8

Ich bin überrascht, als die Tür aufgeht. Sie wird nicht von Elba geöffnet, sondern von einem Mädchen. Mit großen braunen Augen. Die Augen werfen mich um. Sie erinnern mich an meine eigenen, als ich klein war. Es ist das Mädchen, das ich bei meiner Ankunft in der Stadt gesehen habe.

»Hallo«, sage ich. »Wie heißt du?« Ich beuge mich zu ihr hinunter.

Sie dreht sich weg und geht in die Wohnung, ohne die Tür zu schließen. Elba erscheint. »Das ist meine Tochter«, sagt sie. »Sag dem Mann, wie du heißt.«

Das Mädchen hebt den Kopf und sagt selbstbewusst, beinah hochnäsig: »Amhara heiße ich.«

Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Elba ein Kind hat. Sie hatte nichts davon gesagt. Aber wozu auch? In der Siedlung verbringen die Kinder viel Zeit ohne ihre Eltern. Sie werden fast die ganze Woche hindurch intensiv unterrichtet und leben in Internaten. So steigern wir ihr Lernvermögen und sorgen dafür, dass alle die gleiche angemessene Zuwendung erhalten. Ich gehe einmal davon aus, dass sich das seit meiner Zeit nicht geändert hat.

»Das ist aber ein schöner Name«, sage ich als Antwort. »Und wie alt bist du?«

»Neun.«

Ich will aus meiner Enttäuschung darüber, dass Elba eine Tochter hat, keinen Hehl machen. Auch wenn ich keine großen Erwartungen in sie setze, wird sie niemals ganz zu mir halten.

»Ich habe nichts von ihr gesagt, weil die Rede nicht darauf kam«, sagt Elba, als läse sie meine Gedanken.

»Oh«, antworte ich, »das macht doch nichts.« Ich weiß nicht, was ich sagen soll. »Sie haben eine sehr schöne Tochter.«

Darauf lächelt Elba zum Glück und fragt, ob ich nicht hereinkommen möchte.

Wir unterhalten uns ein wenig, während das Kind am Tisch auf einem Bogen Papier zeichnet. Das Gespräch ist ein wenig mühsam. Nach einer Pause meint sie: »Sie scheinen sich Gedanken über sie zu machen«, und deutet mit dem Kopf auf das Mädchen. Es ist eher eine Feststellung als eine Frage. Eigentlich hat sie mich nicht weiter beschäftigt. In unserer Siedlung wäre es ungewöhnlich, wenn eine Frau in einem bestimmten Alter kein Kind hätte, und jetzt sieht man hier wirklich viele Kinder. Tora hatte keins. Als Geliebte des Marschalls genoss sie wohl gewisse Privilegien.

»Wo ist der Vater?«, frage ich.

Sie schweigt und sieht mich nicht an. »Fortgegangen«, sagt sie einfach. »Er ist fortgegangen. Er lebt noch, aber er kommt nicht zurück. Nicht wirklich.«

Ich will fragen, wie sie das meint, aber sie spricht weiter.

»Er wäre sowieso kein guter Vater. Zu launisch, zu zornig. Ich meine nicht jähzornig, nichts in der Art. Ein Zorn auf die Welt. Obwohl er alles hatte und sehr erfolgreich war bei uns, war er zornig. Zu sagen, er sei freiwillig gegangen, wäre falsch. Er hätte nicht bleiben können. Das merkten auch andere. Es war, als wäre er ständig auf der Suche nach etwas anderem, anderswo. Hier war kein Bleiben für ihn.«

»Und wo ist er?«

Sie antwortet nicht. Sie hält den Kopf gesenkt.

»Den Namen hat er ihr gegeben«, sagt sie unvermittelt und deutet auf Amhara. »Oder jedenfalls vorgeschlagen. Er ist weg, bevor sie geboren wurde. Ein längst ausgestorbenes Volk, das einmal die Welt regiert hat, an das aber nur noch Ruinen erinnern. Sagte er zumindest, ich habe nie davon gehört. Er wusste angeblich sehr viel über die Vergangenheit.« Das klang jetzt etwas verbittert.

