12. Kapitel
Die Thranx bevorzugten weiche Nahrung, doch der Geologe hatte keine Schwierigkeiten, die Proteinwürfel zu verzehren, die den Hauptteil der eroberten Vorräte bildeten.
»Ich glaube, das muß jetzt reichen.« Flinx gab dem Geologen einen dritten Würfel und verschloß den Vorratssack, der die Würfel enthielt. »Wir müssen mit unseren Rationen sparsam umgehen, da wir nicht wissen, wie lange wir hier unten festhängen werden.«
»Ich bitte um Entschuldigung.« Sowelmanu gab einen Laut des Bedauerns zweiten Grades von sich. »Ich glaube zu verhungern.«
»Sie sind auf einem anderen Weg bis hierher gelangt.« Clarity versuchte die Erregung zu zügeln, die sie verspürte. »Meinen Sie, Sie können auf diesem Weg zurückfinden? Die Angreifer haben alle unsere Korridore und Vorratslager gesprengt und uns ausgesperrt.«
»Ich bin lange und schnell gerannt, und das in totaler Dunkelheit. Aber ich habe längere Zeit in der Hauptlagerhöhle unterhalb des Raumhafens verbracht. Meine Gruppe hatte nur begrenzte Mittel zur Verfügung, daher mußten wir unsere schwerere Ausrüstung dort unten lagern. Falls diese Leute nicht vorhaben, den gesamten Außenposten zu vernichten, dann ist dieser Bereich zu ausgedehnt und schwierig zu zerstören. Es wäre außerdem ein sehr gutes Versteck.«
»Meinen Sie, dieser Bereich bleibt unbehelligt?«
»Er befindet sich direkt unter den Hafeneinrichtungen: Landekontrolle, Sicherheitsdienst, alles. Wenn überhaupt ein Bereich gegen diese Fanatiker standhalten kann, dann ist es dieser Sektor. Wenn die Sicherheitskräfte die Kontrolle behalten können, dann werden sie dem ersten Schiff, das in einen Parkorbit geht, eine Nachricht schicken. Daher müssen diese Leute schnell handeln, ganz gleich wie ihre Ziele aussehen mögen.«
»Es sei denn, das Schiff, in dem sie herkamen, ist genauso stark bewaffnet«, meinte Clarity düster.
»Zu viele Unwägbarkeiten. Beschäftigen wir uns lieber mit unserer augenblicklichen Situation hier unten und nicht mit möglichen Problemen außerhalb dieses Planeten. Zuerst einmal müssen wir einen Weg zurück in die Zivilisation finden. Zweitens sollten wir beten, daß von der Zivilisation überhaupt noch etwas übrig ist.«
»Ich bin für Vorschläge offen.« Flinx nickte nach rechts. »Wir waren im großen und ganzen in dieser Richtung unterwegs, als Pip Sie fand.« Er zeigte auf sein multifunktionales Chronometer. »Ich habe einen Kompaß, und Clarity hat mich über die magnetischen Verhältnisse dieser Welt aufgeklärt. Demnach sind wir nicht allzuweit vom Kurs abgekommen.«
»Hervorragend. Da Sie ein solches Instrument bei sich haben, müssen Sie ja fast so etwas wie ein Hellseher sein.«
Flinx erschrak, bis er begriff, daß der Geologe keine Ahnung von seinen speziellen Fähigkeiten und noch viel weniger von seinem einzigartigen persönlichen Werdegang haben konnte. Sowelmanu hatte nichts anderes getan, als ihm ein Kompliment zu machen, wie es bei den Thranx üblich war.
»Wir können diesem kleinen Bach stromauf folgen«, murmelte er.
»Ich sehe keinen Grund zu widersprechen.« Sowelmanu überprüfte seine Beine ein letztes Mal, wobei der Kopf sich beängstigend dicht über dem Boden befand. »Sehr unangenehm.«
»Lieber etwas unfein als tot«, meinte Clarity aufmunternd zu ihm.
»Zwei intelligente Menschen. Ich habe wirklich Glück. Einen Moment noch!« Er reichte mit beiden Echthänden um seinen Körper herum und löste die Gurte, die das Doppellichtgerät an seinem oberen Thorax fixierten. »Ich habe wohl keine Aussicht, diese Dinger hier unten aufladen zu können. Deshalb erspare ich mir für den weiteren Weg am besten das überflüssige Gewicht.«
»Was ist in dem Tornister?« erkundigte sich Flinx, während sie bachaufwärts aufbrachen. Nachdem er sich den Nadler wieder umgehängt hatte, ließ er sich von Clarity die Lichtröhre geben, und Clarity war froh, die Verantwortung des Tragens los zu sein.
»Bohrgerät, Probensammler, eine chemische Testvorrichtung für grobe Untersuchungen, Behälter für Gesteinsproben - das übliche Zeug, das ich normalerweise bei meinen Ausflügen bei mir habe. Die Proben habe ich einfach weggeworfen, als ich losrannte. Ein mit Steinen beschwerter Thorax ist während der Flucht ein großes Hindernis.«
»Angenommen, einige davon sind elektrisch betriebene Werkzeuge. Warum können Sie nicht einfach deren Batterien gegen die der Lampen austauschen?«
»Unterschiedliche Spannungen, andere Steckverbindungen und keine Möglichkeit, sie anzugleichen.« Der Geologe pfiff einen Ton der Verneinung ersten Grades, begleitet von allgemeiner Gewißheit.
»Das ist schade«, sagte Clarity.
»Ja, zu schade.«
Sowelmanu schien die Dunkelheit, die von allen Seiten auf sie eindrang, nichts auszumachen, aber das war eigentlich natürlich. Die Thranx waren in langen Tunneln unter der Oberfläche Hivehoms aufgewachsen und herangereift. Sie zogen es vor, sich unter Tage aufzuhalten, wenngleich nicht unbedingt in der Dunkelheit. Mit der Technologie war das Bedürfnis nach Licht gekommen, als sie dazu übergegangen waren, sich mehr auf ihre Augen zu verlassen und andere Sinne zu vernachlässigen. Es war durchaus beruhigend zu wissen, daß Sowelmanu immer noch fähig wäre, seine Umgebung deutlich genug zu erkennen, um sie zu führen, wenn ihre Leuchtröhre sich aufgebraucht hätte bis auf den letzten Lichtrest von einigen wenigen Kerzen.
