6

Ich schrecke aus dem Schlaf. Es ist eine Stunde nach Sonnenaufgang. Ich blicke mich um. Andalus sitzt ein wenig entfernt zusammengesunken vor der Mauer. Zu meiner Linken ist der eine Torflügel, wie ich sehe, jetzt angelehnt. Nur einen Spalt weit geöffnet, aber offen. In der Nacht habe ich davon nichts mitbekommen, nicht bemerkt, dass sich jemand an mir vorbeigestohlen hätte. Das wundert mich. Ich habe normalerweise einen leichten Schlaf.

Ich stoße das Tor weiter auf. Die Straße liegt vor mir. Die Schatten der Dächer fallen auf den Straßenstaub. Ich blicke zu Boden. Im Staub sind Fußspuren. Die Häuser auf der Schattenseite sind dunkel, die anderen hell, von der Sonne beschienen. Alle sind grau. Altes Holz, mit den Jahren verwittert durch Sonne, Regen, Wind und gelegentlich auch Schneestürme. Auf der Straße ist niemand.

Ich stoße das Tor ganz auf und drehe den Kopf, um Andalus zu rufen, doch er ist direkt hinter mir und betrachtet ebenfalls die Stadt. Ich nehme ihn beim Arm, und wir betreten die Siedlung Bran.

Ich schaue nach rechts und links. Die Häuser sind stumm. Die Leute haben sich in ein Volk von Langschläfern verwandelt. Wo die Fenster Vorhänge haben, sind sie zugezogen. Die anderen Fenster sind schwarz. In den Häusern ist niemand zu sehen.

Aber ich spüre, dass Leute da sind. Wie ich mich neu ans Sprechen gewöhnt habe, so muss ich mich vielleicht auch wieder daran gewöhnen, Menschen zu sehen. Ich spüre sie in Massen um mich herum. Würde ich plötzlich die Hand ausstrecken, könnte ich einen berühren. Sie machen mir Platz auf der Straße, um nicht mit mir zusammenzustoßen, ein sich teilendes Meer. Sie umschwärmen mich neugierig. Ich spüre ihren Atem im Nacken. Sehen kann ich sie nicht. Bin ich vorbei, starren sie hinter mir her.

Und dann sehe ich jemanden. Sie steht am Ende der Straße. Ein Mädchen. Sie lässt die Arme hängen und schaut zu Boden. Sie trägt eine rote Jacke. Etwas an ihr frappiert mich. »Hallo«, rufe ich ihr zu. Als sie nicht reagiert, rufe ich noch einmal. Sie blickt nicht auf. Beim zweiten Mal dreht sie sich um und läuft davon, verschwindet um eine Ecke. Ich lasse sie. Wieder sind die Straßen verlassen.

Ich gehe in dieselbe Richtung. Als ich um die Ecke biege, sehe ich geradeaus vor mir die Gebäude der Siedlungsverwaltung. Sie werden größer, als wir näher kommen. Zwei- und dreistöckige Holzbauten, die zerbrechlich aussehen, aber schon viele Jahre überstanden haben. Ich sehe, dass das Tor zu dem Komplex offen steht.

Meine Schritte werden schneller. Wieder ziehe ich Andalus mit, und wir marschieren hin und gehen durchs Tor. Wir sind auf dem Hof. Ringsherum Türen zu diversen Ämtern, Beschwerde- und Zulassungsstellen. Die Türen haben dieselben weißen Schilder wie zu meiner Zeit, doch der Hof ist leer. Normalerweise trifft man hier zig Leute an, die etwas zu erledigen haben. Jetzt ist niemand da, und alle Türen sind zu. Ich blicke mich um und lasse Andalus’ Arm los.

So habe ich mir das nicht vorgestellt. Es ist noch früh am Morgen, aber die Siedlung erwacht früh, und die Schaltzentrale von Bran kann sich keinen Stillstand leisten. Ich gehe zur ersten Tür. »Ministerium für Landwirtschaft« steht auf dem Schild. Ich schmunzle. Gerade ich hatte darauf bestanden, dass wir diesen Abteilungen große Namen geben. Sie sollten Zielbewusstsein vermitteln. Das einzige wirklich wichtige Büro in diesem Gebäude war mein eigenes. Dort wurden alle wichtigen Entscheidungen getroffen. Im Ministerium für Landwirtschaft wurden lediglich die Erträge unserer dem Boden abgetrotzten Ernten erfasst und unsere kleinen Viehherden registriert. Das Landwirtschaftszulassungsamt ließ weder Landwirtschaftsbetriebe zu, noch kontrollierte es die größeren Versorger. Es erteilte einzelnen Bürgern die Genehmigung, auf kleinen Parzellen bestimmte Nahrungsmittel für den allgemeinen Bedarf anzubauen. Mehr tat es nicht, und doch war es wichtig, weil eine solche Genehmigung für viele den Unterschied zwischen Bürgerstatus A oder B und Klasse C ausmachte. Oft standen die Antragsteller draußen Schlange, in der Mehrzahl alte Frauen, aber auch alte Männer. Ich weiß noch, wie ich in meinen Büroräumen stand, mich aus dem Fenster lehnte und auf diese Leute hinabschaute. Ich sah Toras Mutter in dem Gedränge. Ich gab Bescheid, dass ihr eine Genehmigung auszustellen sei. Es war ein Aufschub, wenn auch naturgemäß keine Begnadigung. Das Zulassungsamt ist ebenso geschlossen wie das Ministerium.

Der Tod von Toras Mutter war keine einfache Geschichte, nicht so einfach, wie ich vielleicht suggeriert habe. Sie war beliebt in unserer Stadt. Stille und Düsterkeit kamen auf, als bekannt wurde, was mit ihr geschehen war. Ich musste zu ihr nach Hause gehen. Ich ging ohne Begleitung und schloss mir selber auf. Denn ich hatte es auf mich genommen, zu entscheiden, wer der Klasse C zuzuordnen war. Ich übernahm das, damit es andere nicht machen mussten. Es ist keine angenehme Aufgabe, und ich bin kein mitleidloser Mensch. Ich schloss mir auf und trat zu ihr ans Bett. Ihre Augen waren geschlossen. Ich strich ihr mit den Fingern über die Wange. Die Haut alter Menschen kann sich leblos anfühlen, wie trockener Sand. Ihre war zudem kalt. Flatternd hob sich ein Augenlid. Sie sah mich mit dem einen Auge an. Es war weit geöffnet. Sie blinzelte nicht. Ich sah sie an und schwenkte die Hand vor ihrem Gesicht. Sie griff mit einem Arm nach mir. Es schien, als wollte sie die Lippen bewegen. Sie brachte nur einen Laut heraus, kein Wort. Ein Gurgeln. Es war Furcht. Angst vor mir, dem Todesboten.