»Trotzdem«, ergänzt sie ruhiger, »auch ohne den geschichtlichen Bezug ist es ein schöner Name. Wie der Abendwind.«

Ich lächle über ihren malerischen Vergleich. Über die Amharen wird bei uns wirklich gemunkelt. Ich weiß noch, wie ich Tora einmal von einem selbst entdeckten Hinweis auf sie erzählt habe, einem Monolithen mit eingravierter Inschrift. In zwei verschiedenen Schriften. Entziffern konnte ich nur eine: »Wir, die Amhar …« An dieser Stelle war der Stein abgesplittert, und der Rest des Satzes fehlte. Ich suchte noch im Sand herum, fand aber nichts mehr.

»Sie lachen«, sagt sie und lächelt selbst. Einen Moment lang begegnen sich unsere Blicke, dann schauen wir beide das Kind an.

Sie wechselt das Thema. »Sie sagen, Sie waren fort. Wo, mit wem, wozu?«

Ich hole tief Luft. Auf die Frage kann ich ruhig eingehen. »Ich bin vor zehn Jahren weg«, beginne ich. »Bis vor zehn Jahren habe ich hier gelebt. Ich war ein wichtiger Mann. Anscheinend hat man mich vergessen. Unser Volk musste sich mit allem Möglichen herumschlagen, deshalb nehme ich ihm seine Vergesslichkeit nicht übel.« Sie soll wissen, dass ich sie für den kollektiven Erinnerungsverlust der Stadt nicht verantwortlich mache.

Während wir essen, rede ich weiter. »Ich ging fort … Die Wahrheit ist, ich bin fortgeschickt worden. Die Siedlung hatte sich verändert. Die Leute waren der Meinung, ich könnte sie nicht in die nächste Phase der Gesundung führen. Sie hielten einen Wechsel für nötig. Oder Verräter aus meiner Umgebung haben ihnen eingeredet, er sei nötig. Sie hielten die Maßnahmen, mit denen wir in den zehn Jahren zuvor so gut gefahren waren, nicht mehr für gerechtfertigt. Sagten sie jedenfalls. In Wahrheit konnten sie sich nicht eingestehen, dass ich mit diesen Maßnahmen die Siedlung gerettet und ihrem Leben wieder einen Sinn verliehen hatte und dass sie hinter meiner Politik gestanden hatten, solange sie ihnen in den Kram passte. Sie konnten sich ihre Mitschuld an den Tötungen außerhalb der Stadtmauer, dort wo jetzt der Orangenhain ist, nicht eingestehen. Interessant übrigens, das mit dem Hain. Wo einst Menschen für das Allgemeinwohl ihr Leben ließen, gedeihen jetzt Obstbäume. Gedenkt man so auf angemessene Weise der Toten? Vielleicht schon.«

Mir wird klar, dass ich vom Thema abgekommen bin und Tora mich mit schief gelegtem Kopf komisch ansieht.

»Ich bin zu einer Insel gefahren, die gerade noch im Herrschaftsbereich der Siedlung liegt, an der mit Andalus von Axum vereinbarten Grenze. Dort habe ich zehn Jahre verbracht. Ich stellte fest, dass ich auf der Insel ganz gut leben konnte. Es hat zwar praktisch jeden Tag geregnet, und ich glaube nicht, dass ich auch nur einmal die Sonne gesehen habe, aber es ließ sich aushalten. Es war nie zu kalt, und ich fand immer genug Torf und genug Nahrung, um zu überleben. Angebaut habe ich nichts, denn das war unnötig für einen allein. Außerdem merkte ich, dass die Insel kleiner wurde. Wie ein Greis hatte sie noch ein paar Jahre vor sich, aber mehr auch nicht. Die Kliffs auf der Nordseite kippten immer schneller ins Meer ab. Fast täglich brach ein Teil weg. Das Wasser dort war immer schwarz vom Schlamm. Für mich war es wie Blut, als wären die Kliffs Menschen, die einer nach dem anderen abstürzten und von der See zerschmettert wurden.

