Achtundzwanzig
Justin eilt mit Riesenschritten durch die Säle der National Gallery. Ein paar Schritte lang gehorcht er der Regel, dass man in der Galerie nicht rennen darf, dann verfällt er doch ins Joggen, geht wieder drei Schritte, steigert das Tempo, drosselt es erneut. In ihm tobt ein erbitterter Kampf zwischen Musterkind und Draufgänger.
Endlich entdeckt er Roberta, die über den Korridor huscht und wie ein Schatten in der wissenschaftlichen Bibliothek verschwinden will, in der sie seit fünf Jahren arbeitet.
»Roberta!«, ruft er, und nun kennt der Draufgänger in ihm auf einmal keine Grenzen mehr. Auch das Lärmverbot schlägt er in den Wind, und seine Stimme hallt von den Wänden und hohen Decken wider, bis allen Porträts die Ohren klingen. So laut ist er, dass van Goghs Sonnenblumen welken und der Spiegel auf der Arnolfini-Hochzeit zerspringt.
Und so laut, dass Roberta zur Salzsäule erstarrt und sich langsam, mit weit aufgerissenen, erschrockenen Augen umdreht, wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Sie errötet, denn das halbe Dutzend Besucher hat sich ebenfalls umgewandt und starrt sie an. Justin sieht, wie sie schluckt, und es tut ihm augenblicklich leid, dass er ihren Code geknackt und sie sichtbar gemacht hat, wo sie doch unsichtbar bleiben wollte. Als könnte er den Lärm, den er veranstaltet hat, dadurch wieder zurücknehmen, bemüht er sich, leise weiterzugehen, zu gleiten wie Roberta. Währenddessen steht sie stocksteif da, so nahe an der Wand wie möglich, wie eine Kletterpflanze, die sich an Wänden und Gittern emporhangelt, weil sie ihr Schutz bieten und sie ihre eigene Schönheit nicht erkennt. Justin fragt sich, ob Robertas Verhalten eine Folge ihres Berufs ist oder ob sie schon immer so war und sich deshalb den Job als Bibliothekarin in der National Gallery ausgesucht hat. Ihm erscheint Letzteres wahrscheinlicher.
»Ja?«, flüstert sie, noch immer rehäugig und verängstigt.
»Entschuldigen Sie, dass ich so gebrüllt habe«, sagt Justin, so leise er kann.
Schon wird ihr Gesicht sanfter, und ihre Schultern entspannen sich.
»Woher haben Sie diesen Korb?«, fragt er und hält ihn ihr entgegen.
»Vom Empfang. Ich kam gerade von der Pause zurück, da hat Charlie mich gebeten, ihn für Sie mitzunehmen. Stimmt irgendwas nicht damit?«
»Charlie, aha.« Justin denkt scharf nach. »Ist er am Getty-Eingang?«
Roberta nickt.
»Okay, danke, Roberta, und ich entschuldige mich noch mal für das Geschrei.« Er macht kehrt, läuft in Richtung Ostflügel davon, und wieder stürzen sich in ihm Draufgänger und Musterknabe aufeinander, was erneut zu einer höchst absonderlichen Mischung aus Gehen und Laufen führt, wobei das Muffinkörbchen an seiner Hand heftig hin und her schwingt.
»Fertig für heute, Rotkäppchen?«, hört er eine Stimme, gefolgt von einem heiseren Lachen.
Abrupt bleibt Justin stehen und wirbelt zu Charlie herum. Er ist einer der Sicherheitsmänner, gut eins achtzig groß, und ihm gehört die Stimme. »Großmutter, was hast du für einen großen Kopf?«
»Was wollen Sie?«
»Ich würde gern erfahren, wer diesen Korb bei Ihnen abgegeben hat.«
»Ein Botenjunge von …« Charlie geht hinter seinen kleinen Schreibtisch und blättert in einem Papierstapel. Dann holt er ein Klemmbrett hervor. »Von Harrods. Zhang Wei«, liest er vor. »Warum? Stimmt irgendwas nicht mit den Muffins?« Er fährt mit der Zunge über die Zähne und räuspert sich ausführlich.