Ich wusste, dass die eine Seite ihres Körpers gelähmt war. Die Bestimmungen waren eindeutig. Sie musste hängen.

Ich ließ einen Karren kommen. Besser gesagt, ich fuhr selbst mit. Nur ich und der Henker. Ein Soldat brauchte diesmal nicht dabei zu sein, da keine Fluchtgefahr bestand. Ich fuhr immer mit. Sie alle sollten Mitleid sehen vor ihrem Tod, sollten wissen, dass sie nicht umsonst hängen würden. Das lag in meiner Verantwortung.

Ich hob sie aus dem Bett. Sie war erstaunlich schwer. Die Zunge wieder gurgelnd in Bewegung, das eine Auge geöffnet, schlug und trat sie mit dem gesunden Arm, dem gesunden Bein um sich. Ich legte sie in den Karren und geleitete sie zum Stadttor hinaus. Es war nach Sonnenuntergang, aber Vollmond. Der Henker zog den Karren hinter sich her. Dann krachte es laut, und der Karren kam ins Kippen. Eine Achse war gebrochen. Ich lief schnell hin, aber zu spät. Er legte sich auf die Seite, und sie fiel heraus. Die Decke rutschte ihr von den Beinen. Im Mondschein sah ich die Adern und die blauen Flecke. Der Körper einer alten Frau. Ich setzte sie aufrecht hin. Ihr Kopf kippte zur Seite, und ich hielt ihn fest. Sie atmete jetzt schnell. Ich fühlte eine warme Flüssigkeit auf meiner Hand. Sie hatte sich bei dem Sturz am Gesicht verletzt und blutete stark. So viel Blut von einer Halbtoten. Ich wischte mir die Hand am Boden ab. Ich hob sie auf und legte sie mir über die Schulter. Durch die Kleider spürte ich sie, fühlte ich ihr Herzklopfen. Eine gebrochene Frau mit einem so kräftigen Herzschlag, dass ich ihn durch die Jacke spürte.

Unterwegs übergab sie sich. Ich war voll von ihrem Erbrochenen. Ich musste würgen. Aber ich blieb standhaft. Ich trug sie bis zu den Bäumen und setzte sie ab. »So«, sagte ich zu dem Henker. Er rührte sich nicht. Ich ging zu ihm und ohrfeigte ihn mit dem Handrücken. »Tun Sie Ihre Pflicht«, befahl ich ihm. »Das ist Ihr Beitrag.«

Hinter mir hörte ich ein Wimmern. Ich kniete mich vor sie hin. Ich wischte ihr das Erbrochene vom Mund, das Blut aus dem Gesicht. Ich wollte ihr etwas sagen. Ihr etwas zuflüstern, damit der Henker es nicht hörte. Ich wollte leise etwas zu ihr sagen, das ihr die Angst nahm, damit sie das alles verstand, damit sie nicht sah, wie ich sie hier zum Sterben fertig machte. Ich hatte mir etwas zurechtgelegt, konnte es aber nicht aussprechen. Ich weiß nicht mehr, was. Ich konnte es nicht. Ich musste sie stützen. Ihre Beine trugen sie ja nicht. Ich hielt sie von hinten fest, während ihr die Schlinge um den Hals gezogen wurde. Es war, als wäre sie bereits tot, aber ich spürte, wie sie zitterte. Ich hielt sie fest, roch ihren warmen Altweibergeruch, dann ließ ich sie los.

Ich weiß noch, wie froh ich war, dass Tora nicht dabei war, dass sie so etwas nie würde miterleben müssen.

Als es getan war, befreiten wir die Tote von der Schlinge. Wir legten sie in einen Sack. Vom Vortag waren bereits zwei Leichen in Säcken dort. Sie sollten am nächsten Morgen bestattet werden. Ich weiß nicht, wo sie begraben wurde.

Wieder zurück in meinem Büro, stellte ich mich im Mondlicht ans Fenster. Ich war nackt. Mit einem feuchten Tuch wischte ich mich ab. Langsam wischte ich das Blut und das Erbrochene fort. Eine ganze Stunde stand ich da und säuberte mich.

Ich trete einen Schritt zurück und blicke zum ersten Mal, seit ich den Hof betreten habe, zu den Fenstern hoch. Dahinter sehe ich, auch wenn ich mir nicht sicher bin, einen Schatten, eine Gestalt, die sich rasch in die Dunkelheit und außer Sicht zurückzieht. Ich schaue noch einige Zeit hinauf, sehe aber nichts mehr.

Ich drehe mich nach Andalus um. Er steht mitten auf dem Hof. Seine Haltung spiegelt die des Mädchens, Hände an der Seite, gesenkter Kopf, rote Jacke.

Ich setze meinen Rundgang um die Türen fort. Alle sehen älter aus. Wenn die Farbe nicht abblättert, ist das Schild nachgedunkelt, aber die Siedlungsverwaltung scheint immer noch hier beherbergt zu sein. Warum hätte man sonst die Namen stehen lassen?

Nach zwei Dritteln der Runde komme ich zum Eingang meiner Dienststelle. Wahrscheinlich habe ich bewusst am anderen Ende angefangen, ganz bewusst nicht mit dieser Tür. Ich frage mich, wer Herein sagen wird und wer jetzt Marschall ist. Immer noch Abel, oder jemand Neues? Allerdings sind erst zehn Jahre vergangen, und damals war er ein junger Mann mit asketischen Gewohnheiten. Wenn er also nicht gestorben ist, wird er wohl noch im Amt sein. Ich frage mich, wie er reagieren wird.