Nach einiger Zeit merkte ich, dass die Bäume unfruchtbar waren und der Wald sich nicht erneuerte. Ich merkte, dass die Fische knapper wurden, dass das Torfmoor nicht so ausgedehnt war, wie es schien. Statt zu pflanzen stellte ich Berechnungen an – viele Berechnungen. Ich machte mir Notizen und schrieb Beobachtungen und Zahlen auf. Ich kam zu dem Ergebnis, dass die Insel noch ungefähr so viele Jahre zu leben hat wie ich. Mein Tod würde mit dem Ende der Insel als lebensfreundlicher Umwelt zusammenfallen. Das war mir nur recht so. Ich hatte mich damit abgefunden, dachte ich, dass die Insel meine letzte Ruhestätte wird. Ich hatte mich damit abgefunden, dass ich nie wieder hierherkomme. Der Lebensrhythmus auf der Insel war angenehm. Der Alltag, der endlose Regen, das nasse Gras, das die Haut streift, die Stille des Waldes. Trotz meines Alleinseins war es ein besseres Leben, als man meinen könnte.«

»Warum sind Sie dann wieder weg von der Insel?«, fragt Elba.

»Warum bin ich weg?«, wiederhole ich mir die Frage. »Ich bin weg, weil etwas geschah, was mit einem Schlag alles änderte. Eines Tages stieß ich auf einen an die Küste gespülten Mann. Er lag halb tot am Strand. Ich holte ihn ins Leben zurück, versorgte ihn, aber er hatte irgendein Trauma erlitten und sprach kein Wort. Stumm wie ein Stein. Bis heute hat er noch keinen Ton gesagt, und es ist Wochen her, dass er auf meine Insel kam.

Doch das war nicht irgendjemand. Zuerst habe ich ihn zwar nicht erkannt, aber dann wurde mir klar, dass er niemand Geringeres war als Andalus, der General von Axum, mit dem ich unseren Frieden ausgehandelt hatte. Da begriff ich die Tragweite seiner Anwesenheit, die unerhörte Gefahr, die meinem Volk womöglich drohte. In Axum gab es schon immer Parteien, die den Friedensvertrag ablehnten. Wenn sie die Oberhand gewonnen und Andalus vertrieben hatten, stand außer Zweifel, wem sie als Erstes ihre Aufmerksamkeit widmen würden, und ich befürchtete, unser Volk sei schwach geworden nach den Jahren ohne Krieg. Und auch wenn es weit hergeholt scheint, konnte er nicht sogar von einem fremden Volk vertrieben worden sein? Selbst wenn er nicht entmachtet worden war – was hatte er als General hier zu suchen? War er auf Erkundung? Auf der Suche nach neuem Land? Der Friedensvertrag verbietet das strengstens. Es musste etwas geschehen. Unser Volk musste gewarnt werden.«

Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass mich das Kind anschaut, um nicht zu sagen anstarrt. Elba bemerkt es auch und sagt rasch: »Zeit zum Schlafengehen.« Sie nimmt Amhara bei der Hand und führt sie ohne ein weiteres Wort in den hinteren Teil der Wohnung.

Als sie wiederkommt, sagt sie nur: »Anscheinend mag sie Ihre Geschichten.«

Ich schweige.

Darauf schüttelt sie kurz den Kopf, als wäre ihr etwas eingefallen, und sagt: »Sie besuchen mich, haben mir eine Geschichte erzählt, haben meine Tochter kennengelernt, und dabei weiß ich noch nicht mal, wie ich Sie anreden soll.«

Unwillkürlich stoße ich einen Spottlaut aus. Ich hebe die Hand, um mich zu entschuldigen. Sie setzt sich wieder hin, und ich beuge mich zu ihr vor. »Sie sind sehr freundlich zu mir, aber jetzt muss ich Sie doch mal was fragen.« Ich schweige. »Sie wissen doch wohl, wer ich bin?«

Sie schüttelt den Kopf. »Wer sind Sie denn?«

»Bran natürlich.«

Sie lächelt wieder. »Wie unsere Stadt. Das gefällt mir.«

Ich lehne mich wieder zurück und seufze. »Bitte helfen Sie mir doch zu verstehen, was hier vorgeht, Elba. Bitte sagen Sie mir doch, wieso mich niemand grüßt, wieso niemand zugibt, dass er mich kennt. Ich war lange Zeit das Oberhaupt dieser Siedlung, ein Mann, den viele zuletzt verachtet haben, aber jetzt kommt einfach gar nichts. Und wo sind sie alle? Alle, die ich gekannt habe? Ist das eine Geisterstadt?« Ich merke, dass ich etwas laut geworden bin. Wieder halte ich die Hand hoch.

Elba sieht mich über den Tisch hinweg an, steht dann auf, dreht mir den Rücken zu und verschränkt die Arme.

