»Ich finde nichts zu essen in dieser Wohnung, wir müssen uns was bestellen«, ruft Justins Schwägerin Doris ins Wohnzimmer, während sie im Küchenschrank herumwühlt.

»Vielleicht kennst du die Frau ja irgendwoher«, meint Justins jüngerer Bruder Al, der auf einem Plastikgartenstuhl in Justins bestenfalls halb eingerichtetem Wohnzimmer sitzt.

»Nein, das ist es ja, was ich dir zu erklären versuche. Sie kommt mir bekannt vor, obwohl ich genau weiß, dass ich sie nicht wirklich kenne.«

»Du hast sie erkannt?«

»Ja. Hmm, nein.« Irgendwie schon.

»Und du kennst ihren Namen.«

»Nein. Ich habe keine Ahnung, wie sie heißt.«

»Hey, hört mir eigentlich da drüben jemand zu oder führe ich Selbstgespräche?«, unterbricht Doris sie erneut. »Ich hab gesagt, hier gibt es nichts zu essen, und wir müssen was bestellen.«

»Ja, klar, Schatz«, ruft Al. »Vielleicht ist sie eine von deinen Studentinnen oder war mal bei einem Vortrag von dir. Erinnerst du dich normalerweise an deine Zuhörer?«

»Da sitzen Hunderte von Leuten«, erwidert Justin schulterzuckend. »Und meistens ist es dunkel.«

»Das heißt dann also nein«, fasst Al zusammen.

»Ach, vergesst das mit dem Bestellen«, meldet Doris sich wieder. »Du hast ja auch keine Teller und kein Besteck – wir müssen essen gehen.«

»Das muss ich noch mal erklären, Al. Wenn ich sage, sie kommt mir bekannt vor, dann meine ich, dass ich ihr Gesicht nicht wirklich kenne.«

Al runzelt die Stirn.

»Es ist nur so ein Gefühl. Als wäre sie mir irgendwie vertraut.« Ja, das ist es – sie kam ihm vertraut vor.

»Vielleicht sieht sie nur einer Frau ähnlich, die du kennst.«

Vielleicht.

»Hey, warum hört mir eigentlich niemand zu?« Jetzt steht Doris in der Wohnzimmertür – lange Fingernägel mit Leopardenmuster, die Hüften in einer hautengen Lederhose. Doris ist fünfunddreißig, Italo-Amerikanerin, Schnellrednerin und seit zehn Jahren mit Al verheiratet. Für Justin ist sie so etwas wie eine liebenswerte, aber manchmal entsetzlich nervige kleine Schwester. An ihrem Körper befindet sich kein Gramm Fett, und alles, was sie anhat, scheint aus dem Schrank von Sandy aus Grease zu stammen – in ihrer verruchten Phase gegen Ende des Films natürlich.

»Ja, klar, Schatz«, sagt Al wieder, ohne sie anzusehen. »Vielleicht war es ja so ein Déjà-Dingsda.«

»Ja!«, meint Justin und schnippt mit den Fingern. »Ein Déjà-vu. Oder vielleicht ein Déjà-vécu oder ein Déjà-senti«, philosophiert er und reibt sich gedankenverloren das Kinn. »Oder ein Déjà-visité

»Was soll das denn sein?«, fragt Al, während Doris einen großen Karton als Sitzgelegenheit heranzieht und sich neben den beiden Männern niederlässt.

»Déjà-vu ist Französisch für ›schon gesehen‹ und beschreibt die Erfahrung, dass man eine neue Situation schon einmal erlebt zu haben meint. Der Begriff wurde von einem französischen Forscher namens Emile Boirac geprägt, der sich sehr für übersinnliche Phänomene interessierte. Er hat ihn in einem Essay publik gemacht, den er während seiner Zeit an der University of Chicago veröffentlichte.«

»Go the Maroons«, ruft Al, hebt Justins alten Pokal des Chicagoer Uni-Teams, den er als Bierglas benutzt, und trinkt ein paar große Schlucke.

Mit angewidertem Blick sieht Doris ihm zu. »Erzähl weiter, Justin.«

»Nun, ein Déjà-vu-Erlebnis wird gewöhnlich begleitet von einem unwiderstehlichen Gefühl der Vertrautheit, obwohl einem alles gleichzeitig unheimlich und fremd ist. Oft führt man die Erfahrung auf einen Traum zurück, obwohl sie in manchen Fällen von dem sicheren Gefühl begleitet ist, dass man die Situation in der Vergangenheit schon einmal erlebt hat. Man hat das Déjà-vu auch schon als eine Art Erinnerung an die Zukunft beschrieben.«

»Wow!«, haucht Doris beeindruckt.