Auch wenn es verwundern mag, war und bin ich ihm nicht böse, dass er mir in den Rücken gefallen ist. Wir waren beide Politiker, und er hat den Stimmungsumschwung schneller erfasst. Er trat dafür ein, ich stemmte mich dagegen. Seine Argumente kamen an. Er hatte es zweifellos leichter, aber ich wusste, was ich wollte. Ich war von meiner Sache überzeugt und respektierte auch seine Ansichten. Vielleicht fiel es ihm deshalb schwer, mir beim Abschied die Hand zu geben. Weil vielleicht nichts stärker ist als ein Mensch, der sich mit Würde geschlagen gibt. Nur ist solche Stärke nicht von dieser Welt.

Wir gaben uns dort am grauen Strand die Hand, und seine Hand war feucht, und er sah mir nicht in die Augen. Neben ihm stand Tora. Der Seewind zauste ihr Haar.

Zugegeben, manchmal wusste ich nicht recht, was ich von Abel halten sollte. Ein schwer einzuschätzender Stellvertreter. Manchmal, wenn ich dachte, er sei verstimmt, wollte er wahrscheinlich nur seine Arbeit tun. Was wäre wohl passiert, wenn ich jemand anderen zu meinem Nachfolger ernannt hätte? Das habe ich mich schon oft gefragt.

Zumindest diese Tür ist gepflegt. Glänzend weiß, und das Messingschild daran ist frisch poliert worden. »Marschall« steht darauf.

Ich hebe die Hand, um zu klopfen, aber die Tür öffnet sich schon, als hätte jemand auf mich gewartet. Der Mann, der vor mir steht, trägt die gleiche Uniform wie ich früher, mit an die Brust gehefteten Orden. Er ist ungefähr in meinem Alter und grauhaarig. Er sieht mich an. Es ist nicht Abel. Ich weiß nicht, ob ich enttäuscht sein soll oder nicht.

Dennoch kommt er mir bekannt vor. Vielleicht liegt es nur an der Uniform, aber mir ist, als hätte er im Krieg zu meinen Generälen gehört. Genau unterbringen kann ich ihn allerdings nicht. Er steht nur schweigend da und sieht mich mit ausdrucksloser Miene unverwandt an.

»Guten Morgen«, sage ich.

Der Mann neigt, wenn auch nicht sofort, zur Begrüßung den Kopf.

Ich habe lange über diesen Augenblick nachgedacht, vielleicht länger, als mir bewusst ist. Ich habe ihn geplant, mir überlegt, was ich sage, doch dabei hatte ich zu Abel gesprochen, nicht zu dem Mann vor mir.

»Ich suche den Marschall«, sage ich. »Sind Sie das?«

Der Mann nickt. »Ich bin Marschall Jura.« Ich bin enttäuscht, aber auch noch etwas anderes, auf das ich nicht den Finger legen kann.

»Meine Name ist –«, setze ich an, unterbreche mich aber. »Ich bringe Ihnen diesen Mann. Er sei Ihrer Aufmerksamkeit empfohlen.«

Der Blick des Marschalls folgt meiner Handbewegung. »So?«, fragt er. Er ist nicht unhöflich, möchte aber offensichtlich, dass ich zur Sache komme, und erkennt offensichtlich weder mich noch Andalus.

»Seine Name ist General Andalus«, sage ich. Ich bin gespannt auf seine Reaktion. Es kommt keine. Nicht mal ein Blinzeln.

»Er war – und ist vielleicht immer noch – General von Axum. Ich habe ihn innerhalb unserer Grenzen entdeckt. Ich habe versucht, ihn zu befragen, um zu erfahren, was er vorhat, doch er äußert sich nicht. Ich glaube zwar nicht, dass er feindselige Absichten hat, aber er ist dennoch Ausländer und verstößt gegen das Friedensabkommen. Nicht nur das, sondern da es sich um Andalus persönlich handelt, ist sein Aufenthalt außerhalb von Axum und in Bran ein beunruhigendes Signal.«

Ich warte darauf, dass der Marschall etwas sagt. Doch er schweigt. Sein Gesicht zeigt keine Regung. Er sieht mich nur unverwandt an. Einen Moment lang frage ich mich, ob er es darauf anlegt, ein möglichst ausdrucksloses Gesicht zu machen.

»Er ist ein Signal, für das wir eine Erklärung brauchen. Sein Auftauchen bereitet mir große Sorge. Wenn es zu einer Rebellion gekommen ist, sollten wir darüber im Bilde sein. Wenn es einen friedlichen Regierungswechsel wie bei uns gegeben hat«, ich mache eine Kunstpause, doch er gibt nicht zu erkennen, dass ihm meine Ironie aufgefallen wäre, »dann sollten wir das ebenfalls wissen. Ich habe ihn hierhergebracht, wie es meine Pflicht als treuer Bürger von Bran verlangt.«

»Andalus.« Das ist keine Frage, nur eine Wiederholung des Namens.

»Ja, Andalus.« Ich erwidere seinen Blick. Wir schweigen uns an, bis der Marschall zuerst wieder spricht.

»Sie haben ihn hergebracht?«

Ich deute hinter mich, ohne mich umzudrehen, und nicke. »Ja.«

Er blickt mir ziemlich lange über die Schulter, sieht dann wieder mich an und sagt:

»Ich sehe niemanden.«

Diesmal drehe ich mich um und zeige auf Andalus, der zum Ausgang auf den Hof gegangen ist. »Da«, sage ich gereizt. »Der Mann, der uns den Rücken zukehrt.«

Der Marschall blickt zum Ausgang, dann sieht er mich an. Er schweigt eine Weile. Schließlich sagt er: »Sie müssen nach Hause gehen, alter Mann. Es gibt Regen.«

Damit tritt er einen Schritt zurück und schickt sich an, die Tür zu schließen. Ich bin zwar überrumpelt, mache aber einen Schritt nach vorn, ehe er sie ganz schließen kann. Ich lege die Hand an die Tür und setze meinen Fuß über die Schwelle. Ich bin größer als er. Langsam und ruhig sage ich: »Sie wissen, wer ich bin, oder?«

Er weicht vor mir zurück. Ganz kurz scheint Wut in seinem Gesicht auf. Er beantwortet meine Frage nicht. Er sagt lediglich: »Gehen Sie.«

»Ich muss mit Ihnen über den Mann sprechen: Was es mit ihm auf sich hat.« Ich stemme mich immer noch gegen die Tür.

