8. Kapitel

Drei von ihnen kamen parallel zu ihnen auf sie zu und überquerten die linke Hälfte des Plastikbodens, auf dem Flinx und Clarity sich bewegten. Jedes Wesen bestand vorwiegend aus einem handbreiten Mund und einem Körper, der breit und flach war wie eine blaßgelbe Flunder mit blauen Streifen. Helle rosige Lippen umrahmten jeden der großen Münder.

Zuerst dachte er, daß es sich um große Insekten handelte, die auf winzigen Beinen oder Haaren vorwärtsstrebten. Als sie näher kamen, sah er krausen Pelz. Jedes der Wesen war etwa einen halben Meter lang. Bis auf die klaffenden flachen Münder, die vibrierten, während die Lebewesen sich bewegten, besaßen sie keinerlei sichtbare äußere Organe bis auf zwei schwarze Punkte, die dicht über und hinter den Kiefern lagen. Durchaus möglich, daß dies früher einmal Augen gewesen waren. Jedes der zwei Dutzend Gliedmaßen, auf denen sie gingen, wies in der Mitte ein Gelenk auf und endete in einem flachen runden Teller. Ein haarloser Schwanz, mehrere Zentimeter lang, ragte aus dem hinteren Ende hervor. Sie sahen aus wie ein Trio von gesichtslosen mutierten Schnabeltieren, denen die Beine eines überdimensionalen Tausendfüßlers angezüchtet worden waren. Flinx starrte sie mit offenem Mund an, während sie still vorbeizogen wie eine Armee winziger Mähmaschinen.

»Schwimmer.« Clarity zeigte auf die Wesen, während sie erklärte. »Wir überwachen sowohl die Wohn- als auch die Arbeitsbereiche. Auf Long Tunnel sind es gefährliche Raubtiere, und es gibt sicherlich welche, denen wir noch nicht begegnet sind. Die Schwimmer sind in gewissem Maße nützlich. Wir haben sie halbwegs gezähmt und domestiziert.«

»Aber so eindeutig schwimmen sie ja gerade nicht«, stellte er fest.

»Ich habe ihnen den Namen nicht gegeben, dafür ist jemand anders verantwortlich. Sie sind dreigeschlechtlich, weshalb man sie immer nur in Trios zusammensieht. Wir lassen sie herumlaufen, wo sie wollen.«

»Was tun sie denn - den Boden reinigen wie Staubsauger?«

»Nein.« Sie lachte. »Sie verzehren keinen Schmutz und Staub, wenn du das meinst. Aber diese Welt lebt, Flinx. Die Fußböden und Wände, die Luft in den Höhlen ist voll von Rost und Hefearten und Pilzen. Die Hälfte der Wissenschaftler, die hier arbeiten, sind Mykologen. Das meiste von dem, was sie bereits klassifiziert haben, ist gutartig, aber nicht alles, und einiges ist direkt gefährlich. Die mit dem Kartographieren befaßten Höhlenforscher tragen bei ihrer Arbeit ständig Masken, um sich zu schützen, falls sie auf etwas Tödliches treffen.

Zwischen den Gutartigen und den Tödlichen gibt es eine riesige Gruppe von kleinen Organismen, die einen mit einem Schnupfen infizieren oder auf die Atmung oder das Ausscheidungssystem einwirken, wenn man etwas davon einatmet. Die meiste Zeit über halten sie sich auf dem Erdboden auf, aber das Herumgehen wirbelt sie hoch. Die Schwimmer sind ganz versessen darauf. Demnach sind sie wirklich so etwas wie Sauger, allerdings nicht auf Staub spezialisiert. Sie filtern die Organismen heraus, die sie aufgesogen haben. Sie sind eher mit Bartenwalen zu vergleichen, wenn auch in viel kleinerem Maßstab. Natürlich verzehren sie die gutartigen Organismen genauso hungrig wie die schädlichen, aber das ist für uns kein Verlust.«

Sie steuerte auf eine vertraut aussehende Haltestelle eines Kurierwagensystems zu, vertraut bis auf die Tatsache, daß es das erste System ohne Dach war, das Flinx jemals gesehen hatte. Die Siedler von Long Tunnel brauchten sich nicht vor dem Wetter zu schützen.

»Es ist nicht weit bis zum Coldstripe-Komplex«, erklärte sie.

»Meldest du uns nicht an, damit man weiß, daß wir kommen und daß du wieder da bist?«

Sie grinste boshaft. »Nein. Es ist ein ganz schön gleichgültiger Haufen. Bereiten wir ihnen doch eine Überraschung.«

Sie stieg in einen der vier Passagierwagen, und er folgte ihr. Ihre Finger gaben die Daten für den Zielort ein. Augenblicklich stieg der Wagen auf seiner Magnetschiene einen halben Zentimeter hoch und beschleunigte.

Flinx nahm die glatten Wände und den schmalen Serviceaufgang wahr, während sie durch einen unregelmäßigen Tunnel jagten. Die Beleuchtung entlang der Strecke war angenehm hell, und außer den soliden Felswänden wies nichts darauf hin, daß sie unterirdisch unterwegs waren. Genausogut mochten sie sich in jedem anderen Transporttunnel auf der Erde oder auf irgendeiner anderen industrialisierten Welt befinden.

Andere Wagen rasten auf der parallel verlaufenden Schiene in Richtung Hafen vorbei. Einige davon waren kleine Passagierwagen so wie der, in dem sie saßen, andere glichen Miniatureisenbahnen und transportierten Fracht. Es gab Abzweigschienen, die in Seitengängen verschwanden, doch sie hielten sich auf der Hauptstrecke.

»Hast du bemerkt, daß sie reichlich pigmentiert waren?«

»Wie bitte?« Flinx blickte soeben in den Tunnel. Die Szenerie erinnerte ihn an eine Vergnügungsfahrt, zu der Mutter Mastiff ihn als Kind mitgenommen hatte. Weniger abwechslungsreich, nicht so wild, keine Holos, aber auf ihre Art genauso faszinierend.