»Und was willst du damit nun genau sagen, großer Bruder?«, erkundigt sich Al und rülpst.

»Na ja, ich glaube nicht, dass das mit mir und der Frau heute ein richtiges Déjà-vu war«, entgegnet Justin seufzend.

»Warum nicht?«

»Weil ein Déjà-vu sich nur aufs Sehen bezieht, und ich das Gefühl hatte … ach, ich weiß auch nicht. Ich hatte einfach ein Gefühl. Déjà vécu heißt ›schon erlebt‹, was eine Erfahrung beschreibt, die nicht nur das Visuelle umfasst, sondern auch noch das Wissen, was als Nächstes passiert. Déjà senti bedeutet spezifisch ›schon gefühlt‹ und déjà visité, dass man einen neuen Ort bereits genau kennt, aber das kommt seltener vor. Nein«, fügt er kopfschüttelnd hinzu. »Ich hatte überhaupt nicht das Gefühl, schon mal bei diesem Friseur gewesen zu sein.«

Alle schweigen.

Schließlich sagt Al: »Na ja, es ist aber eindeutig ein Déjà-irgendwas. Bist du sicher, dass du nicht einfach irgendwann schon mal mit ihr gevögelt hast?«

»Al«, ruft Doris und versetzt ihrem Mann einen Klaps auf den Unterarm. »Warum hast du dir nicht von mir die Haare schneiden lassen, Justin, und über wen redet ihr überhaupt?«

»Du hast einen Hundesalon«, gibt Justin stirnrunzelnd zu bedenken.

»Hunde haben auch Haare«, gibt sie zurück und zuckt die Achseln.

»Lass mich erklären«, unterbricht Al. »Justin hat gestern bei einem Friseur in Dublin eine Frau gesehen, die ihm bekannt vorkam, obwohl ihm ihr Gesicht nichts sagte, und er hatte das Gefühl, dass er sie kennt, obwohl er weiß, dass er sie nicht kennt.« Er rollt theatralisch die Augen, aber so, dass Justin es nicht sieht.

»O mein Gott«, ruft Doris schrill. »Ich weiß, was das ist!«

»Was?«, fragt Justin und trinkt aus seinem Zahnputzbecher.

»Ganz klar«, fährt Doris fort, hebt die Hände und sieht von einem Bruder zum andern, um den dramatischen Effekt zu erhöhen. »Das ist Zeug aus einem alten Leben.« Ihr Gesicht beginnt zu strahlen. »Du kennst die Frau aus einem früheren Leeeeben!« Sie spricht langsam und betont. »So was hab ich mal bei Oprah gesehen.« Mit großen Augen nickt sie bedeutungsvoll.

»Ach, hör auf mit diesem Quatsch, Doris«, meint Al und fährt, an seinen Bruder gewandt, fort: »Sie redet zurzeit von nichts anderem. Da kommt irgendwas im Fernsehen, und schon geht es los, den ganzen Weg von Chicago bis hier.«

»Ich glaube nicht, dass es mit einem früheren Leben zusammenhängt, Doris, aber trotzdem danke.«

Doris schnalzt mit der Zunge. »Ihr beiden solltet solchen Dingen gegenüber offener sein, weil man nämlich nie wissen kann.«

»Genau, man kann nie wissen«, feuert Al zurück.

»Ach, kommt schon. Die Frau war mir irgendwie vertraut, weiter nichts. Vielleicht sah sie nur jemandem ähnlich, den ich daheim mal gekannt habe. Nicht so wichtig.« Vergiss es einfach und denk an was anderes.

»Na, du hast aber mit diesem ganzen Déjà-Zeug angefangen«, schnaubt Doris. »Wenn nicht ein früheres Leben, welchen Grund soll es denn sonst für so was geben?«

»Optische Reizleitungsverzögerung«, antwortet Justin mit einem Achselzucken.

Bruder und Schwägerin glotzen ihn an.

»Es gibt die Theorie, dass manchmal das eine Auge eine Szene minimal schneller wahrnimmt als das andere. Wenn die gleiche Szene wenige Millisekunden später vom anderen Auge aufgenommen wird, entsteht ein starker Erinnerungseffekt. Der ist zwar lediglich das Ergebnis einer Verzögerung des optischen Inputs vom einen zum anderen Auge, der sonst simultan erfolgt, aber das Ganze führt die bewusste Wahrnehmung in die Irre und verursacht ein Gefühl von Vertrautheit, wo es gar keines geben sollte.«

Schweigen.