Ehe das geschähe, so schwor sich Flinx, hätten sie längst den riesigen Lagerraum unter dem Hafen erreicht und würden sich nach oben durcharbeiten, um zu den Verteidigern zu gelangen - unter der Voraussetzung, daß sie sich gegen die angreifenden Fanatiker halten konnten, und gesetzt den Fall, sie hatten auf ihrem Weg keine Begegnung mit irgendwelchen Killerpilzen oder Pseudo-Vexfüßen.
Dank Sowelmanus hervorragender Nachtsicht kamen sie schneller voran als je zuvor. Er konnte beim Licht der Röhre sehr viel weiter sehen als seine beiden Retter. Dies ersparte es ihnen, sich in einigen Sackgassen zu verirren, und sorgte dafür, daß sie sofort die Gänge benutzten, die den größten Erfolg versprachen.
Aber der Geologe konnte nur weiter sehen; er konnte nicht erkennen, was vor ihnen lag. Sie mußten immer noch im Durchschnitt zwei Tunnel wieder verlassen, bevor sie einen fanden, der weiterführte.
Zwei solche Tage, und die Mutlosigkeit breitete sich genauso aus wie zuvor.
»Wenn wir ein bißchen maßhalten, dann reichen unsere Nahrungsvorräte noch für eine Woche«, informierte Flinx seine Gefährten.
»Das Essen ist nicht so schlimm. Was ist mit Licht?« Claritys Stimme klang gleichgültig und monoton. Das Klettern und Wandern hatte sie erschöpft, und sie war völlig desorientiert.
Desgleichen Flinx. Wenn sie nur nahe genug an die Basis herankämen, dann könnte er eine emotionale Spur aufnehmen. Zumindest würden sie damit eine Marschrichtung erhalten. Aber tagelanges angestrengtes Lauschen und Wittern, um vielleicht ein einziges fremdes Gefühl aufzuspüren, hatte keinen Erfolg gehabt. Er wußte, daß sein Talent durchaus funktionierte, da er sehr deutlich Claritys Verzweiflung und Sowelmanus typische stoische Thranxruhe wahrnehmen konnte. Darüber hinaus herrschte ein emotionales Nichts, und da war nur die kalte und düstere Leere der Höhlen. Das bedeutete entweder, daß seine Wahrnehmungsfähigkeit auf einem sehr geringen Intensitätsniveau arbeitete oder daß sie vom Hafen weiter entfernt waren, als sie glaubten. Und dabei bedurfte es nur einer einzigen feststehenden magnetischen Anomalie, um seinen Kompaß nutzlos werden zu lassen.
Waren sie etwa bei ihrem Versuch, die große Lagerhalle unter dem Hafen zu finden, zu tief geraten? Der Geologe glaubte es nicht, aber ganz sicher waren sie sich auch nicht. Flinx hatte nicht vor, mit ihm darüber zu diskutieren. Unter Tage war es immer besser, dem Ortssinn eines Thranx zu vertrauen, auch wenn er unter den Nachwirkungen einer schweren Verletzung litt, als dem gesündesten Menschen.
»Ich denke, wir haben sie jetzt weit genug umgangen«, erklärte er ihnen und studierte die dunklen Schatten und Konturen der Felsformationen um sie herum. »Nun müssen wir uns strikt nach Westen orientieren und praktisch wieder zurückgehen.«
»Wie können Sie so sicher sein, daß Sie einen Weg zum Lagerkomplex finden? Sicherlich hatte der Unternehmer, als die Höhlen ausgebaut wurden, alle Eingänge verschließen lassen, durch die ein größeres Tier hätte hereinschlüpfen können.«
»Vielleicht haben sie welche übersehen.« Sowelmanu widersprach Flinx’ Argument nicht. »Bedenken Sie, daß wir nur eine Öffnung finden müssen. Wenn wir eine Stelle finden, die nur durch Hitze verschlossen wurde, dann können wir sie vielleicht durchbrechen, und wir werden wenigstens wissen, daß wir unser Zielobjekt erreicht haben.« Er wies mit einem Nicken des Kopfes auf den Nadler, den Flinx trug.
»Die Waffe, die Sie unseren Angreifern abgenommen haben, durchdringt jede Wand aus Sprühplastik.«
»Wenn noch genug Ladung da ist und wenn wir sie nicht einsetzen müssen, um uns selbst zu schützen.« Er warf einen Blick auf sein Chronometer. »Na schön. Wir gehen jetzt in diese Richtung.«
»Nein.« Sowelmanu gab einige verneinende Klicklaute von sich. »Das ist eine Sackgasse. Die müssen wir umgehen - dort entlang.«
Flinx kniff die Augen zusammen und blinzelte, aber er sah nur undurchdringliche Finsternis. Er hob die Schultern und folgte dem Geologen.
»Es ist wirklich eine Schande«, sagte Sowelmanu am folgenden Tag.
»Was denn?« wollte Clarity wissen.
»Als Geologe müßte ich mir vorkommen wie in einem Paradies. Wir haben in den letzten Tagen einmalige Formationen und Gesteinsarten gesehen, dennoch verspüre ich nicht den geringsten Drang, irgendwelche Notizen zu machen.«
»Wenn unser Abenteuer vorbei und vergessen ist, dann können Sie ja zurückkommen und sich nach Herzenslust austoben«, meinte Flinx. »Ich für meinen Teil bewundere Sie, daß Sie in einer Situation wie dieser überhaupt an Arbeit denken können.«
»Ein guter Wissenschaftler«, erwiderte der Thranx in einem Ton der totalen Sicherheit, gepaart mit einer Einsicht zweiten Grades, »arbeitet immer, ganz gleich wie seine persönlichen Umstände aussehen mögen.«
»Das ist großartig und sehr philosophisch«, meinte Clarity, »aber in meinem Fall kann ich …«
Ihr Satz endete in einem Schrei. Sie war rechts von Flinx gegangen. Er warf sich zur Seite, als das Loch unter ihr aufklaffte. Sowelmanu krabbelte auf seinen fünf Beinen in Sicherheit.