Justin kneift die Augen zusammen. »Woher wussten Sie, dass da Muffins drin sind?«
Charlie weigert sich, ihm ins Gesicht zu sehen. »Musste ja überprüft werden, richtig? Wir sind hier in der National Gallery. Da kann man nicht einfach ein Päckchen annehmen, ohne zu wissen, was drin ist.«
Justin sieht Charlie an, der ein bisschen rot geworden ist. Auf einmal bemerkt er die Krümel in seinen Mundwinkeln, die Spuren auf seiner Uniform. Rasch hebt er das karierte Tuch von seinem Korb und zählt nach. Elf Muffins.
»Finden Sie es nicht seltsam, jemandem elf Muffins zu schicken?«
»Seltsam?« Augen wandern, Schultern zucken. »Weiß ich nicht, Mann. Ich hab noch nie im Leben jemandem Muffins geschickt.«
»Wäre ein Dutzend nicht naheliegender?«
Erneut zucken die Schultern. Nervös fummeln die Finger. Wesentlich konzentrierter als sonst beobachten seine Augen die Leute, die in die Galerie kommen. Die Körpersprache zeigt Justin, dass das Gespräch beendet ist.
Er tritt hinaus auf den Trafalgar Square und zieht das Handy heraus.
»Hallo?«
»Bea, hier ist Dad.«
»Ich rede nicht mit dir.«
»Warum?«
»Peter hat mir erzählt, was du gestern Abend beim Ballett alles zu ihm gesagt hast«, faucht sie ihn an.
»Was hab ich denn getan?«
»Du hast ihn den ganzen Abend gelöchert, was für Absichten er verfolgt.«
»Ich bin dein Vater, das ist mein Job.«
»Nein, was du getan hast, würde eher zur Gestapo passen«, wütet sie. »Ich schwöre dir, ich rede nicht mehr mit dir, bis du dich bei ihm entschuldigt hast.«
»Ich soll mich entschuldigen?«, lacht er. »Wofür denn? Ich hab ihm nur ein paar Fragen über seine Vergangenheit gestellt, um seine Hintergedanken zu überprüfen.«
»Er hat überhaupt keine Hintergedanken!«
»Dann hab ich ihm halt einfach so ein paar Fragen gestellt, na und? Bea, er ist nicht gut genug für dich.«
»Nein, er ist nicht gut genug für dich. Aber inzwischen ist mir sowieso egal, was du von ihm hältst, schließlich soll er ja mich glücklich machen, nicht dich.«
»Er pflückt Erdbeeren, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen.«
»Er ist IT-Berater!«
»Wer pflückt dann die Erdbeeren?« Irgendeiner muss doch die Erdbeeren pflücken. »Na ja, Schätzchen, du weißt, was ich von solchen Beratern halte. Wenn sie schon so viel von einer Sache verstehen, warum erledigen sie sie dann nicht selbst, statt Geld damit zu machen, dass sie es anderen Leuten erklären?«
»Du bist Dozent, Kurator, Herausgeber, was auch immer. Wenn du so viel weißt, warum baust du dann nicht ein Haus oder malst mal selbst ein Bild?«, schreit sie ihn an. »Statt immer allen was davon vorzufaseln, wie viel du weißt!«
Hmm.
»Schätzchen, krieg dich mal wieder ein.«
»Nein, du bist derjenige, der sich einkriegen sollte. Du wirst dich bei Peter entschuldigen, und wenn nicht, gehe ich nicht mehr ans Telefon, wenn du anrufst, und du kannst allein mit deinen Dramen fertig werden.«
»Warte, warte, warte. Nur eine kleine Frage.«
»Dad, ich …«
»Hast du mir ein Körbchen mit Zimtmuffins geschickt?«, stößt er hastig hervor.
»Was? Nein!«
»Nein?«
»Keine Muffins, nein! Keine Gespräche, kein Nichts …«
»Herzchen, es besteht überhaupt keine Veranlassung für doppelte Verneinungen.«
»Ich breche den Kontakt zu dir ab, bis du dich entschuldigt hast«, verkündet sie entschlossen.
»Okay«, seufzt er. »Entschuldige bitte.«
»Nicht bei mir sollst du dich entschuldigen, sondern bei Peter!«
»Okay, aber heißt das, dass du meine Sachen morgen nicht auf dem Weg zu mir von der Reinigung abholen wirst? Du weißt, welche ich meine, gleich neben der U-Bahn-Station ...«
Es klickt in der Leitung. Justin starrt das Telefon verblüfft an. Meine eigene Tochter hat einfach aufgelegt? Ich wusste doch, dass dieser Peter Ärger machen würde.
