Fünf
Ganz langsam öffne ich die Augen.
Weißes Licht blendet mich. Langsam erkenne ich die Gegenstände um mich herum, und das weiße Licht verblasst. Jetzt ist es orangerosa. Ich bin in einem Krankenhaus. Ein Fernseher hängt an der Wand, weit oben. Der Bildschirm ist ganz grün. Ich schaue genauer hin. Da sind Pferde. Sie laufen. Bestimmt ist Dad auch hier im Zimmer. Ich senke den Blick, und da ist er auch schon, auf dem Sessel, mit dem Rücken zu mir. Seine Faust klopft auf die Armlehne, er hibbelt auf und ab, und sein Kopf mit der Tweedkappe erscheint im gleichen Rhythmus über der Rückenlehne und verschwindet wieder. Unter ihm knarzen die Sprungfedern.
Die Pferde rennen ohne Ton. Auch mein Vater gibt keinen Ton von sich. Wie einen Stummfilm, der vor meinen Augen läuft, beobachte ich ihn und frage mich, ob es an meinen Ohren liegt, dass ich ihn nicht hören kann. Plötzlich springt er aus dem Sessel hoch, schneller, als ich ihn seit langer Zeit erlebt habe, und schwenkt die Faust vor dem Fernseher, um sein Pferd anzufeuern.
Dann wird der Bildschirm schwarz. Die Fäuste meines Vaters öffnen sich, er streckt die Hände in die Luft, blickt zur Decke und schickt ein Stoßgebet zum Himmel. Hektisch steckt er die Hände in die Taschen seiner braunen Hose, wühlt darin herum und stülpt sie nach außen. Jetzt klopft er auf seine Jacke und tastet dort nach Geld. Untersucht die kleine Tasche seines braunen Pullovers. Grummelt. Also sind es nicht meine Ohren.
Schließlich dreht er sich um, weil er seinen Mantel überprüfen will, der neben mir hängt, und ich schließe rasch die Augen.
Ich bin noch nicht bereit. Mir ist das alles nicht passiert, es wird erst wirklich, wenn jemand es mir sagt. Aber bis dahin bleibt die letzte Nacht in meinen Gedanken nur ein Albtraum. Je länger ich die Augen schließe, desto länger wird alles so bleiben, wie es war. Ich verharre in seliger Unwissenheit.
Jetzt höre ich, wie er in seinem Mantel herumkramt, ich höre Kleingeld klappern, dann das Klirren, als die Münze in den Schlitz am Fernseher fällt. Ich wage es, die Augen zu öffnen, und tatsächlich, da sitzt er wieder im Sessel, die Kappe hüpft, die Fäuste werden geschwenkt.
Zwar ist mein Vorhang zugezogen, aber ich spüre, dass ich den Raum mit anderen Menschen teile. Natürlich weiß ich nicht, mit wie vielen. Es ist ganz still, stickig, ich kann schalen Schweiß riechen. Die großen Fenster, die links von mir die ganze Wand einnehmen, sind geschlossen. Das Licht ist so hell, dass ich nicht hinaussehen kann. Erst nach einer Weile haben sich meine Augen daran gewöhnt, und ich erkenne eine Bushaltestelle auf der anderen Straßenseite. Dort wartet eine Frau, Einkaufstüten zwischen den Füßen, ein Baby auf der Hüfte, das in der Spätsommersonne mit seinen feisten Beinchen baumelt. Schnell sehe ich weg. Dad beobachtet mich. Er beugt sich über die Armlehne nach hinten und verdreht den Kopf, wie ein Kind im Kinderbettchen.
»Hallo, Liebes.«
»Hallo.« Ich habe so lange nichts gesagt, deshalb erwarte ich, dass nur ein Krächzen herauskommt. Aber nichts dergleichen. Meine Stimme ist rein und klar. Als wäre nichts passiert. Aber es ist ja auch nichts passiert. Nicht, bevor sie es mir sagen.