Die beiden lehnten sich vorsichtig über die Kante der Öffnung, ehe der Staub sich gelegt hatte.
»Clarity!« Er hielt sich bereit für einen schnellen Rückzug. Der Stein unter seinen Füßen fühlte sich fest an, aber das war auch bei dem Boden der Fall gewesen, der unter seiner Gefährtin nachgegeben hatte. Er hatte ihre Angst gespürt, als sie abgestürzt war. Die Tatsache, daß er sie immer noch fühlte, war ein hinreichender Beweis dafür, daß sie tief unten noch am Leben und bei Bewußtsein war.
Eine kleine geflügelte Gestalt gesellte sich zu ihnen. Scrap war mit Kalksteinstaub bedeckt, aber ansonsten völlig unversehrt. Flinx hielt die Lichtröhre in die Öffnung.
»Clarity, kannst du uns hören?«
Ihre Antwort war schwach, aber zu verstehen, voller Angst und Verwirrung. Der heiße Eindruck von Schmerz fehlte.
»Sie scheint nicht ernsthaft verletzt zu sein«, stellte Sowelmanu fest. »Sehen Sie, links von Ihnen!«
Flinx bewegte die Röhre. Der Schacht, in den Clarity gestürzt war, wies steile und glatte Wände auf. Wasser sickerte aus einem Seitengang und benetzte den Grund des Tunnels. Es waren keine Stalagmiten und Stalaktiten zu sehen.
»Eine Regenrinne«, erklärte der Geologe überzeugt. »Es gibt andere Namen dafür, aber so nennt man diese Formation normalerweise. Sie befördert das überflüssige Wasser von den oberen in die unteren Ebenen. Deshalb gibt es keine anderen Gebilde in dem Tunnel. Das schnell strömende Wasser hat ihr Wachstum verhindert.«
»Sehr interessant, aber was tun wir jetzt? Sämtliche Vorräte haben wir hier oben bei uns.«
»Wir könnten ihr einige Lebensmittel hier lassen und mit Hilfe zurückkehren. Ich bin sicher, daß sich Wasser in ihrer Reichweite befindet.«
»Es ist möglich, daß wir diese Stelle nicht wiederfinden, ganz gleich, wie sorgfältig wir sie markieren. Außerdem hat sie kein Licht. Sie hat Angst vor der Dunkelheit, Sowel. Ich weiß, daß es einem Thranx schwerfällt, das zu verstehen.«
»Menschen sind für eine Vielzahl von unverständlichen Phobien anfällig. Ich habe Verständnis dafür, aber was können wir sonst tun?« Seine Oberkiefer klickten mißbilligend. »Ich glaube, wir könnten auch zu ihr hinunterrutschen und dann gemeinsam versuchen, wieder auf diese Ebene zurückzukehren. Es müßte eine Reihe von Durchgängen geben, in denen wir hochklettern könnten. Aber mir gefällt diese Idee nicht.«
»Mir auch nicht. Sie können hierbleiben, wenn Sie wollen.«
Flinx warf Pip in die Luft. Dann setzte er sich auf die Kante der Regenrinne und ließ die Beine in den Schacht baumeln. Scrap hielt sich dicht bei seiner Mutter. Die Minidrachs schauten zu, wie Pips Meister tief einatmete, sich abstieß und schützend die Lichtröhre an Bauch und Brust drückte.
Die Talfahrt erfolgte wild, schnell und erfreulich kurz und endete in einem seichten Tümpel voll eisigen Wassers. Ganz in der Nähe ergoß sich ein Wasserfall in einen Teich, welcher die Quelle eines schnell dahinströmenden unterirdischen Flusses darstellte.
Clarity stieß bei seiner unerwarteten Ankunft einen Schrei aus, dann entspannte sie sich dankbar, als sie den Eindringling erkannte.
»Es tut mir leid! Es tut mir leid! Es tut mir leid!« Sie warf sich in seine Arme, und er mußte mit der Röhre herumjonglieren, damit sie nicht herunterfiel. Sie schluchzte, und ihre Kleidung war bei dem schnellen Absturz durch das Regenrohr arg in Mitleidenschaft gezogen worden. Er rief sich ins Gedächtnis, daß sie in totaler Dunkelheit durch den vom Wasser geglätteten Schacht gestürzt war, ohne zu wissen, wie und wann er endete. Die totale Dunkelheit hatte ihre Panik und Angst noch verstärkt.
»Es ist schon in Ordnung«, murmelte er und versuchte sie zu beruhigen. »Es ist alles gut.«
Ein zweites Platschen ließ ihn zusammenzucken, als er erneut mit eisigem Wasser bespritzt wurde. Sie wandten sich um und sahen, wie Sowelmanu sich langsam erhob. Der Geologe ließ seine Antennen hin und her pendeln, sobald er erkannte, daß der Wasserspiegel kaum bis zur Unterseite seines Bauchs reichte.