Aber dann fallen ihm wieder die Muffins ein, und er wählt erneut. Und räuspert sich.
»Hallo.«
»Jennifer, hier ist Justin.«
»Hallo, Justin.« Ihre Stimme klingt kalt.
Früher war sie warm, süß und weich wie Honig. Nein, wie heißer Karamell. Früher ist sie von Oktave zu Oktave gehüpft, wenn sie seinen Namen gehört hat, wie die Klaviermusik, zu der er sonntagsmorgens manchmal aufgewacht ist, wenn sie im Wintergarten gespielt hat. Aber jetzt?
Er lauscht der Stille am anderen Ende der Leitung. Eis.
»Ich wollte nur kurz anrufen und fragen, ob du mir einen Korb mit Muffins geschickt hast.« Kaum ist die Frage aus seinem Mund, wird ihm klar, wie absurd dieser Anruf ist. Natürlich hat sie ihm nichts geschickt. Warum sollte sie?
»Wie bitte?«
»Ich habe heute im Büro einen Korb mit Muffins bekommen, zusammen mit einer Dankeskarte, aber es gab keinen Absender. Ich hab überlegt, ob du das vielleicht gewesen sein könntest.«
Jetzt klingt ihre Stimme amüsiert. Nein, nicht amüsiert, eher spöttisch. »Wofür sollte ich dir danken wollen, Justin?«
Eine einfache Frage, aber da er seine Exfrau ziemlich gut kennt, weiß er, dass darin wesentlich mehr mitschwingt. Und deshalb schnappt er den Köder, hängt am Haken, wird bitter und bekommt die Stimme, an die er sich gewöhnt hat im Lauf des Untergangs ihrer … na ja, im Lauf ihres gemeinsamen Untergangs. Sie lässt ihn zappeln.
»Oh«, antwortet er. »Vielleicht zwanzig Jahre Ehe. Eine Tochter, ein gutes Leben. Ein Dach über dem Kopf.« Er weiß, wie doof diese Bemerkung ist. Dass Jennifer vor ihm, nach ihm und überhaupt jederzeit auch ohne ihn ein Dach über dem Kopf hat, aber jetzt quillt es aus ihm heraus, und er kann und will es nicht aufhalten, denn er hat recht und sie nicht, und die Wut stachelt ihn bei jedem Wort noch mehr an, wie ein Jockey, der sein Pferd über die Ziellinie peitscht. »Reisen in alle Welt.« Die Peitsche knallt. »Klamotten, Klamotten und noch mal Klamotten.« Die Peitsche knallt. »Eine neue Küche, die wir überhaupt nicht brauchten, ein Wintergarten, Herrgott …« Und so macht er weiter, wie ein Mann aus dem neunzehnten Jahrhundert, der seiner Frau ein gutes Leben ermöglicht hat, das sie sonst nicht hätte haben können. Dabei ignoriert er völlig, dass Jennifer selbst ganz gut verdient und in einem Orchester gespielt hat, das um die Welt getourt ist. Und dass er sie dabei manchmal begleiten durfte – nicht umgekehrt.
Zu Beginn ihrer Ehe hatten sie keine andere Wahl gehabt, als bei Justins Mutter zu wohnen. Sie waren jung und hatten ein Baby – der Grund für ihre etwas überstürzte Heirat –, und da Justin tagsüber noch aufs College ging, abends in der Kneipe jobbte und am Wochenende im Museum, hatte Jennifer in einem schicken Restaurant in Chicago mit Klavierspielen Geld verdient. Am Wochenende kam sie erst in den frühen Morgenstunden heim, mit schmerzendem Rücken und einer Sehnenentzündung im Mittelfinger, aber das ist alles aus Justins Gedächtnis verschwunden, als sie ihm den Köder mit dieser scheinbar harmlosen Frage hingehalten hat. Sie hat gewusst, dass diese Tirade kommen würde, und er kaut wie ein Wilder auf dem Köder herum, der seinen ganzen Mund ausfüllt. Als ihm schließlich nichts mehr einfällt, was sie in den letzten zwanzig Jahren zusammen gemacht haben, und ihm der Dampf ausgeht, hält er inne.
Jennifer schweigt.
»Jennifer?«
»Ja, Justin.« Eisig.
Mit einem Seufzer der Erschöpfung fragt er noch einmal: »Und, warst du es?«
»Nein, das muss wohl eine von deinen anderen Frauen gewesen sein, denn ich hab dir ganz bestimmt keine Muffins geschickt.«
Klick. Weg ist sie.