»Die Schwimmer. Gelb und blau. Das kommt daher, daß viele Lebensformen immer noch auf die Nahrung angewiesen sind, die von oben herunterkommt. Wind und Regen machen es nahezu unmöglich, daß so etwas wie eine höhere Fauna gedeihen kann, doch einige Pflanzen haben sich recht gut angepaßt und sich auszubreiten begonnen. Auf der Oberfläche gibt es nichts, das sie auffressen könnte. Daher findet die organische Materie, die sie produzieren, ihren Weg in Höhlenöffnungen und Sickerlöcher. Es gibt ein vollständiges Ökosystem, das von der Übergangszone zwischen innen und außen abhängt. Die Schwimmer gehören dazu. Daher weisen sie eine Färbung auf, während die meisten Kreaturen, die im tiefen Höhlensystem leben, längst alle Hautpigmente verloren haben. Es ist schon ein Erlebnis, so etwas wie einen Goralact zu sehen, ein ziemlich großes Tier, in der Masse etwa einer Kuh entsprechend. Es hat jedoch sechs Beine und ist nahezu transparent. Du kannst seinen Blutkreislauf verfolgen wie bei einem physiologischen Lerndiagramm für Kinder. Fast alles, was wir bisher angetroffen haben, weist Augen auf, obgleich sie meistens nur rudimentär vorhanden sind. Im besten Fall können die Lebewesen Formen unterscheiden. Die meisten reagieren immerhin auf helles Licht. Es gibt sogar ein Art, den Photomorph, der die Augen zu seinem Vorteil nutzt.«

»Was zum Teufel ist ein Photomorph?« Pip flatterte nervös mit den Flügeln, als der Wagen plötzlich scharf um eine Kurve bog, dann beruhigte sie sich wieder auf der Schulter.

»Du wirst es sehen.« Sie grinste ihn an. »Wenn einer angreift.«

Er wurde leicht unruhig. »Sie greifen an? Sollte ich mich schon darauf vorbereiten?« Er betrachtete den Tunnel vor sich nun in einem ganz anderen Licht.

»O nein! Photomorphen und ihre Verwandten sind für Menschen harmlos. Sie wissen es aber nicht, diese armen Dinger, daher versuchen sie es immer wieder.

Wenn du einen laufen läßt, dann könnte das gefährlich werden, aber man kann ihnen sehr leicht aus dem Weg gehen. Sie verlassen sich, wenn sie angreifen, nicht auf ihre Schnelligkeit.«

Er sann über den Photomorphen nach, bis der Wagen stehenblieb. Clarity führte ihn durch eine Reihe von Höhlen und Durchgängen, wo die Höhlenböden geglättet worden waren. Er konnte deutlich fremde Stimmen hören. Das war nicht weiter überraschend, weil der Schall sich sehr gut durch eine Höhle zu verteilen vermochte. Es gab kurze Einblicke in große Räume, die von anderen durch Sprühfaserwände abgetrennt waren. Wenn man ein Drahtgeflecht aufstellte, Farbe darauf sprühte und wartete, bis sie hart wurde, erhielt man eine solide Trennwand - die billigste Bauweise.

Sie blieb vor einer Tür stehen, die in eine grellblau gestrichene Wand eingesetzt war. Die Tür öffnete sich zu einem Raum, in dem sich ein Mann aufhielt, der nicht viel älter als Clarity war. Er war groß, und schwarzes Haar drohte ihm das Gesicht zuzuwuchern.

»Clarity!« Er strich sich nervös durch das Haar. »Herrgott, wo bist du gewesen? Alle machen sich die größten Sorgen, und die Firmenleitung ließ zu dem Thema überhaupt nichts verlauten.«

»Damit ist ja jetzt Schluß, Jase. Ich habe eine ganze Menge zu erzählen, und ich muß mit Vandervort reden, damit sie entsprechende Maßnahmen treffen kann.« Sie wies auf Flinx. »Das ist mein Freund. Desgleichen die fliegende Schlange an seinem Hals. Ebenfalls die Schlange an meinem Hals - sie hat sich unter meinem Haar verkrochen, also such lieber nicht danach.«

Die Blicke des großen jungen Mannes wanderten von Flinx zu Pip und zurück zu Clarity. Sein Gesichtsausdruck zeigte freudige Überraschung. »Teufel noch mal, ich muß allen erzählen, daß du wieder da bist!« Er wollte sich umdrehen, zögerte dann aber. »Aber du hast gesagt, du wollest erst mit Vandervort reden.«

»Nur die Einzelheiten. Du kannst die Neuigkeit Tangerine und Jimmy und den anderen mitteilen.«

»Gut - sicher. He, möchtest du nicht reinkommen?« Er trat zur Seite, um Platz zu machen.

Flinx folgte Clarity in das große Labor, während Jase zum nächsten Wandkommunikator stürzte, um die Nachricht zu verbreiten. »Das klingt ja so, als hätte man dich, vermißt, wie du es vorausgesehen hast.«

»Ein oder zwei Projekte sind während meiner Abwesenheit wahrscheinlich völlig zum Stillstand gekommen. Ich prahle sicher nicht. Aber so ist es nun mal.«

Flinx betrachtete bewundernd die moderne Ausrüstung, die auf Tischen und an den Wänden aufgereiht war, die glänzenden Flächen, die fleckenlosen PlexMixgeschirre. Vier Techniker arbeiteten in dem Raum, zwei Roboter und zwei Menschen. Alle schauten herüber zu den Besuchern, winkten und wandten sich wieder ihrer Arbeit zu.

»Thranx arbeiten auch für Coldstripe?«

»Zwei. Hier unten ist es für sie ganz schön kalt. Wenn der Wind nicht wäre, würden sie am liebsten nach oben gehen. Sie erledigen den größten Teil der Wartungsarbeiten an den Turbinen. Die ständige Feuchtigkeit ist hilfreich, und die Arbeit unter Tage lieben sie von Natur aus. Daher tragen sie Wärmeanzüge. Ihre eigenen Wohnbereiche sind überdacht und stehen im Innern ständig unter Dampf. Der sichere Weg, um krank zu werden: Geh aus jeder beliebigen Höhle direkt in Marlacynos Quartier. Das ist dann ein Temperatursprung von zwanzig Grad.«

Sie traten durch eine Zwischentür, dann durch eine zweite, und Flinx fand sich in einem Raum wieder, der erfüllt war mit Zischen und Quieken und Jaulen, Lauten, von denen keiner elektronisch erzeugt wurde.