»Sind Sie intakt, Clarity Held?«
»Ja, danke.« Sie ließ Flinx los und stieg aus dem Tümpel, als ihr Entsetzen durch Scham abgelöst wurde. »Ich wußte nur nicht, was am Ende dieses Absturzes auf mich wartete oder ob der Sturz überhaupt ein Ende haben würde.«
»Sie brauchen sich wegen Ihrer Angst und Sorge nicht zu entschuldigen. Meine Reaktionen wären zweifellos ähnlich gewesen, wenn ich derjenige gewesen wäre, der zuerst durch den Schacht stürzte.«
»Nein, das wäre anders gewesen.« Sie brachte ein krampfhaftes Lächeln zustande. »Sie hätten wahrscheinlich auf dem Weg nach unten weiterhin Ihre Studien getrieben.«
»Nun, vielleicht ein wenig.« Der Geologe stieß das Pfeifen eines mittelstarken Gelächters aus. »In jedem Falle bin ich es, der sich entschuldigen sollte, daß ich die Schwachstelle im Boden nicht entdeckte, die das Regenrohr abdeckte.«
»Die Stelle sah genauso aus wie jedes andere Stück des Ganges«, tröstete Flinx ihn. »Clarity braucht sich nicht zu entschuldigen, und Sie brauchen nicht irgendwelche Schuld auf sich zu nehmen. Vielmehr müssen wir jetzt einen Weg zurück nach oben finden.«
»Das sollte eigentlich möglich sein. Wir kommen wahrscheinlich weiter im Westen oder im Norden heraus, als wir ursprünglich waren. Ich muß wohl nicht hinzufügen, daß wir ab jetzt etwas sorgfältiger darauf achten sollten, wohin wir unsere Füße setzen, damit wir nicht auf eine Fortsetzung dieser Entwässerungsrohre stoßen. Sie treten in bestimmten Gegenden häufig auf.« Er wies auf das Ende des Tunnels, der sie in den Tümpel hatte stürzen lassen. Wasser tropfte von der Travertinlippe herunter. »Dieses Rohr war noch kurz im Vergleich zu einigen, die bereits vermessen wurden. Wir wollen doch sicher nicht auf einer Ebene landen, von der es sich besonders schwierig aufsteigen läßt.«
Sie setzten ihren Marsch fort und ließen diesmal Sowelmanu als ersten gehen. Es war nicht nur wahrscheinlicher, daß er rechtzeitig mögliche Regenrohre aufspürte, aber mit seinen fünf Beinen und zwei Echthänden waren seine Chancen viel größer, einen Absturz zu verhindern.
So interessiert war er am Vordringen des Geologen bei ihrem Aufstieg zur früheren Ebene, daß Flinx es unterließ, auf seinen eigenen Weg zu achten. Sie verließen eine besonders feuchte Höhle, und der gesamte Boden war rutschig, nicht nur vom Wasser, sondern auch weil er mit einer dicken Schicht moosartiger Gewächse, Schimmel und Pilzen bedeckt war. Es gab auch Sulfidfresser, deren Ranken im Wasser trieben.
Nachdem sie den Angriff des Pseudo-Vexfußes, des Saugwurzelpilzes und den Sturz durch das Regenrohr überlebt hatten, war es schon beinahe eine Ironie des Schicksals, daß Flinx über einen trockenen glatten Gesteinsbrocken stolperte. Er spürte, wie sein Knöchel sich verdrehte, kämpfte um sein Gleichgewicht, kippte nach hinten und wurde mit einem lauten Knacks belohnt. Eine entsetzliche Erkenntnis erfüllte ihn schlagartig.
Clarity kroch zur zerbrochenen Lichtröhre und umklammerte sie, als könnte sie den Riß durch die reine Kraft ihres Willens schließen.
»Nehmt Klebeband, Hautspray, irgendwas!«
»Die Sprühsubstanz, die ihr bei mir benutzt habt«, murmelte Sowelmanu. Er und Flinx wühlten in den Vorräten herum.
Flinx fand schließlich den schlanken Zylinder und entleerte seinen Inhalt auf dem Riß in der Plastikhülle. Clarity und Sowelmanu versuchten die Röhre zuzuhalten, während das flüssige Licht ihnen zwischen den Fingern hindurchsickerte.
Der Sprühverschluß funktionierte auf menschlichem Fleisch hervorragend und auch beim Chitin der Thranx, doch er wollte nicht auf der durchsichtigen PlexMix-Röhre haften bleiben. Trotz ihrer verzweifelten Bemühungen tröpfelte das chemische Licht aus der Röhre heraus. Es ging nicht nur darum, ein Loch zu flicken. Der Riß verlief über die halbe Länge des Leuchtkörpers.
Schließlich setzte Flinx sich auf und lehnte sich an einen glatten Brocken Flußstein. »Es ist sowieso egal«, murmelte er düster. »Sobald das Zeug einmal mit Luft in Berührung gekommen ist, fängt es an, sich zu zersetzen.«
»Ja, das stimmt.« Clarity rutschte über den Boden, um sich neben ihn zu setzen, wobei sie die Knie an die Brust zog und mit beiden Armen umschlang.
Danach sagte keiner mehr etwas. Das Ausmaß der Katastrophe wurde ihnen nach und nach klar. Sowelmanu verfolgte ebenso wie die Menschen, wie die leuchtende Flüssigkeit über den Boden lief und ein schmales helles Rinnsal bildete. Es fing bereits an zu verblassen, als die Chemikalien aufgrund des Kontaktes mit Sauerstoff zerfielen.
Clarity ließ ihre Beine los, um sich bei Flinx anzulehnen. »Was immer passieren mag: Wenn das Licht ausgeht, dann laß mich nicht los. Ich könnte es nicht ertragen, völlig ohne Kontakt zu einem menschlichen Wesen zu sein.«
Er gab keine Antwort. Dies wäre schon ein seltsamer Ort, um zu sterben, dachte er. Es gab ausreichend Luft, Nahrung und Wasser, aber keinen Weg nach draußen.
Ihre Suche nach einem Weg würde nur zu einem schnelleren Tod führen, jedenfalls nicht in die Freiheit. Es gab keine Möglichkeit, sich in der Dunkelheit über eine bestimmte Route klarzuwerden. Sie waren in eine Region von Long Tunnel gestolpert und gestürzt, die die Kartographen von Long Tunnel noch nicht vermessen hatten. Es gab keine Orientierungsposten, keine markanten Stellen, nichts, was ihnen Hinweise über eine Richtung geben konnte.
Auf jeden Fall würden sie nicht durch die Berührung eines Vexfußes oder eines fleischfressenden Pilzes sterben. Er ertappte sich dabei, wie er kühl mit dem Nadler herumspielte und sich fragte, ob wohl noch genug Ladung vorhanden war, um damit die Aufgabe zu erledigen, die er im Sinn hatte.