Wieder kocht die Wut in ihm hoch. Andere Frauen. Andere Frauen! Eine einzige Affäre mit zwanzig, ein Fummeln im Dunkeln mit Mary-Beth Dursoa! Bevor er Jennifer geheiratet hat! Und jetzt tut sie so, als wäre er Don Juan persönlich. In ihrem Schlafzimmer hat er damals einen Druck von Der Tod der Procris von Piero di Cosimo aufgehängt. Jennifer hat das Bild immer gehasst, aber Justin hoffte trotzdem, ihr damit eine subtile Botschaft zu übermitteln. Auf dem Gemälde liegt nämlich ein halb nacktes Mädchen am Boden, und auf den ersten Blick sieht es aus, als würde sie schlafen, aber dann bemerkt man, dass Blut aus ihrer Kehle rinnt. Neben ihr sitzt ein trauernder Satyr. Justin folgt der Lesart, dass die Frau auf dem Bild ihren Mann der Untreue verdächtigt hat und ihm in den Wald nachgeschlichen ist. In Wirklichkeit wollte er aber nur auf die Jagd gehen, und als es in den Bäumen raschelt, denkt er, es sei ein Tier, und erschießt seine Frau. In ihren finstersten Augenblicken, wenn sie sich besonders erbittert und wütend stritten und ihnen der Hals vom Schreien und Brüllen schon wehtat und Tränen in ihren Augen brannten, wenn ihnen das Herz vor Schmerz zu brechen drohte und ihre Köpfe fast platzten vom vielen Analysieren, dann betrachtete Justin manchmal das Gemälde und beneidete den Satyr.
Wutschnaubend rennt er die Stufen der North Terrace hinunter, setzt sich an einen der Brunnen, das Körbchen zu seinen Füßen, und beißt kräftig in einen Muffin, stopft ihn so schnell in sich rein, dass er kaum Zeit hat, ihn zu schmecken. Krümel fallen auf den Boden und ziehen einen Schwarm Tauben mit aufmerksamen schwarzen Knopfaugen an. Als er sich bückt, um sich einen weiteren Muffin zu nehmen, wird er umringt von den übereifrigen Tauben, die nach dem Inhalt des Körbchens picken. Pickpickpick – zu Dutzenden fliegen sie auf ihn zu, gehen in den Landeanflug wie Kampfjets. Da er sich vor eventuell herabfallenden Bomben der über ihm kreisenden Vögel fürchtet, nimmt er sein Körbchen und scheucht sie mit kindlicher Entschlossenheit weg.
Justin stürmt durch die Tür seiner Wohnung, lässt sie hinter sich offen und wird sofort von Doris begrüßt, die eine Malerpalette in der Hand hält.
»Okay, ich hab die Auswahl eingegrenzt«, ruft sie und hält ihm Dutzende Farben unter die Nase.
Jeder ihrer langen Nägel mit Leopardenmuster ist mit einem Strasssteinchen verziert. Heute trägt sie einen Overall in Schlangenlederoptik, und ihre Füße balancieren in Lackstiefelchen mit Pfennigabsatz. Ihre Haare sind der übliche rote Wuschelkopf, die Augen katzenartig mit einem Lidstrich ummalt, der aus den Augenwinkeln nach oben kurvt. Ihr passend zu den Haaren knallrot geschminkter Mund erinnert an Ronald McDonald. Irritiert sieht Justin zu, wie er sich öffnet und schließt.
Worte dringen an sein Ohr: »Stachelbeer, Keltischer Wald, Englischer Nebel und Waldlandperle, alles ruhige Töne, die in diesem Raum einfach toll aussehen würden, aber wir könnten es auch mit Wildpilz, Nomadenglut und Sultana Spice probieren. Zu meinen Favoriten gehört Cappuccino Candy, aber ich glaube, das funktioniert nicht mit dem Vorhang hier, was meinst du?«
Jetzt wedelt sie mit einem Stück Stoff vor seiner Nase herum und kitzelt ihn in der Nase. Das Kitzeln ist so heftig, als würde es schon die Auseinandersetzung spüren, die sich zusammenbraut. Justin antwortet nicht, sondern holt tief Luft und zählt in Gedanken bis zehn. Als das auch nichts bringt und Doris unverdrossen weiter Farbschattierungen runterbetet, erhöht er auf zwanzig.