Beide Hände auf die Armlehnen gestützt, erhebt sich mein Vater langsam. Wippend geht er zum Bett. Rauf und runter. Er ist mit verschieden langen Beinen auf die Welt gekommen, sein rechtes Bein ist kürzer als das linke. Obwohl er inzwischen Spezialschuhe trägt, schwankt er immer noch, wahrscheinlich weil er die Bewegung intus hat, seit er laufen gelernt hat. Er zieht die Schuhe auch höchst ungern an, und unseren Warnungen und seinen Rückenschmerzen zum Trotz kehrt er immer wieder zu dem zurück, was er kennt. Ich bin so daran gewöhnt, dass sein Körper rauf und runter geht, runter und rauf, und ich weiß noch genau, wie ich als Kind beim Spazierengehen seine Hand gehalten habe, immer die linke. Wie sich mein Arm dann im gleichen Rhythmus bewegt hat wie er. Wenn das rechte Bein aufkam, wurde ich nach oben gezogen, beim linken nach unten gedrückt.
Er war immer so stark, so belastbar. Ständig dabei, irgendwas zu reparieren. Immer hatte er einen Schraubenzieher in der Hand, schraubte Sachen auseinander und montierte sie wieder zusammen – Fernbedienungen, Radios, Wecker, Elektrostecker. Der Handwerker für die ganze Straße. Seine Beine waren ungleich, aber seine Hände fest und absolut zuverlässig.
Als er sich mir nähert, nimmt er die Kappe ab, packt sie mit beiden Händen und dreht sie wie ein Steuerrad, während er mich besorgt mustert. Er tritt mit dem rechten Bein auf. Runter. Beugt das linke. Seine Ruhehaltung.
»Bist du … äh … die haben mir gesagt … äh.« Er räuspert sich. »Die haben mir gesagt, ich soll …« Wieder schluckt er schwer, seine dichten, struppigen Augenbrauen ziehen sich zusammen und verbergen seine Augen. »Du hast … du hast …«
Meine Unterlippe beginnt zu zittern.
Als er weiterspricht, klingt seine Stimme ganz heiser. »Du hast eine Menge Blut verloren, Joyce. Sie …« Er nimmt die eine Hand von der Mütze, bewegt den gekrümmten Finger im Kreis und versucht sich zu erinnern. »Sie haben eine Transfusion mit diesem Blutdings gemacht, und jetzt bist du … äh … jetzt hast du genug.«
Aber meine Unterlippe zittert immer noch, und meine Hände wandern automatisch zu meinem Bauch, der noch nicht einmal so dick ist, dass man es unter der Decke erkennen kann. Hoffnungsvoll sehe ich meinen Vater an, und erst jetzt wird mir klar, wie sehr ich mich noch daran klammere, wie sehr ich mir eingeredet habe, dass der schreckliche Vorfall im Kreißsaal nur ein Albtraum war. Vielleicht habe ich mir nur eingebildet, dass mein Baby so stumm war, dieses Schweigen, das sich in diesem letzten Moment im Raum ausgebreitet hat. Vielleicht hat es geschrien, aber ich habe es nicht gehört. Natürlich ist das möglich – in diesem Stadium war ich schon ziemlich fertig und nur noch halb bei Bewusstsein –, vielleicht habe ich den ersten kleinen Atemzug des Lebens einfach nicht mitbekommen.
Traurig schüttelt Dad den Kopf. Nein, ich war es, die geschrien hat.
Jetzt zittert meine Unterlippe immer mehr, aber ich kann nichts dagegen machen. Mein ganzer Körper bebt, und auch dagegen bin ich machtlos. Tränen steigen mir in die Augen, aber ich halte sie zurück. Wenn ich jetzt damit anfange, kann ich nie mehr aufhören, das weiß ich genau.
Ich mache ein Geräusch. Ein seltsames Geräusch, das ich noch nie gehört habe. Stöhnen. Grunzen. Eine Mischung aus beidem. Dad fasst meine Hand und hält sie ganz fest. Die Berührung holt mich zurück in die letzte Nacht, und ich erinnere mich daran, wie ich am Fuß der Treppe lag. Er sagt nichts. Aber was soll man auch sagen?
Ich verfalle in einen unruhigen Halbschlaf. Einmal wache ich auf und erinnere mich an ein Gespräch mit dem Arzt, und ich frage mich, ob das ein Traum war. Sie haben Ihr Baby verloren, Joyce, aber wir haben alles getan, was wir konnten … Bluttransfusion … Wer muss so etwas im Gedächtnis behalten? Niemand. Ich bestimmt nicht.