Clarity atmete zischend ein, als der letzte Rest der leuchtenden Flüssigkeit, die sie geführt hatte, in der totalen Dunkelheit versickerte. Es war dunkler, so überlegte Flinx, als die Innenseite eines Augenlides, wenn es im Schlaf fest geschlossen war, dunkler als Träume, dunkler als jeder Raum um eine rotierende Welt.
Still war es nicht. Ständig hörte man das Gurgeln von fließendem Wasser. Als das Licht schließlich versiegt war, tauchten photosensitive Wesen aus ihren Verstekken auf, und die Höhle war erfüllt mit seltsamen Summlauten und Klickgeräuschen und einem leisen Miauen, als die Höhlenbewohner sich unsicher miteinander verständigten.
»Haben wir keine andere Beleuchtungsquelle?« flüsterte Sowelmanu.
»Keine.« In der pechschwarzen Dunkelheit klang ihr Flüstern wie eine normal laute Unterhaltung. Er spürte, wie Clarity sich an ihn preßte, und war plötzlich im stillen dankbar für ihre Anwesenheit und Wärme, selbst wenn diese Nähe mehr durch Angst als durch Zuneigung hergestellt worden war.
»Ich frage mich, obgleich es nun zu spät ist, ob wir die Energiezelle in Ihrem Nadler soweit hätten modifizieren können, daß wir sie in meine Schulterlampen hätten einsetzen können.«
»Das bezweifle ich. Waffenenergiezellen unterscheiden sich erheblich von denen in allgemein käuflichen Batterien. Wenn es überhaupt funktioniert hätte, dann sowieso nur für kurze Zeit. Das heißt, wenn der ganze Apparat nicht schon bei der ersten Berührung in die Luft geflogen wäre.«
»Aha, ich verstehe. Verrückterweise fühle ich mich jetzt etwas besser. Es besteht immer noch die Chance, daß unsere Sicherheitseinheit die Eindringlinge vertrieben hat und daß unsere Abwesenheit längst bemerkt wurde. Es kann immer noch dazu kommen, daß ein Suchtrupp uns findet.«
»Zuerst müßten sie sich überzeugen, daß wir uns nicht unter den Toten befinden«, erinnerte Flinx ihn. »Dann müssen sie zu der Annahme gelangen, daß einige von uns außerhalb der zerstörten Bereiche im unbeleuchteten Teil des Höhlensystems festsitzen. Und dann müssen sie uns finden. Es gibt zu viele vage Annahmen, und es dauert viel zu lange. Sie werden sicherlich dringlichere Angelegenheiten zu regeln haben.«
»Das hatte ich vergessen«, sagte der niedergeschlagene Geologe. »Die ganze willkürliche Vernichtung …«
Flinx blinzelte in der Dunkelheit. Sein Geist ruhte nie, außer wenn er schlief, und auch dann nicht immer. »Was ist denn mit natürlichen Lichtträgern wie den Photomorphen? Könnten wir nicht mit denen irgend etwas anfangen? Versuchen, einen Photomorph zu fangen und festzuhalten oder etwas ähnliches? Selbst ein geringes unregelmäßiges Licht wäre besser als gar nichts.«
»Ich denke, wir können es versuchen.« Clarity klang nicht sehr begeistert. »Die Photomorphen geben mehr Licht ab als jede andere Lebensform, die wir untersucht haben, und das ist nichts Besonderes, außer in kurzen Schüben. Es gibt da auch etwas wie einen langen Tausendfüßler, der über ein blaues Leuchten verfügt, das sich über die gesamte Länge seines Körpers erstreckt.«
»Vielleicht können wir mehrere dieser Lebewesen einfangen, sie zusammenbinden und sie schließlich dazu benutzen, wenigstens den Boden zu erkennen. Vergeßt nicht, daß ich auch mit schwachem Licht sehr viel mehr ausrichten kann als ihr«, sagte Sowelmanu voller Hoffnung zu ihr. »Wenn Sie bei deren Licht einige Zentimeter weit sehen, dann kann ich wahrscheinlich bei der gleichen Anzahl von Licht doppelt so weit sehen. Jedenfalls weit genug, um einen sanft ansteigenden Weg nach oben zu finden, und vielleicht gefährliche Abgründe zu vermeiden.«
»Dann laßt uns die Augen offenhalten!« sagte Flinx und grinste über seinen bitteren Scherz, »und nach jeglichem Wesen suchen, das sich bewegt und irgendeine Art von Licht produziert.«
Während sie reglos dasaßen, lauschten und Ausschau hielten, gewöhnten ihre Augen sich an die Dunkelheit. Anderenfalls hätten sie niemals die Aussender schwachen Lichts gesehen, die nach und nach erschienen. Unglücklicherweise waren es fast ausschließlich Gleiter, fliegende Säugetiere, die in den größeren Höhlen lebten. Es war unmöglich, sie zu fangen, aber sie gaben dem verirrten Trio Anhaltspunkte, nach denen es sich orientieren konnte. Die einen Viertelmeter langen Flieger segelten zwischen Stalaktiten hin und her und stießen von der Decke herab.
Rosafarbene dreieckige Muster blitzten unter ihren Flügeln auf und dienten ihnen untereinander als Identifikationsmerkmale.
Es wurde fast laut in den Höhlen. Weitere Tiere erschienen nach und nach.
»Sie haben sich vor unserem Licht, unseren Stimmen und Schritten verkrochen«, flüsterte Clarity. »Nun erobern sie sich die Dunkelheit zurück. Sie waren die ganze Zeit in unserer Nähe, haben uns beobachtet und abgewartet.«
Während sie das sagte, stürzte einer der Gleiter ab wie ein Stein. Er schlug auf dem Boden liegend krampfhaft mit den Flügeln, wobei die Lichtzeichen auf seinen Flügeln hell leuchteten. Dann erhob er sich, ohne die Flügel zu bewegen, und kam direkt auf sie zu.