»Das ist unser Artenlager«, informierte Clarity ihn unnötigerweise.

Flinx kannte keine der Kreaturen, die in ihren Käfigen hockten. Dünne Drähte verschiedener Stärke hielten sie gefesselt. Alles war durchsichtig.

»Karbfibermaterial.« Clarity berührte einen nahezu unsichtbaren Draht. »Hält sie fest, aber beruhigt sie auch. So haben sie nicht das Gefühl, eingesperrt zu sein. Das wollte ich dir zeigen.«

Er sah in die angegebene Richtung und war für einen kurzen Moment geblendet, als ihm intensives Licht das Gesicht erhellte. Sterne tanzten ihm auf der Netzhaut, als die Sicht sich wieder klärte. Clarity schaute ihn kichernd an, und er stellte fest, daß sie die Augen genau im kritischen Augenblick geschlossen haben mußte.

»Das ist der Photomorph, von dem ich dir erzählte. Ich sagte dir doch voraus, daß er dich angreifen werde. Man sollte meinen, sie erkennen, daß es hier zu hell ist, um mit dem eigenen Licht große Wirkung zu erzielen, aber da sie selbst kaum etwas sehen, wissen sie nicht, wie schwach ihre Waffe unter diesen Umständen ist.«

Als seine Sehfähigkeit allmählich zurückkehrte, konnte Flinx mehrere der Photomorphen erkennen, die sich langsam aus dem hinteren Teil ihres Käfigs nach vorn schoben. Jede Kreatur war etwa einen halben Meter lang, genauso wie die Schwimmer, und mit dichtem grauen Pelz bedeckt, der so etwas wie einen langen Knebelbart unter den Doppelnasenlöchern bildete. Die Schnauze war kurz, stumpf und mit scharfkantigen dreieckigen Zähnen besetzt. Die Nasenlöcher saßen an der Spitze eines vier Zentimeter langen Rüssels. Jedes der vier Beine endete in einem klauenbewehrten dreizehigen Fuß. Die Klauen waren gekrümmt und wirkten außerordentlich scharf. Die durchsichtigen Gitterstäbe des Käfigs schienen viel zu zerbrechlich, um ein so stämmiges, muskulöses Lebewesen festzuhalten, doch er vertraute darauf, daß die Gitter stärker waren, als sie aussahen.

Die Photomorphen schoben sich wie Faultiere langsam vorwärts.

»Sie bleiben stehen, wenn sie die Vorderwand des Käfigs erreicht haben und erkennen, daß sie nicht an uns herankönnen. Sie haben so gut wie kein Sehvermögen, sondern nur eine Art Offensiveinrichtung. Ich sagte dir ja, daß es hier Fleischfresser gibt.«

»Wenn sie uns nicht sehen können, woher wissen sie dann, daß wir hier sind? Geruch?«

Sie nickte. »Andere Fleischfresser haben lange Reihen elektrischer Sensoren auf den Gesichtern und Körpern verteilt, damit sie die Annäherung möglicher Beute mit Hilfe des schwachen Pulsschlags feststellen können, den jeder Körper aussendet. Wieder andere besitzen Sensoren, die die Bewegung eines Beutetiers melden, indem sie Luftströmungen und Druckveränderungen analysieren. Sieh dir nur die Stelle am Kopf an, wo normalerweise die Ohren sitzen.«

Flinx stellte sich auf die Zehenspitzen und tat wie geheißen und fand eine Doppelreihe von leicht glasigen Perlchen.

»Das könnte man fälschlicherweise für Augen halten, aber da gibt es weder eine Pupille noch eine Iris. Es sind Photogeneratoren. Diese Lebewesen sammeln Licht, bauen eine gewisse Helligkeit in den Körpern auf, bis sie einen einzigen Blitz auslösen, um ihre Beute zu überraschen und bewegungsunfähig zu machen. Erinnere dich, daß die meisten der höheren Tiere, die wir klassifiziert haben, die Fähigkeit besitzen, in der Dunkelheit Licht aufzuspüren. Daher sendet der Photomorph eine erstaunliche Lichtmenge aus und schaltet damit die Photosensoren seiner Beute aus. Es ist praktisch ein Stromstoß mitten ins Gehirn und lähmt gewöhnlich für mehrere Minuten. Wir nennen es Phototoxin. Während das Tier benommen dasitzt, nähern sich der Photomorph und seine Gefährten gemächlich und verspeisen die Beute.«

Flinx war wirklich tief beeindruckt. »Ich habe schon von Lebewesen gehört, die Licht einsetzen, um ihre Beute anzulocken, aber nicht, um damit richtiggehend anzugreifen.«

»Du wärest geschockt zu erfahren, welche Arten von offensiven und defensiven Waffen Tiere in der Dunkelheit entwickeln können. Die Xenologen erleben hier jedesmal, wenn sie eine Feldforschung beginnen, eine neue Überraschung. Die Lebensformen Long Tunnels sind einzigartig, und deshalb sind wir hier - um die möglicherweise nützlichen Arten zu erforschen.«

Flinx wies mit einem Kopfnicken auf die eingesperrten Photomorphen. »Wie könnte denn so ein Geschöpf nützlich sein?«

»Andere Biophoten wie Glühwürmchen und Tiefseefische erzeugen ihr Licht auf chemischem Weg; der Photomorph benutzt dazu einen elektronischen Prozeß, der noch nie zuvor beobachtet wurde. Ganz gleich, wie leistungsfähig wir sind, es gibt immer noch ganz andere Arten, um Licht und Energie zu erzeugen. Unsere Leute haben nicht den leisesten Hinweis darauf, was diesen Photomorphen in Gang hält, aber sie arbeiten daran.«