Da sie anscheinend nicht vorhat zu antworten, frage ich nach ein paar Augenblicken: »Woher wussten Sie, was heute Morgen vorgefallen ist? Ich habe es Ihnen nicht erzählt.«

»Die Leute reden.« Sie zuckt die Achseln. Dann: »Ich habe gehört, irgendwer sei irgendwem durch die Straßen nachgejagt. Da nahm ich an, Sie waren das.«

Das ist keine plausible Erklärung, aber ich darf sie nicht zu sehr bedrängen, noch nicht. Sie ist meine bisher beste Informationsquelle.

»Der Mann, den ich verfolgt habe, war der Richter in meinem Prozess. Er ist der erste Mensch, den ich hier mit einem Namen verbinden konnte. Manche Leute kommen mir irgendwie bekannt vor, zum Beispiel der Marschall, den ich von früher zu kennen meine. Trotzdem ist es, als ob alle, die ich gut gekannt habe, verschwunden sind.«

Sie schweigt.

»Und was ist mit der Person, die vor Ihnen hier gewohnt hat? Ich kann nicht glauben, dass Sie sie nicht kennen. Und Abel, mein Nachfolger als Marschall, der die Kampagne gegen mich gesteuert hat? Sie müssen beide kennen. Wo stecken sie?«

»Die Erinnerung trügt manchmal. Sie kann uns sagen, wir sind B, obwohl wir in Wirklichkeit A sind. Manchmal stellt sich heraus, dass man eine ganz andere Vergangenheit hat, als man dachte.«

»Geht hier etwas vor, das ich wissen sollte? Wird etwa ein Plan ausgeheckt, wie man mit mir verfahren soll? Mir ist klar, dass ich für Verwirrung gesorgt haben dürfte. Mir geht es nicht darum, wieder als Marschall eingesetzt zu werden. Ich will auch gar nicht hierbleiben. Ich möchte nur … Ich habe Dinge getan …« Ich komme ins Stottern.

»Was möchten Sie? Was haben Sie getan, Bran?«

»Ich muss mit dem Marschall darüber sprechen. Er war aber gestern nicht an seinem Platz, obwohl wir eine Verabredung hatten. Das gehört sich nicht. Die Welt bricht auseinander, Elba. Ohne eine starke Führung werdet ihr nicht überleben, und ein Mann, der seine Pflichten vernachlässigt, ist kein starker Führer.«

»Gerade die Starken wissen manchmal nur wenig über Stärke.«

Ich weiß nicht, was sie damit meint. Sie dreht sich rasch um und sagt: »Es ist schon spät. Ich muss früh raus. Ich glaube, Sie sollten jetzt gehen.«

Ich bin entlassen, vielleicht sogar ein bisschen unsanft. An der Tür nimmt sie mich jedoch beim Arm und sagt leise: »Auch wenn ich Ihnen nicht helfen kann, eines Tages bekommen Sie Ihre Antworten bestimmt. Da bin ich mir sicher.« Damit schließt sie die Tür, und ich stehe allein in der kühlen Nacht.

Ich wandere langsam zurück zum Unterstand. Die Stadt liegt im Dunkeln. Kein Mond scheint. Um mich herum huschen einzelne Gestalten durch die Dunkelheit, die Köpfe in ihren Mänteln verborgen. Einen packe ich bei der Schulter, als er vorbeischlurft. Ich drehe ihn zu mir herum, und die Kapuze rutscht ihm vom Kopf. Ein ausdrucksloses Gesicht. »Kennen Sie mich?«, frage ich. Ich spreche tief aus der Kehle. Er schüttelt den Kopf. »Kennen Sie Bran?« Er schüttelt den Kopf und will sich losreißen. »Vor zehn Jahren –«

Er unterbricht mich. »Da war ich noch nicht hier.« Er windet sich los und entschlüpft in die Dunkelheit.

Als ich in Sichtweite des Rathauses bin, sehe ich eine Gestalt in den Hof eilen. Mich sieht sie, glaube ich, nicht. An Gang und Statur erkenne ich den Marschall und setze ihm nach. Als ich zum Hof komme, ist niemand mehr da. Eine Lampe in der Mitte erhellt ein wenig die umliegenden Gebäude.