Justin räuspert sich.

»Ob du es glaubst oder nicht, Schatz, ich fand deine Erklärung mit dem früheren Leben besser«, schnaubt Al und trinkt sein Bier aus.

»Danke, Süßer.« Doris drückt gerührt die Hand aufs Herz. »Na gut, wie ich vorhin schon bei meinem Selbstgespräch in der Küche erwähnt habe – da es hier nichts zu beißen, kein Besteck und kein Geschirr gibt, müssen wir irgendwo was essen gehen. Schau dir doch mal an, wie du hier haust, Justin. Ich mach mir Sorgen um dich.« Voller Abscheu schaut Doris sich um, und ihre zurückgekämmten, mit Haarspray bearbeiteten rot gefärbten Haare folgen der Bewegung. »Du bist ganz allein hierhergezogen, du hast nichts als Gartenmöbel und unausgepackte Kisten, dieser Keller sieht aus wie eine Studentenbude. Anscheinend hat Jennifer bei eurer Scheidung auch den ganzen guten Geschmack zugesprochen gekriegt.«

»Das Haus ist ein viktorianisches Meisterwerk, Doris, ein echter Fund. Das hier ist die einzige Wohnung, die ein bisschen Geschichte hat und dabei einigermaßen erschwinglich ist. London ist teuer.«

»Vor Jahrhunderten war das hier bestimmt ein Juwel, aber jetzt kriege ich Gänsehaut.« Doris schaudert. »Der Erbauer des Hauses treibt sich bestimmt noch irgendwo in dem Gemäuer rum und beobachtet uns.«

Al verdreht die Augen.

»Die Wohnung braucht bloß ein bisschen Zuwendung, dann ist sie wunderbar«, sagt Justin und versucht dabei nicht an die Wohnung im wohlhabenden, historischen Teil von Chicago zu denken, die er geliebt und vor kurzem verscherbelt hat.

»Genau deshalb bin ich ja hier«, ruft Doris und klatscht in die Hände.

»Großartig«, meint Justin mit einem gezwungenen Lächeln. »Gehen wir was essen. Ich hab Lust auf ein Steak.«

 

»Aber du bist doch Vegetarierin, Joyce«, sagt Conor und sieht mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Wahrscheinlich stimmt das sogar. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal rotes Fleisch gegessen habe, aber jetzt, wo wir uns im Restaurant niedergelassen haben, bin ich auf einmal ganz scharf darauf.

»Ich bin keine Vegetarierin, Conor. Ich mag nur einfach kein rotes Fleisch.«

»Aber du hast grade ein Steak bestellt, und zwar blutig!«

»Ich weiß«, räume ich achselzuckend ein. »Ich bin halt ein verrücktes Huhn.«

Er lächelt, als erinnerte er sich, dass ich tatsächlich mal ein ziemlich wilder Feger war. Wir benehmen uns wie zwei Freunde, die sich nach vielen Jahren wiederbegegnen. So viel zu bereden, und wir haben beide nicht den geringsten Schimmer, wo wir anfangen sollen.

»Haben Sie schon einen Wein ausgesucht?«, erkundigt sich der Kellner bei Conor.

Rasch greife ich nach der Weinkarte. »Ich möchte gerne diesen hier«, sage ich und deute auf die Karte.

»Sancerre 1998. Eine sehr gute Wahl, Madam.«

»Danke.« Ich habe keine Ahnung, warum ich diesen Wein ausgesucht habe.

Conor lacht. »Hast du das an den Fingern abgezählt?« Ich lächle, aber mir wird ganz heiß. Ich weiß nicht, wie ich auf diesen Wein gekommen bin. Er ist zu teuer, und ich trinke normalerweise Weißwein, aber ich tue, als wäre nichts, weil ich nicht möchte, dass Conor denkt, ich drehe allmählich durch. Schließlich fand er meine abgeschnittenen Haare schon verrückt genug. Er soll denken, dass ich wieder ganz normal bin, damit ich ihm das sagen kann, was ich mir für heute Abend vorgenommen habe.

Der Kellner kommt mit der Weinflasche.