»Und du hast auch keine Idee?«

»Dies ist nicht mein Projekt. Ich habe schon genug zu tun. Es ist gut, hier unten beschäftigt zu sein. Es gibt nicht viel mehr Freizeitbeschäftigungen als zu trinken und eher lockere Beziehungen einzugehen.« Sie führte ihn aus dem Zoo hinaus. »Wenn wir ihnen etwas mehr Futter und weniger Konkurrenz gäben, dann würden sich alle wie verrückt vermehren. Sobald man eine nützliche Anwendung für etwas findet, das sich wie wild vermehrt und von Pilzen oder Schlamm lebt, dann hat man ein verwertbares Bioprodukt entdeckt. Schon mal was von dem Verdidionvlies gehört?«

Flinx schüttelte den Kopf, dann zögerte er. »Moment mal! Das ist so etwas wie ein lebender Teppich, nicht wahr?«

Sie nickte. »Unser erster richtiger Erfolg, mit dem die ganze Arbeit hier finanziert wurde. Ich bin wenigstens zur Hälfte für diese Entwicklung verantwortlich. Das war vor mehreren Jahren. Seitdem sind wir mit ein paar weiteren Produkten auf den Markt gekommen. Unwichtiges Zeug. Nichts vom Kaliber des Verdidionvlieses. Aber wir stehen dicht vor wichtigen Durchbrüchen. Oder wir standen vielmehr davor, ehe meine Arbeit unterbrochen wurde. Ich zeige dir gelegentlich einiges davon.«

»Das würde mich sehr interessieren.«

Sie kehrten ins Hauptlabor zurück. Der große Mann erwartete sie mit leuchtenden Augen. »Vandervort will dich sofort sprechen.«

»Verflixt, ich wollte sie selbst überraschen.«

»Du wurdest gesehen, als du durch die Sicherheitsüberprüfung tratest. Jeder möchte mit dir sprechen, aber sicherlich willst du erst mal mit Vandervort reden.«

»Jetzt habe ich wohl kaum mehr eine Wahl, was, Jase?«

»Ich denke nicht.« Er machte ein besorgtes Gesicht. »Gab es irgendwelche Schwierigkeiten? Wir haben Gerüchte gehört - die Firma versuchte, die Nachricht von deinem Verschwinden geheimzuhalten, aber hier kann man keine Geheimnisse bewahren.«

»Ich will jetzt nicht alle Einzelheiten schildern, aber wenn mein Freund nicht gewesen wäre, dann wäre ich jetzt nicht hier.«

Jase studierte den schlanken jungen Mann, der stumm neben der Geningenieurin stand, taxierte ihn ab und überging ihn dann einfach. Flinx war das nur recht.

»Ich befand mich in der Lage, Hilfe anbieten zu können«, erklärte er, »also tat ich es.«

»Ja, nett von Ihnen.« Jases Blick kehrte zu Clarity zurück.

Flinx erkannte, daß der andere hoffnungslos in Clarity Held verliebt war. Er fragte sich, ob Jase eine Ahnung hatte, wie offen das bei ihm zu beobachten war. Aus seiner neuen Situation als Retter und Favorit und dank seiner größeren Reife konnte Flinx dem anderen Mann mit großer Toleranz gegenübertreten.

»Alles spielte völlig verrückt, als du plötzlich verschwandest.« Jase übersah Flinx, nachdem er ihn katalogisiert und abgelegt hatte wie ein Objekt aus dem Artenzoo.

»Das habe ich mir schon gedacht. Keine Sorge! Morgen bin ich wieder auf meinem Posten.« Sie streckte eine Hand aus, und für einen Moment dachte Flinx, sie wolle die Hand des Wissenschaftlers ergreifen. Aber sie zeigte nur zur Tür.

»Gehen wir! Es wird Zeit, daß ich Vandervort aufsuche. Du wirst sie mögen. Jeder mag sie.«

»Dann werde ich sie bestimmt mögen.«

Sie gingen zu Fuß, statt zu fahren. Auf ihrem Weg trafen sie zahlreiche Leute, deren Kleidung darauf hindeutete, daß sie Sicherheitsbeauftragte waren. Die meisten trugen Handfeuerwaffen.

»Sieht so aus, als hätte jemand aufgrund deines Verschwindens die Sicherheitsmaßnahmen verstärkt.«

»Amee ist nicht dumm. Jede Firma wird mißtrauisch, wenn einer ihrer Topleute plötzlich ohne vorherige Kündigung oder einen sonstigen Hinweis verschwindet. Ich bin eben nicht so unauffällig abgetaucht, wie die Leute annahmen, die mich verschleppten. Ich wette, daß ich bereits im halben Commonwealth gesucht werde.«

Sie schritten durch einen Korridor, der sich zur Decke hin öffnete. Der Fußboden bestand aus poliertem Kalkstein und Travertin. Plastikverkleidungen hingen an mehreren Stellen, und er konnte hören, wie Wasser auf das undurchdringliche Mylar tropfte.

Sie bemerkte, in welche Richtung er schaute. »Ich glaube, ich erwähnte bereits, daß der größte Teil des bisher erforschten Höhlensystems lebendig ist.«

»Was meinst du mit lebendig?«

»Eine Höhle, die von Wasser durchflossen wird, befindet sich noch immer in einem Prozeß des Entstehens und der Veränderung. Es ist ein lebendiger Raum. Nur wenn dieser Raum völlig ausgetrocknet ist und so bleibt, wird er als tot betrachtet.«

»Ich verstehe. Eigentlich hätte ich das wissen müssen, obwohl die meisten meiner Studien auf den von mir besuchten Welten den Außenraum betrafen.«

Sie betrachtete ihn fragend. »Auf wie vielen Welten bist du denn schon gewesen? Ich war erst auf dreien. Auf meiner Heimatwelt Thalia Major, dann natürlich auf Thalia Minor und nun auf Long Tunnel. Und ich könnte Alaspin natürlich als vierte hinzuzählen.«