Ich gehe zur Tür des Marschalls und bin im Begriff anzuklopfen, nehme die Hand aber herunter und probiere stattdessen die Klinke. Die Tür öffnet sich.

Meine Augen müssen sich erst an die Dunkelheit im Innern gewöhnen. Dann sehe ich, dass der Boden mit einer dünnen Staubschicht überzogen ist. Auch sonst alles. Der Staub kommt in dieser Stadt überallhin. Ich sehe auf den Boden und suche nach den Fußabdrücken des Marschalls. Keine da. Er muss woanders eingetreten sein. Da die meisten Büros miteinander verbunden sind, besteht noch Aussicht, ihn zu finden. Aber ich werde leise sein. Vielleicht gelingt es mir ja, Aufschluss darüber zu erhalten, was hier vorgeht, wenn niemand weiß, dass ich da bin.

Gehe ich jetzt durch das Gebäude, werden sie an den Fußabdrücken sehen, dass jemand da war. Aber das macht nichts. Sie sollen es wissen. Ich steige die Treppe hinauf. Die Stufen knarren, aber so leise, dass jemand, der ein paar Schritte entfernt steht, es schon nicht mehr hört. Ich komme an dem Treppenabsatz vorbei, der ein Fenster mit Blick auf den Hof hat. Ich erstarre. Unten steht ein Mann und schaut auf die Tür. Mich wird er nicht sehen können. Ich wiederum kann ihn nicht erkennen, sehe sein Gesicht nicht. Gefühlte Minuten steht er reglos da und starrt die Tür an. Mit einem Mal dreht er sich um und verlässt den Hof. Ich warte eine Zeit lang, doch er kommt nicht zurück.

Ich gehe zu meinem alten Büro. Die Tür ist abgeschlossen. Ich gehe weiter. Im Zimmer nebenan waren meine Assistenten untergebracht. Es ist ebenfalls abgeschlossen. Im dritten Zimmer saß zu meiner Zeit Abel. Der derzeitige Marschall scheint keinen Stellvertreter zu haben. Die Tür steht sperrangelweit offen. Drinnen ist alles mit Tüchern abgedeckt. Ich ziehe eines vom Schreibtisch. Es ist noch derselbe. Das weiß ich, weil ich ihn anfertigen ließ. Er war ein Geschenk für Abel, als ich ihn zu meinem Stellvertreter ernannte. Ich ziehe an einer der Schubladen. Abgeschlossen. Ich ziehe mit Kraft, doch der Griff bricht ab.

Ich muss mich darauf einstellen, dass er und Tora möglicherweise tot sind. Es wäre allerdings Pech, wenn ausgerechnet die beiden Menschen, die ich am besten kannte, in der Zeit meiner Abwesenheit gestorben wären. Vielleicht waren sie zusammen, als sie starben. Nach meinem Weggang waren sie vermutlich oft zusammen und haben viel gemeinsam gemacht. Aber weshalb sollten sie in der friedlichen Nachkriegszeit, als es wenig Kriminalität und offenbar genug zu essen gab, gestorben sein? Sie waren jung. Jünger als ich jedenfalls. Sie können nicht beide gestorben sein.

An der einen Seite des Schreibtischs das Motto von Bran: Kraft durch Einheit.

Das Holz ist abgenutzt.

Ich ziehe das Tuch vom Bücherregal. Darauf die Verfassung der Siedlung. Abel und ich haben sie gemeinsam geschrieben.

Nachdem ich die Tücher wieder aufgelegt habe, verlasse ich den Raum. Weiter hinten im Gang sind noch mehr Büros. Da wir einfach drauflosgebaut und ohne Rücksicht aufs Gesamtbild Gebäudeteile hinzugefügt hatten, wie wir sie brauchten, ist der Gang nicht gerade. Er biegt ab und kommt wieder zurück. Ohne Fenster ist es dunkel im Innern. Man könnte sich hier verlaufen, wenn man nicht Bescheid wüsste. Ich gehe durch das Gebäude und probiere sämtliche Türen. Abels Tür ist als einzige nicht abgeschlossen. Ich bedaure, dass ich mein Messer im Unterstand gelassen habe. Meistens habe ich es dabei. Damit hätte ich ein Schloss aufbrechen können. Ich könnte auch die Türen einrammen, aber das würde Lärm machen.