Clarity und Sowelmanu waren ratlos und verwirrt, doch Flinx lächelte nur. »Pip hat gejagt. Ganz gleich, was mit uns geschieht, die Minidrachs werden nicht verhungern. Pip sieht zwar auch nicht viel besser als wir, doch sie kann die Lichtquellen verfolgen.«
Sie hörten, wie die beiden fliegenden Schlangen sich auf den toten Gleiter stürzten. Beißen und Schlucken waren ein ungewöhnlicher Vorgang für Lebewesen, die normalerweise ihre Nahrung in einem Stück verschlangen, doch die Minidrachs waren eigentlich keine richtigen Schlangen. Sie hatten kleine Zähne, die sie zu einer Art des Kauens benutzten. Nahrung, die zu groß war, war immer noch besser als überhaupt keine Nahrung.
Flinx fühlte sich viel besser, da er nun wußte, daß sein lebenslanges Schoßtier ihn so lange überleben würde, wie es Gleiter gab, die es jagen konnte. »Wenn es irgendwo Licht oder ein zu Gefühlen fähiges Wesen gibt, dann führt Pip uns. Wir sind hier nicht völlig zur Untätigkeit verdammt. Manchmal vergesse ich, daß Pip mehr sein kann als nur eine Begleiterin.« Plötzlich erstarrte er.
Clarity spürte, wie er sich anspannte. »Was ist los? Stimmt etwas nicht?«
»Hier ist noch irgend etwas anderes. Keine Gleiter oder irgendwelche kleinen Wesen. Etwas viel Größeres.«
»Ein Vexfuß«, hauchte Clarity ängstlich. Er hätte keine Schwierigkeiten, sie in der Dunkelheit zu finden.
»Nein. Etwas anderes. Kein Vexfuß. Nichts annähernd Ähnliches.«
»Ich kann überhaupt nichts hören.«
»Ich auch nicht«, meldete Sowelmanu, der die großen Augen anstrengte. »Woher wissen Sie, mein junger menschlicher Freund, daß dort draußen überhaupt irgend etwas lauert?«
Flinx zögerte, dann reagierte er mit einem mentalen Achselzucken. Sie würden wahrscheinlich sowieso gemeinsam sterben, was machte es da aus, wenn sie die Wahrheit über ihn erfuhren?
»Weil ich ihre Anwesenheit spüren kann.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Clarity. »Es ist nichts da, was man fühlen könnte.«
»Ich meine auch nicht mit den Händen.«
»Es gibt etwas, das Sie uns nicht verraten wollen, junger Mann.«
Flinx drehte sich in der Dunkelheit in die Richtung der Stimme des Thranx. »Mein Schoßtier ist ein alaspinischer Minidrach. Diese Wesen sind auf emotionaler Ebene telepathisch begabt, und sie verbinden sich gelegentlich auf diese Weise mit menschlichen Wesen. Aber in meinem Fall ist das nicht nur einseitig. Sehen Sie, ich bin selbst telepathisch begabt.«
Clarity zuckte zusammen, aber die Dunkelheit hielt sie davon ab, sich ihm zu entziehen. »Heißt das, du kannst die Gefühle anderer erkennen und deuten wie die fliegenden Schlangen?«
Er nickte, dann wurde ihm bewußt, daß sie diese Reaktion ja nicht sehen konnte, und er antwortete laut.
»Demnach weißt du, was ich - empfunden habe, seit wir zusammen sind«, stellte sie fest.
»Nicht die ganze Zeit über. Es ist eine unregelmäßig auftretende Fähigkeit, sie kommt und geht ohne besonderen Grund oder besondere Ursache, und es klappt immer dann am besten, wenn Pip in der Nähe ist. Ich glaube, sie funktioniert als eine Art Verstärker oder Sammellinse für mich.«
»Ich habe schon von den empathischen Telepathen von Alaspin gehört.« Er spürte, wie Sowelmanu in der Dunkelheit intensiv über das Gehörte nachdachte. »Aber ich habe noch nie davon gehört, daß sie ein solches Talent bei einem anderen Wesen steuern und verstärken können.«
»Das liegt vermutlich daran, weil es, soweit ich weiß, niemanden außer mir gibt, der so ist wie ich«, erklärte Flinx widerstrebend. »Es tut mir leid, Clarity, ich dachte, es sei besser, das geheimzuhalten.« Er zögerte. »Ich sagte dir ja, ich sei nicht normal. Jetzt weißt du, warum.«
»Ist schon gut«, murmelte sie mit zaghafter Stimme. »Wenn du wirklich weißt, was ich empfinde, dann wirst du auch wissen, daß es in Ordnung ist.«
»Absolut faszinierend«, murmelte Sowelmanu. »Bislang wurde Telepathie lediglich als Material für Aberglauben und Erfindung betrachtet.«
»Es ist keine richtige Telepathie«, korrigierte Flinx ihn. »Sie funktioniert nur auf der emotionalen Ebene.«
»Du liest Gefühle«, erklärte Clarity. »Kannst du die Anwesenheit eines Vexfußes oder Photomorphen wahrnehmen?«
»Nein, ich werde nur durch intelligente Wesenheiten angeregt.«
»Dann hält Ihr Talent Sie im Dunkeln zum Narren«, teilte Sowelmanu ihm im Brustton der Überzeugung mit. »Es gibt keine Intelligenzen auf Long Tunnel.«
»Nun, irgend etwas ist dort draußen, und es ist emotional viel raffinierter konstruiert als eine fliegende Schlange.«
»Das müßten wir eigentlich wissen.« Clarity sagte es voller Überzeugung. »Es gibt hier keine vernunftbegabten Wesen. Intelligenzmäßig ist das hier eine leere Welt.«
Flinx hatte Schwierigkeiten, gleichzeitig zu reden und zu suchen. »Was wäre, wenn sie nicht wollen, daß man ihre Existenz zur Kenntnis nimmt? Du hast ja erklärt, daß dieser Außenposten sehr klein ist und daß die Erkundung sich bisher auf die Gegend in unmittelbarer Nähe des Raumhafens beschränkte.«
»Es gibt keine vernunftbegabte Rasse, die in totaler Dunkelheit lebt.«
»Ich bin sicher, sie finden deine Betrachtungsweise sehr interessant, Clarity.«
»Wie sehen Ihre Vernunftwesen denn aus?« fragte der Geologe skeptisch.