Der Marschall blickt zur Seite, als ob da außerhalb meines Blickfelds noch jemand steht. Er scheint zu nicken. Nach einem kleinen Augenblick sagt er: »Morgen.« Damit schiebt er meine Hand weg und schließt die Tür. Das tut er keineswegs unsanft. Eher behutsam. Dennoch ärgere ich mich über das mangelnde Verständnis des Marschalls.

Ich starre eine Zeit lang auf die Tür, ehe ich mit der Faust dagegenschlage. Sie öffnet sich nicht.

Mir bleibt nichts anderes übrig, als zu gehen und zur vereinbarten Zeit wiederzukommen. Wenn mich der Marschall nicht gleich sprechen will, kann ich erst Tora und vielleicht auch Abel suchen. Ich hole Andalus, der zur vorderen Tür gestapft ist, und verlasse mit ihm den Hof.

Draußen sehe ich Leute. Ein Mann und eine Frau stehen vor dem Ausgang, als ob sie auf jemanden warten. Als sie mich sehen, wenden sie sich ab. Sie unterhalten sich miteinander.

Noch andere sind jetzt auf der Straße. Nicht viele und hauptsächlich Kinder. Sie laufen hintereinander her und wirbeln Staub auf, der dann in der Luft hängen zu bleiben scheint. Ich schaue nach dem Mädchen, das ich zuvor gesehen habe, kann es aber nicht entdecken. Unter den Erwachsenen ist keiner, an den ich mich erinnere. Niemand sieht mich an.

So habe ich mir das überhaupt nicht vorgestellt. Nicht auf der Straße erkannt, nicht vom neuen Marschall erkannt, den die Nachricht von Andalus weder überrascht noch gekümmert hat. Niemand, der gestutzt hätte. Ich bin weder angesprochen noch festgenommen worden. Darauf war ich nicht gefasst.

Die Menschen gehen jetzt schneller, sie laufen fast. Vielleicht, weil ich es von meiner Insel her so gewöhnt bin, merke ich nicht gleich, dass es angefangen hat zu regnen. Ich halte mein Gesicht in den Regen und spüre, wie die Tropfen mir langsam den Staub vom Gesicht waschen. Das weckt eine andere Empfindung. Ich würde es Heimweh nennen, aber das kann ja wohl nicht sein.

Wieder habe ich die Straßen für mich allein. Für mich und Andalus. Ich nehme ihn beim Arm und führe ihn ins Stadtinnere. Der Regen macht die Stadt dunkel, fleckt das Holz, färbt den weißen Staub braun. Ich rieche den Geruch sonnenverbrannter Erde, den der Regen freisetzt. Langsam gehe ich an einem Haus nach dem anderen vorbei. Bei einigen weiß ich noch, wer da wohnt oder gewohnt hat. Bei anderen nicht. Ich wandere durch ein Labyrinth von Straßen. Alles ist so vertraut und doch so anders. So lange her. Es gibt ein paar neue Gebäude, aber nur wenige. Obwohl die Erde vor den Toren der Stadt fruchtbarer geworden zu sein scheint, gibt sie innerhalb der Mauern noch immer nichts her. Kaum Pflanzen, wenig Farbe. Hier und da ist eine Tür rot, gelb oder grün gestrichen, und damit hat es sich.

Ich komme an dem Grundstück vorbei, wo Toras Mutter ihren Garten hatte. Der Stuhl, auf dem sie immer saß, ist weg. Der Orangenbaum ist noch da. Er gedeiht prächtig in der öden Umgebung. Ich bleibe stehen und stelle mich unter ihn. Ich spüre, wie die von seinen Blättern rinnenden Tropfen auf meinem Gesicht landen.

Die längste Zeit meines Lebens bin ich durch diese Straßen gelaufen, habe den Regen, das Holz, den Staub gerochen und dem Geschwätz der Nachbarn in den Straßen gelauscht. Es ist alles beim Alten, Häuser mit bis zu drei oder vier Stockwerken, erhöhte Holzveranden, Außentreppen, Balkone. Jedes Gebäude ist ein technisches Meisterwerk. Nicht großartig anzusehen, scheinbar wacklig und baufällig, in Wirklichkeit aber robust, und jedes für sich ein Labyrinth aus Zimmern und Wohnungen. Sie sind dicht nebeneinandergebaut, ursprünglich, um ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Aus ein paar wie zum Warmhalten zusammengedrängten Häusern entstand eine ansehnliche Stadt. Aber auch in späteren Jahren, als weniger Bedarf an Sicherheit herrschte, weil die Stadt gut befestigt und die Kriege vorbei waren, blieben wir bei dieser Bauweise. Sie spendete wohl Trost in harten Zeiten.

Ich war nicht nur der Marschall der Stadt, sondern auch ihr Historiker. So zeichnete ich Karten von ihren Anfängen, von den Standorten der ersten Häuser. Ich sprach mit den Gründervätern, bevor sie starben. An die Tür des ältesten Gebäudes nagelte ich ein Schild, ebenso an die Tür des ersten Krankenhauses, ebenso an das Gebäude am Standort der ersten Scheune. Ich war in der Tat der Mensch, der diese Stadt am besten kannte, und ich glaube, ich kenne sie immer noch am besten.

Die Siedlung und die Insel. Karten, Aufzeichnungen, Anfänge. Meine Arbeit hier spiegelte sich in meiner Arbeit auf der Insel. Wobei das Gefühl, etwas Bleibendes zu schaffen, hier stärker war.

Veränderungen nimmt man bei dem, was man am besten kennt, manchmal am ehesten wahr. Gerade weil man es so gut kennt. Man bemerkt körperliche Veränderungen – Falten, graue Haare – eher bei sich selbst als bei einem geliebten Menschen, als bei Freunden. Ein Anbau an diesem, eine neue Veranda an jenem Haus, dann eins mit andersfarbigen Vorhängen, dann ein ehemaliges Amtsgebäude, das jetzt als Wohnheim dient. Das an sich ist schon ein großer Unterschied.