Als ich wieder wach werde, ist der Vorhang neben mir offen. Drei kleine Kinder rennen herum, jagen einander ums Bett, während ein Mann, vermutlich ihr Vater, sie in einer Sprache ermahnt, die ich nicht erkenne. Wahrscheinlich ist die Frau im Bett ihre Mutter. Sie sieht müde aus. Unsere Blicke begegnen sich, und wir lächeln einander zu.
Ich weiß, wie du dich fühlst, sagt ihr trauriges Lächeln, ich weiß genau, wie du dich fühlst.
Was sollen wir tun?, fragt mein Lächeln zurück.
Ich weiß es nicht, antworten ihre Augen. Ich weiß es nicht.
Wird alles wieder gut?
Sie wendet den Kopf ab, und ihr Lächeln ist verschwunden.
Dad ruft zu der Familie hinüber: »Wo kommt ihr denn eigentlich her?«
»Wie bitte?«, fragt der Mann.
»Ich hab gefragt, wo ihr denn eigentlich herkommt«, wiederholt Dad. »Nicht von hier, das sieht man ja.« Dads Stimme klingt nett und fröhlich. Er will keinem auf den Schlips treten. Nie.
»Wir sind aus Nigeria«, erklärt der Mann.
»Nigeria«, sagt Dad nachdenklich. »Wo ist das eigentlich?«
»In Afrika.« Auch er spricht freundlich und entspannt. Offensichtlich ist ihm klar, dass er es nur mit einem alten Mann zu tun hat, der sich gern ein bisschen unterhalten möchte und auf seine Art versucht, Kontakt zu knüpfen.
»Ah, Afrika. War selbst noch nie dort. Ist es heiß? Wahrscheinlich schon, was? Heißer als hier. Kann man bestimmt schön braun werden – nicht dass Sie es brauchen würden«, fügt er lachend hinzu. »Wird es Ihnen hier nicht manchmal zu kalt?«
»Kalt?«, lächelt der Afrikaner.
»Ja, Sie wissen doch«, meint Dad, schlingt die Arme um sich und tut so, als würde er bibbern. »Kalt.«
»Ja«, lacht der Mann. »Manchmal ist mir kalt.«
»Hab ich mir gedacht. Mir nämlich auch, und ich bin hier geboren«, erklärt er. »Die Kälte geht mir bis in die Knochen. Aber ich bin auch nicht so für Hitze. Meine Haut wird knallrot und verbrennt einfach. Meine Tochter, Joyce, die wird braun. Das ist sie übrigens da drüben.« Er zeigt auf mich, und ich schließe schnell wieder die Augen.
»Eine hübsche Tochter haben Sie«, sagt der Mann höflich.
»O ja.« Schweigen kehrt ein, und ich vermute, dass sie mich ansehen. »Sie war vor ein paar Monaten auf einer dieser spanischen Inseln, und als sie zurückkam, war sie richtig schwarz, ehrlich. Na ja, nicht so schwarz wie Sie, aber richtig braun gebrannt eben. Dann hat sie sich geschält. Sie schälen sich wahrscheinlich nicht.«
Der Mann lacht höflich. So ist Dad. Meint nie etwas böse und war in seinem ganzen Leben noch kein einziges Mal im Ausland. Seine Flugangst hindert ihn daran. Zumindest behauptet er das immer.
»Ich hoffe, Ihre hübsche Frau wird sich bald besser fühlen. Ist doch gemein, wenn man in den Ferien krank wird.«
Jetzt schlage ich die Augen auf.
»Ah, da bist du ja wieder, mein Schatz. Ich hab mich gerade mit unseren netten Nachbarn unterhalten.« Wieder wippt er zu mir herüber, die Kappe in den Händen. Ruht auf dem rechten Bein, runter, beugt das linke. »Weißt du, ich glaube, wir sind die einzigen Iren in diesem Krankenhaus. Die Schwester war grade vorhin hier, sie kommt aus Singsang oder so.«
»Singapur, Dad«, korrigiere ich ihn mit einem Lächeln.
