In einem Universum des Wahnsinns war sie seine Zuflucht: stets aufnahmebereit, stets beruhigend und schützend.
Sie stiegen ziemlich steil ab, flogen eine enge Kurve um die nördliche Hemisphäre und folgten einem einzigen Landepeilstrahl. Da sich keine anderen Schiffe im Orbit befanden, brauchten sie auf keine Landeerlaubnis zu warten oder darum zu bitten, und Clarity versicherte ihm, daß beim Außenposten kein Luftfahrzeug stationiert war.
»Das bedeutet, daß unsere Ankunft nicht nur von deinen Freunden und von der Hafenpolizei vemerkt wird, sondern auch von jeder lokalen Kontaktperson, die deine Kidnapper hier eingeschleust haben.«
»Du kannst mich ja gleich wieder als Fracht verpacken«, meinte sie mit einem Grinsen.
»Sicher. Aber diesmal mit Schmuckbändern und Schleifen.« Er studierte die Datenanzeige für das Raumschiff. »Entweder sie haben die Suche nach dir aufgegeben, oder sie ziehen ihre sämtlichen Kräfte auf Alaspin zusammen.«
»Das letztere ist möglich, aber nicht das erstere.« Ihr Gesichtsausdruck war sachlich. »Ich glaube, diese Leute geben überhaupt nichts auf.«
Das kleine Schiff erbebte, als es durch die tobende Atmosphäre nach unten sank. Höhenwinde warfen es hin und her. Trotz seiner Kompensatoren waren die beiden Passagiere dankbar für ihre Sicherheitsgurte. Jetströme wetteiferten miteinander und behandelten den Eindringling in ihre Welt mit brutaler Gleichgültigkeit. Pip und Scrap wickelten sich um die beiden leeren Sitze und hielten sich fest.
Die Blitze machten ihm viel mehr Sorgen als der Wind. Es donnerte und dröhnte, wollte nicht aufhören und schlug seitwärts zwischen den Wolken genauso oft zu wie von einer Wolke zur Planetenoberfläche. Die Fähre wurde zweimal getroffen, doch der einzige Schaden war an einem versengten Flügel zu sehen.
»Ist es immer so?« Das ständige Röhren und Rumpeln drang sogar durch die hervorragende Schallabschirmung der Fähre herein.
»Das sagen die Klimatologen. Ich möchte deren Jobs für nichts in der Welt haben. Sie müssen sich unweit der Oberfläche einrichten und immer wieder hinausgehen, um ihre Instrumente abzulesen.«
In dieser Gegend war es Mittag, aber als die Fähre schließlich durch die unterste Wolkenschicht brach, war es so dunkel wie am frühen Abend. Die Blitze zuckten hin und her. Flinx war dankbar, daß sie nichts anderes zu tun hatten, als sich gemütlich zurückzulehnen, während das Gehirn des Schiffes sich schnell mit dem Rechner des Landecomputers auf dem Planeten beriet. Die beiden Maschinen suchten sich in aller Ruhe einen Anflugwinkel und eine Sinkgeschwindigkeit, Landegeschwindigkeit, Windrichtung und mögliche Scherwinde und die tausend anderen lebenswichtigen Details, die geklärt und bewilligt werden mußten, um zwei zerbrechliche Hominiden unversehrt nach unten zu bringen. Trotz größter Bemühungen beider Mechanikgeister bockte und bäumte sich das kleine Schiff auf.
Es war gerade noch genug Licht, damit Flinx durch die vordere Sichtscheibe blicken konnte. Das Gelände war schlimmer als unwegsam: hohe Säulen aus blassem Stein, ein zackenreiches Netz von gebrochenen Streben und Rahmen, ungesund aussehende Vegetation, die sich grimmig an nackten Fels klammerte oder sich an den wenigen geschützten Orten versteckte, während sie dem unbarmherzigen Sturm zum Trotz an ihrem Platz zu bleiben versuchte. Es regnete leicht. Während sie tiefer und tiefer in Richtung der bedrohlichen Felsen sanken, suchte Flinx angestrengt nach einem Licht, einem Gebäude, nach irgend etwas, das ihm zeigte, daß sie auf dem richtigen Leitstrahl ritten und am richtigen Ort landen würden.