Ich gehe den Weg zurück, den ich gekommen bin, wende mich vorn aber nach links, statt hinauszugehen. Ich stoße die Tür zur Empfangshalle auf. Ich möchte etwas überprüfen. Der Saal ist leer. Das ist nicht ungewöhnlich, er war es oft. Nur bei großen Versammlungen haben wir Stühle aufgestellt. Ich gehe nach hinten. Da ist ein Podium und links eine holzverkleidete Wand. Meine Schritte hallen durch den Raum, obwohl der Staub sie dämpft. Eine goldene Inschrift taucht aus dem Halbdunkel auf, als ich näher herankomme. Oben steht einfach: »Marschalle von Bran«. Darunter stehen nur zwei Namen. Ich sehe genau hin. Es ist, als bliebe mir das Herz stehen. Mein Name fehlt. Als Erstes müsste da »Bran« zu lesen sein und das Datum meiner Regierungszeit, doch der erste Name lautet Madara. Die Jahreszahlen sind meine, BI-BIO. Der zweite Name ist Abel. Das stimmt, aber was ist dann mit Marschall Jura? Wieso ist der aktuelle Marschall nicht aufgeführt? Und wenn man beschlossen hat, den Namen eines verurteilten Marschalls zu tilgen, wieso hat man seinen Namen dann durch einen erfundenen ersetzt? Man mag von mir halten, was man will, aber man darf nicht vergessen, was ich geleistet habe. Und außerdem wissen sie alle, dass sie mitschuldig sind. Ja, man hat mich verbannt, aber aus Schuldbewusstsein, nicht aus Hass. Natürlich gab es auch welche, die mich hassten, aber das Schuldbewusstsein überwog. Ich rase innerlich, ein Gefühl, das ich seit Jahren nicht hatte, seit dem Schlachtfeld nicht und auch da nur selten. Im Gefecht unterliegen die Wüteriche, und wer ruhig bleibt, siegt. Ich beruhige mich, als ich hinaus an die kalte Luft trete, merke aber, dass ich geschwitzt habe. Ich wische mir mit dem Handrücken die Stirn.

Für heute Abend habe ich genug nachgeforscht. Morgen werde ich zusehen, dass ich eine Audienz beim Marschall bekomme.

Madara. Ein Name. Ein erfundener Name. Ein Wort, dessen Existenz besagt, dass die Geschichte der Siedlung mit Mängeln behaftet ist. Warum hält man sich nicht an den wahren Namen? Selbst wenn man den wahren Namen hasst und das, wofür er steht, sollte man ihn doch anerkennen, ihm ins Gesicht sehen.

Madara. Kommt mir irgendwie bekannt vor. Ein Name, den ich mal gehört habe. Ein Mensch, den ich gekannt habe. Ich bin nicht Madara.

Stundenlang wandere ich durch die Stadt. Ich komme an Elbas Fenstern vorbei. In einem brennt noch Licht. Ein paar Minuten bleibe ich stehen. Ein Schatten streicht über das gelbe Rollo, schwebt durch den Raum, vor und zurück, vor und zurück wie in einem Tanz.

Ich gehe an Abels Haus vorbei. Dort ist dagegen immer noch alles dunkel. Da es aber sehr spät ist, will das nichts besagen.

Ich gehe am Rathaushof vorbei. Zweimal, dreimal.

Beim dritten Mal sehe ich zu den Fenstern hoch. Hinter einem bewegt sich etwas. Ich bin mir ziemlich sicher, dass da eine blasse Gestalt aus dem Dunkeln zu mir hinausschaut, mich anstarrt. Erkennen kann ich aber nichts. Ich gehe ein Stück in den Hof hinein und schaue noch einmal hoch. Das Fenster ist schwarz.

Ich denke an die Gestalt zurück, die ich zuvor auf dem Hof gesehen hatte. Auch dieser Mann hatte zu den Fenstern hochgeschaut. Hatte er auf ein Zeichen von irgendwem da oben gewartet? Hatte er nach mir Ausschau gehalten?

Da es am Himmel blitzt, kehre ich zum Unterstand zurück. Andalus schnarcht leise, die Hände über den Bauch gebreitet, als hätte er ein Festmahl hinter sich. Ich setze mich nach draußen, den Rücken zur Wand, schließe die Augen und warte darauf, dass die Sonne in die Gasse scheint.