Manchmal ist es aber auch so, dass man an dem, was man am besten kennt, als Letzter die Änderung bemerkt. Hätte ich die Anzeichen eher erkannt – das Wegdrehen der Schulter, die Stille, wenn ich einen Raum betrat, das erstarrende Lächeln –, dann hätte ich mich vielleicht länger halten können. Ich war wohl doch kein so großer Politiker.

Hätte ich denn etwas anders gemacht? Oder vielmehr, hätte ich etwas anders machen können? Die Bewohner gehorchten meinen Befehlen vertrauensvoll wie Hunde. Sie folgten mir wie Hunde, weil ich voranging, weil ich ihnen den Weg wies. Ich zeigte ihnen, wie man lebt, wie man überlebt. Sie kamen von überall und nirgends mit nichts, wofür es sich zu leben lohnte, bis sie jemanden fanden, der sie aus der Dunkelheit hinaus in die schöne neue Welt führte. Weil ich ihnen zeigte, wie man lebt, machte es ihnen nichts aus, für mich zu töten, denn so töteten sie nicht für mich, sondern in ihrem eigenen Interesse. Und sie waren nicht dumm. Alle wussten, was sie taten. Ich war der Dumme. Ich hatte nicht mit dem Luxus der Schuldgefühle gerechnet. Ist das Überleben erst gesichert, setzen die Schuldgefühle ein. Sie kommen nur, wenn das Überleben gesichert ist. Und Schuldbewusstsein ist Ansporn zur Veränderung. Mein Fehler. Ganz und gar kein guter Politiker.

Dennoch liebe ich diese Stadt, diese Menschen. Sie waren auch mein Leben. Ich trage ihnen nichts nach.

Der Regen hält nicht lange an. Die Sonne kommt wieder durch. Von den Hausdächern steigt Dampf auf.

Ich atme tief. Es war ein seltsamer Empfang, vielleicht sogar ein Schlag ins Wasser, aber ich bin zu Hause und baumle nicht an einem Strick. Ich lege den Arm um Andalus und drücke ihm die Schultern. Er sieht mich überrascht an.

Ich bin hungrig, da ich außer ein paar Orangen gestern Abend hier noch nichts gegessen habe. Das alte Küchenhaus ist mein nächstes Ziel. Da ich keine Marken und keine Lebensmittelkarte habe, muss ich auf das Mitgefühl des Kochs zählen. Und natürlich gibt es für den Besuch in der Gemeindeküche noch einen anderen Grund. Ich hoffe Tora dort zu finden.

Unterwegs mustere ich unwillkürlich Gesichter, suche nach einem, das ich kenne, nach den schulterlangen braunen Locken, der schlanken Taille, dem zielbewussten Gang. Ich glaube, ich würde sie sogar erkennen, wenn ich ihr Gesicht nicht sehen könnte, wenn sie wie in einer Kindergeschichte plötzlich keins mehr hätte. Sie ist mir in Fleisch und Blut übergegangen. Ich versuche mir ihr Gesicht vorzustellen, kann es aber nicht. Auf der Insel ging es, aber hier, wo ich ihr näher bin, ist es weg. Ihr Gesicht war mir so vertraut wie mein eigenes, doch auch das kann ich mir nicht genau vorstellen, nachdem ich es zehn Jahre lang nur in Pfützen gesehen habe. Ihren Gang aber kenne ich, ihre Haltung, die Art, wie sie den Kopf zurückwirft, damit ihr die Locken nicht über die Augen hängen. An die Augen erinnere ich mich ebenso, wenn auch nicht an ihr ganzes Gesicht. Ich erinnere mich an das Lächeln. Ihr Lächeln. Es war niemals vollständig, nie ganz fröhlich, aber es hatte Macht über mich. All die Jahre, die ich mit ihr zusammen war, habe ich danach Ausschau gehalten, nach den Falten in ihrem Mundwinkel, dem einen Grübchen, dem scheuen Abwenden des Blicks, wenn sie denn lächelte. An all das erinnere ich mich, aber nicht an ihr Gesicht.

Von ihrem Lächeln war ich besessen. Damit hatte sie mich in der Hand, ob sie es wusste oder nicht. Wenn ich es bei einem Besuch nicht zu sehen bekam, wartete ich nervös auf den nächsten und wieder nächsten. Fern von ihr war ich eine Führerpersönlichkeit, bei ihr ein kleiner Junge.

Jetzt sind wieder mehr Leute draußen, aber noch immer habe ich niemanden wiedererkannt, und niemand scheint mich zu kennen. Ich verstehe das nicht. Die Menschen können unmöglich alles vergessen haben.

Ich bin ein Fremder in meiner Stadt. Es ist, als wäre ich bei mir zu Hause, aber jemand hätte die Möbel umgestellt und oben im Bett schliefe eine Frau, die ich nie gesehen habe.

Es ist nicht weit bis zur Gemeindeküche. Die Hauptgebäude liegen alle ganz zentral. Ich wollte, dass sie wenn irgend möglich direkt im Zentrum und nah beim Rathaus sind. Mein Schutzinstinkt vermutlich. Ich biege um eine Ecke, und da ist sie. Sie hat sich überhaupt nicht verändert. Schon aus fünfzig Metern rieche ich Essensdüfte. Ich bleibe eine Weile stehen. Ich habe wirklich Hunger, aber ich weiß auch, dass Tora um diese Zeit immer Dienst hatte. Ich überlege, was ich sagen soll. Nicht den genauen Wortlaut. Die ersten Worte will ich ihr überlassen. Ich gehe zu dem Gebäude, betrete es aber noch nicht. Ich gehe außen herum und schaue in die Fenster. Drinnen sehe ich Bänke, auf denen ein paar Leute sitzen. Frauen laufen mit Tabletts voller Essen und Getränken in Bechern zwischen ihnen umher. Das ging früher ganz anders zu.

Einige Gesichter sind mir vertraut, aber es ist niemand dabei, den ich mit Namen kenne. Und Tora ist nicht zu sehen. Ich weiß nicht, ob ich darüber enttäuscht oder erleichtert bin. Auch wenn sonst bei dieser Reise nichts herauskommt – sie wiederzusehen ist mir wichtig. Aber was wird hinter der Tür sein, wenn ich sie aufmache? Ich hatte Jahre Zeit, sie zu vergessen. Noch mal will ich das nicht durchmachen. Und doch weiß ich, dass ich sie suchen werde. Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, ist das sogar ein Hauptgrund für meine Rückkehr: die Frau wiederzusehen, die ich liebe, eine Weile mit ihr zu reden, ihr Fragen zu stellen, Fragen, auf die ich seit zehn Jahren eine Antwort suche. Vielleicht etwas Zerbrochenes zu kitten, etwas, das Jahre meines Lebens in Anspruch genommen hat.