»Hallo! Justin?«, sie schnippt mit den Fingern, direkt vor seinem Gesicht. »Hal-lo?«
»Vielleicht solltest du ihn mal ein bisschen verschnaufen lassen, Doris. Er sieht müde aus.« Al beäugt seinen Bruder nervös.
»Aber …«
»Pack deinen süßen Hintern hier rüber, Sultana Spice«, neckt er sie, und sie stößt einen Juchzer aus.
»Okay, nur noch eins. Bea wird ihr Zimmer in Elfenbeintraum garantiert lieben. Und Petey auch. Stell dir vor, wie romantisch das wird für …«
»DAS REICHT!«, schreit Justin aus voller Kehle, denn er hält es nicht aus, dass der Name seiner Tochter und das Wort romantisch im gleichen Satz vorkommen.
Doris zuckt heftig zusammen, verstummt augenblicklich und presst die Hand aufs Herz. Al hört auf zu trinken, die Flasche stoppt direkt vor seinen Lippen, und sein schwerer Atem macht seltsame Töne im Flaschenhals. Ansonsten herrscht völlige Stille.
»Doris«, sagt Justin schließlich, so ruhig er kann. »Das reicht mir jetzt wirklich. Genug Cappuccino Nights …«
»Cappuccino Candy«, korrigiert sie ihn, hält aber rasch wieder den Mund.
»Was auch immer. Das hier ist ein viktorianisches Haus aus dem neunzehnten Jahrhundert, kein Reihenhaus für Einsatz in 4 Wänden.« Er bemüht sich, seine Gefühle in Schach zu halten, die sich stellvertretend für das alte Gebäude verletzt fühlen.
Sie stößt ein beleidigtes Quietschen aus.
»Das Haus braucht eine behutsame Renovierung, gewissenhafte Recherche, es braucht Mobiliar aus der damaligen Zeit, entsprechende Farben – und keine, die klingen wie Als Lieblingsessen.«
»Hey!«, protestiert Al.
»Ich glaube, es braucht …«, beginnt Justin, holt tief Luft und fährt dann ruhiger fort: »… das Haus braucht einen anderen Inneneinrichter. Vielleicht ist das Projekt einfach anspruchsvoller, als du gedacht hast. Aber ich bin dankbar für deine Hilfe, wirklich. Bitte sag mir, dass du das verstehst.«
Doris nickt langsam, und Justin stößt einen Seufzer der Erleichterung aus.
Aber da fliegt auf einmal die Palette quer durchs Zimmer auf ihn zu, und Doris brüllt: »Du arrogantes kleines Arschloch!«
»Doris!« Al springt aus dem Sessel. Jedenfalls versucht er es.
Unterdessen weicht Justin vor der herannahenden Furie namens Doris zurück, denn die kommt mit aggressiven Schritten auf ihn zu und streckt ihre glitzernden Raubtierkrallen wie Dolche nach ihm aus.
»Hör mal zu, du dummer kleiner Mann. Ich habe die letzten zwei Wochen damit verbracht, in Bibliotheken und an Orten über dieses kleine Kellerloch zu forschen, von denen du noch nie was gehört hast. Ich war in finsteren, schäbigen Verliesen, in denen die Menschen riechen wie alte … wie alte Dinge eben.« Ihre Nasenflügel blähen sich, und ihre Stimme wird tiefer und drohender. »Ich habe jede historische Farbenbroschüre gekauft, die ich kriegen konnte, und die Farbe nach den Farbregeln des neunzehnten Jahrhunderts aufgetragen. Ich habe Leuten die Hand geschüttelt, auf deren Bekanntschaft nicht mal ich Wert gelegt hätte. Ich habe mir Bücher angesehen, die so alt waren, dass die Staubmilben sie mir persönlich vom Regal holen konnten, so riesig waren sie. Ich habe die Dulux-Farben so genau wie nur irgend möglich an die historischen Farben angepasst, ich war in Secondhand- und Thirdhandläden, ich war sogar in Antiquitätengeschäften und habe Möbel in so verkommenem Zustand gesehen, dass ich fast die Fürsorge geholt hätte. Ich habe sonderbare Kreaturen um Esstische kriechen sehen, ich habe auf so klapprigen Stühlen gesessen, dass ich den schwarzen Tod riechen konnte, an dem der letzte Mensch, der vor mir darauf saß, gestorben ist. Ich habe so viel Kiefernholz geschmirgelt, dass ich Splitter an Stellen habe, die du garantiert nicht besichtigen möchtest. Also.« Bei jedem Wort piekt sie ihn mit ihren Dolchnägeln in die Brust, bis er schließlich mit dem Rücken zur Wand steht. »Wag es nicht noch mal, mir zu sagen, dass das hier eine Nummer zu groß für mich ist.«
Dann räuspert sie sich ausgiebig und richtet sich kerzengerade auf. Die Wut in ihrer Stimme weicht einem Zittern, das ausdrückt, was für ein armes, verkanntes Wesen sie doch ist. »Aber trotz allem, was du gesagt hast, werde ich meine Arbeit zu Ende bringen. Ich werde mich nicht beirren lassen. Ich werde es tun, ob du willst oder nicht, und ich werde es für deinen Bruder tun, der nächsten Monat vielleicht schon tot ist, ohne dass es dich im Geringsten kümmert.«
»Tot?«, fragt Justin und sperrt die Augen auf.
