Ich liege im Bett, starre an die Decke und versuche, aus meinem Leben schlau zu werden. Dad ist noch zu verschiedenen Untersuchungen im Krankenhaus, soll aber morgen rauskommen. Das Alleinsein zwingt mich, über mein Leben nachzudenken, und ich habe mich durch Verzweiflung, Schuld, Traurigkeit, Wut, Einsamkeit, Depression und Zynismus gearbeitet und schließlich den Weg zur Hoffnung gefunden. Wie ein Süchtiger mit Entzugserscheinungen bin ich durchs Haus gerannt, während die Emotionen mir aus allen Poren quollen. Ich habe laut auf mich selbst eingeredet, ich habe geschrien, gebrüllt, geweint und getrauert.

Jetzt ist es elf Uhr, spätabends, dunkel, windig und kalt draußen, denn der Winter erkämpft sich allmählich die Oberhand. Da klingelt das Telefon. Wahrscheinlich Dad, denke ich und eile nach unten, schnappe mir den Telefonhörer und setze mich auf die unterste Treppenstufe.

»Hallo?«

»Du warst es, die ganze Zeit schon!«

Ich erstarre. Mein Herz hämmert. Ich halte den Hörer ein Stück von meinem Ohr weg und atme erst mal tief durch.

»Justin?«

»Du warst es, von Anfang an, richtig?«

Ich schweige.

»Ich hab das Foto gesehen, von dir und deinem Vater und Bea. Das war der Abend, als sie dir von meiner Blutspende erzählt hat. Davon, was ich mir als Dank dafür wünsche.« Er niest.

»Gesundheit.«

»Warum hast du mir nichts davon gesagt? Wir sind uns doch so oft begegnet! Bist du mir gefolgt oder … oder was ist los, Joyce?«

»Bist du wütend auf mich?«

»Nein! Ich meine, ich weiß nicht. Ich verstehe das alles nicht. Ich bin total verwirrt.«

»Dann lass es mich erklären.« Ich hole noch mal tief Luft und versuche, meine Stimme ruhig zu halten, aber das ist schwer, weil mein Herz mit aller Macht in meinem Hals klopft. »Ich bin dir nicht gefolgt, wir sind uns zufällig begegnet, also mach dir deswegen bitte keine Sorgen. Ich bin keine Stalkerin. Es ist etwas passiert, Justin. Es ist etwas passiert, als ich meine Transfusion bekommen habe, und was immer das war – als dein Blut durch meine Adern geflossen ist, habe ich mich plötzlich mit dir verbunden gefühlt. Immer wieder war ich unerwartet in deiner Nähe, beim Friseur, im Ballett. Das war alles Zufall.« Jetzt rede ich schon wieder viel zu schnell, aber ich kann mich nicht bremsen. »Und dann hat Bea mir erzählt, dass du um die gleiche Zeit Blut gespendet hast, als ich welches bekommen habe, und …«

»Was?«

Ich bin nicht sicher, was er wissen will.

»Du meinst, es ist nicht gesagt, ob es wirklich mein Blut war, das du bekommen hast? Weil ich das nämlich nicht in Erfahrung bringen konnte. Niemand war bereit, es mir zu verraten. Hast du es rausgekriegt?«

»Nein. Niemand hat es mir gesagt, aber das war auch nicht nötig. Ich …«

»Joyce!«, fällt er mir ins Wort, und sein Ton macht mir Sorgen.

»Ich bin keine Spinnerin, Justin. Das kannst du mir glauben. So etwas, wie ich die letzten Wochen erlebt habe, ist mir vorher nie passiert.« Dann erzähle ich ihm die ganze Geschichte. Wie ich plötzlich seine Fähigkeiten bei mir entdeckte, sein Wissen, seine Vorlieben.

Er schweigt.

»Sag was, Justin.«

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das klingt so … so seltsam.«

»Es ist auch seltsam, aber es ist die Wahrheit. Das hört sich jetzt wahrscheinlich noch schlimmer an, aber ich habe das Gefühl, dass ich auch noch ein paar Erinnerungen von dir gekriegt habe.«

»Wirklich?« Seine Stimmt klingt kalt, weit weg. Ich verliere ihn.

»Erinnerungen an den Park in Chicago, daran, wie Bea in ihrem Tutu auf der rot karierten Decke tanzt, der Picknickkorb, die Flasche Rotwein. Die Kirchenglocken, das Eiscafé, die Wippe mit Al, die Sprinkler auf der Wiese, der …«

»Halt, halt, langsam! Warte mal. Wer bist du?«

»Ich, Justin, ich bin es!«

»Wer hat dir das alles erzählt?«

»Niemand, ich weiß es einfach!« Müde reibe ich mir die Augen. »Ich weiß, das klingt grotesk, Justin, wirklich. Ich bin ein normaler anständiger Mensch, zwar mit genug Zynismus ausgestattet, aber das ist mein Leben, und das passiert mir zurzeit wirklich. Wenn du mir nicht glaubst, tut es mir leid, dann lege ich jetzt auf und belästige dich nicht mehr, aber bitte nimm zur Kenntnis, dass es kein Witz und auch keine Verarschung oder so was ist.«

Eine Weile schweigt er. »Ich möchte dir ja glauben«, entgegnet er dann.