Ich stoße die Tür auf und trete mit Andalus ein. Ich rechne damit, dass die Leute verstummen, aber das tun sie nicht. Niemand sieht von seinem Essen auf. Außer einer Kellnerin guckt überhaupt niemand. Von einem Tresen am anderen Ende sehe ich sie zu mir herschauen. Ich weiß nicht, was ich tun soll, ob es noch wie früher läuft. Soll ich mich ruhig hinsetzen und aufs Essen warten, soll ich vorab erklären, wieso ich vielleicht nicht auf der Beköstigungsliste stehe, oder soll ich hier einfach warten, bis jemand kommt und mich zu einem Platz führt? Zu meiner Zeit stellte man sich an, ließ seinen Namen abhaken, setzte sich auf eine der langen Bänke und bekam zu essen. Aber hier ist keine Warteschlange. Plötzlich steht die Frau vor mir.

»Hallo«, sagt sie. Sie lächelt.

»Möchten Sie Platz nehmen?« Sie deutet auf einen freien Tisch. Sie sieht mich an, aber nicht Andalus. Es ist zwar eine Weile her, aber jetzt fallen mir die Rituale wieder ein. Das Lächeln, mit dem man einen Fremden begrüßt, keine Einladung, aber auch keine Zurückweisung.

»Danke«, sage ich. Ich setze mich hin, und sie geht. Es sind nicht viele Leute da. Wir haben einen großen Tisch für uns allein. Am Nebentisch links sind zwei Männer in ein Gespräch vertieft. Rechts von uns sitzt eine Frau mit einem Kind. Sie füttert es. Das Kind lässt mich nicht aus den Augen.

Ich lausche dem Gespräch zu meiner Linken. Es dreht sich um nichts Besonderes, Wetter und Ernte – jedenfalls vordergründig. Doch die Männer rechnen offenbar mit einer reichen Ernte und diskutieren darüber, wie man Weinreben am besten am Spalier zieht. Das ist das Interessante daran. Früher gab es nur eine Art, Wein am Spalier zu ziehen, weil es uns einzig um den Ertrag an Trauben ging. Die beiden hier erörtern, inwieweit die Anbaumethode den Geschmack der Traube beeinflusst.

Ich bin erfreut, ja stolz. Die Bestimmungen, die ich erlassen habe, die strengen Gesetze scheinen ihren Zweck erfüllt zu haben. Lebensmittel werden offenbar nicht mehr rationiert, die Landwirtschaft nicht mehr reguliert und überwacht, weil sich die Produktion verbessert hat und mehr Nahrung vorhanden ist. Meine Bestimmungen haben die Siedlung vor dem Verhungern bewahrt. Die Tendenz konnte man schon zu meiner Zeit als Marschall beobachten, aber ich bin erstaunt, wie weit das alles gediehen zu sein scheint, die Weizenfelder, Maisfelder, der Orangengarten und jetzt dieses Gespräch über prächtige Traubenernten.

Die Unterhaltung stockt. Nach ein paar Sekunden wenden sie sich einem anderen Thema zu. Ich vermute, sie kennen sich nicht allzu gut.

Und ich unterbreche sie. »Entschuldigen Sie«, sage ich. »Sie haben sich gerade über Wein unterhalten. Ich war längere Zeit fort. Wann haben Sie angefangen, sich für Spaliermethoden zu interessieren?«

»Wie meinen Sie das?«, fragen sie prompt zurück.

»Vor zehn Jahren haben wir Spalierwein nur auf eine bestimmte Art gezogen.«

»Vor zehn Jahren waren wir noch nicht hier. Er ist seit sieben Jahren hier, ich seit fünf.«

Flüchtlinge, denke ich. Ich nicke ihnen zu und danke ihnen. Aber dann stelle ich noch eine Frage. »Erzählen Sie mir von Ihrem Marschall. Wie heißt er?«

Beide sehen mich mit strenger Miene an. »Ein guter Mann«, sagt der eine. Dann stehen beide auf und gehen davon.

Die Frau erscheint hinter mir, beugt sich über meine Schulter, sodass ich ihren Geruch wahrnehme, und sagt leise: »Machen Sie sich nichts draus. Die sind nicht so gesprächig.« Sie stellt eine Schale Suppe vor mich hin und einen Becher mit einem roten Getränk. Ich danke ihr, ohne mir meine Überraschung anmerken zu lassen, und sie geht. Als ich das Getränk koste, ist es tatsächlich Wein. In meinem ganzen Leben war Wein noch nicht frei erhältlich. Hin und wieder fanden wir mal ein Flaschenlager, verschüttet in irgendwelchen Ruinen. Meist war er ungenießbar. Zuweilen schmeckte auch einer. Dann war er süß. Ich trank wahrscheinlich eine Flasche im Jahr, und in der Gemeindeküche gab es nie welchen. Manche Flaschen hatten ein Etikett. Mit Wörtern, die ich nicht kannte, Bildern, die ich nicht verstand. Den roten Wein zu trinken war, als tränke man eine andere Welt.

Ich sehe, dass Andalus nichts zu essen bekommen hat. Das wundert mich zwar, aber ich bin von dem Essen vor mir zu sehr abgelenkt, um groß darüber nachzudenken. Allerdings sage ich ihm, er solle sich etwas bringen lassen, wenn ihm danach ist. Er gibt nicht zu erkennen, dass er mich gehört hat.

Die Suppe ist heiß, und ich esse sie schnell. Schon steht ein neuer Teller vor mir, beladen mit Fleisch und Gemüse. Schweigend esse und trinke ich. Der Wein rötet meine Wangen, das Essen wärmt mich. Ich sitze da auf der Bank, lächle bei mir und sage mir immer wieder, du bist zu Hause, du bist daheim, bis aus dem Lächeln ein Grinsen wird, während die Leute um mich herum essen, trinken, miteinander reden und lachen.

