Eins
»Eine Bluttransfusion«, verkündet Dr. Fields vom Podium des Vorlesungssaals im Geisteswissenschaftlichen Institut des Trinity College, »eine Bluttransfusion ist der Prozess, bei dem Blut oder Blutprodukte eines Menschen in den Kreislauf eines anderen übertragen werden. Mit einer Bluttransfusion kann ein massiver Blutverlust nach einem Unfall, einer Operation oder einem Schock ausgeglichen werden, mit einer Bluttransfusion kann einem Menschen geholfen werden, wenn die Produktion der roten Blutkörperchen zusammenbricht. Hier die Fakten. Jede Woche werden in Irland dreitausend Blutspenden benötigt. Nur drei Prozent der irischen Bevölkerung spenden Blut, das für eine Bevölkerung von fast vier Millionen ausreichen muss. Einer von vier Menschen braucht irgendwann im Leben eine Transfusion. Sehen Sie sich bitte jetzt mal im Raum um.«
Fünfhundert Köpfe drehen sich nach links, nach rechts, nach vorn, nach hinten. Unbehagliches Lachen durchbricht die Stille.
Dr. Fields’ Stimme übertönt die Unruhe. »Mindestens hundertfünfzig Leute in diesem Raum brauchen irgendwann in ihrem Leben eine Bluttransfusion.«
Sofort sind alle wieder still. Dann hebt sich eine Hand.
»Ja?«
»Wie viel Blut braucht ein Patient?«
»Wie lang ist ein Stück Schnur, Blödmann?«, spottet jemand von weiter hinten, und eine Papierkugel fliegt dem jungen Fragesteller an den Kopf.
»Eine sehr gute Frage.« Stirnrunzelnd späht Dr. Fields in die Dunkelheit, aber sie kann die Studenten im Gegenlicht des Projektors nicht sehen. »Wer hat sie gestellt?«
»Mr Dover«, meldet sich eine Stimme von der anderen Seite des Saals.
»Ich bin sicher, dass Mr Dover für sich selbst sprechen kann. Wie heißen Sie mit Vornamen?«
»Ben«, antwortet der Fragesteller in niedergeschlagenem Ton.
Gelächter brandet auf. Dr. Fields seufzt.
»Danke für die Frage, Ben. Den anderen möchte ich sagen, dass es keine dummen Fragen gibt. Darum geht es in der Blutspendewoche. Es geht darum, alle Fragen zu stellen, die Ihnen einfallen, und alles über die Bluttransfusion zu erfahren, was Sie wissen sollten, ehe Sie sich entscheiden können, heute, morgen oder irgendwann im Lauf dieser Woche auf dem Campus und hoffentlich in Zukunft regelmäßig Blut zu spenden.«
In diesem Moment öffnet sich die Saaltür, Licht strömt in den dunklen Raum: Auftritt Justin Hitchcock, das Gesicht im weißen Licht des Projektors von Konzentration durchfurcht, unter dem linken Arm einen Stapel Aktenordner, die von Sekunde zu Sekunde tiefer rutschen. In der rechten Hand trägt er eine vollgestopfte Mappe und einen Pappbecher mit Kaffee, was ihm einen ziemlich komplizierten Balanceakt abverlangt. Jetzt schießt ein Knie vor, um die Ordner wieder an Ort und Stelle zu bugsieren, danach senkt sich der Fuß des rettenden Beins langsam wieder zu Boden. Es sieht aus wie eine Tai-Chi-Übung, und als das Gleichgewicht einigermaßen wiederhergestellt ist, breitet sich ein erleichtertes Lächeln über das Gesicht. Im Saal wird gekichert, was die Balance erneut in Frage stellt.
Reiß den Blick vom Kaffee los, Justin, und schau dich erst mal um. Verschaff dir einen Überblick: Frau auf dem Podium, fünfhundert junge Leute im Saal. Die dich allesamt anstarren. Sag was. Was Intelligentes.
»Ich bin verwirrt«, verkündet er aufs Geratewohl in die Dunkelheit hinein, hinter der er irgendeine Art intelligenten Lebens ahnt. Wieder ein paar Kicherer, und er spürt die Blicke auf sich ruhen, während er sich zur Tür zurückbewegt, um die Raumnummer zu prüfen.