Die Maschinen der Fähre brüllten plötzlich und unerwartet auf, stießen ihn nach hinten in den Pilotensessel, so daß die Gurte scharf in Brust und Beine schnitten. Während er sich erhob und leicht schwankend festhielt, hatte er einen vagen Eindruck von blauen Lampen in der Dunkelheit. Das war alles: kein Flugfeld, kein Hangar oder irgendeine Montagehalle oder irgendwelche jener zahlreichen Einrichtungen eines regulären Raumhafens.
»Ich gehe jetzt in den Anflug.« Die Stimme der Fähre klang blechern in der bockenden, schwankenden Kabine.
»Warum schon wieder?« fragte Flinx scharf.
»Zuviel Wind. Das Ländekommando hat unseren ersten Sinkflug nicht akzeptiert. Ich kreise jetzt.«
»Und wenn diesmal wieder zuviel Wind aufkommt?«
»Wir werden so lange kreisen, bis das Landekommando den endgültigen Abstieg genehmigt. Falls der Treibstoff knapp werden sollte, kehren wir automatisch zur Basis und zum Tanken zurück.«
Das hieß, daß sie genug hatten für vielleicht zwei weitere Versuche, wie Flinx wußte. Die Teacher beförderte nicht viel Reservetreibstoff für die Fähre. Er tankte immer dort auf, wo er landete. Nun war es zu spät, um sich Zusatztanks zu wünschen.
Sie kamen in einer Kurve herein, die so eng war, daß die Flügel von dem deltaförmigen schlanken Flugkörper abzureißen drohten. Diesmal erfolgte der Anflug viel glatter; die tatsächliche Windgeschwindigkeit sank für einige wenige wertvolle Augenblicke bis auf einhundert Stundenkilometer herab.
Clarity redete in einem fort, um ihre Nervosität zu verbergen. »Kennst du dich mit allen Computern aus?«
»Ich versuche mich mit möglichst vielen Intelligenzen anzufreunden. Es gibt eine Menge Menschen, die diese Bezeichnung nicht verdienen. Dieser Flug macht dich ebenfalls unruhig, nicht wahr?«
»Natürlich macht er mich unruhig!« erwiderte sie gepreßt. »Aber es ist die einzige Möglichkeit, nach Long Tunnel zu gelangen oder von dort wegzufliegen. Ich habe es schon ein halbes dutzendmal getan, und ich tue es immer wieder.«
»Was bedeutet, daß du noch nicht von der Statistik eingeholt wurdest.«
»Weißt du, für einen charmanten jungen Mann kannst du manchmal unheimlich deprimierend sein.«
»Entschuldige!«
Er sah die Kette aus blauen Lampen direkt vor sich und unter sich, als die Fähre mit der Nase auf die erste Lampe zuhielt. Sie flogen bereits unterhalb der höchsten Berggipfel. Der Außenposten und der Raumhafen lagen in einem tiefen Tal, das von hohen Bergen umgeben war. Um den Wind nach Möglichkeit abzuhalten, sagte er sich. Wie stark waren wohl die Oberflächenwinde jenseits des Schutzes, den die Berge boten?
Als sie schließlich Bodenberührung hatten, stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus. Die Fähre hob noch einmal ab, als sie von einer gnadenlosen Windbö gepackt wurde, doch dann landete sie endgültig, als der Computer die Maschinen auf Umkehrschub schaltete, um die Vorwärtsbewegung zu stoppen. Sie spürten den Wind und hörten den Donner viel deutlicher, als die Maschinen auf Leerlauf gingen.
Ein grünes Licht erschien links von ihnen und blinkte auffordernd. Die Fähre wendete auf ihrem Landefahrwerk, um einem anderen Leitstrahl zu folgen, einem, den sie nicht sehen konnten.
»Eine gute Landung.« Clarity war bereits dabei, die Sitzgurte zu lösen.