Als ich fertig bin, schaue ich, was die anderen tun. Mein Name ist nicht notiert worden. Ich sehe ein paar andere Leute aufstehen. Sie gehen geradewegs zur Tür hinaus, wobei sie der Bedienung zum Abschied zuwinken. Ich stehe ebenfalls auf. Im Hinausgehen komme ich an der Frau vorbei. Ich bleibe vor ihr stehen. »Haben Sie vielen Dank«, sage ich und warte ein wenig.

»Elba«, erwidert sie mit einem Lächeln.

Ich lächle und nicke ihr zu. »Danke, Elba.«

Draußen setze ich mich mit Andalus auf eine Bank, beuge mich vor und stütze den Kopf in die Hände.

Die Leute, die um uns herumlaufen, sind mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Mich wundert immer noch, dass es nicht mehr sind, aber vielleicht arbeiten sie alle auf den Feldern. Kinder spielen auf der Straße. Niemand beachtet die beiden alten Männer, die auf dem Marktplatz auf der Bank sitzen.

Dieser Marktplatz hat eine Geschichte. Er ist groß und auf allen Seiten von Gebäuden aus Holz umgeben, unter anderem der Gemeindeküche. Auf dem Platz haben wir öffentliche Versammlungen abgehalten. Hinten ist eine Bühne. Ich weiß noch, wie ich dort einmal stand. Der Platz war gerammelt voll. Ich glaube, alle Bürger, die laufen konnten, waren gekommen, um zuzuhören. Es waren so viele, dass der von Abertausend Füßen aufgewirbelte Staub über ihren Köpfen hing. Ich stand noch über der Staubwolke und sah auf mein Volk hinab. Ich machte eine Atempause und trank einen Schluck Wasser. Niemand rührte sich. Es war totenstill. Da wusste ich, dass sie mir gehörten. Ich lächelte innerlich. Zum Abschluss sagte ich: »Einst waren wir stark, wir brauchten nicht zu kämpfen. Wir werden wiedererstarken. Das wird nicht morgen sein, nicht nächstes Jahr, aber bald – schon bald werden wir stark genug sein, um dafür zu sorgen, dass so etwas nie wieder geschieht. Die Schuldfrage stellt sich hier nicht. In keiner Weise. Das Menschlichste, was wir tun können, ist, das Überleben unserer Kinder zu sichern. Das Menschlichste, was wir tun können, ist, dem kultivierten Leben eine Zukunft zu sichern.«

Es gab keinen Schlussapplaus, aber den brauchte ich auch nicht, und er wäre unpassend gewesen. Mein Sieg war unvermeidlich. Ich hatte eine Schranke niedergerissen und würde meinen Plan jetzt durchführen, komme, was wolle.

Den Zuhörern musste klar sein, dass viele von ihnen am Strang enden würden. Sie wussten, dass entweder sie oder ihr Neben- oder Hintermann zu guter Letzt an einem Strick baumeln würden wie Verbrecher. Es war still.

Viele ließen die Köpfe hängen. Keiner sah den anderen an. Als sie aufbrachen, war es, als ginge jeder einzeln. Keine Gruppen, keine Familien mehr. Jeder war für sich. Sie wussten, dass es sein musste. Sie wussten, was sie getan hatten.

Manchmal fragte ich mich, ob mein Volk von all den Dingen hören wollte, die belegten, dass wir einmal viel mächtiger, zahlreicher und technisch weiter fortgeschritten waren als heute. Oder ob sie nur interessierte, wie sie sich das Leben leichter machen konnten, wie sie immer sicher sein konnten, wo ihre nächste Mahlzeit herkam, wie sie in einem rauen Klima überleben konnten. Ich erzählte weniger von Ruinen, riesigen Schiffen und Fahrzeugen, von Texten auf Papier, die niemand lesen konnte, und dafür mehr vom Lebensmittelplan, vom Alltag, von den Bestimmungen des Großen Plans. Sie interessierten sich nicht für die Poesie der Vergangenheit, die in uns den Wunsch nach einer neuen Zukunft weckt. Ich jedoch wusste immer, dass beides wichtig war – die Fakten und die Geschichten. Ich dachte damals, die Menschen würden von Schuldgefühlen erdrückt und wollten nicht über das Hier und Jetzt hinausschauen. Vielleicht habe ich sie unterschätzt.

Andalus ist in der Sonne eingeschlafen. Speichel rinnt ihm aus dem Mundwinkel.

Ich muss Tora finden. Die Wohnung, in der sie wohnte, ist hier in der Nähe. Sonderlich weit weg ist allerdings gar nichts. Ich wecke Andalus, und wir gehen um die Gemeindeküche herum und zunächst Richtung Süden. Zweite rechts, erste links, halb durch und da ist es auch, ein dreistöckiger Bau wie die anderen ringsherum, aber für mich doch etwas Besonderes. Ich suche Andalus wieder eine Bank und sage ihm, er soll warten. Er setzt sich anstandslos hin. Mich wundert, dass er im Revier seines ehemaligen Feindes so fügsam ist, aber im Augenblick habe ich keine Zeit, darüber nachzudenken.

Ich gehe zu dem Haus, um es herum und steige die Außentreppe zum dritten Stock hinauf. Unkraut sprießt aus den Ritzen. Alles sieht genauso aus, wie ich es in Erinnerung habe. Auf der Galerie laufe ich an sechs Türen vorbei, dann kommt ihre. Nummer siebenunddreißig. Die Nummer ist noch da, in der alten Schrift. Die Tür ist gelb. In der Nachmittagssonne scheint sie zu leuchten. Ich hebe die Hand und klopfe zweimal. Mein Herz schlägt heftig. Mein Mund ist trocken. Ich komme mir wie ein Kind vor.

Ich höre nichts und klopfe noch einmal. Dann höre ich Schritte und eine Stimme, eine etwas atemlose Stimme, die sagt: »Augenblick, meine Haare …«, und die Tür öffnet sich, und die Stimme ist anders, und ich weiß schon, dass es nicht Tora ist. Zu meiner Überraschung aber sehe ich die Frau aus der Küche, Elba, mit frisch gewaschenen, noch nassen Haaren vor mir stehen. Sie muss gleich nach mir gegangen sein. »Ach, Sie sind’s«, sagt sie. Sie scheint nicht so überrascht zu sein wie ich.