»Ich war schon auf mehr als vier Welten.« Er wollte sich nicht genauer äußern. Sie würde ihm wahrscheinlich sowieso nicht glauben. Statt dessen wechselte er das Thema, eine Kunst, die er schon vor Jahren perfekt beherrscht hatte. »Zweifellos sind hier alle sehr wachsam. Dennoch wirkst du weitaus entspannter, als ich dich je erlebt habe.«

»Sie wissen noch nicht, ob die Gefahr vorbei ist. Ich war bis zu unserer Landung völlig verkrampft und aufgeregt. Aber jetzt ist alles in Ordnung, vor allem seit die Sicherheitsmaßnahmen verstärkt wurden. Du hast ja gesehen, wie eine Landung auf Long Tunnel verlaufen kann. Es gibt nur einen Hafen und eine Landebahn. Entsprechend wenige Einrichtungen gibt es sonst nirgendwo. Man braucht nur den Hafen zu überwachen, und niemand kann dort starten oder landen, ohne zuerst den Sicherheitskräften in die Arme zu laufen. Du solltest es auch etwas lockerer angehen lassen.«

Das würde ich auch gern tun, sagte er sich, aber ich glaube, daß ich schon vor fünf Jahren vergaß, wie das geht.

Sie bogen wieder um eine Ecke und blieben vor einer Tür stehen, die sich in einer gelben Sprühwand befand. Clarity betätigte keinen Summer und meldete sich auch nicht vorher an. Sie trat einfach ein. Kein Scanner zwang sie zum Warten; keine Automatik meldete ihre Ankunft.

Nun, da er hier war, verstand er warum. Es gab auf Long Tunnel keinen Anlaß für innere Sicherheitsmaßnahmen. Um unbefugtes Eindringen zu verhindern, mußte man nur den Hafen und den vorderen Eingang überwachen, denn es gab keine Schlupfwinkel, durch die man sich hätte einschleichen können. Es erklärte auch, wie Claritys Enführer sie hatten hinausschmuggeln können. Sobald man einmal hineingelangt war, brauchte man nur einen einzigen Kontrollpunkt zu passieren, um wieder hinauszugelangen. Es gab wohl auch noch eine firmeninterne Sicherheitseinrichtung, aber das war eine andere Sache, vor allem wenn man versuchte, aus- und nicht einzubrechen.

Das Büro, das sie betraten, war sehr geräumig, zumal es einfach nur durch das beliebige Unterteilen einer großen Höhle herzustellen war. Was den Raum so interessant machte, waren Dutzende von Deckengewächsen. In diesem Büro hatte man sie unbehelligt gelassen. Glänzende Stalaktiten, Stalagmiten, Salzstöcke und Gipsspiralen funkelten im künstlichen Licht. Kalkstein und Wasser hatten das Büro weitaus prachtvoller dekoriert, als jeder Innenarchitekt es vermocht hätte.

Eine Klimaanlage war nicht notwendig. Die Temperatur im Büro war die gleiche wie im Korridor draußen. Es war kühl und etwas feucht. Auf der linken Seite, im hinteren Teil des Raumes, sprudelte Höhlenwasser perlend aus einem Riß in der Felswand und wurde von einem Auffangbecken im Fußboden abgeleitet.

Archivschränke, eine Couch, Büromöbel und Doppelschreibtische bildeten einen reizvollen Kontrast zu den natürlichen Formationen, die wie geschmackvolles Dekor erschienen. Die Frau, die sich hinter einem Schreibtisch erhob, war viel kleiner als Clarity. Ihr langes rotes Haar war nach hinten gekämmt und zu einem ordentlichen Knoten geflochten - messerscharfe Goldkristalle durchbohrten den Knoten an drei Stellen. Ihr Begrüßungslächeln war voller Wärme und einladend, die Stimme klang tief und kehlig, und ein Narcostäbchen klebte ihr in einem Mundwinkel zwischen den Lippen. Es störte sie nicht beim Sprechen. Ihr Schritt und ihr Händedruck waren gleichermaßen fest wie auch lebhaft.

Flinx schätzte sie auf Mitte Fünfzig und war aufrichtig erstaunt, als er später erfuhr, daß sie schon siebzig war. Spätes Mittelalter. Anstatt Clarity die Hand zu reichen, umarmte sie die jüngere Frau und tätschelte ihr zärtlich den Rücken.

»Maxim und die Bande unten in der Entwicklung haben die ganze Zeit deine Räder in Gang gehalten, während du weg warst.«

Das ließ Clarity die Stirn runzeln. »Sie waren in meiner Zelle?«

»Meine Liebe, jeder war in deiner Zelle. Was hast du erwartet? Was meinst du, was hier gejammert und lamentiert wurde, als von der Sicherheit angedeutet wurde, daß deine Abreise ihrer Meinung nach nicht freiwillig erfolgt war. Ich glaube, mich trifft auch ein Teil der Schuld. Ich hätte von Anfang an auf strengeren Sicherheitsmaßnahmen bestehen sollen. Aber wer hat schon mit einem solchen Vorkommnis gerechnet? Eine Entführung von Long Tunnel? Ich habe doch recht, wenn ich annehme, daß es genau so gewesen ist, nicht wahr?«

»So war es.«

Vandervort nickte wissend. »Die Zeichen waren für die Leute von der Kriminalistik eindeutig. Uns anderen zwar nicht, aber wir wußten trotzdem, worum es ging. Nun, so etwas wird nicht mehr vorkommen, das kann ich dir versprechen.«

»Wir haben auf unserem Weg hierher die neuen Sicherheitstruppen gesehen.«

»Gut.« Sie wandte sich an Flinx und bedachte auch den Minidrach auf seiner Schulter mit einem eingehenden Blick. »Sie haben da ein interessantes Haustier, junger Mann. Wie ich feststelle, hat auch Clarity sich so etwas zugelegt.«

»Pip ist kein Haustier. Unsere Beziehung ist von wechselseitigem Nutzen.«

»Wie Sie meinen. Das ist ja auch ein Teil unserer Arbeit, die wir hier unten leisten. Oder wissen Sie das bereits?« Sie schaute kurz zu Clarity hinüber. »Wieviel hast du ihm von uns erzählt?«