 

»Du kannst ihn probieren«, sagt Al zu Justin, »immerhin hast du ihn auch ausgesucht.«

Justin hebt das Weinglas, steckt die Nase hinein und atmet tief ein.

 

Ich atme tief ein, schwenke den Wein im Glas herum und beobachte, wie er an den Seiten hochschwappt. Dann nehme ich einen Schluck, behalte ihn einen Moment auf der Zunge und sauge ihn dann ein, so dass der Alkohol auf der Innenseite meines Munds brennt. Perfekt.

»Wunderbar, danke«, sage ich und stelle das Glas wieder auf den Tisch.

Der Kellner füllt Conors Glas und schenkt mir nach.

»Ein herrlicher Wein.« Dann beginne ich ihm die Geschichte zu erzählen.

 

»Ich habe ihn entdeckt, als Jennifer und ich vor ein paar Jahren in Frankreich waren«, erklärt Justin. »Sie hat beim Festival des Cathédrales de Picardie im Orchester gespielt, ein denkwürdiges Erlebnis. In Versailles haben wir im Hôtel du Berry übernachtet, einer eleganten Villa von 1634 mit jeder Menge Mobiliar aus dieser Zeit. Praktisch ein historisches Museum der Region – vielleicht erinnert ihr euch noch, dass ich davon erzählt habe. Jedenfalls haben wir an einem ihrer freien Abende in Paris dieses wunderschöne kleine Fischrestaurant gefunden, irgendwo versteckt in einem der Kopfsteinpflastersträßchen von Montmartre. Wir haben Seebarsch bestellt, die Spezialität des Hauses, aber ihr wisst ja, dass ich eigentlich Rotweinfan bin – sogar zu Fisch trinke ich lieber rot als weiß –, und da hat der Kellner uns den Sancerre empfohlen.

Ich dachte immer, es gäbe nur weiße Sancerre-Weine, da sie ja wegen der Sauvignon-Traube bekannt sind, aber sie bauen auch Pinot Noir dort an. Und das Tolle ist, dass man den roten Sancerre gekühlt wie Weißwein trinken kann, bei zwölf Grad. Ungekühlt schmeckt er auch sehr lecker zu Fleisch. Also, genießt ihn.« Er prostet seinem Bruder und seiner Schwägerin zu.

 

Mit versteinertem Gesicht sieht Conor mich an. »Montmartre? Joyce, du warst noch nie in Paris. Woher weißt du denn auf einmal so viel über Wein? Und wer zum Henker ist Jennifer?«

Ich erwache aus meiner Trance und höre auf einmal die Worte der Geschichte, die ich gerade erzählt habe. Und tue das Einzige, was ich unter diesen Umständen tun kann. Ich fange an zu lachen. »Erwischt!«

»Erwischt?«, hakt er nach und runzelt die Stirn.

»Das war aus einem Film, den ich neulich gesehen habe.«

»Oh.« Erleichterung breitet sich auf seinem Gesicht aus, und er entspannt sich ein bisschen. »Einen Moment hast du mir echt Angst eingejagt, Joyce. Es war, als wärst du jemand anderes.« Er lächelt. »Was war das für ein Film?«

»Ach, ich weiß nicht mehr, wie er hieß«, antworte ich und wedle wegwerfend mit der Hand, überlege dabei aber krampfhaft, was eigentlich mit mir los ist, und versuche mich zu erinnern, ob ich überhaupt diese Woche irgendeinen Film gesehen habe.

»Magst du jetzt auf einmal keine Sardellen mehr?«, unterbricht er meine Gedanken und betrachtet die Sammlung kleiner Fischchen, die sich auf meinem Tellerrand stapeln.

 

»Gib sie mir, großer Bruder«, sagt Al und streckt Justin seinen Teller hin. »Ich liebe Sardellen. Wie du Caesar Salad ohne essen kannst, ist mir unbegreiflich. Ist es okay, dass ich die Sardellen esse, Doris?«, fragt er dann seine Frau in sarkastischem Ton. »Der Arzt war nicht zufällig der Ansicht, dass Sardellen mich umbringen, oder?«

»Höchstens, wenn ich dir das Maul damit stopfe, was sehr gut möglich ist«, stößt Doris zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Neununddreißig Jahre bin ich alt und werde immer noch behandelt wie ein Kind«, sagt Al und blickt betrübt auf sein Sardellenhäufchen.