»Hallo«, sage ich, »Entschuldigung, ich wollte nicht stören. Ich wusste nicht, dass Sie hier wohnen. Ich suche jemanden.«

Sie sieht mich erwartungsvoll an, aber ich zögere. »Und?«, fragt sie. »Haben Sie sie gefunden?« Ich weiß nicht, wie sie das meint.

»Sie hat mal hier gewohnt«, sage ich. »Sie hat wie Sie in der Gemeindeküche gearbeitet. Kennen Sie sie?«

Sie legt den Kopf schräg. »Ich glaube nicht. Wann hat sie denn hier gewohnt?«

»Das kann schon zehn Jahre her sein, vielleicht auch weniger. Ich weiß es nicht.« Ich mache eine Pause. »Ich war einige Zeit weg.«

»Das ist ja komisch«, sagt sie. »Ich bin seit elf Jahren hier, und vorher stand die Wohnung leer. Wie lange, weiß ich nicht.«

Mir ist klar, dass sie sich in der Zeit vertan hat. Es ist hier manchmal schwierig, die Jahre auseinanderzuhalten. Man meint, es sei ein Jahr vergangen, dabei war es nur der Frühling. Aber ich irre mich nicht.

Ich frage sie noch einmal. »Sie hieß Tora. Haben Sie sie vielleicht gekannt?«

»Leider nicht.«

»Arbeiten Sie schon in der Küche, seit Sie hier wohnen? Wenn ja, müssten Sie sich über den Weg gelaufen sein.«

»Vielleicht kannten wir uns, und ich habe es vergessen. Man vergisst ja die unmöglichsten Sachen.«

Ich lächle. »Sie ist schwer zu vergessen.«

Sie neigt den Kopf, antwortet sonst aber nicht.

»Ich muss das fragen«, sage ich. »Wissen Sie, wer ich bin?«

Sie sieht mich, wie mir scheint, mit einem Lächeln im Gesicht an. »Ich habe Sie nie gekannt.«

Eine etwas merkwürdige Antwort. Einen Moment lang überlege ich, ob sie mit mir flirtet. Ich versuche es noch einmal: »Ich komme Ihnen nicht bekannt vor?«

»Sie hätte ich bestimmt nicht vergessen.«

Ich trete zurück ins Sonnenlicht. Ich frage mich, wie sehr ich mich verändert habe. Offenbar muss ich Tora und Abel woanders suchen. »Entschuldigen Sie die Störung«, sage ich.

Sie lächelt und schließt leise die Tür.

Andalus ist noch da, wo ich ihn zurückgelassen habe. Ich ziehe ihn hoch.

Inzwischen ist es Abend. Auch wenn Tora und Abel noch nicht gefunden sind, heute kann ich nicht mehr viel ausrichten. Wir brauchen eine Unterkunft, einen Platz zum Schlafen. Ich bin obdachlos in einer Stadt, die mir gehören sollte. Wir könnten hinaus zu dem Orangenhain gehen, aber ich möchte nicht wieder vor verschlossenen Toren stehen. Ich denke daran, noch mal den Marschall aufzusuchen und ihn nach einer Übernachtungsmöglichkeit zu fragen. Und ich denke an die Frau, die in Toras Apartment wohnt, aber das wäre unschicklich. Ich entschließe mich, in der Stadt nach einem verlassenen Haus oder sonst einer Unterkunft zu suchen.

Ich gehe in Richtung der Verwaltungsgebäude. Nach ein paar Minuten fällt mir eine Gasse ein, die unseren Zwecken dienlich sein könnte. Vor den Ämtern biege ich rechts in einen engen Durchgang ein. Er macht einen Knick nach links und mündet nach ein paar Metern dann in einen kleinen Hof. Der Hof hat kein Tor. Da kein Verkehr hindurchführt, könnten wir hier sehr gut unterkommen, zumindest bis ich weiterweiß.

Vor zwei Mauern sind Möbel und Kisten gestapelt. Und mit einer Plane, die ich finde, lässt sich ein Teil davon abdecken. Ich nehme den Stein aus der Tasche und verstecke ihn in einem Winkel.

Andalus krabbelt in den Unterstand, als ich ihn dazu auffordere. Er legt sich hin und deckt sich mit Packpapier zu. Wie ich sehe, ist die Stelle wirklich ein gutes Versteck. Solange er keinen Krach macht, kann auf zwei, drei Schritte niemand ahnen, dass dort im Dunkeln ein Koloss liegt. Ich sage ihm, er soll still sein, auch wenn ich längst keine Antwort mehr von ihm erwarte, und krieche zu ihm hinein.

Eine Weile liege ich noch wach und lausche Andalus’ leisem Atem. Ein ganzer Tag in meiner Stadt ist vorüber. Niemand hat mich erkannt. Niemand hat auch nur zweimal auf mich oder Andalus geschaut, obwohl er so auffällt. Ein dicker, blasser Hüne unter Leuten, die dunkler, erdiger, näher am Boden sind. Nicht mal der Marschall, der sich von Amts wegen auskennen müsste, hat eine Reaktion gezeigt, als er mich sah. Ich habe ihm zwar nicht gesagt, wer ich bin, aber er hätte es wissen müssen. Ich bin der, der seiner Stadt Stabilität gebracht hat, und erst vor zehn Jahren bin ich verbannt worden. Man sollte mich noch kennen. Haben die Menschen ein so kurzes Gedächtnis? Wollen sie mich nicht sehen? Das ist zwar etwas beunruhigend, aber doch besser, als würde ich zum Galgen geschleift und auf dem Weg dahin meine Geschichte, meine Rechtfertigung herausschreien, ob sie einer hören will oder nicht.

Und Elba? Irgendetwas stimmt da nicht. Wir sind nur ein paar Tausend. Da vergisst man jemanden nicht, der vorher in derselben Wohnung gewohnt hat, die gleiche Arbeit macht, im selben Alter ist. Oder war.

Abel und Tora. Er hat mich fortgeschickt. Sie hat mich zurückgebracht. Ich werde beide finden.