»Gut?« Flinx war doch nervöser, als er zugeben konnte. »Das ist ja hier die reinste Hölle!«
»Voller Chancen und Möglichkeiten, sonst wäre wohl niemand von uns hergekommen.«
»Wie ist denn die Luft?«
»Atembar - wenn sie dich nicht von den Füßen haut. Denk stets daran, daß jede Landung auf Long Tunnel eine gute Landung ist. Es hätte durchaus passieren können, daß wir überhaupt nicht hätten landen können.«
»Warum nicht?«
»Erdrutsche.« Sie starrte auf die nächste PlexMix-Scheibe.
Draußen im Raum konnte man wenigstens noch die Sterne sehen, dachte er. Hier gab es nur nackten Felsen, der im Staub und der Dämmerung nur vage zu erkennen war. Ein leichter Dunst jagte horizontal vorbei, der Wind heulte, und die Außentemperatur war unerträglich dank des Treibhauseffekts, hervorgerufen durch eine dichte Wolkendecke. Er war schon auf noch unwirtlicheren Welten gewesen, aber noch nie zuvor auf einer derart armseligen.
»Da lebe ich lieber auf Freeflo«, sagte er zu ihr.
»Ja. Aber hier lebt ja auch niemand. Wir sind hier, um zu lernen, zu arbeiten und etwas zu schaffen.«
Die Barriere, die herauffuhr, um sie einzulassen, war in Steinbetonwände eingelassen, die eine natürliche Öffnung in einer nackten Felswand einrahmten. Als sollte er an die Erdrutsche erinnert werden, die Clarity erwähnt hatte, stürzten einige mächtige Felsbrocken von oben herab und schlugen in die mit Löchern übersäte Landepiste rechts von ihnen ein.
Dann waren sie drinnen, der Wind war nur noch eine unangenehme Erinnerung, und die Fähre wurde in den hellen sterilen Schein künstlicher Beleuchtung getaucht. Die Barriere rollte hinter ihnen wieder nach unten und sperrte Wind, Dunst und Hitze aus.
»Was benutzt ihr hier als Energiequelle?« Die Helligkeit des Lichts, das in jede noch so winzige Nische drang, schien für den Hafen eines Außenpostens geradezu verschwenderisch zu sein. Eigentlich hätte er es sich denken können.
»Windturbinen auf den Gipfeln dieses Berges«, erwiderte Clarity. »Schwere Schaufeln und Befestigungen. Wir haben einen Reaktor als Notaggregat, aber soweit ich weiß, brauchte der noch nie eingeschaltet zu werden. Wenn jemand ein paar weitere Kilowatt für seine Arbeiten braucht, dann muß er sich nur der Mühe unterziehen, nach oben zu gehen und eine weitere Turbine aufzustellen. Sie sind für solche Windstärken gebaut. Dadurch wird die Entwicklungsarbeit sehr vereinfacht. Man bezahlt für die Turbine und deren Installation und dafür, sie ans Netz zu hängen. Danach ist die Elektrizität kostenlos. Und bei diesen Windgeschwindigkeiten auch noch reichlich vorhanden.«
Er konnte einige Gestalten sehen, die auf die Fähre zukamen. Sie bewegten sich langsam, vorsichtig, wachsam. »Es sieht nicht so aus, als sei man hier an unangekündigte Besuche gewöhnt.«
»Soweit ich weiß, bist du der erste. Das hier ist nicht gerade eine allseits beliebte Urlaubs- und Freizeitwelt.«
»Was teile ich den Landebehörden mit?«
Sie lachte. »Hier gibt es kaum offizielle Stellen und Behörden. Du bist in meiner Begleitung, daher wird es keine Probleme geben. Ich gehöre zu Coldstripe, und das weiß hier jeder.« Sie sah zu, wie Pip sich auf ihrem Sessel ausrollte. »Was ist mit deinen Schoßtieren?«
»Pip kommt mit mir. Scrap kann tun und lassen, was er will. Sie sind an das Klima auf Moth gewöhnt, daher vertragen sie hier alles, solange es nicht gefriert.«
»Niemals.«
Flinx folgte ihr aus der Fähre, während sie sich auf Befehl des Landekommandos ausschaltete. Ein paar Arbeiter in beigefarbenen Overalls schauten in ihre Richtung, ehe sie ihren Tätigkeiten wieder nachgingen. Flinx ging davon aus, daß ihre Blicke eher Pip und Scrap gegolten hatten als den beiden Menschen.