»Ich habe keine Ahnung. Ich kann sie nicht sehen. Es gibt keine geistigen Bilder, sondern nur Empfindungen.«
»Und was fühlen Sie?«
»Neugier. Friedfertigkeit. Eine ganz besondere Intensität, die ich noch nie zuvor empfunden habe. Viel wichtiger ist das, was ich nicht fühle.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Clarity.
»Keinen Zorn, keinen Haß, keine Feindseligkeit.«
»Das sind ja viele Informationen lediglich durch das Wahrnehmen weniger Empfindungen.«
»Ich habe schließlich jahrelang geübt. Gefühle müssen nicht ungeordnet oder undifferenziert sein. Die ganz feinen Empfindungen können genauso aufschlußreich sein. Und davon gibt es in unserer Umgebung mittlerweile sehr viele.«
»Vielleicht sollten wir versuchen, auf sie zuzugehen«, schlug Sowelmanu vor.
»Nein, keine plötzlichen Bewegungen oder Gesten! Sie sind neugierig. Lassen wir sie diesen Zustand auskosten.«
So saßen sie schweigend in der Dunkelheit, zwei Menschen und ein Thranx. Seine Gefährten nahmen an, daß die Kreaturen, von denen Flinx gesprochen hatte, nur wenige Zentimeter von ihnen entfernt waren.
Clarity lauschte auf ein Geräusch: Atmen, Füße oder Klauen, die über Gestein kratzten. Irgend etwas. Die totale Stille war nicht überraschend, da die Fähigkeit, sich in dieser unterirdischen Welt lautlos zu bewegen, eine notwendige Voraussetzung für das Überleben war. Nur Flinx wußte, daß sie sich bewegten, Erkundungen einholten, denn nur er konnte anhand einzelner emotionaler Konzentrationen spüren, wie sie sich ständig umherbewegten. Wenn sie miteinander Kontakt hatten, dann nur über emotionale Schübe und Schwankungen und nicht durch Worte.
»Sie sind jetzt sehr nahe.«
Clarity stieß einen erstickten Schrei aus. »Etwas hat mich berührt.«
»Bleib ruhig. Ich habe doch gesagt, sie sind nicht feindselig.«
»Darauf haben wir nur Ihr Wort«, murmelte Sowelmanu. Dann gab er ein leises Klicken von sich, als auch er berührt wurde.
Der schnelle zaghafte Kontakt verwandelte sich in Streicheln, sorgfältiges Betasten, das der Information dienen sollte. Damit einher ging ein Schub an Gefühl, der zu überwältigend war, als daß Flinx ihn ordnen und deuten konnte. Pip schmiegte sich fest an seinen Nacken, und er wußte, daß sie den gleichen Gefühlsstrom spürte. Im Gegensatz zu ihrem Meister verfügte sie über ein unzureichendes mentales Rüstzeug, um diese machtvollen Impulse zu verstehen. Es reichte schon, daß sie keine Feindseligkeit spürte.
Schließlich streckte Flinx suchend eine Hand aus. Seine Finger schlossen den Kontakt mit etwas Weichem, Pelzigem und Warmem. Fremdartige Gliedmaßen reagierten. Die Berührung war so sanft und leicht, daß er nicht feststellen konnte, ob nun Finger oder Ranken daran beteiligt waren, bis eine der Kreaturen ihm gestattete, mit der Hand an ihrem Arm entlangzufahren. Es waren echte Finger, dünn und zerbrechlich wie Ranken. Erhöhte Tastfähigkeit war in einer Welt der ewigen Nacht ebenfalls eine nützliche Eigenschaft. • Sie ließen Flinx mit den Fingern über ihre Gesichter streichen - vielmehr über die Stellen, wo sich bei Menschen Gesichter befanden. Augen schienen ganz und gar zu fehlen, wenngleich sie auch unter dem dichten Pelz verborgen sein mochten. Er fand ein viel kleineres Paar Nasenlöcher, als er erwartet hatte; kleine Ohren, die seitlich vom Kopf wegstanden, und zwei Arme, zwei Beine und einen Schwanz, dessen Spitze genauso empfindsam zu sein schien wie jeder der Finger.
Während der gesamten ausgedehnten körperlichen Erforschung wurde er überschüttet mit Empfindungen des Erstaunens und der Bewunderung.
Der Pelz war kurzhaarig und dicht und bedeckte den ganzen Körper bis auf die Ohren und die Schwanzspitze. Es gab keinerlei Bekleidung, was auch sinnvoll war. Die Geschöpfe wurden von ihrem Pelz geschützt und gewärmt, und in einer Welt der Blindheit konnte es eigentlich keine Nacktheitstabus geben. Während des ganzen Vorgangs sandten sie ein bestimmtes Gefühl aus, das sich auf sie selbst bezog. Obgleich es ein Gefühl war und kein Laut, ordnete er dieser Empfindung eine Folge von Silben zu.
Sumacrea.
Eine Stimme, weder menschlich noch einem Thranx gehörend, sagte plötzlich in der Dunkelheit: »Sumacrea!«
»Sie können sprechen!« stellte Clarity erstaunt fest.
»Ich bin mir nicht sicher, ob sie es können. Sie haben eine reichhaltige Gefühlssprache. Sie erzeugen Laute, um auf sich aufmerksam zu machen oder um vor Gefahr zu warnen, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie auch noch auf andere Art kommunizieren können als durch das Deuten und Ausstrahlen von Empfindungen.«
»Dann sind sie nicht intelligent«, entschied Sowelmanu.
»Ich widerspreche.« Er versuchte den Sumacrea in seiner Nähe dazu zu bewegen, weitere Laute von sich zu geben. Sie reagierten mit einer Folge von Zwitscherlauten und Lautfolgen, die auf eine sehr primitive Sprache hinwiesen, falls sie tatsächlich Teil einer Sprache waren.