»Alles, was nicht geheim ist. Er hat mir das Leben gerettet. Vielleicht auch das Ihre. Ich konnte ihn nicht im unklaren lassen.«

»Ich kann es kaum erwarten, Einzelheiten zu erfahren«, erwiderte die Frau mit leisem Spott. »Übrigens«, sagte sie, während sie Flinx eine Hand entgegenstreckte, »ich bin Alynasmolia Vandervort. Jeder nennt mich Amee. Oder Momma. Ich bin die Projektleiterin von Coldstripe.«

Er erwiderte den festen Händedruck. »Ich hatte etwas in dieser Richtung vermutet.«

»Ich denke, wir alle sind Ihnen großen Dank schuldig, daß Sie unsere Clarity zurückgebracht haben. Sie leiden nicht zufälligerweise unter Klaustrophobie? Wir haben nämlich Tabletten für alle, bei denen sich diese Symptome zeigen.«

»Mir geht es gut«, teilte er ihr mit. »Im Gegenteil, es ist hier weitaus geräumiger, als ich es mir vorgestellt habe.«

Vandervort machte ein zufriedenes Gesicht, nahm ihren Platz hinter dem Schreibtisch wieder ein und dirigierte ihre Besucher zu Sesseln, die davor standen. »Wer war es?« fragte sie Clarity.

Flinx mimte Gleichgültigkeit, während er Claritys Schilderung aufmerksam lauschte. Die Leiterin saß reglos und konzentriert da. Sie berührte das Narcostäbchen nicht, aber als Clarity ihren Bericht beendet hatte, war das Stäbchen irgendwie von einem Mundwinkel zum anderen hinübergewandert. Vandervort lehnte sich in ihrem Sessel zurück und stieß einen leisen Seufzer aus.

»Das kann eine von mehreren Dutzend radikaler Gruppen gewesen sein. Die treiben sich dort draußen in Scharen herum, aber gewöhnlich beschränken sie sich darauf, Reden zu halten, denen niemand zuhört, oder sie erscheinen in den Pausen zwischen den Unterhaltungsprogrammen und den Nachrichten.« Sie hatte eine seltsam abgehackte Art zu reden, während der Blick unstet zwischen ihren beiden Besuchern hin und her wanderte.

»Wir sind Ihnen wirklich etwas schuldig, junger Mann. Sie müssen nämlich wissen, daß Clarity unersetzlich ist.«

»Ich weiß. Sie hat mich des öfteren darauf aufmerksam gemacht.«

Darüber mußte Vandervort lachen. Es wurde ein knappes, aber keineswegs maskulines Kichern. »Oh, schüchtern ist sie nicht, unsere Clarity! Nach allem, was sie bisher erreicht hat, braucht sie keine falsche Bescheidenheit an den Tag zu legen. Wer immer diese verabscheuungswürdige Tat ausgeführt hat, war genauestens informiert. Clarity ist das eine Mitglied unseres wissenschaftlichen Stabes, das wir auf keinen Fall verlieren dürfen. Nun, da du wieder unter uns weilst«, fügte sie mit grimmiger Entschlossenheit hinzu, »werden wir dich nicht mehr aus den Augen lassen.«

»Ich mache mir keine Sorgen. Es sieht aus, als hätten Sie nun jedes Schlupfloch verstopft, Amee.«

»Das haben wir.« Sie zögerte. »Würdest du dich mit einem ständigen Leibwächter ruhiger fühlen?«

»Ich habe schon einen.« Clarity streichelte Scrap, der es sich unter ihrem Seitenzopf bequem gemacht hatte.

Vandervort stieß wieder einen leisen Seufzer aus und wandte sich an Flix. »Hat Clarity Ihnen erzählt, was wir hier tun?«

»Sie arbeiten mit formbaren lokalen Lebensformen, um kommerziell ausbeutbare Ableger zu produzieren.«

Sie nickte. »Rein genetisch betrachtet, ist Long Tunnel für uns eine Goldmine, deren Schächte für uns bereits gegraben wurden. So lange sind wir nämlich noch gar nicht hier. Wir haben eben erst mit der Klassifizierung begonnen, aber noch nicht mit der Auswahl, der Zucht und der Konstruktion. Dennoch haben wir schon einige erfolgreiche Produkte vorzuweisen.«

»Clarity erwähnte Ihr Verdidionvlies.«

»Das ist bisher unser großer Erfolg, aber nicht der einzige.« Sie griff hinter sich und öffnete eine Schublade in einem Stahlschrank. Süße Düfte erfüllten den Raum, als sie etwas herauszog und auf den Schreibtisch stellte.

Das flache Tablett aus metallischem blauglänzenden Glas war mit Geleewürfeln gefüllt: rote, gelbe und violette. Sie vibrierten nicht, als sie den Teller über den Schreibtisch schob.

»Greifen Sie zu und kosten Sie!« Flinx betrachtete das Gelee unentschlossen. »Oh, greifen Sie zu, mein Lieber!« Vandervort entschied sich für einen violetten Würfel, schob ihn sich in den Mund und kaute genußvoll darauf.

»Nun mach schon, Flinx!« Clarity nahm sich einen rosafarbenen Würfel.

Kaum in der Lage, sitzenzubleiben und seiner Furcht und Unsicherheit nachzugeben, während die beiden Frauen genüßlich aßen, entschied Flinx sich für einen hellgrünen Würfel und steckte ihn vorsichtig in den Mund. In der Erwartung eines Limonen- oder Stachelbeergeschmacks wurde er geradezu aufgeschreckt durch die Aromaexplosion, die seine Geschmackspapillen überfiel. Die Dichte des Würfels war ebenfalls verblüffend. Er war fester als Gelatine und in seiner Konsistenz eher mit Gummi zu vergleichen. Doch sobald er zerkleinert wurde, löste er sich schnell im Mund auf. Die vielfältigen Geschmackseindrücke blieben noch deutlich und lange zurück, nachdem er den letzten Bissen geschluckt hatte.