Clarity war völlig verkrampft gewesen, als sie aus der Fähre stiegen. Nun sah sie schon etwas besser, gelöster aus. »Nichts Ungewöhnliches scheint hier passiert zu sein. Ich frage mich, wie viele wohl wußten, daß ich verschwunden war. Sie leben hier alle in ihren eigenen kleinen Welten.«
»Ich hätte gedacht, an einem derart begrenzten Ort würde die Neuigkeit von einem Kidnapping schnell die Runde machen.«
»Nur wenn offen darüber gesprochen werden darf. Die Firma hat das Ganze sicherlich so gut wie möglich geheimgehalten, um niemanden zu beunruhigen. Und zwischen den Vertretern der einzelnen Firmen kommt es hier kaum zu engeren Kontakten. Jeder widmet sich vorwiegend seiner Arbeit und hält sich ansonsten von den anderen möglichst fern. Einige haben sich sogar völlig zurückgezogen, und die anderen - nun, das ist Konkurrenz, verstehst du?«
Sie führte ihn über den glatten Boden. Ferner Donner wurde vom Hangartor reflektiert, während sie sich davon entfernten.
Einige schnelle Blicke in die Runde reichten aus, um festzustellen, daß sie sich in einer riesigen Höhle befanden, die teilweise umgebaut worden war, um als Hangar zu dienen. Diese Halle war geräumig genug, um einigen Dutzend Fähren Platz zu bieten.
»Dieser Raum war schon vorhanden«, erwiderte sie auf seine Frage nach der Herkunft der Höhle. »Davon hat Long Tunnel einen Überfluß.«
»Und wie steht es mit eingeborenem Leben, mit Flora und Fauna?«
»Aha«, sagte sie lächelnd, »deshalb sind wir ja eigentlich hier. Die Lebensformen sind unglaublich vielseitig und anpassungsfähig. Es handelt sich um ein einzigartiges und anspruchsvolles Ökosystem. Aber das wirst du nach einer Weile ja selbst herausgefunden haben.«
Flinx blickte wieder zur Hangarbarriere. »Viel habe ich nicht gesehen, als wir runterkamen, und ich denke, daß das Wetter hier nicht viel Abwechslung bietet oder ermöglicht.«
»Da hast du recht.« Sie lächelte immer noch. »Niedrige Büsche und ein paar widerstandsfähige Insekten und niedere Säugerarten. Die Natur ist nicht dumm, Flinx. Als die Entdecker von Long Tunnel hier landeten, brachten sie sich als erstes vor dem Klima in Sicherheit. Die eingeborenen Lebensformen hatten Milliarden von Jahren Zeit, das zu tun. Meinst du nicht, sie würden das selbst versuchen? Wenn es draußen stürmt, dann suchst du irgendwo Unterschlupf. Und genau das haben die Bewohner von Long Tunnel immer getan.«
Sie betraten die Ankunftsräumlichkeiten des Hafens, die einfach und spärlich ausgestattet waren. Flinx war fasziniert von der Menge an nacktem Fels, der an Decke, Boden und Wänden zu sehen war. Wir haben uns hier zurückbesonnen, dachte er. Haben zwar alles mit optischen Glasfaserkabeln und AI-Terminals und Kontaktschaltern versehen, doch es ist noch immer eine altertümliche Höhle. Nur die Wandgemälde haben sich verändert. Stalaktiten und Stalagmiten sind an Ort und Stelle geblieben, da sie die allgemeine Routine nicht stören.
Nur wenige Blicke galten ihnen. Sie waren von Alaspin weit genug entfernt, so daß Pip von den Leuten allenfalls als exotisches Haustier betrachtet wurde, die seinen tödlichen Ruf nicht kannten.
Im Hafen herrschte Betrieb, doch war er personalmäßig unterbesetzt, obgleich die Ausmaße ihn geradezu verwaist erscheinen ließen. Es war sehr einfach, die Longtimer von denen zu unterscheiden, die erst vor kurzem eingetroffen waren. Die Haut der ersteren war blaß, wenn nicht gar fahlweiß.