»Genau.« Er zieht die Augenbrauen hoch. »Du kennst sie schon, was? Aber alle sprechen Englisch, auch die Ausländer. Klar, das ist auch besser, als wenn man sich in den Ferien immer mit Zeichensprache verständigen muss.« Er legt die Kappe aufs Bett und fingert nervös an ihr herum.
»Dad, du warst in deinem ganzen Leben nie im Ausland«, erinnere ich ihn mit einem Lächeln.
»Aber ich hab meine Kumpels im Monday Club darüber reden hören. Letzte Woche war Frank in, wie hieß es gleich noch mal?« Er schließt die Augen und denkt angestrengt nach. »Das Land, wo die ganze Schokolade herkommt?«
»Schweiz.«
»Nein.«
»Belgien.«
»Nein!«, ruft er frustriert. »Die kleinen runden Dinger mit dem Knusperzeug drin. Man kriegt sie auch in Weiß, aber ich mag die dunklen lieber.«
»Malteser?«, frage ich und muss lachen, aber es tut weh, also höre ich schnell wieder auf.
»Genau.«
»Du meinst Malta.«
»Stimmt! Er war in Malta.« Er schweigt einen Moment. »Machen die da Malteser?«
»Keine Ahnung. Vielleicht. Und was war mit Frank in Malta?«
Wieder kneift er die Augen zusammen und denkt nach. »Ich weiß nicht mehr, was ich sagen wollte.«
Schweigen. Er hasst es, wenn er sich an etwas nicht mehr erinnern kann. Früher konnte er sich immer an alles erinnern.
»Hast du mit deinen Pferden was gewonnen?«, frage ich schnell.
»Ein paar Pfund. Genug für ein paar Runden heut Abend im Monday Club.«
»Aber heute ist Dienstag.«
»Der Club findet wegen dem Feiertag am Dienstag statt«, erklärt er und wippt zur anderen Seite des Betts, wo er sich niederlässt.
Ich kann nicht lachen. Es tut alles so weh, und ich glaube, mein Kind hat auch einen Teil meines Humors mitgenommen.
»Es macht dir doch nichts, wenn ich hingehe, oder, Joyce? Wenn du möchtest, bleib ich nämlich hier, das macht mir nichts, es ist nicht so wichtig für mich.«
»Natürlich ist es wichtig. Seit zwanzig Jahren hast du keinen Montagabend verpasst.«
»Abgesehen von den Feiertagen!« Er hebt einen krummen Finger, und seine Augen funkeln.
»Abgesehen von den Feiertagen«, wiederhole ich lächelnd und ergreife den Finger.
»Na ja«, meint er und nimmt meine Hand. »Du bist aber wichtiger als ein paar Bier und ein bisschen Singen.«
»Was würde ich ohne dich machen?« Meine Augen füllen sich wieder mit Tränen.
»Es wird alles gut, Liebes. Außerdem …«, fährt er fort und blickt mich dabei forschend an, »außerdem hast du Conor.«
Ich lasse seine Hand los und sehe weg. Was, wenn ich Conor nicht mehr will?
»Ich hab ihn gestern Abend auf dem Handtelefon zu erreichen versucht, aber er ist nicht drangegangen. Vielleicht hab ich ja die Nummer falsch eingetippt«, fügt er hastig hinzu. »Auf den Handtelefonen sind es immer so viel mehr Zahlen.«
»Handys heißen die Dinger, Dad«, verbessere ich ihn geistesabwesend.
»Ach ja klar, auf dem Handy. Er ruft immer an, wenn du grade schläfst. Übrigens will er heimkommen, sobald er einen Flug kriegt. Er macht sich große Sorgen.«
»Das ist nett von ihm. Dann können wir ja die nächsten zehn Jahre unserer Ehe versuchen, noch ein Baby zu produzieren.« Zurück ans Werk. Eine nette kleine Abwechslung, die unserer Beziehung eine Art von Bedeutung verleiht.
»Ach, Liebes …«
Der erste Tag vom Rest meines Lebens, und ich bin nicht sicher, ob ich hier sein möchte. Ich weiß, ich sollte irgendjemandem dafür dankbar sein, aber ich fühle mich überhaupt nicht danach. Stattdessen wünsche ich mir, sie hätten sich die Mühe nicht gemacht.