Doch Doris hat bereits auf dem Absatz kehrtgemacht und stürmt in ihr Zimmer.
An der Tür wendet sie sich noch einmal um und streckt den Kopf ins andere Zimmer zurück. »Übrigens hätte ich die Tür zugeknallt, ganz laut, um zu zeigen, wie wütend ich bin, aber die Tür ist gerade draußen auf dem Hof, wo sie abgeschmirgelt und grundiert wird, bevor ich sie streiche …« Der besseren Wirkung halber macht sie eine kurze Kunstpause und faucht dann: »Und zwar in Elfenbeintraum!«
Dann verschwindet sie wieder, ohne Knall.
*
Ich trete nervös vor Justins Wohnung von einem Fuß auf den anderen. Soll ich auf die Klingel drücken? Oder einfach seinen Namen ins Zimmer rufen? Ob er wohl die Polizei alarmieren und mich wegen unbefugten Betretens festnehmen lassen würde? Ach, wahrscheinlich war das Ganze eine blöde Idee. Frankie und Kate haben mich überredet herzukommen und mich ihm vorzustellen. Sie haben mich so weit gebracht, dass ich ins erstbeste Taxi zum Trafalgar Square gesprungen bin, um ihn in der National Gallery abzupassen. Ich war ganz in seiner Nähe, als er telefoniert hat, ich habe gehört, wie er nachgeforscht hat, wer ihm das Körbchen geschickt haben könnte. Sonderbarerweise habe ich mich sehr wohl dabei gefühlt, ihn einfach zu beobachten, ohne sein Wissen, und ich konnte die Augen keine Sekunde von ihm abwenden. Es war aufregend, ihn so heimlich sehen zu können als den, der er jetzt ist, statt sein Leben aus der Erinnerungsperspektive zu betrachten.
Sein Ärger über seinen Gesprächspartner am Telefon – wahrscheinlich seine Exfrau mit den roten Haaren und den Sommersprossen – hat mich aber davon überzeugt, dass noch nicht der richtige Zeitpunkt gekommen war, mich ihm zu nähern, deshalb bin ich im gefolgt. Nur gefolgt, ich bin keine Stalkerin. Ich wollte all meinen Mut zusammennehmen und ihn ansprechen. Soll ich die Transfusion erwähnen? Hält er mich dann für verrückt oder wird er offen sein und mir zuhören? Oder noch besser – mir sogar glauben?
Aber in der U-Bahn war das Timing dann auch wieder nicht richtig. Die Bahn war proppenvoll, es wurde gedrängelt und geschoben, ohne einander in die Augen zu sehen – kein guter Ort für erste Begegnungen und schon gar nicht für Gespräche über die potenzielle Intelligenz von Herzblut. Deshalb stehe ich jetzt hier, nachdem ich seine Straße auf und ab gegangen bin und mich gleichzeitig wie ein verknalltes Schulmädchen und doch wie eine Stalkerin gefühlt habe, und habe einen Plan. Aber der Plan wird wieder mal auf Eis gelegt, weil Justin und sein Bruder Al über etwas zu reden anfangen, was ich garantiert nicht hören soll – über ein Familiengeheimnis, das ich schon mehr als gut kenne.
Ich ziehe den Finger von der Klingel zurück, achte darauf, dass ich durch keins der Fenster gesehen werden kann, und warte ab.