Verschütte jetzt bloß nicht deinen Kaffee. Verschütte jetzt bloß nicht deinen blöden Kaffee!
Es gelingt ihm, unfallfrei die Tür zu öffnen. Wieder strömt das Licht vom Korridor herein, und die Studenten, auf die es fällt, halten sich schützend die Hand über die Augen.
Kicher, kicher. Es gibt doch nichts Komischeres als einen Menschen, der sich verlaufen hat.
Bepackt, wie er ist, schafft er es trotzdem, die Tür mit dem Bein aufzuhalten. Er wirft einen Blick auf die Raumnummer draußen und dann auf seinen Zettel, der, wenn er ihn nicht sofort und entschlossen festhält, auf den Boden segeln wird. Er packt zu. Aber mit der falschen Hand. Der volle Pappbecher platscht auf den Boden. Der Zettel segelt hinterher.
Verdammt! Da geht es schon wieder los, kicher, kicher. Es gibt doch nichts Komischeres als einen Menschen, der sich verlaufen hat, der seinen Kaffee verschüttet und dem sein Stundenplan runterfällt.
»Kann ich Ihnen helfen?« Die Frau steigt vom Podium.
Justin manövriert seinen Gesamtkörper zurück in den Saal, die Tür geht zu, und es wird wieder dunkel.
»Na ja, hier steht…«, mit Blick auf das durchweichte Blatt Papier auf dem Boden zögert er und korrigiert sich: »Na ja, hier stand, dass ich jetzt in diesem Raum eine Vorlesung habe.«
»Ausländische Studenten müssen sich in der Aula einschreiben.«
Justin runzelt die Stirn. »Nein, ich…«
»Entschuldigung«, sagt sie und tritt etwas näher, »aber ich dachte, Sie hätten einen amerikanischen Akzent.« Dabei hebt sie den Pappbecher auf und wirft ihn in den Mülleimer, über dem ein Schild mit der Aufschrift »Getränke verboten« angebracht ist.
»Ah … oh … tut mir leid.«
»Die höheren Semester treffen sich nebenan.« Flüsternd fügt sie hinzu: »Glauben Sie mir, hier wollen Sie nicht bleiben.«
Justin räuspert sich, stellt sich einigermaßen gerade hin und stopft sich die Ordner enger unter den Arm. »Eigentlich soll ich hier eine Vorlesung über Kunstgeschichte und Architektur halten.«
»Sie halten die Vorlesung?«
»Ja, ich bin der Gastdozent. Ob Sie’s glauben oder nicht.« Er versucht, sich die Haarsträhnen, die ihm an der Stirn kleben, aus dem Gesicht zu blasen. Ich muss mir die Haare schneiden lassen, unbedingt. Da ist es schon wieder, das Gekicher. Der Gastdozent, der gerade seinen Kaffee verschüttet hat und demnächst seine Ordner fallen lassen wird, muss dringend zum Friseur. Also echt, kann man sich was Komischeres vorstellen?
»Mr Hitchcock?«
»Ja, der bin ich«, antwortet er und merkt, wie ihm die Ordner wegrutschen.
»Oh, tut mir leid«, flüstert die Frau. »Ich wusste ja nicht …« Geistesgegenwärtig fängt sie einen der Ordner für ihn auf. »Ich bin Dr. Sarah Fields vom IBTS. Der Fachbereich hat mir gesagt, ich könnte vor Ihrer Vorlesung eine halbe Stunde mit den Studenten haben, natürlich nur, wenn Sie einverstanden sind.«
»Oh, davon wusste ich gar nichts, aber das ist natürlich null problemo.« Null problemo? Er schüttelt den Kopf und strebt zur Tür. Starbucks, ich komme!
»Mr Hitchcock?«
Er bleibt an der Tür stehen. »Ja?«
»Haben Sie nicht vielleicht Lust dazubleiben?«
Ganz bestimmt nicht. Auf mich warten ein Cappuccino und ein Muffin, wie für mich gemacht. Nein. Ich muss einfach nur nein sagen.
»Äh … ne-ja.« Ne-ja? »Ich meine ja.«
Kicher, kicher, kicher. Dozent hat sich blamiert. Ist von einer attraktiven jungen Frau in einem weißen Kittel, die behauptet, eine Ärztin einer unbekannten Organisation zu sein, dazu gezwungen worden, etwas zu tun, was er eindeutig nicht wollte.