»Du spürst also auch etwas zwischen uns?«

»Ich sage dir, was ich fühle.« Er spricht ganz langsam, als würde er sich jeden Buchstaben genau überlegen. »Die Erinnerungen, Vorlieben und Hobbys und was du sonst noch von mir erwähnt hast, das alles sind Dinge, die du bei mir gesehen oder von mir gehört haben könntest. Ich behaupte nicht, dass du das absichtlich machst, vielleicht weißt du es ja nicht einmal, aber ich glaube, du hast schlicht und einfach meine Bücher gelesen. In meinen Büchern erwähne ich viele persönliche Details. Du hast das Foto in Beas Medaillon gesehen, du warst bei meinen Vorträgen, du hast meine Artikel gelesen. Möglicherweise, nein ganz sicher habe ich da auch irgendwelches Zeug über mich erzählt. Was beweist mir, dass du diese Dinge ausgerechnet über eine Bluttransfusion erfahren hast? Bitte nimm mir das jetzt nicht übel – aber woher soll ich wissen, dass du nicht irgendeine Verrückte bist, die sich das eingeredet hat, weil sie irgendein irres Buch gelesen oder einen Film darüber gesehen hat? Woher soll ich das bitte wissen?«

Ich seufze. Wie kann ich ihn überzeugen? Mir fällt keine Methode ein. »Justin, ich glaube momentan an gar nichts, aber an das, was ich dir erzählt habe, glaube ich ganz fest.«

»Tut mir echt leid, Joyce«, sagt er, und ich höre, dass er das Gespräch beenden will.

»Nein, warte«, halte ich ihn auf. »Das war es dann?« Schweigen.

»Wirst du nicht mal versuchen, mir zu glauben?«

Er seufzt abgrundtief. »Ich dachte, du wärst anders, Joyce. Ich weiß nicht, warum, weil ich dich ja nie getroffen habe, aber ich dachte, du wärst anders, ein anderer Mensch. Das … das verstehe ich nicht. Das finde ich … es ist irgendwie nicht richtig, Joyce.«

Jeder Satz ist wie ein Dolchstoß ins Herz, ein Schlag in den Magen. Von allen Menschen auf der Welt könnte ich das ertragen, aber nicht von ihm. Nein, nicht von Justin.

»Du hast in letzter Zeit anscheinend eine Menge durchgemacht, vielleicht solltest du … mit jemandem reden.«

»Warum glaubst du mir nicht? Bitte, Justin. Es muss doch etwas geben, womit ich dich überzeugen kann. Etwas, was ich weiß, was aber in keinem Artikel oder Buch oder Vortrag von dir je vorgekommen ist …« Ich breche ab, denn mir ist plötzlich etwas eingefallen. Aber nein, damit kann ich ihm jetzt nicht kommen.

»Leb wohl, Joyce. Ich wünsche dir das Allerbeste, wirklich.«

»Warte! Noch einen Moment. Etwas, was nur du wissen kannst.«

Er hält inne. »Was?«

Ich kneife die Augen fest zusammen und atme tief durch. Tu es oder lass es sein. Tu es oder lass es sein. Schließlich öffne ich die Augen wieder und platze heraus: »Dein Vater.«

Schweigen.

»Justin?«

»Was ist mit ihm?« Seine Stimme klingt eiskalt.

»Ich weiß, was du damals gesehen hast«, sage ich leise. »Was du nie jemandem erzählen konntest.«

»Wovon redest du, verdammt?«

»Ich weiß, dass du auf der Treppe gesessen und ihn durchs Geländer beobachtet hast. Ich kann ihn auch sehen. Ich sehe ihn, wie er die Tür zumacht, die Flasche und die Pillen in der Hand. Dann sehe ich die grünen Füße auf dem Boden …«

»HÖR SOFORT AUF DAMIT!«, brüllt er, und ich schweige erschrocken.

Aber ich muss es weiter versuchen, denn vielleicht bekomme ich keine zweite Chance, es zu sagen.

»Ich weiß, wie hart das für dich als Kind gewesen sein muss. Wie schlimm es war, es für dich zu behalten …«

»Du weißt überhaupt nichts«, unterbricht er mich kühl. »Nicht das Geringste. Bitte lass mich in Ruhe. Ich möchte nie wieder etwas von dir hören.«

»Okay.« Meine Stimme ist bloß noch ein Flüstern, aber ich rede sowieso nur noch mit mir selbst, er hat schon aufgelegt.

Dann sitze ich auf der Treppenstufe in dem dunklen leeren Haus und lausche dem kalten Oktoberwind, der ums Haus pfeift.

Das war es dann also.