Das stand in deutlichem Kontrast zu dem hochentwickelten emotionalen Gedankenaustausch, der voller Wärme und Verständnis war. Nachdem er lange versucht hatte, die Gefühlswelt der Homanx zu verstehen, war es so, als fände er plötzlich eine lange vermißte Schar von Freunden wieder. Er begriff sie leicht, ohne nachfragen zu müssen, und er spürte, daß auch sie ihn verstanden, wenngleich seine Gefühle vergleichsweise grob und ungenau erscheinen mußten.
Bis auf ihre einzigartige Kommunikationsform waren sie jedoch nicht vernunftbegabter als eine Horde Affen.
Wie vollkommen sie für ihren Lebensraum ausgestattet sind! dachte er. Warum sollten sie versuchen, etwas zu beschreiben, was sie nicht sehen oder einem Rassegenossen zeigen konnten, wenn sie doch alles sofort verdeutlichen konnten, indem sie ihre emotionale Reaktion darauf weitergaben? Man konnte erklären, warum etwas gut oder schlecht, hart oder weich war. Was er anfangs für Farbschattierungen gehalten hatte, das erkannte er schnell, hatte überhaupt nichts mit Farben, sondern mit Empfindungen zu tun. Diese Leute, so dachte er bei sich, können das Blau tatsächlich spüren. Das war eine völlig neue Kommunikationsmethode, die Barrieren zwischen den Rassen in einer Weise übersprang, wie es eine verbale Beschreibung abstrakter Zusammenhänge niemals schaffte.
Der durchschnittliche Sumacrea wurde knapp über einen Meter groß. Alle Tiere, die Flinx untersuchte, bewegten sich innerhalb dieser Maße. Entweder gab es keine Heranwachsenden in dieser Umgebung, oder sie wurden wohlweislich versteckt gehalten. Vielleicht gehörten seine neuen Bekannten zu einer Forschungsgruppe oder einem Jagdtrupp.
»Ich glaube, sie wissen schon seit längerer Zeit über die Anwesenheit der Homanx Bescheid«, berichtete er seinen Gefährten, die fast überschnappten vor aufgestauter Neugier. »Sie waren nur vorsichtig gewesen. Einer ließ mich seine Zähne betasten. Ich wette, sie sind Vegetarier. Sowohl die Menschen wie auch die Thranx sind Allesesser, daher haben sie vielleicht gespürt, daß ihr Fleisch verzehrt. Das ist vermutlich eine Erklärung für ihre verständliche Zurückhaltung, jegliche Art von Kontakt aus freien Stücken herzustellen.«
»Es ist trotzdem unglaublich, daß wir auf sie gestoßen sind.« Während sie betastete und betastet wurde, vergaß Clarity für einen Moment die Schrecken der Finsternis. Die Nähe von freundlichen warmen Kreaturen trug dazu bei, die kindlichen Ängste in Schach zu halten.
»Aber weniger unglaublich, wenn du bedenkst, daß sie euer Kommen spüren konnten, ehe auch nur eines eurer Instrumente Hinweise auf ihre Existenz lieferte.«
»Wenn sie unsere Gefühle verstehen, dann müssen sie auch wissen, daß wir ihnen kein Leid antun wollen«, sagte Sowelmanu.
»Schon möglich.« In diesem Moment zuckte das Geschöpf, das er streichelte, vor ihm zurück. Flinx versuchte es so gut wie möglich zu beruhigen. Nach zwei Minuten kehrte der Sumacrea zurück und gestattete, daß der Mensch ihn wieder berührte. Diesmal war Flinx etwas vorsichtiger, als er die Stelle erreichte, deren Berührung die heftige Reaktion ausgelöst hatte.
»Sie haben doch Augen! Sehr kleine.«
»Ich habe keine Augen gespürt«, sagte Clarity.
»Sie befinden sich im Hinterkopf.« Er hätte beinahe laut aufgelacht. Das hatte eine beruhigende Wirkung auf die Sumacrea in seiner Nähe, und sie wagten sich näher heran. »Ich weiß nicht, ob sie von Anfang an diesen Platz einnahmen oder ob frühere Augen im Lauf der Entwicklung nach hinten wanderten, ähnlich wie die eines Heilbutts sich nach oben auf den Kopf bewegen.
Wenn es sich um reine Lichtsensoren handelt, dann ist dies eine Möglichkeit, um wahrzunehmen, was sich hinter dem Tier befindet.« Die Nase vorn, die Augen hinten. Man kann seinen Feind beobachten, während man vor ihm davonläuft. Der Gedanke kam schnell und unaufgefordert.
»Das erklärt es. Jeder, der die Höhlen kartographieren oder untersuchen wollte, brächte die stärkste Lichtquelle mit, die er tragen könnte.«
Er versuchte den Eindruck von einer explodierenden Helligkeit zu erzeugen. Es war eigentlich keine richtige emotionale Darstellung, doch er gab das Gefühl weiter. Der Sumacrea wich zurück und kam erst dann wieder näher, als er die Empfindung abgeschwächt und verdrängt hatte.
»Lichtempfindlich. Die Photomorphen bedrohten sie ebenfalls. Ihre Vorstellung von Licht ist die von einer riesigen Flamme, die im Kopf des Betrachters auflodert. Es muß hier unten natürliche Wärmespender geben, heiße Quellen oder Thermaltümpel. Sie haben eindeutige, unterschiedliche Empfindungen, um die verschiedenen Temperaturgrade darzustellen. Licht steht bei ihnen fast ganz oben auf der Skala, während es für uns etwas durchaus Kühles ist. Wenn jemand ohne Licht hier heruntergekommen wäre, dann hätten sie sich längst bei dem Betreffenden bemerkbar gemacht.«
»Welches Glück wir doch haben«, murmelte Sowelmanu. »Unser Unglück versetzt uns in die Lage, die wohl wichtigste Entdeckung in der kurzen wissenschaftlichen Geschichte von Long Tunnel zu machen. Eine großartige Enthüllung, von der niemand je etwas erfahren wird.«
In diesem Augenblick war Flinx die Zukunft fast gleichgültig. Er ging völlig in dieser wundervollen, außergewöhnlichen Welt auf, die er entdeckt hatte. Seine ungeduldigen Gefährten mußten ganz einfach warten, bis er die Lust verlor, sie weiter zu erkunden.