»Fünfunddreißig Jahre bin ich alt, und mein einziges Kind ist mein Ehemann«, faucht Doris zurück, piekt eine Sardelle aus dem Häufchen und probiert sie. Naserümpfend schaut sie sich dann im Lokal um. »Das nennen die ein italienisches Restaurant? Meine Mutter und ihre Familie würden sich allesamt im Grab umdrehen, wenn sie das sähen.« Sie bekreuzigt sich rasch und fährt dann fort: »Also, Justin, erzähl mal von der Frau, mit der du dich triffst.«

Justin verzieht das Gesicht. »Doris, das ist keine große Sache, ich hab dir doch gesagt, dass ich bloß gedacht habe, ich würde sie kennen.« Und sie sah aus, als würde sie auch überlegen, woher sie mich kennt.

»Nein, nicht die«, sagt Al laut, den Mund voller Sardellen. »Doris meint die andere, die du neulich gebumst hast.«

»Al!« Justin bleibt das Essen im Hals stecken.

 

»Joyce«, meint Conor besorgt, »alles in Ordnung mit dir?«

Tränen steigen mir in die Augen, ich huste, keuche und schnappe nach Luft.

»Hier, trink einen Schluck Wasser.« Er hält mir ein Glas unter die Nase.

Um uns herum glotzen die Leute, alarmiert und besorgt.

Aber mein Hustenanfall ist so heftig, dass ich nicht mal trinken kann. Conor steht auf, stellt sich hinter mich und klopft mir auf den Rücken, doch ich schüttle ihn energisch ab und huste weiter, während mir die Tränen in Strömen über die Wangen laufen. Panisch springe ich auf und werfe dabei den Stuhl um.

 

»Al! Tu doch was, Al! Oh, Madonnina santa!« Doris bricht in Panik aus. »Er läuft schon blau an!«

Al bindet seine Serviette vom Kragen und legt sie ganz ruhig auf den Tisch. Dann steht er auf und stellt sich hinter seinen Bruder. Er schlingt die Arme von hinten um seine Taille und drückt ihm kräftig auf den Bauch. Beim zweiten Anlauf löst sich der Bissen, der in Justins Kehle feststeckt.

 

Noch jemand kommt mir zu Hilfe oder mischt sich besser gesagt in die panische Diskussion darüber ein, wie man das Heimlich-Manöver durchführt. Und dann höre ich auf einmal auf zu husten. Drei Augenpaare starren mich überrascht an, und ich reibe mir den Hals, ebenfalls ziemlich verwirrt.

»Alles wieder okay?«, fragt Conor und fängt schon wieder an, mir den Rücken zu tätscheln.

»Ja«, flüstere ich. Die Aufmerksamkeit, die wir auf uns gezogen haben, ist mir unendlich peinlich. »Mir geht’s wieder gut, danke. Ich danke Ihnen allen für Ihre Hilfe.«

Aber die Helfer ziehen sich nur langsam wieder zurück.

»Sie können sich ruhig hinsetzen und weiteressen. Mir geht’s gut, ehrlich. Danke.« Schnell setze ich mich auch wieder, reibe mir die Wimperntusche aus den Augen und versuche die neugierigen Blicke zu ignorieren. »O Gott, war das peinlich.«

»Komisch, du hattest nicht mal was gegessen. Du hast geredet, und auf einmal – zack! – hast du angefangen zu husten.«

»Ich weiß auch nicht, irgendwas ist mir wohl beim Einatmen in die Quere gekommen«, wiegle ich ab.

Der Kellner kommt, um unsere Teller abzuräumen. »Ist alles in Ordnung, Madam?«

»Ja, danke, es geht mir gut.«

Von hinten stupst mich jemand an, und ein Nachbar von uns, der gerade mit seiner Frau das Restaurant betreten hat, beugt sich zu uns herüber. »Hey, wir dachten schon, du kriegst Wehen, ha-ha! Stimmt’s, Margaret?« Er sieht seine Frau an und lacht.

»Nein«, entgegnet Margaret, während ihr Lächeln verblasst. Sie läuft puterrot an. »Nein, Pat«, wiederholt sie und fasst ihn am Ärmel.

»Nein?« Der Mann ist verwirrt. »Na ja, ich hab das jedenfalls gedacht. Glückwunsch, Conor.« Er zwinkert Conor zu, der auf einmal ganz blass wird. »Glaubt mir, ihr könnt euch die nächsten zwanzig Jahre vom ruhigen Nachtschlaf verabschieden. Aber lasst es euch trotzdem schmecken.« Dann lässt er sich von Margaret zu einem Tisch weiterziehen, und kurz darauf hören wir Streitgemurmel.