Er nahm sich einen zweiten grünen Würfel, dann einen violetten. Die Geschmackswoge war genauso unterschiedlich und aufregend beim dritten Mal, wie er sie bei den ersten beiden Malen erlebt hatte. Ihm kam in den Sinn, während er den vierten Würfel zerkaute, daß er vielleicht ein überaus wertvolles Produkt verspeiste, obgleich Vandervort das Tablett nicht weggestellt hatte. Im Gegenteil, sie schien sich an seiner Begeisterung zu erfreuen.

»Ein bemerkenswertes Zeug, nicht wahr, junger Mann? Wenn die Leute ihre Kauflust auf elektronische Spielereien und arbeitserleichternde Geräte und Kunst befriedigt haben, dann bleibt ihnen nicht mehr viel zu wünschen außer etwas Eßbarem. Eine neue Geschmacksempfindung ist da mehr wert als die leistungsstärkste neue Computeranlage. Nun, für Geist oder Bauch entwickelte Unterhaltung und Zerstreuung ist immer noch wertvoller als alles, was die Geningenieure erfinden können.«

»Was ist das?« fragte Flinx und leckte sich die Finger ab.

»Fast genauso nahrhaft wie wohlschmeckend.« Clarity zeigte wieder ihr stolzerfülltes Lächeln. »Es schmeckt, als sei es mit allen möglichen Zuckerarten versetzt, aber es ist eine Einbildung. In Wirklichkeit handelt es sich um solides Protein.«

Vandervort hatte offensichtlich Freude daran, es für ihn zu identifizieren. »Es ist eine pseudoplasmodische Masse.«

Flinx hörte auf, sich die Finger abzulecken. Vandervorts Lächeln vertiefte sich. »Ein Schleimbrocken, junger Mann.«

Die Geschmackseindrücke verblaßten nun rapide. »Ich verstehe Sie nicht ganz.«

»Ein Pseudoplasmodium ist ein Amöbenzustand. Fremde Lebensform, Schleimbrocken. Wenn man sie zusammenfügt, dann verhalten sie sich wie eine Einheit, aber wenn man sie auseinandernimmt, sie im Wasser herumrührt oder sie sonstwie erregt, dann zerbrechen sie in einzelne Trauben, die durchaus fähig sind, am Leben zu bleiben.« Sie wies auf das halbleere Tablett. »Wir wissen noch nicht, wie wir das Zeug nennen sollen. Ich habe mit Werbung und Publicity nichts zu tun.«

»Ich denke, sie werden sie Aromawürfel oder so ähnlich nennen«, sagte Clarity.

»Ja, Liebes. ›Aromawürfel aus den Geschmacksminen von Long Tunnel.‹ Oder einen anderen Unsinn, um die allgemeine Nachfrage anzukurbeln.« Vandervort klang fast bitter. »Ganz gewiß werden sie den Stoff nicht unter der Bezeichnung ›Schleimbrocken‹ auf den Markt bringen.«

»Ich gehe davon aus, daß sich der Stoff zu vertretbaren Kosten herstellen läßt«, murmelte Flinx.

»Mehr als vertretbar. Es ist ein Abfallprodukt. Es lebt vom Zerfall anderer organischer Materie. Einige sind Parasiten. Diese«, - sie wies wiederum auf das Tablett -, »sind sehr leicht zu halten. Der Organismus verzehrt Abfall und Müll. Wie klingt das als praktische Nahrungsquelle? Ein neues Nahrungsmittel, das gut schmeckt, ansprechend aussieht und sogar gesundheitsfördernd ist. Und alles, was zu seiner Vermehrung notwendig ist, wäre ein wenig Feuchtigkeit und Abfall.«

»Wächst es hier auf natürliche Weise?« fragte Flinx.

»Nein, mein Lieber, aber etwas, das dem Natürlichen sehr ähnlich ist. Wir haben die Farben verstärkt, die Wachstumsrate gesteigert und den natürlichen Geschmack entscheidend verändert. Wir können schon in zwei Monaten in begrenztem Rahmen die Produktion aufnehmen. Nicht hier, denn hier wird immer unsere Forschungsstation sein. Zwei zusammenhängende, noch unberührte Höhlen im Westen werden gerade vorbereitet. Zuerst verkaufen wir den Stoff als Luxusartikel, ähnlich wie das Verdidionvlies. Dann gehen wir langsam zur Massenproduktion über.«

Was ein Name nicht alles ausmacht, dachte er, während er das Tablett mit den Schleimbrocken betrachtete. Im Commonwealth gab es Unmengen von Speisen, die keiner angerührt hätte, wenn er die Herkunft geahnt hätte. Und dafür war ja die Werbung da: um das Unpraktische und Unappetitliche unwiderstehlich zu machen. Wenn Vandervort es zugelassen hätte, dann hätte er bereitwillig das Tablett geleert.

»Clarity hat jemanden namens Maxim erwählt. Ist er hier auch als Geningenieur tätig?«

»Nein, Max ist unser Chef-Mykologe. Nicht alles, womit wir hier unten arbeiten, sind Pilze. In der unterirdischen Welt von Long Tunnel wimmelt es von erstaunlichen Lebensformen. Sie glauben gar nicht, welche Artenvielfalt sogar in der Dunkelheit gedeiht. Sehr viele Säugetiere oder nahe Verwandte von ihnen.«

»Ich habe die Schwimmer und die Photomorphen gesehen.«

Vandervort nickte zustimmend. »Es gibt ein paar Lebewesen, von denen die Taxonomen noch nicht wissen, wie sie zu klassifizieren sind. Entfernte Verwandte von Tiefseebewohnern auf der Erde und auf Cachalot. Ihre Vorfahren lebten neben den Schwefelschächten. Die Sulfide wurden von Bakterien, die in den Kiemen der Wesen gediehen, oder von speziellen Organen verdaut; Mikroben haben die Sulfidverbindungen aufgebrochen und die dabei freiwerdende Energie zur Herstellung von Kohlehydraten, Proteinen und Flüssigkeit benutzt.