»Hier unterzieht sich fast jeder einer Bräunungsbehandlung«, erklärte Clarity. »Einige sind da etwas wählerischer und sorgfältiger als andere. Künstliches Licht kann das nur unzureichend verbergen.«
»Warum blieben sie dann hier?« Flinx wußte, daß es eine dumme Frage war, noch während er sie stellte.
»Wegen der guten Bezahlung. Warum sollte sonst jemand an diesen Ort kommen? Wegen Geld und vielleicht auch um etwas Ruhm zu erringen.«
»Und finden sie, was sie suchen?«
»Einige schon. Den Ruhm sowieso - das Geld fängt gerade an zu fließen. In meinem Fall ist es ein Anteil an den Tantiemen für ein neu entwickeltes Biopatent. Ich habe noch andere Patente, mehr als du bei jemandem meines Alters erwarten würdest. Die Arbeit, an der ich beteiligt war, trägt soeben die ersten Früchte.«
»Und welche Art von Arbeit ist das?«
»Stimmt«, lachte sie neckend, »davon habe ich dir ja noch gar nichts erzählt, oder?«
»Nur daß du Geningenieurin bist. Du hast mir nicht erzählt, womit genau du dich beschäftigst.«
»Du wirst es schon sehen. Du wirst alles zu sehen bekommen, und zum Teufel mit den Sicherheitsbestimmungen der Firma! Das schulde ich dir, wenn du es wissen möchtest. Wenn nicht, dann kannst du jederzeit wieder starten. Du hast alles getan, worum ich dich gebeten habe, und noch viel mehr.«
Er erinnerte sich an den Sprung von Alaspin nach Long Tunnel und meinte trocken: »Es war meinerseits nicht unbedingt eine mühevolle Aufgabe. Was du tust, interessiert mich genauso wie dieser Ort. Ich werde gern sehen, was du so treibst.«
»Ich hätte inständig gehofft, daß du diesen Wunsch äußerst«, lächelte sie voller Wärme. »Ich besorge dir die Generalerlaubnis.«
»Long Tunnel ist doch ein riesiger verkarsteter Brocken, jedenfalls behaupten das die Geologen. Der ganze Planet war Milliarden Jahre lang mit flachen Ozeanen bedeckt.«
Flinx nickte und betrachtete die nackten Wände. »Das ist alles Kalkstein.«
»Das meiste, nicht alles. Kalkstein, Gips, Kalzit - weiche Mineralien. Als die Ozeane sich zurückzogen, während Long Tunnel abkühlte, wurden die drei Kontinente diesem Wind und - noch wichtiger - dem ständigen Regen ausgesetzt. Er hatte im Lauf der Jahrtausende an dem Kalkstein genagt. Die Folgen sind Höhlen wie die, in der wir uns jetzt gerade aufhalten, und die größere, die wir soeben verlassen haben und die als Hangar benutzt wird.«
»Die Erkundung steckt hier noch in den Kinderschuhen. Doch einige meinen, daß Long Tunnel das ausgedehnteste und längste Höhlensystem im gesamten Commonwealth besitzt. Du kannst gar nicht durch die Unterstadt gehen, ohne über einen wie berauscht umhertaumelnden Speläologen zu stolpern. Die gesamte Besatzung irrt wie benommen umher, seit die Planetenoberfläche zum erstenmal verlassen wurde. Ständig werden neue revidierte Listen veröffentlicht, wenn sie wieder mal das größte Dies oder das wundervollste Das entdeckt haben. Magst du Höhlen?«
»Kann ich allgemein nicht behaupten; nein. Ich habe keine Angst davor, aber ich sehe und spüre lieber den Sonnenschein und genieße den Geruch wachsender Dinge.«
»Einen Teil davon wirst du auch hier finden, wenn auch nicht unbedingt die Gerüche, die dir gefallen. Die Luft ist immer kühl, aber die Wärme der Oberfläche sickert nach unten und beeinflußt die Luft. Man kann hier im kurzärmeligen Hemd arbeiten. Niemand weiß, wie es noch tiefer unten aussieht. Die Höhlenforscher waren in der sogenannten gemäßigten Zone derart intensiv beschäftigt, daß sie noch nicht die Gelegenheit hatten oder den Wunsch verspürten, mit ihren Lampen weiter in die Tiefe vorzudringen. Das Wasser ist übrigens genauso rein und erfrischend wie sonst überall, da es natürlich gefiltert wird. Es wird sogar schon davon geredet, hier eine Brauerei einzurichten und deren Produkte zu exportieren. Das wäre doch wenigstens, mal etwas Neues.