Conor macht ein langes Gesicht und ergreift über den Tisch hinweg meine Hand. »Alles klar mit dir?«

»Das ist mir jetzt schon ein paar Mal passiert«, erkläre ich und lege instinktiv die Hand auf meinen flachen Bauch. »Ich hab auch kaum in den Spiegel geschaut, seit ich wieder zu Hause bin. Ich ertrage es irgendwie nicht.«

Conor bringt angemessen besorgte Laute hervor, ich höre die Worte »schön« und »hübsch«, gebe ihm aber zu verstehen, dass er lieber schweigen soll. Es ist wichtig für mich, dass er zuhört und nicht versucht, gleich wieder alles zu regeln. Er soll verstehen, dass es mir nicht um mein Äußeres, nicht ums Hübschsein geht, sondern darum, so zu erscheinen, wie ich bin. Ich möchte ihm erklären, wie ich mich fühle, wenn ich mich zwinge, in den Spiegel zu sehen und meinen Körper anzuschauen, der mir jetzt vorkommt wie ein leeres Gefäß.

»Ach, Joyce.« Er umfasst meine Hand fester, während ich spreche, und drückt mir dabei den Ehering so heftig ins Fleisch, dass es wehtut.

Ein Ehering, aber keine Ehe.

Ich bewege die Hand ein bisschen, damit er merkt, dass er seinen Griff lockern soll. Aber stattdessen lässt er mich gleich ganz los. Ein Zeichen.

»Conor«, ist alles, was ich sage. Ich sehe ihn an und mir wird klar, dass er weiß, was ich gleich sagen werde. Er hat diesen Blick schon öfter gesehen.

»Nein, nein, nein, nein, Joyce, nicht diese Diskussion.« Er hebt abwehrend die Hände. »Du – wir alle beide haben diese Woche schon genug durchgemacht.«

»Conor, ich will keine Ablenkungen mehr«, beginne ich mit dringlicher Stimme und beuge mich vor. »Wir müssen jetzt über uns sprechen, sonst sitzen wir in zehn Jahren da und fragen uns den Rest unseres Lebens, was hätte sein können.«

In den letzten fünf Jahren haben wir dieses Gespräch regelmäßig mindestens einmal im Jahr geführt, und ich warte schon auf Conors übliche Erwiderung. Dass niemand behauptet hat, die Ehe sei ein Sonntagsspaziergang, dass wir nicht zu viel erwarten dürfen, dass wir uns aber etwas versprochen haben, dass die Ehe etwas fürs Leben ist und dass er sich bemüht, daran zu arbeiten. Retten wir, was zu retten ist, predigt mein Mann, der so gut wie nie anwesend ist. Ich konzentriere mich auf die Reflexion der Kerze in meinem Dessertlöffel, während ich auf seinen Vortrag warte. Erst mehrere Minuten später merke ich, dass er nicht kommt. Als ich aufblicke, sehe ich, dass Conor mit den Tränen kämpft und nickt, als würde er mir zustimmen.

Ich hole tief Luft. Das war’s dann wohl.

 

Justin beäugt die Dessertkarte.

»Nein, das kannst du glatt vergessen, Al«, verkündet Doris, entreißt ihrem Mann die Karte und klappt sie zu.

»Warum nicht? Darf ich nicht wenigstens die Karte lesen?«

»Dein Cholesterinspiegel steigt schon, wenn du sie bloß anschaust.«

Justin blendet ihre Kabbelei aus. Eigentlich sollte er auch keinen Nachtisch essen. Seit der Scheidung lässt er sich ein bisschen gehen und isst, um sich zu trösten, statt Sport zu machen. Er sollte es wirklich gut sein lassen, aber seine Augen schweben über der Karte wie ein Geier über seiner Beute.

»Darf ich Ihnen einen Nachtisch bringen, Sir?«, erkundigt sich der Kellner.

Also los.

»Ich hätte gern die …«

 

»… Banoffee Pie, bitte«, platze ich zu meiner eigenen Überraschung heraus, als der Kellner mich nach dem Dessert fragt. Conor sperrt den Mund auf.

Ach je. Meine Ehe ist gerade in die Brüche gegangen, und ich bestelle Nachtisch! Verlegen beiße ich mir auf die Lippen, um ein nervöses Lächeln zu verdrängen.

Auf den Neuanfang. Auf das Streben nach … irgendwas.