Als die Meere hier auf Long Tunnel sich zurückzogen, den Kalkstein freilegten und die Höhlen schufen, starben diese Meeresbewohner nicht aus. Statt dessen wurden sie zu luftatmenden Landlebewesen und zur Nahrung für andere. Viele von ihnen besetzen unterirdisch die gleiche ökologische Nische, wie es die chlorophyllhaltigen Pflanzen an der Oberfläche tun. Wir erwarteten eine einfache Nahrungskette, und statt dessen sind wir auf etwas Wundervolles und Reiches gestoßen. Und als Krönung des Ganzen ist das gesamte Ökosystem geradezu ideal geeignet für Genmanipulationen und Genkonstruktionen.« Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück und schaute ihre Gäste sinnend an.

»Ich sorge dafür, daß Sie eine angemessene Belohnung erhalten, junger Mann.«

»Das ist nicht nötig.«

»Das ist es wirklich nicht«, erklärte Clarity ihrer Chefin. »Er ist recht wohlhabend. Er hat sogar sein eigenes Raumschiff.«

Vandervorts Gesichtsausdruck war undeutbar. Flinx bemerkte, daß ihre Augenbrauen ordentlich und erst vor kurzem gezupft und gefärbt worden waren, um zu dem übrigen Haar zu passen.

»Sein eigenes Schiff, sagst du? Ich bin beeindruckt. Aber wir müssen Ihnen etwas dafür geben, daß Sie uns Clarity wieder zurückgebracht haben, junger Mann. Ich glaube, wir könnten in Ihrem Schiff einen oder zwei Räume mit einem Teppich ausstatten. Sie würden sich wundern, zu welchem Preis wir die ersten Rollen Verdidionvlies auf Planeten wie der Erde und New Riviera verkaufen. Das wäre ein angemessenes Geschenk.«

»Danke, aber mir gefällt der Fußboden in meinem Schiff genau so, wie er ist. Wenn Sie jedoch auf einem Geschenk bestehen, dann hätte ich nichts dagegen, ein paar Tabletts voll mit dem dort zu bekommen.« Er wies mit einem Kopfnicken auf das bunte Pseudoplasmodium.

Vandervort kicherte, nahm das Tablett auf und schob es zurück in das Kühlabteil, das in einem Schrank hinter ihrem Schreibtisch verborgen war. »Wie ich schon erwähnte, befinden wir uns noch nicht im Produktionsstadium. Aber ich werde mit dem Labor reden und sehen, was ich tun kann. Ihnen etwas zu essen zu geben, scheint mir nicht gerade die richtige Belohnung zu sein, aber wenn Sie es so wollen und Sie daran Interesse haben, dann gibt es in unserem Sortiment noch zwei weitere eßbare Bioprodukte, die vielleicht Ihre Geschmackspapillen kitzeln könnten. Clarity soll sie Ihnen zeigen. Sie hat sowieso schon die meisten Sicherheitsvorschriften gebrochen.«

»Er hat mir das Leben gerettet!« erinnerte Clarity ihre Chefin.

»Reg dich nicht auf, Liebes! Ich habe nur einen Scherz gemacht.« Sie lächelte Flinx gewinnend an. Er spürte, daß sie eine absolute Könnerin war. Diese ›Nummer‹ der harmlosen alten Tante war hervorragend. Die Aura, die sie ausstrahlte, ließ indessen auf eine weitaus berechnendere und hartgesottenere Persönlichkeit schließen. Als Bewunderer und Konsument von Gefühlen zollte er einer gekonnten Darstellung immer Beifall. Sie nahm sein Lächeln als einen Ausdruck von Desinteresse.

»Sie sind doch nicht etwa an unseren kleinen industriellen Geheimnissen interessiert? Oder doch, junger Mann?«

»Ich bin Student, aber nicht in diesem Bereich. Jedes Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben. Ich interessiere mich für Wissen an sich und nicht, um es zu verkaufen.«

»Welch altmodische Einstellung! Nun, wenn Sie für Clarity gut genug sind, dann sind Sie es auch für mich.« Sie lächelte und nahm das Narcostäbchen aus dem Mund, das trotz allen Anscheins doch nicht an ihrer Unterlippe befestigt war.

»Ich überlasse es Clarity, die richtige Entscheidung zu treffen. Unter ihrer Führung können Sie sich gern unsere Anlagen ansehen. Das ist das mindeste, was wir tun können. Versprechen Sie mir nur, daß Sie keine geheimen Aufzeichnungsgeräte bei sich tragen. Wie lange wollen Sie hierbleiben?«

»Ich weiß noch nicht, wie lange ich bleibe, und ich trage nichts außer dem, was Sie sehen können«, erwiderte er und wußte sehr wohl, daß er wahrscheinlich längst elektronisch auf versteckte Geräte abgetastet worden war, kaum daß er seine Fähre verlassen hatte.

»Na schön. Genießen Sie Ihren Aufenthalt!« Sie zeigte ein völlig anderes Lächeln, als sie sich wieder an Clarity wandte. »Kannst du dem jungen Mann eine angemessene Unterbringungsmöglichkeit besorgen, meine Liebe?«

»Ich denke schon«, antwortete Clarity mit völlig ausdruckslosem Gesicht.

Vandervort erhob sich, während sie redete. Es war eine Geste, daß sie entlassen waren. »Halten Sie sich nur eines vor Augen, junger Mann, nämlich daß Clarity einen unkündbaren Langzeitvertrag mit uns hat und daß ich, nun, da sie wieder bei uns ist, nicht die Absicht habe, sie von dannen ziehen zu lassen, sei es nun freiwillig oder anders.«

»Ich habe nicht vor, meine Arbeit hier abzubrechen, Amee.«

»Das freut mich zu hören, meine Liebe. Ich weiß sehr wohl, daß es neben Reichtum und Ruhm noch andere Anreize gibt, um seine Zelte abzubrechen und auf die Reise zu gehen, und ich bin noch nicht so alt, daß ich mich nicht mehr daran erinnern kann, wie stark diese Reize sein können.«