»Großartig. Willkommen.«
Sie schiebt die restlichen Ordner unter seinen Arm und kehrt aufs Podium zurück, um mit ihrem Vortrag weiterzumachen.
»Okay, dann bitte ich jetzt wieder um Aufmerksamkeit, und zwar für unsere Frage zur Blutmenge. Das Opfer eines Autounfalls kann bis zu dreißig Bluteinheiten benötigen, ein blutendes Magengeschwür braucht zwischen drei und dreißig Einheiten, eine Bypassoperation zwischen einer und fünf Einheiten. Die Menge schwankt also, aber Sie sehen an den Beispielen, dass der Bedarf so hoch ist, dass wir immer Blutspender brauchen.«
Justin sucht sich einen Platz in der ersten Reihe, während ihm voller Entsetzen klar wird, in was er da hineingeraten ist.
»Sonst noch Fragen?«
Könnten wir vielleicht das Thema wechseln?
»Bekommt man Geld, wenn man Blut spendet?«
Gelächter.
»Nein, hier in Irland leider nicht.«
»Erfährt ein Mensch, der Blut bekommt, wer der Spender ist?«
»Im Normalfall sind Spenden anonym, aber die Produkte in einer Blutbank können durch den Zyklus von Spenden, Testen, Komponententrennung, Lagerung und Vergabe an den Empfänger immer zurückverfolgt werden.«
»Kann jeder Blut spenden?«
»Gute Frage. Ich habe hier eine Liste von Indikationen, die eine Blutspende ausschließen. Bitte lesen Sie diese alle aufmerksam durch und machen Sie sich ruhig auch Notizen, wenn Sie möchten.« Dr. Fields legt ein Blatt Papier unter den Projektor, und auf ihrem weißen Kittel leuchtet ein ziemlich drastisches Bild auf von jemandem, der dringend eine Blutspende braucht. Dann tritt sie zurück, und jetzt erscheint das Bild des Unfallopfers gehorsam auf der Leinwand.
Die Zuhörer stöhnen auf, und das Wort »krass« macht die Runde wie eine La-Ola-Welle. Zweimal kommt es an Justin vorbei. Ihm wird schwindlig, und er wendet die Augen ab.
»Uuups, falsche Folie«, stellt Dr. Fields ungerührt fest, tauscht sie bedächtig aus, und jetzt taucht die angekündigte Liste auf.
Hoffnungsvoll sucht Justin nach einem Punkt über Spritzen- oder Blutphobie, denn dann käme er als Spender von vornherein nicht in Frage. Nichts dergleichen. Andererseits spielt das eigentlich auch keine Rolle, denn dass er auch nur einen einzigen Tropfen Blut spendet, ist ungefähr so unwahrscheinlich, wie dass er am frühen Morgen einen Geistesblitz hat.
»Schade, Dover.« Wieder saust ein Papierkügelchen von hinten auf Bens Kopf zu. »Schwule dürfen kein Blut spenden.«
Ben streckt gelassen den Mittelfinger in die Luft.
»Das ist Diskriminierung«, ruft ein Mädchen.
»Diese Diskussion können wir hier und heute leider nicht führen«, erwidert Ms Fields und fährt fort: »Denken Sie daran, der Körper ersetzt den Flüssigkeitsanteil einer Blutspende innerhalb weniger Stunden. Eine Einheit ist knapp ein halber Liter, und da ein normaler Erwachsener durchschnittlich vier bis sechs Liter Blut im Körper hat, kann er gut eine Einheit entbehren.«
Hie und da wird wieder pubertär gekichert.
»Also, hören Sie«, fährt Dr. Fields fort und klatscht Aufmerksamkeit heischend in die Hände. »Bei der Blutspendewoche geht es ebenso um Information wie ums eigentliche Blutspenden. Es ist gut und schön, dass wir über das Thema lachen können, aber ich finde, man sollte sich gelegentlich auch vor Augen führen, dass ein Leben – sei es das einer Frau, eines Mannes oder eines Kindes – in diesem Moment von Ihnen abhängt.«
Wie schnell das Schweigen sich im Saal ausbreitet. Sogar Justin hört auf, mit sich selbst zu sprechen.