Bisher konnte man vier unterirdische Flüsse lokalisieren.« Sie schlenderten gerade an einer Cafeteria vorbei. Einige Leute holten sich ihr Essen von Serviceschaltern. »Sie hoffen, mehr zu finden. Es wird sogar von unterirdischen Ozeanen gesprochen.«
Flinx runzelte die Stirn. »Sicherlich wäre eine Höhle, die diesem Umfang entspräche, mittlerweile längst eingestürzt.«
»Wer weiß? Auf Long Tunnel muß eine ganze Reihe gültiger Geologiegesetze neu geschrieben werden. Desgleichen biologische Gesetze.«
Seit sie den Hangar hinter sich gelassen hatten, wurde er sich eines gewissen Summens in der Luft bewußt, eines ständigen leisen Singens, als wiederhole ein Chor immer wieder die gleiche Melodie.
»Pumpen«, erklärte sie, als er sich nach der Herkunft dieses Geräusches erkundigte. »Auf Long Tunnel gibt es sehr viel Wasser. Immer noch wachsen und entstehen Höhlen. Auf der Oberfläche regnet es ständig, und das Wasser muß schließlich irgendwohin fließen. Das meiste versickert auf natürlichem Wege, aber es gibt Stellen, wo wir uns ausbreiten wollen, die aber auch vom Wasser bevorzugt werden. Daher setzen wir Pumpen ein. Wie ich schon sagte: Energie stellt hier kein Problem dar.«
»Trotzdem muß doch jemand für alles das bezahlen.«
»Die Infrastruktur des Hafens und die Versorgungseinrichtungen werden zusammen von der Regierung und den Privatfirmen unterhalten, die unter Lizenz arbeiten. Alles andere wird privat betrieben.«
»Sehr gut. Sind alle Firmen in der gleichen Höhle ansässig?«
»Nein, sie sind über den ganzen Planeten verstreut und untereinander mit Kommunikationsfaserkabeln verbunden. Der Nahbereichsfunk arbeitet aufgrund der zahlreichen Wände und des soliden Felsens nicht allzugut, ganz gleich, was die technische Entwicklung liefert. Es ist billiger und sauberer, Kabel zu verlegen. Die inneren Wände dienen nur zur Wahrung der Privatsphäre, da jede Gruppe ihre eigene Höhle hat. Du suchst dir irgendeinen freien Raum aus, beseitigst alles, was dich stört, und stellst deine Schreibtische und Aktenschränke und Betten und Kocheinrichtungen und Laborausrüstungen auf. Auf Long Tunnel gibt es mehr Büroraum, als ein Dutzend Welten besetzen könnten.«
»Das alles erscheint mir sehr wirkungsvoll und gut durchorganisiert. Warum sollte jemand euch hier behelligen?«
Ihre Miene verdüsterte sich. »Ich weiß es nicht. Sie sind ja nicht zu mir gekommen und haben es mir erklärt. Aber andererseits reagiere ich nur auf Logik und Vernunft.«
Er hätte beinahe erwidert: ›Du bist einfach zu hübsch, um sarkastisch zu sein‹, doch er überlegte es sich anders. Erstens, so meinte er, würde ihr das nicht gefallen, und zweitens war er sich niemals ganz sicher, was er in Gegenwart schöner Frauen sagen sollte. Immer wenn er mit ihnen ein Gespräch anzufangen versuchte, erntete er aus irgendeinem Grund ein Stirnrunzeln anstelle eines Lächelns. Er kam viel besser zurecht, wenn er überhaupt nichts sagte.
»Autsch, Vorsicht!« Sie legte ihm eine Hand auf den Arm, um ihn nach rechts zu steuern.
Zuerst sah er sie gar nicht, weil er direkt geradeaus schaute. Es dauerte einen Moment, bis seine Augen die Bewegung wahrnahmen.